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Full text of "Heidelbergische Jahrbücher der Litteratur"

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T3  P  3<of.  | 


HARVARD  COLLEGE 
LIBRARY 


FROM  THB  FUND  OF 

CHARLES  MINOT 

CLASS  OF  2828 


HEIDELBERGER 

0 

JAHRBÜCHER 

DER 

LITERATUR. 


Vier  und  vierzigster  Jahrgang. 
Erste  Hälfte. 

Januar  bis  Juni. 

^  Heidelberg* 

Akademi.che  Verlagshandlung  von  J.C.  B.Mohr. 

1851. 


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Ir.  L  HEIDELBERGER  1851. 

JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR. 

J.Volontari  ed  %  bersaglieri.  Lombard*  Annotaziom  storichi  di  Emilio 
Dandolo. 

Ah  sogli  eslinti 

Piom  sorge  Höre,  ove  non  siu  dtumane, 

Lodi  onorato  e  (Famoroso  pianto. 

Torino.  Tipograßa  Ferrero  e  Franco.    Agosto.  i849.  303  p.  kl.  8. 

Diese  Schrift  enthält  Notizen  über  die  Schicksale  dreier  edler  ita- 
lienischer Enthusiasten,  welche  hingerissen  von  Vaterlandsliebe  im  Kampfe 
für  das  Unmögliche,  das  Härteste  erduldeten  und  das  Aeosserste  wag- 
ten. Der  Zweck  des  Verfassers  des  sehr  schön  gedruckten  mit  den  Bild- 
nissen der  drei  Märtyrer  versehenen  Büchleins  ist  auf  dem  Titel  blatte  mit 
Foscolos  Worten  ausgesprochen.  Die  Märtyrer  sind  Bnrico  Dandolo, 
Emilio  Morosini,  Luciano  Manara,  ganz  junge  Leute,  die  Bildnisse  zeigen 
interessante  Gesichter,  schwärmerisch,  aber  ohne  Spur  von  Wildheit.  Da 
dem  Referenten  dieses  Bttchlein  von  einem  sehr  achtbaren  Freunde  io 
Törin  mitgetbeilt  ist,  so  glaubt  er  diesem  und  den  Lesern  der  Jahrbücher 
einen  Dienst  zu  thun,  wenn  er  etwas  ausführlicher  als  gewöhnlich  vom 
Inhalte  desselben  Nachriebt  gibt.  Im  Allgemeinen  kann  diess  nicht  besser 
geschehen,  als  wenn  er,  ehe  er  zum  Buche  selbst,  das  heisst  zu  den 
Peldzügen  und  zu  der  Verteidigung  Roms,  wo  alle  drei  das  Leben  ver- 
loren, übergeht,  den  grössten  Tbeil  der  Vorrede  mittheilt. 

„Der  Zufall",  heisst  es  p.  10,  „brachte  mich  io  solche  Verhältnisse, 
dass  ich  oftmals  manche  Thatsachen  klar  und  bestimmt  beurtneilen  konnte, 
welche  andern  zweifelhaft  blieben  oder  welche  falsch  von  innen  beur- 
theilt  wurden.  Ich  war  als  langjähriger  Freund  des  seligen  Manara  ge- 
wissermassen  sciu  Bruder  geworden,  ich  war  sein  Adjutant  und  Secretär 
m  Kriegsangelegenheiten,  ein  Jahr  lang  oder  mehr,  war  sein  unzertrenn- 
licher Gefährte  in  allen  den  verschiedenen  Abwechselungen  seines  Schick- 
sals,  welches  ihn  endlich  zum  Tode  führte.  loh  war  im  Stande,  die  ver- 
wickelten Verhältnisse,  durch  welche  er  und  seine  Genossen  auf  eine  so 
unglückselige  Weise  herumgetrieben  und  endlich  vernichtet  wurden,  in 
ihrem  wahren  Lichte  zu  sehen.  Ohne  vorgefasste  Meinungen,  ohne  einer 
Partei  anzugehören,  glaubte  ich  eine  schuldige  letzte  Pflicht  der  Freund- 
schaft zu  erfüllen ,  wenn  ich  diesen  kurzen  Abrisi  bekannt  machte.  Ich 
habe  nach  nichts  Anderem  gestrebt  als  stets  und  freimtttbig  die  Wahrheit 
zu  sagen  und  unparteiisch  zu  seya  in  Allem  und  für  Alle,  and  wenn  ich 
XUV.  Jahrg.  1.  Doppelheft.  1 


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i  Dsndolo:   J  Volon  tari  Lombard!. 

■ich  tausche,  geschieht  das  gewiss  oicht  mit  Vorsalz.  leb  wage  nicht 
politische  Bemerkungen  oder  Deductiooen  zu  machen,  ich  erzähle  bloss, 
waa  ich  gesehen  habe  und  was  ich  dabei  fühlte,  ohne  auf  Ausarbeitung 
einer  vollständigen  Geschichte  Anspruch  zu  machen. 

Obgleich  ich  den  Vorsatz  habe,  mit  der  grössten  Sorgfalt  jedes 
Wort  zu  vermeiden,  welches  irgend  einen  Anschein  von  persönlichem  Haas 
haben  könnte,  so  habe  ich  doch  manchmal  heraussagen  müssen,  waa  ich 
von  Jedem,  wer  er  auch  seyn  mag  (di  tutti  i  quali),  denke,  welcher 
durch  seine  schlechte  Leitung  der  Slaatsgcschafte  viel  zum  Verderben  un- 
serer ganzen  Sache  beigetragen  hat. 

Meine  Erzählung  wird  mir  viele  Feinde  und  grossen  Verdruss  zu- 
ziehen. Viele  Lombarden  werden  mir  Mangel  an  Liebe  zu  meinen  Lands** 
leuten  oder  wenigstens  grosse  Unbarmherzig  keit  im  Aufdecken  vieler  unserer 
Wunden  Schuld  geben,  welche  ich  nach  ihrer  Meinung  besser  thate,  mit 
liebender  Hand  zuzudecken.  Ich  bin  aber  der  Meinung,  dass  wir  Lom- 
barden uns  zu  viel  geschmeichelt  haben,  und  dass  es  ein  unsinniges  und 
terderbliches  Beginnen  (provedimeoto)  ist,  die  traurigen  Ursachen  unse- 
re» verfehlten  Beginnens  (no*tra  caduta)  beschönigen  zu  wollen.  Von 
der  andern  Seite  trdste  ich  mich  mit  dem  Gedanken,  dass  mein  frühere« 
Betragen  und  mein  gegenwärtiges  Missgeschick  beweisen  werde,  dass  ich 
an  Liebe  zu  nnserm  unglücklichen  Vaterlande  Keinem  nachstehe. 

Wenn  es  scheint,  daas  ich  viele  Sachen  gar  nicht  berührt  habe 
und  mich  über  andere  gar  zu  ausführlich  ausgelassen;  so  mag  der  Leser 
bedenken,  dass  ein  Mann,  der  seine  eigene  Unglücksfülle  erzählt,  einen 
Trost  darin  findet,  sich  auch  sogar  Uber  unbedeutende  Kleinigkeiten  aus- 
führlich auszulassen,  die  für  einen  nicht  Betheiligten  gar  keine  Beden- 
lung  nanen. 

Hoch  ganz  jung  (gio*anissimo)  an  Jahren,  musste  ich  fühlen,  wie 
das  widrige  Geschick  mich  mit  eisener  Hand  unterdrückte;  musste  so 
manche  berauschende  innere  Bewegungen  erfahren,  musste  schauen,  wie 
die  herbsten  Ereignisse  hereinbrachen,  bin  selbst  von  so  vielen  Unfällen 
getroffen  worden,  dass  ich,  wenn  es  keinen  andern  Trost  gäbe,  als  den, 
welchen  man  in  der  Welt  findet,  dafür  halten  würde,  dass  mein  Leben 
den  Gipfel  alles  Herben  und  jeder  Enttäuschung  erreicht  habe.  Man  wird 
es  mir  daher  gewiss  gerne  gönnen,  wenn  ich  bei  der  Erinnerung  je- 
ner Tage  froher  Hoffnung,  wo  sich  meiue  Seele  in  der  Aussicht  auf  eine 
Zukunft  gefiel,  die  mir  und  meinen  armen  Freunden  lächelte,  ein  wenif 
KU  lange  verweile.  Gewiss,  ich  verspreche  mir,  Theil nähme  und  Ueber- 
cro  Stimmung  der  Gefühle  bei  meinen  Lesern  zu  finden. 


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i/iDOviv<    j  TOioniHn  LoruDHrui. 


3 


Der  erste  Abschnitt  des  Büchleins  selbst  hat  die  Aufschrift:  Prima 
Canipagna,  1848  und  zerfällt  in  die  Capitel;  1)  Le  cinque  giornate, 
(d.  b.  die  fünf  ersten  Tage  vom  18.  bis  23.  Hirz).  2)  J  Volontari. 
3)  Castelnoovo.  4}  II  Tirolo.  5)  Organiazamonto.  6)  Monte  Saelo. 
7)  Un  Episodio  d«  Volontari.    8)  Ritirata.    9)  Armistieio. 

Der  Verfasser,  um  1848  Mailinder  Student,  enthält  steh  aller  De™ 
clarationen  Uber  die  Ursachen  des  plötzlichen  Aufstandes  in  Heiland  um 
1848.  Er  bleibt  bei  der  nächsten  Veranlassung:,  den  unvorsichtigen  robei 
und  scharfen  Maasregeln  der  österreichischen  Polizei  im  September  1847 
und  am  3.  Januar  1848  stehen.  Man  könne  sich  leicht  denken,  sagt  er, 
wie  sehr  diese  Excesse  der  Polizei  Hess  nnd  Weth  in  den  schon  glu- 

IiahiIaii  T  Amhap/ttoorton  C2a al An  vnrmefirt  liuf ron  Dann  rCkAaf  ps»  vnn  rian 
Uc  nUcu    LiVlTiU  a  ku  IM  IIc  II    ljc  clcil    Tel  III  Cll  il    IIa  VicIJ.       U  a  II  II    ICticV     ti     V  UU  UCU 

Jünglingen,  zu  denen  er  gehörte:  Pra  giovinetti  studenli  in  ispecie  era 
tale  odio  erearioto  si  smisnratamente  e  si  infervorato  dalle  baldanza  pro- 
pria  dell  eta  che  mal  sapevano  frenarlo  l  insegnsmcnto  et  le  necessita 
di  predenza.  Man  siebt  dort,  wie  im  eben  die  Zeit  bei  una  in  Deutsch- 
land, ward  auf  eine  unglückliche  Weise,  die  edelste  Gesinnung  nnd  der 
schönste  Enthusiasmus ,  weil  er  ohne  Umsiebt,  ohne  leitenden  Verstand, 
ohne  Erfahrung  war,  dem  besten  Tbeil  der  Nation  verderblich.  Die  Ju- 
gend trieb,  wie  bei  uns,  statt  sich  durch  tüchtige  Studien  and  ruhige  Hal- 
tung fähig  zu  machen,  einmal  den  Servilen ,  Schlechten  nnd  Egoisten  im 
Staatsdienst  kräftig  entgegen  zu  wirken,  ein  enthusiastisches  Posseuspiel 
und  thörichle  Politik.  Diess  liegt  in  den  Worten  p.  18:  Le  leziooi  sco- 
Iasliche  erano  t ras cu rate  fino  dai  piu  diligenti;  i  pazzi  discorai,  le  ar- 

Honti  cnmnf a  accnrhivnnn  I«  nnsdrn  iHJtntA  flmaltata  Riimitici  in  DlCCfiltt 
ucnil   »pciante   asaui  uirsiiu   um  ■vfira  wvuto  visaiw»«.     «iuuinvi  ju  |iibww 

brigate  noi  passavamo  le  ore  apprendendo  i  militari  esse  rein;  le  notte 
ci  trovava  raccolti  in  qualche  remota  cameretta  a  fonder  palle  e  pre- 
parare  cartuccie.  Aal  den  folgenden  Seiten  schildert  er  ganz  vortreff- 
lich die  politischen  Kindereien  nnd  sagt  mit  Recht:  Die  verständigen  Leute 
behandelten  ans  als  Kinder  (ci  davano  del  ragazzo)  and  fragten  aas 
lächelnd,  ob  wir  ans  denn  eiubildeten ,  mit  dergleichen  politischem  und 
militärischem  Kinderspiel  die  Deutschen  aus  Mailand  treiben  zn  können? 
Dann  führt  er  alte  die  kindischen  Possen  an,  denen  die  Polizei  durch  ihre 
Verfolgung  Bedeutung  gab.  Er  berichtet,  wie  kindisch  sich  die  jungen 
Leute  mit  der  Bedeutung  brüsteten  ,  die  sie  erhielten ,  als  sie  es  dahia 
brachten,  daaa  die  Polizei  fest  aUe  Tage  ein  Decret  anschlagen  Hess,  wo- 
rin nach  einem  halbe«  Dutzend  von  „In  Betrachtang,  daze"  bald  verbo- 
ten ward,  die  Schnalle  der  Hutschleife  vorn  zu  tragen,  oder  den  Hot  zu 
putzen,  als  wenn  eine  Feder  darauf  wäre  u.  drgl. 

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Dandolo:   J  Volontari  Lombardi. 


Gleich,  p.  19,  geht  er  darauf  zum  Volksaufstande  am  18.  März 
über,  wo  die  Studenten  nur  eine  Nebenrolle  hatten.    Chi  potrebbe,  ruft 
er  aus,  ora  ridire  le  sublimi  commozioui  di  quella  notte  che  precedette 
i  supremi  pericoli  che  ci  attendeveno.  Der  arme  Junge!    Sein  würdiger 
und  geachteter  Lehrer  hatte  aber  doch  wissen  sollen,  dass  es  bei  der 
Befreiung  eines  Landes  von  Bayonetten,  Kanonen  und  Säbeln  mehr  auf 
die  Prosa  der  Armee  als  auf  die  Poesie  der  Köpfe  ankommt;  obgleich 
die  Letztere  freilich  bei  keiner  grossen  Sache  fehlen  darf.     Von  dem 
Professor  beisst  es:  Una  buona  mano  di  studenti  stava  riunita  insieme  a 
moltissime  altre  persone  nelle  stanze  del  D.  Angelo  Fava  nostro  paterno 
educatore,  il  quäle  ci  aveva  cresciuti  in  un  amore  e  in  un  desiderio  cal- 
dissimo  di  patria  indipendenza.    Fava,  der  in  diesem  Augenblicke  Proc- 
lamationen  schrieb  und  Anordnungen  machte,  wie  die  ganze  ungeordnete 
Masse  des  Volks  sich  entwickeln  sollte ,  er,  der  die  armen  Studenten  in 
den  rohen  Haufen  hineinwarf,  musste  freilich  schon  wenige  Stnndeu  da« 
rauf  erkennen,  wie  leicht  es  möglich  ist,  die  Menge  durch  Reden  zu  er- 
hitzen und  wie  schwer  sie  wieder  zu  besänftigen  ist.  Die  tobende  Volka- 
masse  stürmte  nämlich  das  Regierungsgebäude,  vernichtete  Alles,  zerschlug 
Spiegel  und  JHeublen  und  übte  unbeschreiblichen  Unfug.    Umsonst,  sagt 
der  Verf.,  zeigte  sich  der  Erzbischof  mit  der  Nationalcocarde  am  Fenster 
grüssend  und  segnend  (wie  elend  und  armselig  das  war!!),  umsonst 
verschwendeten  Gasato,  Fava,  Borromeo,  Guerieri  und  Alle,  welche  in 
jenen  Tagen  beim  Volke  beliebt  waren  und  Einfluss  hatten,  an  jenen  tol- 
len, tobenden  Haufen  Versprechungen  und  Betheurungen  ihrer  Zuneigung-, 
der  reiesende  Strom  hatte  alle  Dämme  durchbrochen  und  stürzte  unauf- 
haltsam herab. 

Den  folgenden  Kampf  an  den  Thoren  und  einzelnen  Plätzen  der 
Stadt  beschreibt  der  Verf.  nur  in  soweit  er  an  sich  selbst  anschaulich 
macht,  wie  junge  italienische  GemUther  durch  die  Scenen  der  Tage  des 
Kampfs  heftig  bewegt  wurden  und  wie  sehr  der  Verfasser  selbst,  damals 
noch  Schüler,  physisch  angestrengt  und  hin-  und  hergetrieben  wurde. 
Manara,  sagt  er,  habe  sich  damals  besonders  hervorgethan  und  er  (Dan- 
dolo), habe  sich  seitdem  an  ihn  angeschlossen.  Die  Grausamkeiten,  wel- 
che auch  der  sonst  billige  Verf.  p.  24  den  Oesterreichern  Schuld  gibt, 
als  sie  nach  einem  fünftägigen  Kampf  am  23.  Närs  aus  der  Stadt  zogen, 
müssen  wobl  auf  Rechnung  der  Croaten  und  anderer  Barbaren  gesetzt  werden, 
deren  Aufnahme  in  den  deutscheu  Bund  ans  jetzt  bie  und  da  als  rühm- 
lich nad  vorteilhaft  empfohlen  wird.  Der  Verf.  zählt  übrigens  das  Ein- 
zelne in  der  Note  auf  und  führt  auch  an,  was  er  selbst  als  Führer  einer 


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l/nncioiu.    j  i  oiunwtn  LUiiiunriJi. 


rairouiiie  gesciicu  iiai,  er  UDorireiui  biso  Keines»  egi«      fr  its  tiic  \/es»cr— 

reicher  abzogen,  zeigten  sich  sogleich  Piemontesisehe  Truppen:  iber  so- 
gleich auch  die  Folgen  der  Trennung  Kaliens  in  kleine  Staaten,  von  de- 
nen jeder  auf  seinen  Particularismus  stolz  ist,  wodurch  es  noch  lange 
unmöglich  gemacht  werden  wird,  ein  starkes  Italien  zu  schaffen.  Ebenso 
Deutschland,  wo  man  noch  lange  Croaten  und  Panduren  oder  gar  Russen 
anrufen  und  preisen  wird.  Der  Verf.  sagt,  er  habe  gleich  als  die  Sardinischen, 
bekanntlich  ganz  vortrefflichen,  Truppen  in  Anmarsch  gewesen ,  ton  sei- 
len zungenfertigen  Landsleuten  ausrufen  boren :  Abbiamo  cacciato  i  Croati 
eecone  degli  altri.  Solchen  Leuten,  wie  die,  welche  so  schrien,  fügt  «r 
verständig  hinzu,  und  wir  meinen,  welche  unter  uns  von  den  Prenssea 
ahnliches  sagten,  verdanken  wir  das  Scheitern  unserer  Hoffnungen  (nostre 
sciagure)  mehr  als  den  österreichischen  Kanonen.  Er  deutet  in  der  Folge 
an,  wie  Mezzini  und  Consorten  eben  so  toll  declamirten,  als  unsere  Struve, 
Heinzen  nnd  Consorten.  Er  bemerkt  ganz  richtig,  dsss  diese  Schwatzer 
gar  nicht  ahndeten,  dass  Radetzky  nicht  aus  Furcht  vor  ihrem  popolo  die 
10,000  Mann  Besatzung  aus  Mailand  zog,  sondern  weil  er  als  Feldherr 
rathsam  fand,  sich,  als  das  Piemontesisehe  Heer  heranzog,  der  Basis  sei- 
ner Operationen  zu  näheren.  Sie  schrien  und  declamirten  aber  ihren  Sieg,  wie 
wir  Ober  Mieroslawsky's  Siege  declamiren  hörten  und  Heidelberg  illuminirten. 
Der  Verf.  sagt  es  gerade  heraus,  dass  die  Mailänder  weder  fähig  noch  Willens 
waren,  sich  für  die  Sache  zu  opfern,  für  welche  sie  ein  paar  Tage  lang  gros- 
sen Eifer  gezeigt  hatten.  Sie  prahlten,  dass  sie  die  Oesterreicber  ver- 
jagt hatten,  sie  glaubten  Alles  gethan  zu  haben.  Sie  regten  sich  nicht 
einmal,  als  Manara  eine  Schaar  Freiwilliger  bildete  und  die  provisorische 
Regierung  durch  einen  Anschlag  alle  unverheiratete  junge  Leuten  einlud, 
sieh  zu  melden.  Die  Verheirathefen  sollten  eine  Natiotialgarde  bilden;  es 
blieb  aber  bei  Phrasen.  Um  deutlich  zu  machen,  wie  theatralisch  leer 
die  ganze  Anstalt  der  entnervten  Lombarden  und  Mailänder  war,  unter 
denen  Mazzini  declamirte,  wie  Slruve  und  Consorten  unter  uns,  und  wie 
sehr  zu  bedauern  ist,  dass  schöne  und  edle  Jünglinge,  wie  die  drei  Mär- 
tyrer und  ihr  Gescbichtschreiber  in  diesen  Strudel  gerietben ,  wollen  wir 
die  Worte  des  Verf.  über  die  Schaar  der  Freiwilligen  anführen.  „Am 
Freitage  zog  unter  dem  pomphaften  Namen  Heer  der  Alpen  die  leichte 
Schaar  Clegioni  mobil i  )  ins  Feld.  Sie  bestand  aus  nicht  mehr  als  120 
Mann.  Wahrlich  ein  ganz  entmuthigendes  Beispiel  von  jener  sich  um 
Nichts  kümmernden  Sicherheit,  welche  sich  der  Gemüt  Ihm-  der  Leute  be- 
mächtigt hatte,  welche  doch  vorher  verstanden  hatten  so  grosse  Dinge 
im  Ma/landischen  zur  Vollführung  zu  bringen.«     Ganz  offen  gesteht  der 


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Dandolo:   f  Yolontari  Lombardi. 


Verf.  pag.  32  onten:  Di«  Freiwilligen  wäre«  eine  Vereinigung  (accox- 
zaglia)  von  Leuten,  die  ein  gemeinsames  Gefühl  zusammen  geführt  hatte 
(ee  vermehrte  sich   nämlich  die  aas  Heiland  gezogene  kleine  Sehaar 
von  allen  Seilen  her}.    Alle  waren  Enthusiasten  und  Patrioten,  aber 
Keiner  von  Allen  hatte  auch  nur  den  Schatten  einer  Vorstellung  von  ei- 
gentlichem Kriegswesen  und  von  dem,  was  zur  Bildung  eines  Corps  ge- 
höre. Bf  fügt  hinan,  dass,  wie  kurz  darauf  die  Zahl  der  Freiwilligen  zunahm, 
die  reicheren  jungen  Leute  in  Italien,  wie  am  1849  hei  ans  in  Baden, 
Comüdie  spielten.    Er  erzählt,  wie  die  Offiziere  die  Säbel  schleppten  und 
ritterlich  abentheuerlich  geputzt  einberschritten.    Es  waren,  sagt  er,  un- 
ter den  Leuten,  die  etwas  mehr  an  Zahl  betragen  mochten,  als  drei  oder 
vier  Bataillons,  alle  Grade  vom  Obergeneral  und  Generellieuteant  bis  cum 
Corporal  einfach  oder  auch  doppelt  besetzt.    Diess  erläutert  er  durch  ein 
Beispiel.    Manara,  sagt  er,  nannte  sich  damals  Divisionsgeneral.  Diese 
Division  bestand  aus  der  Colonne  Manara,  welche  endlich  auf  500  Mann 
angewachsen  war,  aus  der  von  Arcioni,  die  1200  Mann  zählte  und  aus 
der  von  Torree,  die  800  Mann  betrug,    üeber  diese  kleine  Zahl  von 
Leuten  war  ein  Generallieutenant,  zwei  Brigadegenerals  and  ein  zahlrei- 
cher Genereistab  gesetzt.    Es  gab  Bataillons  von  100  Mann,  Compagaieu 
von  zwanzig  mit  einem  Hauptmann,  Lieutnant  und  Feldwebel.    In  einem 
Stücke  waren  die  schwärmenden  lombardiscben  Jünglinge  besser  als  un- 
sere bärtigen  Säbel  schleppenden  Demokraten,  die  sich  nicht  allein  nach 
ihren  hohen  Titeln  bezahlen  Hessen,  sondern  auch  wohin  sie  kamen,  auf 
anderer  Leute  Unkosten  zechten  und  zehrten.    Alle  diese  jungen  hoch- 
belilelten  Herrn  erhielten  nur  den  Sold  der  Gemeinen  oder  sie  nahmen 
auch  gar  nichts.    Das  gilt  aber  nur  von  der  aller  ersten  Zeit  und  von 
den  Jünnlinffen     Die  Bestandteile  der  erwähnten  Schaaren  beschreibt 
dieser  Italiener  gerade  so,  wie  wir  sie  im  Badischen  gesehen  haben,  nur 
fehlten  den  Lombarden  die  tausende  regulärer  Truppen,  welche  sich  ans  der 
alten  Armee  Badens  zu  den  neuen  Fahnen  gesammelt  hatten,  auch  fehlten  auf« 
gebotene  Landlente.  Vortrefflich  weiset  Herr  Dandolo  aus  eigener  Erfahrung 
nach    wie  leicht  der  Enthusiasmus  unter  dauernden  Beschwerden  erlöschen 
musste,  und  wie  gefährlich  es  ist,  zarte  unschuldige  Jünglinge,  Gymnasiasten 
und  Studenten  mit  dem  ganz  verdorbenen  und  verworfenen  Gesindel,  ent- 
laufenen Soldaten  und  Verbrechern  zusammenzubringen,  welches  sich  Überall 
wo  die  Ordnung  an/gelöset  ist,  einzufinden  pflegt.  Er  sagt:  „Die  Mehrsten 
der  Gemeinen  eilten  herbei,  nicht  um  den  Feind  zu  bekümnfen.  sondern 
um  auf  Kosten  des  Vaterlandes  gut  zu  leben.    U  pingue  stipendio,  In 
vita  ngüata  e  vagabouda,  la  speranza  di  pescare  nel  torbido,  ti  sping  an 


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Dandolo:   J  Yolonlari  Lombardi. 


ad  impnguare  !e  armi.  Als  Beispiel  von  dem,  was  wir  so  eben  ange- 
führt haben,  berichtet  er,  dass  ein  Kerl,  der,  wie  er  glaube,  einmal 
Schneider  in  Mailand  gewesen  sey,  sich  ans  einem  Roman  von  Walter 
Scott  einen  fremden  Namen  herausgesucht  nnd  sich  unter  diesem  an  der 
Spitze  einer  Anzahl  schlechter  Kerls  (banda  di  briganti)  gestellt  habe, 
mit  diesen  in  Manara's  Colonne  aufgenommen  sey  nnd  schrecklichen  Un- 
fug verübt  habe  (commise  gli  eccessi  piü  deplorabili  e  dannosi).  Das 
Resultat  giebt  er  hernach  in  einer  einzigen  Zeile:  „Diese  Freibchaaren 
bestanden  also  aus  der  ßlüthe  und  aus  der  Hefe  der  Gesellschaft. tt  Mit 
Recht  tadelt  daher  der  Yerf.  die  sogenannte  provisorische  lombardische 
Regierung,  dass  sie  nicht,  statt,  was  unmöglich  war,  in  der  Eile  eine 
löcsbÄrdiscfac  ^^riD6C  bilden  %n  ^rvolloo ^  diö  selbst ^  wenn  sio  hlrcichcr 
gewesen  wäre  nnd  erträgliche  Offiziere  gehabt  hätte,  doch  in  der  kurzen 
Zeit  niemals  so  hatte  organisirt  werden  können,  dass  sie  sich  mit  den 
Oesterreicbern  hatte  messen  können,  nicht  vielmehr  die  lombardischen  Re- 
kruten dem  pieiuontesiscbeo  Heere  einverleibte.  E  indubileto,  sagt  er, 
che  se  la  Lombardia  avesse  avuto  minor  numero  di  volontari  e  il  Pie- 
moote  piü  soldati,  le  cose  sarebbero  riuscite  ad  esito  megiiore.  Es  wären, 
sagt  er,  auf  den  Listen  der  Lombarden  dreissig tausend  Mann  gewesen, 
wie  es  aber  gegolten  hatte,  sey  mit  allen  den  Leuten  Nichts  anzufangen 
gewesen.  Er  schreibt  das  verkehrte  Verfahren  zum  Theil  MazzinPs  Ca- 
kalen  zu.  Es  ist  unglaublich,  wie  dieser  tolle  Mensch  noch  immer  den 
Eiofluss  auf  die  Italiener  einer  gewissen  Classe  haben  kann,  den  er  bat; 
aber  es  war  ja  in  Deutschland  mit  Struve  derselbe  Fall.  Auch  Lecchi, 
also  einer  der  erfahrensten  Generale,  gab,  als  er  das  Heer  inspicirt  hatte, 
dem  Krieizsnjini&ter  den  Rath,  es  dem  Pieuiontesischeo  einzuverleiben :  aber 

Auf  den  folgenden  Seiten  erzählt  der  Verf.,  wie  die  Oesterreicber 
schnell  zurück  gingen,  und  wie  dadurch  den  Freiwilligen  der  Mulh  wuchs, 
hie  ai«,  irregeleitet  durch  die  unverständigen  Ordres  voo  eben,  in  Caslel- 
nnovo  von  den  Oesterreichern,  d.  h.  von  Crösten  und  Italienern  in  öster- 
reichischen Diensten,  die  voo  Verona  ausgeschickt  waren,  Uberfallen  und 
zum  Theü  gefangen  oder  niedergehauen  wurden.  Auch  der  Ort  ward 
zerstört,  die  Bewohner  grausam  gemordet.  Die  Beschreibung  der  Sceneo, 
welche  der  Verf.  dort  sab,  ist  so  schrecklich,  dass  uns  schaudert,  sie  zi 
übersetzen ;  wir  rücken  sie  daher  im  Original  ein.  J  volontari  sono  pochi, 
disordinoti,  aorpresi.  Coslretti  a  fuggire  dagli  incendi  molli  cadooo  »eile 
mani  del  nemico,  che  non  risparm io  nessuoe.  Soldati,  ebitauti ,  donoe, 
faociulli,  tutti  sono  scannati.  Fino  all'  allere  scorre  il  sengue  di  una  turba 


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8  i/anaoio:   j  TOtonian  Loninarai. 

di  donoe  che  erano  rifugite  nel  lempio,  e  sarebbero  orribüi  a  dirsi  gli 
aUi  di  ferocia  e  dlmpieta ,  onde  quel  brano  di  Croati  e  di  rinnegati  Ita- 
liani  contaminarono  la  casa  di  Dio.  Wahrlich,  setzt  er  hinzu,  schlim- 
mer hätten  es  in  alten  Zeiten  die  Horden  nicht  machen  können,  die  mit 
Attila  ans  den  Steppen  der  Tatarey  gekommen  waren.  Der  Rast  der 
Freisehnaren  kam  zu  Wasser  nach  Salo  zurück  und  wurde  von  dort  nach 
Tirol  beordert. 

Das  vierte  Capitel  ist  dem  kühnen  Einfall  der  jungen  Leute  in  Tirol 
gewidmet.  Manara,  als  er  den  Befehl  zu  diesem  Streifzuge  erhielt, 
nahm  am  15.  April  1848  nur  150  auserlesene  Leute  von  Salo  mit,  weil 
er  auf  dem  Zuge  nach  Castelnuovo  erfahren  hatte,  dass  eine  Zahl  ganz 
feiger  Leute  und  Raubgesindel  in  seiner  Colonne  diene,  nichtsdestoweniger 
beklagt  sich  der  Verf.  bitterlich  Uber  Indisciplin.  Die  Ziellosigkeit  ei* 
niger  Wenigen,*  sagt  er  ganz  freimülhig,  halte  die  aller  schlimmsten  Fol- 
gen. Die  Tiroler  Bauern  wurden  durch  diese  Leute  heftig  erbittert  und 
abwendig  gemacht,  da  sie  an  vielen  Orten  vorzogen,  sich  einem  Feinde 
Wieder  zu  unterwerfen,  den  sie  zwar  als  drückenden  Herrscher  kannten, 
der  aber  doch  wenigstens  aus  Klugheit  mit  Ordnung  und  Verstand  ver- 
fuhr. Ganz  komisch  beschreibt  er  den  Aufzug  dieser  durchaus  an  ein 
militärisches  Leben  nicht  gewohnten  jungen  Leute,  wie  sie  in  der  Külte 
und  im  Regen  in  Tirol  vordrangen.  Kleider,  Hüte,  Flinten  von  allen  Ar- 
ten und  Farben,  der  Eine  ein  Sammtrock,  der  Andere  im  Modekleid,  der 
Dritte  im  Bauerkittel.  Durch  diesen  Aufzug  ward  das  Misstrauen  der 
Bewohner  des  italienischen  Tirol  noch  mehr,  erweckt  und  der  Verf.  meint, 
die  obere  Behörde  hatte  nichts  Nachtheiligeres  für  die  Sache  der  Lom- 
barden and  nichts  Vorteilhaftere«  für  die  der  Oesterreicher  thua  können, 
als  dass  sie  statt  regulärer  Truppen  diese  Bande  schickte,  an  deren  Spitze 
leider  sein  Freund  Manara  halte  stehen  müssen.  Nachdem  jedoch  dieser 
Einfall  in  Tirol,  meint  der  Verf.,  einmal  angeordnet  war,  war  es  höchst 
unverständig,  diesen  Freiwilligen,  nachdem  sie  bis  nach  Stenico  vorge- 
drungen ,  plötzlich  und  ohne  allen  Grund  den  Befehl  zu  ertheilen ,  nach] 
Brescia  zurückzugehen.  Den  Eindruck,  den  dioss  in  einem  Lande  machte, 
welches  sie  zum  Abfall  von  seiner  vorigen  Regierung  und  zur  Errichtung 
tob  Freiheitsbaumen  beredet  und  zum  Theil  getrieben  hatten,  schildert 
der  Verf.  mit  folgenden  Worten  : 

Non  e  da  dire  quanto  sdegno  e  quanto  sgomento  destasse  la  nostra 
partenza  in  quei  terrazani.  Vedendosi  cosi  impensamente  abbandonati,  essi 
abbatterono  imprecando  Talbero  della  libertä  e  maledissero  il  giorno  in 
cui  serano  affidati  a  diichiararsi  in  nostro  favore. 

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%  *  *  «•         •  »  ''Im  '        -r  * 

Dandolo:    J  Volontär!  Lombardi.  9 

Dieser  Zug  nach  Tirol,  meint  der  Verf.,  habe  auch  zugleich  be- 
wiesen, dass,  wenn  nicht  eine  gani  andere  Ordnung  in  das  Kriegswesen 
komme,  mit  den  Leuten,  welche  Mailand  ins  FeÄ^gestellt  habe,  gar  Nichts 
anzufangen  sey,  diess  habe  man  eingesehen  jUt(d  habe  ein  regelmässiges 
Heer  organisiren  wollen,  auch  diese  Sache  habe  man  aber  ganz  verkehrt 
angefangen.  Wen  wählte  man',  sagt  er  im  5.  Capitel,  welches  organiz- 
zamento  überschrieben  ist,  um  das  Heer  zu  organisiren,  welches  aus  lauter 
Leuten  bestand,  die  keine  Disciplio  und  keine  militärischen  Uebungen  kenn« 
ten?  Ein  Mitglied  der  provisorischen  Regierung,  einen  sehr  rechtlichen 
und  braven  Mann ,  aber  des  Militärwesens  durchaus  unkundig ,  einen  mit 
Geschäften  Oberladenen  Mann,  einen  guten  Hausväter,  der  vielleicht  gar 
nicht  einmal  wusste,  was  eine  MilitSrflinte  sey.  Wo  man  einen  der  be- 
sten und  erfahrensten  Officiere  nftthig  gehabt  hätte,  setzte  man  einen 
Advokaten  an  die  Spitze,  mit  dem  Titel  und  mit  der  Gewalt  eines  Or- 

*  "I 

gamsaiors  uer  rreiscoaaren  m 

Als  es  endlich  ans  Organisiren  der  600  Mann  ging,  welche  unter 
Mannra  in  Salo  lagen,  schickte  man  weder  Offleiere,  noch  auch  nur  Ant- 
wort auf  irgend  eine  Anfrage.  Mannra  ward  damals  aus  einem  General- 
Reutnant  Major,  fand  aber  Niemand,  der  sein  jetzt  nach  der  Qualttäl  der 
Scbiessgewehre  in  Compagnien  getheiltes  Bataillon  in  den  Handgriffen  Oben 
konnte.  Endlich  fand  sich  ein  Feldwebel  des  14.  Regiments  als  Conva- 
lescent  in  Salo,  der  das  Geschalt  Ubernahm. 

Der  Erfolg  der  Uebungen  und  der  neuen  Einrichtungen  wird  dann 
berichtet,  der  Verf.  deckt  dabei  alle  Mängel  auf,  welche  aus  der  Zusam- 
mensetzung des  lombardischen  Heers,  aus  der  Jugend  und  dem  falschen 
Enthusiasmus  der  von  dem  Erfolge  ihres  Beginnens  berauschten  Schiller 
und  Studenten  entsprungen ,  und  erklärt  daraus ,  dass  am  22.  Mai  die 
Oesterreicher  die  sogenannte  Todtenscbaar  (reggimento  della  morte),  welche 
der  Oberst  Anfossi  anführte,  an  der  Grenze  des  Brescianischen  überfallen 
und  zur  schimpflichen  Plucht  auf  den  Monte  Suelo  nöthigen  konnten. 
Die  Pflicht  gebietet  mir,  sagt  er  am  Schlüsse  des  Capitels,  zu  sagen,  mit 
welcher  Schmach  diese  Soldaten  des  Todes  sich  belasteten,  nicht  bloss 
durch  ihre  Feigheit,  sondern  noch  mehr  dadurch,  dass  sie  auf  ihrer  Flucht 
den  prächtigen  Palast  der  Tiroler  Grafen  Lodrone  so  schändlich  verwü- 
stetes. Sie  brannten  einen  Theil  nieder  und  raubten  den  andern  ganz 
aus,  unter  dem  Vor  wände,  dass  er  einem  Feinde  gehöre.  Die  Oester- 
reicher, welche  dazu  kamen,  vollendeten  das  Werk  des  Verbrechens;  sie 
worden  aber  durch  das  Geschütz  vom  Monte  Suelo  belästigt  und  mussten 


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10  Dandolo:   J  Volon t tri  Lombardi. 

• 

in  grosser  Unordnung  zurückziehen.  Sie  Hessen  einen  grossen  Sirich  Landes 
ganz  verwüstet  und  voller  Schrecken  hinler  sich. 

Der  Anfang  des  folgenden  Capitels,  welches  die  Lage,  die  Leiden 
und  die  Verrichtungen  der  auf  dem  Monte  Suelo  gelagerten  Freiwilligen 
schildert,  beschreibt,  was  die  armen  jungen  mailandisch en  Enthusiasten, 
sommerlich  gekleidet,  anf  dem  kalten  Gebirge  ausstehen  mussten.  Das 
Capitel  enthält  zugleich  einen  kurzen  Ueberblick  der  Lage  der  Dinge  in 
der  Lombardei  im  Juni  1848. 

Der  Blick  von  ganz  Italien,  beginnt  es,  war  ängstlich  auf  das  pie- 
montesische  Heer  gerichtet,  welches  ganz  allein  für  die  öffentliche  Sache 
kämpfte,  während  in  den  lombardischen  Städten  die  Partbeien  unter  sich 
stritten,  welche  Form  ihre  Freiheit  erhalten  sollte,  da  sie  doch  noch  gar 
keine  hatten.  Auf  uns  kleine  Schaaren  von  Freiwilligen,  welche  auf  der 
nördlichen  Gränze  zerstreut  waren,  um  den  mit  jedem  Tage  stärker  und 
kühner  werdenden  Feind  fern  zu  halten,  achtete  Niemand  und  gleichwohl 
verdienten  auch  wir  Lob,  und  es  wäre  wohl  gethan  gewesen,  wenn  man 
uns  besser  unterstützt  hätte.  Diese  armen  Freiwilligen,  ganz  neu  im 
Kriegsdienst,  duldeten  damals  von  Mühsal  gedrückt  alle  Beschwerden  eines 
langwierigen  und  für  sie  unrühmlichen  Feldzugs.  Sie  waren  auf  den 
Bergen  zerstreut,  welche  Italiens  Gränzmauern  bilden,  waren  der  Kälte 
und  den  Sturmwinden  dar  Hochalpeo  ausgesetzt,  ohne  dass  man  sie  je 
abgelöset  hätte,  und,  was  mehr  sagen  will,  durchaus  unversehen  mit 
Kleidung  find  unentbehrlicher  militärischen  Ausrüstung.  Sie  ertrugen  aber 
nichtsdestoweniger  des  ganz  verdrießliche  und  mühseelige  Leben  geduldig, 

Bildung  und  Erfahrung  mangelte.  Das  Folgende  gibt  die  Müuseeligkeiten 
näher  an,  die  freilich  von  der  Art  waren,  dass  wenige  alte  Soldaten  sie 
mit  Geduld  ertragen  haben  würden,  wenn  man  sie  solange  auf  einem  so 
beschwerlichen  Posten  gelassen  hätte. 

Wohl  war  es  recht  traurig  anzusehen,  wie  diese  ganz  jungen  Leute 
anf  den  kalten  Bergen,  welche  den  melancholischen  See  Idro  wie  einen 
Brunnen  einschliessen,  genölhigt  waren,  mehrere  Wochen  hindurch  unter 
freiem  Himmel  zu  übernachten  und  zwar  bei  einem  strömenden  und  an- 
haltenden Regen  ohne  Leberrock  oder  Mantel,  ohne  Küchengeräth.  Dabei 
hatten  sie  Alles  zu  leisten,  was  der  strengste  Kriegsdienst  fordern  kann; 
ein  Dienst,  der  von  einer  einzigen  elenden  Compagnie  täglich  dreissig 
Schildwachen  forderte,  die  auf  den  höchsten  Felsen  ausgestellt  wurden, 
wo  sie  der  kalte  Wind  und  beständiger  Regen  ohne  Schutz  trafen.  Sie 
standen  da  in  einem  Jäckchen  von  Barchent  nnd  einem  leichten  Ueber- 


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Dandolo:   J  Volontari  Lombardi. 


röckeben.  „Gewiss  ein  recht  armseeliger  Zustand,  worin  die  wahrend 
drei  Monat  der  Kriegführung  ganz  vergessenen  lom bardischen  Freiwilligen 
gelesson  worden. tt 

Der  Mangel  aller  Ducmlin  unter  den  iuniren  Leuten,  die  Place  Ma- 
naras,  ihr  Führer  zu  seyn,  ihre  Feigheit  tu  einer  und  ihre  Kühnheit  und 
Tapferkeit  zu  der  andern  Zeit,  wird  sehr  gut  beschrieben  und  durch 
einzelne  Anecdoleo  erläutert,  die,  wenn  wir  gleich  die  Namen,  auch 
wenn  sie  genannt  wären,  nicht  kenneu  würden,  doch  viel  anwehender 
gewesen  wären,  wenn  statt  der  Anfangsbuchstaben  der  Namen,  diese  Na- 

lieh  vom  Berge  herab,  liess  sie  aber  ohne  alle  Nachricht  von  ßrescia 
bis  gegen  Salo  und  Desenzano  hinaus  stehen,  bis,  ohne  dass  sie  von  dem 
Ausgange  des  Kampfes  der  Oesterreicber  und  Sardinier  irgend  Etwas 
ahndeten,  em  6.  August  die  Oesterreich«  hinter  ihrem  Rücken  wieder 
in  Mailand  einzogen.  Die  Schlachten  bei  Rivoli,  bei  Yillafranca,  .auf  der 
Sommacampagna,  bei  Cuatoza  waren  den  Freiscbaaren  unbekannt  geblieben. 
Sie  schlugen  sich  in  der  Zeit  mit  den  Tiroler  Jägern  zwischen  Breseia 
und  Deseuaano  herum.  Der  junge  Verf.  legt  komischer  Weise  auf  diese 
Plänkeleien  Bedeutung.  Der  Waffenstillstand  mit  Sardinien  und  die  Ca- 
pilidslion  Heilands  sicherteu  bald  dem  kleinen  Heer  der  Freiwilligen,  wel- 
ches sich  in  Bergamo  gesammelt  hatte,  den  Abzug  Uber  .Hönze  ins  Pie- 
montesische.  Der  Verf.  läset  bei  der  Gelegenheit  der  Redlichkeit  der 
Oesterreicher  volle  Gerechtigkeit  wiederfahren,  deutet  aber  an,  wie  die 
elenden  und  feigen  Schwärmer  und  Mazzinis  toller  und  schlechter  Anhang 
schon  damals  Alles  aufboten,  am  auf  jede  Weise  durch  Verlänmdung  and 
Yerratb,  die  innige  Verbindung  mit  Piemont  tu  hindern,  welche  das  ein- 
zige Mittel  wer,  um  die  Fremden  aus  Italien  zu  treiben.  Wer  die  ganz 
einfachen  Berjchto  und  Bemerkungen  des  jungen  Mannes  Uber  das  Treiben 
der  von  Republik  träumenden  L>cute  liesat,  wird  leicht  einsehen,  dass  eine 
Republik  in  Mailend  ein  eben  so  grosser  Unsinn  wäre,  als  eine  Republik 
in  Paris  and  in  Berlin.  , 
Der  folgende  kleine  Abschnitt  ist  Waffenstillstand  Überschrieben, 
und  beginnt  damit,  dass  der  Verf.  beweiset,  dass  nach  dem  Aufhören  des 

£ d tl i ch  Koin Ii d r d i & c Ii o n   Ivnc£fs  suf  F^iörnoiitcsischcm   Gebiet  ölt  fiutliii 
»iasmus  der  schnell  erhitzten  und  ebeuso  schnell  erkalteten  Gemuther  der 
durch  eine  schlaffe  Erziehung,  Affenliebe  der  Eltern,  bequemes  Wohlleben 
verdorbenen  lombardischen  Jugend  völlig  erlosch,  und  dass  also  alle  Frei« 
heiUschaaren  völlig  unbrauchbar  wurden.  Er  sagt  p.  125:  „Kaum  waren 

ue  im  Pi* mnntpsifichen    an.tr elanfft     und  kaum   hatten  Gefahr  und  Furcht. 


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13 


Dandolo:  J  Volontari  Lombardi. 


welche  bis  dahin  wenigstens  in  den  Reihen  noch  einen  gewissen  Sinn  für 
Ordnung  und  Einigkeit  erhalten  hatten,  aufgehört,  als  die  jämmerlichste 
(Ißgrimevole)  Mutlosigkeit  sich  der  Lombarden  bemächtigte.  Viele  von 
ihnen  klagten  bitterlich,  dass  ihr  Vaterland,  ihre  Familie,  ihr  Häusliches 
zerstört  sey ;  Andere  wurden,  weil  sie  über  ihre  Zukunft  ungewiss  waren, 
mit 'sich  und  mit  ihrem  Schicksale  unzufrieden;  jeder,  der  es  aufrichtig 
(onestamente)  mit  dem  Vaterlande  wohl  meinte,  ward  daher  innig  über- 
zeugt, dass  man  unmöglich  den  Krieg  wieder  anfangen  könne,  wenn  nicht 
die  Preischaaren  aufgelöset  und  die  Freiwilligen  regulirten  und  discipli- 
nirten  Regimentern  zugetheilt  würden,  welche  im  Nothfall  die  Unterneh- 
mungen des  sardinischen  Heers  gehörig  unterstützen  könnten.  Wir  wollen 
die  eignen  Worte  des  Verf.  einrücken,  um  zu  zeigen,  dass  es  unter  den 
Lombarden  doch  Leute  gab,  welche  einsahen,  was  man  in  Deutschland  um 
1848  und  1849  durchaus  nicht  einsehen,  oder  auch  nur  gesagt  haben 
wollte,  und  was,  wenn  es  ein  älterer  Mann  den  herrschenden  Doctrinärs 
sagte,  machte,  dass  er  von  ihnen  als  beschränkt  und  ohne  Begeisterung 
mit  Mitleiden  betrachtet  wurde,  dass  in  der  Politik  mit  Schwatzen,  Hai- 
sonniren, Zeitungschreiben,  Lärmmachen  Nichts  ausgerichtet  wird.  Der 
Verf.  schreibt: 

E  molti  di  noi,  a  cui  aveano  giovato  la  gnerra  e  gli  infortuni,  era- 
mmo  convinti,  che  colle  legioni  di  Volontari  si  puö  bensi  iuiziare  e  raf- 
forzare  una  insurrezione ,  ma  che  con  quella  schiere  di  ragionatori,  di 
Svvocati,  di  tribuni  popolari,  con  quei  mille  colori  politici,  con  quelle  in- 
considerate  speronze  e  quelle  leggerezza  d'opinioni  e  prentezza  di  sos- 
petti  non  si  sarebbe  mai  potuto  far  fronte  agli  bataglioni  Croati  che 
pensono  e  parlano  peggio  di  noi,  ma  partroppo  obediscono  meglio.  Ma- 
nara  lösete  daher  auch  am  7.  September  seine  Legion  auf.  Ein  Theil 
derselben  begab  sich  nach  Venedig  und  Hess  sich  dem  lombardiscben 
Bataillon  einverleiben,  welches  sich  später  so  sehr  ausgezeichnet  hat;  ein 
anderer  Theil  ward  den  Colonnen  einverleibt,  welche  sich  noch  erhielten, 
ob  sie  gleich  kläglicher  Weise  militärischen  Geist  und  Disciplin  verlo- 
ren  hatten. 

Menara  ward  am  ersten  October  commandirender  Major  eines  Ba- 
taillons lombarrlischer  Scharfschützen,  dessen  Bildung  ihm  anvertraut  wurde. 
Es  sollte  bestehen  aus  den  aufgelöseten  Douaniers,  den  Schützen  der  Co- 
lonne  Thannberg,  und  aus  der  Nationalgarde  von  Bergamo.  Es  bestand 
aus  800  Mann ,  mebrentheils  Ausreisser  aus  der  österreichischen  Armee, 
Leute,  die  an  die  Forderungen  einer  strengen  Disciplin  gewohnt  waren, 
kurzum  aus  Soldaten  im  eigentlichen  Sinne  des  Worts.  Auch  die  OF- 


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Dandolo:    J  Volon tari  Lotnbardi, 


filiere  hatten  grüsstenlheiis  in  der  österreichischen  Armee  gedient,  ausser 
eiuigen  wenigen  jungen  Leuten,  bei  denen  der  gute  Wille  zu  lernen 
und  die  Erfahrung  des  einen  Feldzugs,  den  sie  gemacht  hatten,  gewisser- 
mausen  ersetzten,  was  ihnen  an  Erfahrung  der  Aeltern  mangelte.  Der 
Yerf.  rühmt  hernach,  dass  diese  Leute  in  den  sechs  Monaten  des  Waf- 
fenstillstands ganz  vortreffliche  Soldaten  geworden  seien.  Das  Folgende, 
der  zweite  Feldzug  um  1849,  hängt  mit  der  Geschichte  des  Kriegs  tob 
1849  zusammen,  da  das  Bataillon  mit  der  sardinischen  Heerabtheilung 
unter  Ramorino  verbunden,  die  Oesterreicher  hindern  sollte  von  Pavia  her 
in  Piemont  einzubrechen.  Ein  Aufriss  der  ganzen  Gegend  um  Pavia  ist 
daher  auch  beigefügt  Dort  lagen  die  Lombarden  bei  la  Cava  und  der 
Verfasser  hatte  mit  bloss  18  Mann  den  äussersten  Posten  gegen  die  her- 
vorbrechenden Oesterreicher  am  Tessioo.  Er  führt  Beispiele  voo  Ramo- 
rino's  Dispositionen  an,  welche  deutlich  beweisen,  dass  dieser  ein  ganz 
schamloser  Verrat h er  war.  Nur  mit  genauer  Noth  rettete  der  Verf.,  wel- 
cher sah,  dass  alle  andere  Posten  ebenso  ohne  UnterstUzung  und  Nach- 
richt gelassen  worden,  wie  er,  seine  18  Mann.  Er  wirft  daher  die 
Frage  auf,  wie  war  es  dem  möglich,  da  Niemand  wusste,  woran  er 
sey?  Er  antwortet:  Das  war  gauz  einfach.  Ramorino  hatte  uns  ohne 
alle  Instruction  gelassen,  wir  waren  acht  italienische  Meilen  voo  jeder 
möglichen  Hülfe  entfernt.  Der  einzige  Befehl,  der  uns  mitgetheilt  wurde, 
lautete:  Greift  an  oder  zieht  auch  zurück  ohne  auch  nur 
einmal  Feuer  zu  geben.  Gleich  darauf  giebt  er  noch  andere  No- 
tizen über  Ramorinos  Benehmen  und  über  den  bekannten  traurigen  Aus- 
gang dieses  zweiten  kurzen  Feldzugs. 

Das  zweite  Cspitel  ist  überschrieben,  das  Scheiden  (La  partenza), 
enthält  nur  sehr  wenig  Klares  und  Bestimmtes.  So  viel  sehen  wir,  dasa 
die  Piemooteser  froh  waren,  der  entschlossenen  und  fast  verzweifelten 
Schaar  der  Lombarden  und  des  Bataillons  unter  Manara  los  zu  werden. 
Sie  schafften  daher  gerne  Schiffe  herbei  und  gaben  Geld  her,  um  sie 
von  Porto  Fino  nach  Rom  zu  bringen. 

Das  dritte  Capitel  ist  Roma  überschrieben.  Der  Verf.  belehrt  uns 
aber  gleich  im  Anfange  desselben,  dass  die  Jünglinge  edler  Art,  wie  die 
drei  Märtyrer  und  ihr  Bruder  und  Freund,  der  das  Buch  geschrieben  hat, 
religiöse  und  für  das  Wahre  und  Grosse  empfängliche  Gemüther  das  fre- 
velnde und  bimmelstürmende  Benehmen  der  in  Rom  herrschenden  Sans- 
culotten durchaus  nicht  billigten.  Es  heisst  S.  162:  Was  wir  eigentlich 
in  Rom  wollten  oder  sollten,  wussten  wir  selbst  nicht  Von  der  fran- 
zösischen Expedition  wussten  wir  durchaus  Nicht«  und  Niemand  von  uns 


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i/anaoio .    j  voioniari  LOmDarai. 


könnt«  damalt  den  traurigen  Kampf  mit  den  Franzosen  nm  den  Besitz 
Rom»  voraussehen;  denn  dieser  hat  auch  ja  spater  die  Allerscharfsicht lö- 
sten in  Stannen  versetzt.    Die  Mebrsten  von  uns  fühlten  sehr  wenig  Zu- 
neigung zu  einer  Regierung,  an  deren  Spitze  Mozzini  stand,  nnd  ganz 
andere  als  politische  Beweggründe  hatten  uns  bewogen,  Piemont  zu  ver- 
lassen!   Wir  waren  überzeugt,  dass  unsere  Soldaten  im  Piemontesiscbeo 
nicht  bleiben  könnten,  wir  wünschten  daher,  ihnen  Gelegenheit  zn  geben, 
wenigstes  für  den  Augenblick  sich  einen  ehrlichen  Lebensunterhalt  zu 
verschalten,  darum  gaben  wir  sie  in  den  Dienst  der  römischen  Republik, 
da  es  ja  den  Soldaten  vergönnt  war,  wenn  sie  ihr  Schicksal  dort  nicht 
versuchen  wollten,  ihren  Abschied  zu  fordern,  ehe  sie  sich  einschifften, 
und  da  die  Offiziere  auch,  nachdem  sie  angekommen  waren,  jeden  Au- 
genblick aus  dem  Dienste  treten  konnten. 

Nach  einigen  andern  Entschuldigungen  der  sechshundert  Mann,  welche 
Manara  und  seine  drei  Freunde  den  Römern  zuführten  (den  Gebalt  und 
den  Werth  dieser  Entschuldigungen  lassen  wir  auf  sich  beruhen),  heisst 
es,  dass  sie  von  den  Mannern  der  Revolution  selbst  als  Leute  ganz  an« 
dern  Schlags  als  sie  waren,  angesehen  wnrden.  ..Wir  wollten  hernach 
zwar  eine  Italienische  Stadt  gegen  Fremde  vertheidigen ,  aber  nicht  Ja- 
nitscharen  einer  Parthei  seyn.  Die  Mazzinianer  gaben  uns,  wie  das  ganz 
iü  der  Ordnung  war,  den  Titel  des  aristokratischen  Corps  und  in  dem 
Munde  gewisser  KaCfeehaushelden ,  war  der  Beiname  wenigstens  ein  Lob 
unseres  Charakters. 

Wie  sie  in  Civitavecchia  ankamen,  lagen  dort  schon  die  14  fran- 
zösischen Fregatten  und  trotz  des  ihnen  entgegengeschickten  römischen 
Commissairs,  wollte  Oudinot  sie  nicht  ans  Land  lassen.  Des  Verfassers 
Bruder  (der  filtere  Dandolo)  ward  mehrere  Haie  ans  Land  geschickt, 
wurde  aber  immer  von  Oudinot  mit  vielem  Uebermuth  empfangen.  Er 
Sagte  ihm:  „Er  solle  dem,  der  ihn  geschickt  habe,  andeuten,  sie  sollten 
augenblicklich  wieder  umkehren.*  Manara  selbst  konnte  im  Anfange  Nichts 
erlangen.  Ihr  seyd  Lombarden,  fuhr  ihn  der  General  hart  an, 
Warum  mischt  ihr  ench  denn  in  römische  Angelegenhei- 
ten? Und  ihr  Herr  General,  erwiederte  Manara,  ohne  ans  der  Fas- 
sung zu  kommen,  ihr  seyd  von  Paris,  Lyon,  Bordeaux?  Endlieh 
erlangte  jedoch  Manara,  dasa  sein  Bataillon  sich  im  Hafen  von  Anio 
ausschiffen  dürfe. 

Weiter  unten  erzahlt  er,  dass  als  der  römische  General  Avezzena 
nach  der  Inspection  des  Bataillons  seine  Anrede  mit  den  Worten:  Es 
lebe  die  Republik,  geschlossen  habe,  nach  dem  prSsentirts  G  e- 


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Dandolo!   3  Volontari  Lombardi. 


15 


wehr  zur  grossen  Bestürzung  des  Generals,  auch  keine  Stimme  laut  ge- 
worden sey,  bis  Manara  gerufen:  Es  lebe  Italien,  dann  erst  bitten 
Alle  eingestimmt  Merkwürdig  ist,  was  der  Verf.  von  dem  ersten  Ein- 
druck sagt,  den  Rom  auf  ihn  machte. 

„Der  erste  Eindruck,  den  der  Anblick  Roma  auf  einige  von  uns 
machte,  war  der  einer  unaussprechlichen  Traurigkeit.  Unser  eigenes  trau- 
riges Geschick  hatte  uns  schon  in  den  Stand  gesetzt,  den  Verfall  einer 
Regierung  oder  einer  Stadt  beurtheilen  zu  können  und  wir  fühlten  aalt 
Schmerzen,  dass  Rom  uns  denselben  Anblick  böte,  den  Mailand  in  den 
letzten  Monaten  seiner  Freiheit  dargeboten  hatte.  Die  übermässige  Sorge 
für  Kleinigkeiten  und  für  den  Schein,  hatte  alle  Gedanken  an  das  Grosse 
erstickt.  Diese  Menge  von  Fahnen,  Cocarden ,  Schärfen,  daa  Schleppen 
der  Heldensabel  über  das  Strassenpflaster  (quelle  durlindane  straseiate  per 
!e  rie),  jene  tausend  Offiziersuniformen,  von  denen  nie  eine  der  andern 
gleich  war,  die  aber  alle  mit  einander  besser  für  Seiltänzer  und  Comö- 
dianlen  als  für  Militärs  passten;  diese  über  den  Rücken  geworfene  Halb- 
mäntel, endlich  ein  Volk,  das  ganz  friedlich  ana  den  Fenstern  und  Kaf- 
feehausern Beifall  klatschte;  Alles  diess  Hess  uns  ahnden,  dasa  wir  nur 
nach  Rom  gekommen  seien,  um  dem  Ausgange  einea  lächerlichen  Lust* 
spiels  beizuwohnen.  Diess,  sagt  er,  aey  am  Morgen  ihr  Gedanke  gewe- 
sen, weil  sie  in  dem  Getümmel  der  Strassen  weder  Soldaten,  noch  Re- 
gimenter, noch  Ordnnng  gesehen  hätten,  am  Abend  als  der  Generalmarsch 
geschlagen  worden,  weil  die  Franzosen  gegen  die  Stadt  in  Anmarsch  ge- 
wesen seien,  habe  aber  doch  die  Sache  ein  ganz  anderes  Ansehen  ge- 
wonnen. 

Wer  Rom  an  dem  Abende  sah,  erkannte  darin  die  Roma  nicht 
wieder,  die  er  am  Morgen  verlacht  hatte.  Wir  fassten  wieder  Zutrauen 
zu  ihr  (noi  ci  ricredemmo)  und  freuten  uns  ihrer  wieder,  trotz  des  trau- 
rigen Begriffs,  den  wir  von  ihr  gefasst  gehabt  hatten.  In  eilen  Quar~ 
tiren  in  der  Nähe  von  Porta  Angeliea  nnd  Cavallegieri,  lagen  kleine  sehr 
schöne  Linienregimenter  unter  freiem  Himmel;  zwei  prächtige  Bataillons 
Carabiniers,  vier  oder  fünf  Feldbatterien.  Auf  dem  Platze  Navona  lagen 
zwei  Regimenter  Reiter,  auf  den  Mauern  die  Legionen  der  Freiwilligen 
nnd  die  zahlreiche  Nationalgarde  der  benachbarten  Quartiere.  Ea  waren, 
wie  das  tu  aeyn  pflegt,  alle  die  wie  Marktschreier  Geputzten  verschwun- 
den, jeder,  der  eine  Cocarde  trug,  hatte  auch  eine  Flinte  in  der  Hand, 
um  sie  zn  schützen.  Wir  brachten  die  Nacht  auf  dem  St.  Petersplatze 
tu,  ganz  entzückt  von  dem  Anblick,  den  wir  dort  hatten;  wir  wa- 
ren erfreut ,    data  wir  uns  von  Soldaten  und  von  einem  auf  sich 


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Dandolo:    J  Volontari  Lombardi 


vertrauendem  entschlossenen  Volke  umgeben  sahen.  Jetzt  glaubten  und 
wussten  wir,  dass  Rom  allerdings  mutbiger  Weise  widersieben  werde 
und  könne;  wir  dankten  dem  Himmel,  dass  wir  doch  noch  zuletzt, 
wo  Italiens  Schande  und  sein  Missgeschick  auch  Rom  treffe,  wenigstens 
ein  offenes  Feld  gefunden  hatten,  um  durch  die  Tbat  au  beweisen,  dass 
wir  ganz  unschuldig  an  uoserm  Schicksale  seien. 

Das  französische  Manifest,  von  einer  Faction  und  einer  kleinen  Zahl 
Unzufriedener,  die  an  Allem  Schuld  sey,  von  Raubgesindel,  welches  die 
guten  Bürger  unterdrücke  u.  s.  w.,  war  auf  einem  Irrthum  oder  auf  einer 
Lüge  gegründet,  welche  dem  General  Oudinot  viel  mehr  schadete,  als 
wenn  er  sogleich  offen  gesagt  bitte,  welche  politische  Gründe  Frankreich 
gehabt  habe,  ihn  nach  Rom  zu  schicken. 

Eine  republikanische  Partei  gab  es  im  Volke  selbst  nicht,  denn 
dieses  war  aller  Parteiung  herzlich  müde,  die  Republikaner  bestanden  nur 
allein  aus  einer  Anzahl  jugendlicher  Hitzköpfe,  die  es  aufrichtig  meinten, 
zu  denen  sich  aber  ein  Haufen  von  speculirenden  Leuten  gesellte,  wel- 
che sich  überall  eindrängen,  wo  von  einer  mit  einer  ungewöhnlichen  Ver- 
fassung der  Gesellschaft  verbundenen  Unordnung  etwas  für  sie  zu  hoffen 
ist.  Das  Volk  hatte  gar  keine  politische  Farbe,  halte  aber  einen  grossen 
Hass  gegen  die  geistliche  Regierung  und  war  für  Alles  Uebrige  höchst 
gleichgültig.  Die  exaltirte  Mazzinianiscbe  Faction  wurde  in  Rom  viel- 
mehr geduldet  als  gern  gesehen,  die  Soldaten  aber,  welche  die  Stadt 
wirklich  verteidigten,  wurden  geliebt  und  unterstützt.  Jeder  Verwundete, 
der  auf  der  Strasse  ging,  wurde  mit  liebevoller  Theilnabme  von  einem 
Gedränge  umgeben  und  mit  einer  nicht  auszusprechenden  Besorgniss  ge- 
pflegt uud  gehegt.  Ick  selbst  habe  oftmals  gesehen,  wie,  wenn  es  an 
•Her  Leinwand  in  den  Spitälern  msngelte,  beim  eintönigen  Ruf  der  Kran- 
kenpfleger: Un  po"  di  biancheria  pei  poveii  ferili,  aus  jedem  Fenster  die 
feinsten  Betttücher,  Binden  und  andere  Leinwand  regnete. 

Das  vierte  Capitel  ist  überschrieben  I  Napoletani  und  dreht  sich 
hauptsächlich  um  die  Unterhandlungen  mit  Lesseps  über  eine  Cspitulation, 
welche  hernach  von  Oudinot  verworfen  ward.  Während  nämlich  Oudi- 
not still  lag,  um  sein  Belagerungszeng  zu  erwarten,  trafen  bei  Albano 
und  Frascati  die  Neapolitaner  ein,  die  ihr  König  in  Person  dahin  geführt 
-hatte.  Garibaldi,  der  berüchtigte  Führer  der  verzweifelten  Schaaren,  die 
von  Montevideo  gekommen,  mit  einem  Theile  seiner  Legion,  mit  einem 
Bataillon  Scharfschützen,  Douaaiers,  der  Universitätsiegion,  zwei  Compag- 
nien  mobiler  Nationalaardon  und  einigen  andern  Schaaren  Freiwilliger  wur- 
den  ans  Born  gegen  die  Neapolitaner  beordert,  Manara  war  also  unter 
Garibaldis  Befehlen.  (Schluu  folgt.) 


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fr.  2.  HEIDELBERGER  1851. 

JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR 


f 


Daiidolot  I  Volontär!  Lombardl. 


( ^5  C  Ii  1 US3. ) 

Das  Heer  Garibaldi^  übernachtete,  ehe  es  die  Neapolitaner  er- 
reichte, in  der  prachtigen  Villa  Hadrian i ,  welche  im  Lichte  der  vielen 
Feoer,  die  in  den  Ruinen  und  Grotten  brannten,  einen  ganz  sonderbaren 
und  fantastischen  Anblick  bot. 

Garibaldi  und  sein  Generalstab  trugen  scbarlachfarbene  Blousen, 
Kopfbedeckungen  aller  Arten  und  Formen,  ohne  alle  unterscheidende  Zei- 
chen oder  Zierrathen  militärischen  Schmucks.  Sie  ritten  auf  amerikani- 
schen Sätteln  und  bewiesen  absichtlich  grosse  Verachtung  für  Alles  das, 
was  in  regulären  Armeen  mit  grosser  Strenge  eingeschärft  und  beobach- 
tet wird.  Ihre  Ordonnanzen  (lauter  Leute,  die  aus  Amerika  gekommen) 
hinter  sich,  gingen  sie  zu  einander  und  von  einander,  liefen  hierhin  and 
dorthin,  thätig,  eilend,  unermüdlich.  Wenn  Halt  gemacht  wurde  and  die 
Soldaten  ihre  Waffen  zusammen  stellten,  sprangen  der  General  and  seine 
Offiziere  vom  Pferde  und  pflegten  und  fütterten  jeder  das  Seinige  selbst 
Wenn  die  nahen  Dörfer  keine  Lebensmittel  liefern  konnten,  so  warfen 
sich  drei  oder  vier  Obersten  oder  Majors  auf  das  ungesattelte  Pferd  and 
sprengten  mit  ihren  langen  Lazzo's  versehen  im  gestreckten  Galopp  durchs 
Feld  hinter  Ochsen  oder  anderes  Vieh.  Hatten  sie  eine  gute  Zahl  Rind- 
vieh zusammen  gebracht,  so  kehrten  sie  um  und  trieben  ihr  geraubtes 
(malcapito)  Vieh  vor  sich  her.  Sie  vertheilten  darauf  eine  bestimmte 
Zahl  davon  an  jede  Compaguie  und  dann  machten  sich  Alle  mit  einander, 
Soldaten  und  Offiziere  daran,  die  Häute  abzuziehen,  zu  zerschneiden  und 
rund  um  ungeheure  Feuer  gelagert,  ganze  Viertel  von  Ochsen,  ganze 
z'e?en,  ganze  kleine  Schweine  zu  braten,  ohne  der  Hühner,  Gänse  u.  s.  w. 
xu  gedenken.  Wenn  Generalmarsch  geschlagen  wird,  dienten  dieselben 
Lazzo's,  mit  denen  man  die  Ochsen  gefangen,  die  Pferde  wieder  einzu- 
engen, die  bis  dahin  ganz  frei  auf  den  Wiesen  umherliefen.    Das  Corps 

m 

log  darauf  fort,  ohne  zu  wissen,  wo  es  am  folgenden  Tage  seyn  würde. 
Garibaldi,  fügt  der  Verf.  hinza,  habe  mehr  dem  Anführer  einer  Horde 
Nomaden  als  einem  General  geglichen ;  was  ihm  aber  als  General  gefehlt 
Habe,  das  habe  er  zum  Theil  durch  seine  Staunens  würdige  Tätigkeit  ersetzt. 
HIV.  Jahrg.  1.  Doppelheft.  2 

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i&  Dnndolo:    I  Volonlari  Lombardi. 

»    •  .  .  ... 

Die  Legion  war  gegen  tausend  Mann  stark  and  bestand  ans  der 
allerwunderlichsten  Znsammeosetzongderallerverschiedensten  Art  von  Laoten. 
Es  waren  darunter  Knaben  von  12 — 14  Jahren,  einige  vom  edelsten  Ent- 
husiasmus, andere  von  naturlicher  Unruhe  getrieben,  ferner  alte  Soldaten, 

welche  der  Name  und  der  Ruhm  des  berühmten  Condottiere  von  Monte« 
video  um  ihn  vereinigt  hatte,  und  mitten  uuter  diesen  viele  von  den 
Leuten,  welche  in  der  Verwirrung  des  Kriegs  Ungestraftheit  und  Ausge- 
lassenheit suchen.  Die  Offiziere  waren  unter  den  Muthigsten  gewählt  und 
wurden  ohne  Rücksicht  auf  irgend  eine  Regel  oder  ein  Dienstalter  zu 
den  hohem  Stellen  befördert.  Heute  sah  man  einen  mit  dem  Säbel  an 
der  Seite,  er  war  Hauptmann;  morgen  nahm  er,  der  Abwechselung  we- 
gen, die  Muskete  wieder  auf  die  Schulter  und  war  gemeiner  Soldat.  Der 
Sold,  und  zwar  ein  recht  reichlicher,  fehlte  nie,  denn  er  ward  mit  Pa- 
piergeld bezahlt,  welches  dem  die  Republik  regierenden  Triumvirat  nichts 
weiter  kostete,  als  die  Mühe  es  zu  stempeln.  Die  Zahl  der  Offiziere 
war  übrigens  ohne  alles  Verhültmss  grösser  als  die  der  Soldaten.  Der 
Wagenmeister,  der  das  Gepäck  besorgte,  war  Hauptmann;  der  Haushof- 
meister oder  vielmehr  der  Koch  des  Generals,  war  Lieutenant;  der  Ge- 
n  er  a  Ist  ab  bestand  aus  lauter  Majors  und  Obersten.  Der  Verf.  fügt  hinzu, 
dass  er  diess  sage,  damit  man  sehe,  dass  die  römische  Regierung  noch 
viel  freigebiger  mit  Anstellungsdecreten  gewesen  sey,  als  die  provisori- 
sche Regierung  der  Lombardei,  der  man  doch  darüber  so  viele  Vorwürfe 
gemacht  habe. 

Das  Zusammenleben  mit  diesen  Freiwilligen  wirkte  so  nachtheilig 
auf  die  Disciplin  der  Colonne  Manara's,  die,  seit  sie  piemontesisch  ge- 
worden, regelmassig  militärisch  eingerichtet  war,  dass  in  Tivoli  die  Sa- 
chen dabin  gediehen,  dass  sich  die  Offiziere  freiwillig  versammelten)  und 
dem  Major  Manara  zu  erkennen  gaben ,  dass ,  wenn  das  Bataillon  nicht 
von  der  Gesellschaft  der  Freischaaren  getrennt  und  mit  regulirten  Trup- 
pen vereinigt  würde,  sie  alle  mit  einander  ihren  Abschied  nehmen  wür- 
den, weil  sie  Soldaten  unter  sich  haben,  nicht  aber  Führer  indisciplinirter 
forden  «eye  wollten.  Mit  dieser  Erschliessung,  welcher  Manara  alsbald 
seine  Zustimmung  gab  und  der  er  sich  anschloss,  wurde  der  Lieutenant 
Dandolo  sogleich  nach  Rom  geschickt,  um  sich  darüber  mit  dem  Minister 
Aveuano  mündlich  zu  unterhalten.  Dieser  billigte  und  lobte  unsern  Ent- 
schluß und  schrieb  als  Antwort,  wir  möchten  uns  nur  noch  einige  Tage 
gedulden,  dann  würde  unserer  Bitte  entsprochen  werden.  Sobald  jedoch 
die  Soldaten  sahen,  dass  es  uns  Ernst  sey,  von  ihnen  zu  scheiden,  machte 
die  Furcht«  Offiziere  zu  verlieren,  mit  denen  sie  so  viele  Monate  hindurch 
*  •  ♦ 


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Dandolo:    l  VoJontari  Lombard? 


zasammen  gedient  hatten,  sie  gelehriger  und  gehorsamer,  so  dt*  wir 
nachher  ans  nicht  mehr  sehr  (gravamente)  über  sie  zu  beschweren  betten. 

Die  Geschichte  der  Vertreibung  der  elendes  neapolitanischen  Sol- 
daten bietet  ans  nichts  Merkwürdiges,  als  die  Erkennlniss  der  unglaub- 
lichen Beschwerlichkeiten  und  Anstrengungen,  welche  die  jungen  zärtlich 
erlogenen  Mailänder  eben  so  standhaft  ertrugen,  als  die  halbwilden  Strei- 
ter von  Montevideo.  Wes  den  ausposaunten  Sieg  Garibaldi  bei  Velletri 
angeht,  so  behauptet  Herr  Dandolo,  es  sey  diess  kein  Sieg  gewesen,  die 
Neapolitaner  würden  wahrscheinlich  auch,  wenn  sie  nicht  von  ihnen  und 
voo  Garibaldis  Schaven  wären  angegriffen  worden,  Velletri  geräumt  ha- 
ben. So  viel  ist  indessen  einleuchtend,  dass  die  in  Rom  gesammelten 
Trappen  mit  Löwenmulh  und  zugleich  mit  sehr  viel  militärischer  Geschick- 
lichkeit gegen  die  an  Zahl  so  unendlich  überlegenen  Franzosen  und  Nea- 
politaner zu  gleicher  Zeit  kämpften.  Die  elenden  Knechte  des  Königs 
von  Neapel  mit  ihren  Heiligenbildern  und  Amuletten  im  Tornister  hatten 
den  Bauern,  die  ihnen  glaubten,  erzählt,  die  Republikaner  wären  lauter 
Konolle,  welche  der  Teufel  geschickt  hätte,  um  die  Kinder  zu  fressen 
und  die  Häuser  su  verbrennen.  Das  half  aber  Alles  nickte,  das  neapo- 
litanische Heer  ward  schimpflich  nach  Set.  Germano  gejagt  und  wäre 
noch  weiter  verfolgt  worden,  wäre  nicht  Garibaldis  Heer  durch  einen 
Eilboten  nach  Rom  zurückgerufen  worden.  Die  Bauern  hatten  den  Nea- 
politanern und  den  Predigten  der  gegen  die  Pfafifenfeinde  sehr  erbitterten 
Mönche  um  so  mehr  geglaubt,  dass  Garibaldis  Soldaten  Seelen  der  Hölle 
in  menschlichen  Leibern  seien,  als  sie  ohne  alle  Schonung  verfuhren  und  , 
der  vorher  beschriebene  Aufzug  von  Garibaldis  Generalstab,  ihnen  aller- 
dings ein  Ansehen  voo  Ko holten  gab.  Am  1.  Jnni  1849  war  das  Mai- 
landische Bataillon  wieder  in  Rom.  Das  fünfte  Capitel  hat  die  Ueber- 
schrift:  Der  dritte  Juni.  Es  ist  diess  der  Tag,  an  welchem  die 
Feindseligkeiten  mit  den  Franzosen  wieder  begannen,  nachdem  Oudinot 
den  von  Lesseps  geschlossenen  Waffenstillstand  verworfen  hatte.  Er  über- 
fiel die  Republikaner,  schnitt  die  ausserhalb  des  Thores  San  Pancrazio  ste- 
henden Heeresabtbeilungen  ab  und  besetzte  die  Villa  Pamfili  und  Villa 
Corsini,  als  die  besten  Punkte,  um  die  Stadt  zu  beschiessen.  Die  Ge- 
schichte der  Kanonade,  wodurch  die  Villa  Corsini  und  Valentini  fast  ganz 
zerstört  wurden,  ist  bekannt  genug,  über  die  Leitung  des  verzweifelten 
Angriffs,  den  die  Triumviren  auf  die  französische  Stellung  durch  Garibaldi 
machen  Hessen,  fällt  der  Verf.  p.  203  folgendes  Urtheil:  »Garibaldi  be- 
wies sich  in  den  Gefechten  am  3.  eben  so  unleugbar,  als  einen  durch- 
au  unbrauchbaren  Divisionsgeneral  als  er  sich  in  den  Märschen  und  Schar- 

3* 


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Dandolo:   I  Volontari  Lombardi. 


mützeln  mit  den  Neapolitanern  als  einen  tüchtigen  Anführer  von  unter- 
nehmenden Haudegen  (ahile  e  avvedato  Capo-banda)  bewiesen  hatte. 

Die  Geschichte  der  schändlichen  französischen  Treulosigkeit,  wo- 
durch sein  edler  und  tapferer  Bruder,  der  Hauptmann  Dandolo,  das  Leben 
verlor,  welche  der  Verf.  p.  207  erzählt,  muss  jedes  menschliche  Gemüth 
empören,  welcher  Nation  und  welcher  Partei  es  auch  immer  angehören 
mag.  Der  junge  Mann  hatte  eben  mit  seiner  Compagnie  unter  fortwäh- 
rendem Feuern  die  Höhe  des  Palastes  Corsini  erstiegen,  als  eine  franzö- 
sische Comgagnie  aus  einem  Theile  des  Palasts  hervorkam,  deren  Offizier 
mit  dem  Degen  freundliche  Zeichen  gab,  und  wie  er  näher  kam,  Dando- 
lo's  Compagnie  auf  italienisch  zurief:  Siamo  amici.  Jetzt  Hess  Dandolo 
das  beim  Anblick  des  Feindes  sehr  heftig  gewordene  Feuern  einstellen. 
Als  man  sich  auf  dreissig  Schritte  nahe  gekommen  war,  trat  der  Offizier 
plötzlich  bei  Seite  und  ein  furchtbares  Feuer  streckte  sogleich  den  drit- 
ten Theil  der  Compagnie  zu  Boden.  Eine  Kugel  traf  Dandolo  durch  und 
durch  die  Brust;  sein  jugendlicher  Unterlieutenant  ward  in  die  Seite  und 
in  den  Arm  getroffen,  die  Andern  wichen  erschrocken  zurück,  nur  Mo- 
rosini allein  blieb  bei  seinem  sterbenden  Freunde.  Obgleich  er  die  Ziel- 
scheibe der  Schützen  geworden  war,  traf  ihn  doch  kein  Schuss.  Nach 
einem  kurzen  Zwischenräume,  während  das  Feuern  ein  wenig  nachliess, 
stürzten  zwei  Soldaten  heran  und  trugen  den  sterbenden  Hauptmann  weg: 

Presero  in  braccio  il  moriente  capitano,  che  moveva  le  labbra  in  j 
atto  di  pregare.    Nel  penoso  tragitto  ei  rende  Tanima  a  Dio.  Mio 
fratello  non  conlava  ancora  22  anni;  gracile  della  persona,  egli  aveva 
un  anima  cosi  belle 9  un  criterio  si  sano  e  una  cosi  ammirabile  cos- 
tanza  e  santitä  de'  prineipii,  che  a  quanti  lo  conoscevano  era  oggetto  | 
di  stima  e  alTetto  vivissimo.  I 
Das  zunächst  Folgende  zeigt  edle  Gefühle  und  richtigen  Ventand« 
Garibaldi  s  Befehle  scheinen  im  Wahnsinn  gegeben.    Welcher  Schade  für 
Italien,  dass  solche  Gemüther  und  Seelen,  wie  die  der  jungen  Patrizischen 
Patrioten  in  Staatsacben  einem  Mazzini  und  in  Kriegsangelcgenheiten  ei- 
nem Garibaldi  gehorchen  musstenü 

Während  Garibaldi  unsinnige  Befehle  ertheilte  und  die  Lente  auf 
die  Schlachtbank  schickte,  irrte  der  Verf.  des  Buchs,  dem  ein  Soldat  im 
Vorbeigehen  zugerufen  halte,  dass  der  Hauptmann  gefallen  sey,  verzwei- 
felnd umher,  um  wenigstens  die  Leiche  zu  suchen,  bis  ihn  endlich  Manara 
zu  sich  rufen  liess.  Alle  andere,  sagt  er,  gingen  bei  Seite,  weil  sie  nicht 
Kraft  in  sich  fühlten,  einem  so  zerreissenden  Auftritte  beizuwohnen.  „Laufe 
nicht  herum,  Deinen  Bruder  zu  suchen",  sagte  er,  „mein  unglücklicher 


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Beiträge  rar  vaterländischen  Geschichte« 


21 


Freund  und  drückte  mir  die  Hand,  Do  kommst  zu  spät,  ich  will  künftig 
Dein  Bruder  seyo  (ti  farö  io  da  fratello).  Ich  stürzte  platt  (boccooe) 
auf  die  Erde,  ohnmächtig  voo  meiner  schlecht  geheilten  Wunde,  von  der 
Angst,  die  ich  seit  einigen  Stunden  ausgestanden  hatte  und  vom  Schmerze 
über  die  Nachriebt,  die  er  mir  mitgetheilt  hatte. 

Das  sechste  Capitel  ist  überschrieben :  I/Assedio.  Der  Verf.  erklärt 
aber  ausdrücklich,  dasa  er  zwanzig  Tage  an  seinen  Wunden  darnieder 
lag,  also  wenn  er  auch  wollte,  was  nicht  der  Fall  sey,  doch  über  den 
Gang  der  Begebenheiten  nicht  berichten  könne.  Wir  können  uns  daher 
über  die  letzten  Capitel  des  Buchs  um  so  mehr  kurz  fassen,  als  der  Verf. 
»dbs^  rfitfissm  ^efuncien  liQt  ^  den  Bericht  dos  fr3DX^)sisofaßO  HHuptmÄODS 
Delsmas  über  die  Belagerung  von  Rom  io  einer  italienischen  Uebersetzung 
ab  Anhang  von  p.  253 — 303  seinem  Boche  beizufügen. 

Das  Anziehende  des  Inhalts  der  beiden  Capitel,  von  denen  das 
Letzte  der  dreissigste  Juni  überschriebeo  ist,  liegt  in  den  Empfin- 
dungen des  Verf.  und  in  ihrem  Aosdrocke,  wir  mttisten  aber,  wenn  wir 
dieis  wiedergeben  wollten,  wörtlich  übersetzen  ,  was  weder  unsere  Zeit 
noch  der  Raum  erlaobt.   .  , 

Tief  bewegend  ist  die  Erzählung  voo  Morosioi's  Heldentod  am  30« 
Er  war  Hoch  nicht  achtzehn  Jahr  und  kämpfte  noch  fort,  als  er  schon 
todtücb  verwundet  war. 

Der  Verf.  ward  neben  Manara  am  Arme  verwandet,  Maoara  gleich 
darauf  tödtlich  verwandet,  Son  morto,  mi  disse  ti  raecommando  i  miei 
figli.  Dann  flüstert  er  dem  sterbeoden  Freunde  ins  Ohr:  Pensa  al  sig- 
oore,  er  antwortet:  Oh  ci  penso,  e  molto,  verlangt  die  letzte  Oelong  and 
empfiehlt  dem  Freunde  seinen  Leichnam  nebst  dem  seines  Bruders  io  die 
Lombardei  tu  schicken  und  die  Erziehung  seioer  Kinder  zu  leiten. 


Beiträge  **tr  vaterländischen  de  schichte.  Herausgegeben  ron  der  histo- 
rischen Gesellschaft  zu  Basel.  Vierter  Band.  Basel,  bei  Schweig- 
hauser  1850.  8.  IX.  Vorbericht.  404  S.  Text. 

Wenn  man  bei  historischen  Forschungen  meistens  von  den  getrenn- 
ten T heilen  zum  verknüpfenden  Ganzen  fortschreiten  soll,  so  entspricht 
auch  dieser  Baod,  am  die  Geschiebte  eioer  einzelnen  Stadt  sich  drehend, 
vollkommen  dem  Zweck  des  gelehrten  und  thütigen  Vereins.  Er  will 
lediglich  zunächst  die  Vergangenheit  des  engern  Vaterlandes  durch  gründ- 
liche ood  doch  lesbare  Darstellungen  aufhellen  oder  weoigsteos  nur  solche 


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Beitrage  zur  Valeriana  isenen  ucscnicme. 

Gegenstände  anderweitigen  Inhalts  wühlen,  welche  mit  de«  eigentlichen 
Ausgangspunkte,  der  Specialgeschichte,  in  einem  innern  Zusammen- 
hange, in  einer  gewissen  Wahlverwandtschaft,  stehen.  Dieses  Zurück- 
gehen anf  entlegene  Zeitverhliltnisse  ist  um  so  achtenswerther,  je  häufiger 
die  Menschen,  namentlich  unserer  etwas  bewegten  Zeit,  nur  von  ihren 
neuesten,  kleinen  Weltbegebenheiten  reden  nnd  schreiben.  Welche 
Sündfluth  von  grössern  und  geringfügigem  Büchern  hat  I.  B.  Teutschland 
Uber  seine  jüngste  After-  oder  Quasirevolntion  erzeugt  und  dem  Trö- 
delmarkt zugeführt !  Ein  gnter,  wenn  auch  mit  etwas  Hautgout  behafteter 
Literaturbraten.  Die  Leute  kaufen,  lesen  und  hetzen  einander  an,  werden 
aber  selten  klüger  oder  besser.  Ex-Minister,  Exrevoluzers,  Ex-Deputirte, 
Professoren ,  Hof-  und  Geheimräthe ,  alle  Vertreter  der  mannichfaltigsten 
Stände  -  nnd  Bürgerklassen  hüben  ihren  Beitrag  wie  zur  dramatischen 
Handlung,  so  zur  literarischen  Scenerie  gegeben,  und  das  leselustige  Pu- 
blikum wird  nie  matt  im  Kaufen  und  Anfeuern  trotz  aller  Lasten  und  Stenern. 
Die  reiche  Nachbarstadt  leistet  also  dem  armen,  schwer  heimgesuchten 
Granzlande  ge wissernassen  schon  dadurch  einen  kleinen  Dienst,  dass  sie 
die  eigene  Revolutionszeit  der  Dreissigerjahre  gemach  in  den  Schleier 
der  literarischen  Vergessenheit  einhüllt  und  dafür  ältere,  den  Zeitungen 
weniger  bekannte  Dinge  dem  prüfenden  Auge  des  Forschers  nnd  dem 
Griffel  des  Darstellers  unterwirft.  Der  erste  Aufsatz,  Jakob  Sarasin 
und  seine  Freunde,  von  Hegenbach,  gibt  ein  anziehendes  Bild  nicht 
nur  der  genannten,  dem  hohem  Bürger-  uud  Kaufmannsstande  angehöri- 
gen  Persönlichkeit,  sondern  auch  der  I i t e r a r-  und  kulturgeschicht- 
lichen Verhältnisse  der  Schweis  und  Teutschlands  in  den  beiden 
letzten  Jahrzehnten  des  achtzehnten  und  den  ersten  Jahren  des  neun- 
zehnten Jahrhunderts.  Denn  der  vielseitig  gebildete,  der  Prosa  und  r\>esie 
kundige  Basler  Kaufherr  (geb.  1742,  gest.  1802)  stand  mit  mehreren 
Zierden  der  damaligen  Kunst  und  Wissenschaft  in  freundlicher  Verbindung, 
unterhielt  neben  einem  gastlichen  Hause  lebhaften,  nicht  allein  auf  Wech- 
selgeschäfte gerichteten  Briefverkehr,  schrieb  Tagebücher  und  Abhandlun- 
gen mannichfaltigen,  über  den  üblichen  Broterwerb  weit  hiuausreichenden 
Inhalts.  Er  war  ein  Liebhaber  und  Gönner  der  freien  Kunst  und  Wis- 
senschaft, bescheiden,  anregend,  hilfreich  in  dieser  Stellung,  nicht  un- 
ähnlich dem  Halberstädter  Canonikns  Gleim,  weicher  freilich  einen 
grösseren  Spielraum  für  die  Entfaltung  seiner  geistigen  und  materiellen 
Mittel  besass.  Ans  dem  literarischen  Nachlass  und  mehrfachen  Familien- 
nachriculen  hat  nun  der  Verf.  den  Stoff  zu  der  artigen  und  lehrreichen 
Lebenisknze  geschöpft.    Er  bemerkt  mit  Recht,  dass  die  poetischen 


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Beiträge  zur  vaterländischen  Geschichte.  23 

Ergüsse  und  prosaischen  Aufsätze  den  Grundzag  des  eigentlichen  Di- 
lettanten tragen,  und  dass,  wie  die  geistvolle  Fraa  G.  Schlosser' g 
artheilte,  der  Hansvater  erscheint,  welcher  seine  baam wollene  Sehlaf- 
fcippe  auf  ein  Ohr  setzt  und  den  Herrn  den  Text  liest.  —  (8.  15.} 
Davon  geben  neben  anderm  die  geschraubten  Liebes*  und  Bake  hos- 
Ii e der  Zengniss,  zu  denen  sich  in  den  achtziger  Jahren  des  abgewichenen 
Jahrhunderts  ans  Modesucht  ganz  nüchterne  und  hausväterliche  Naturen  in 
der  Schweiz  und  Teutschland  zn  begeistern  pflegten. 

Diese  conventionelle  Poesie  erweckt  jetzt  Lficheln,  eben  weil 
kerne  Wahrheit  in  ihr  ist;  nach  vierzig  bis  fünfzig  Jahren  wird  man, 
falls  sie  so  lange  ausdauern,  ebenso  mitleidig  die  Achsel  zucken  über  den 
Rausch  der  forcirten  Freiheits-  und  Politiklieder,  wie  sie  von  Herwegh 
und  andern  bereits  halb  verschollenen  Poeten  angestimmt  und  bewundert 
worden.  Und  warum?  Weil  sie  kein  achtes  Gefühl,  keine  nachhal- 
tige Ueberzeugung ,  etwa  wie  die  Körn  ergehen  von  1813,  ausspra- 
chen, sondern  nur  die  Faust  in  der  Tasche  ballten,  beim  ersten  Kanonen- 
schuss  den  Rebhühnern  ähnlich  davonliefen.  —  DieProsaabhandlun- 
gea,  meistens  patrio  tisch-philosophiseben  Inhalts,  stehen  schon 
höher;  sie  verrat hen  Beobachtungsgabe  und  Urtheilsscharfe.  So  schildert 
l  B.  ein  Aufsatz  mit  Feinheit  und  Freimut!»  die  Grundzüge  des  schweizeri- 
schen Nationalcharakters  (S.  23}  Selbstgefühl  der  Independenz, 
Vorliebe  zum  besondern  Vaterland,  Cordialität,  Timidität,  nicht 
Furchtsamkeit,  die  ihm  nicht  zulasse,  sich  mit  ersehnlichen  Partikularen  monar- 
chischer Staaten  auf  einen  vertrauten  Fuss  einzulassen,  daher  in  Negotia- 
tionen,  Bündnissen  und  Verträgen  oft  Nachtheil  erleidet,  Egoismus,  der 
immer  mehr  anwächst  und  endlich  das  allgemeine  Wohl  Helvetiens  unter- 
graben wird,  der  mit  Zeit  nnd  Gelegenheit  aus  unsern  Tagesatzungen 
Reichstage,  nnd  aus  unsern  Rathsversammlungen  Ohservationskorps  machen 
wird  u .  s.  w.  Von  dem  damaligen  Basel  (der  Siebe  nzigerjahre)  heisst 
es:  „Ein  Müssiggönger  ist  das  abscheulichste  Unding,  das  je  die  Natur 
ia  ihrem  Zorn  hervorgebracht  bat.  —  Allgemeiner  Schauder  beim  Anblick 
eiaes  solchen  Unwesens  ist  das  Gefühl  jedes  redlichen  Bürgers."  (S.  29.) 
Darauf  schildert  der  Verf.  oft  nach  bisher  unbekannten  Mtttbeilungen  die 
Freunde  Sarasin's,  wie  sie  sich  häufig  in  Briefen  und  Reimen  darstellen. 
Zuerst  kommt  Lava t er,  ans  dessen  Briefen,  Zettelchen,  Kärtchen  und 
Randglossen  manche  charakteristische  Kleinigkeiten  zum  ersten  Mal  ver- 
öffentlicht werden.  (S.  38 seqq.)  So  lautet  ein  Spruch:  „Es  gehört 
xom  Zeitalter  der  Inhumanität,  inhuman  zu  seyn.u  —  Leute,  die  nie  recht 
haben,  haben  immer  recht.  —  Lerne  Grosses  wirken  durch  Kleines  in 


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24 


Beiträfe  zur  vaterländischen  Geschichte. 


heiliger  Liebe"  o.  f.  w.  —  Die  Licht-  und  Schattenseiten  des  jedenfalls  un- 
gewöhnlichen Mannes,  weicher  noch  nicht  angemessen  gewürdigt  wurde, 
schimmern  hier  durch ;  wenn  er  hier  für  den  Magus  im  Norden,  Hamann, 
das  Ehrengeschenk  voo  4000  Thalern  vertraulich  einberichtet  und  gele- 
genheitlicb  die  Freunde  für  seiue  eigene  Gemaideliebhaberei  in  Anspruch 
nimmt,  so  glaubt  er  dort,  den  Apostel  Johannes  mittelst  förmlicher 
Vision  geschaut  zu  haben.  „Täglich,  ja  stündlich,  heisst  es  in  einem  Brief- 
eben an  Sarasin  (1796),  hab'  ich  Spuren,  dass  mich  der  Geist  des  Aus- 
erwähltesten umschwebt.  Er  hiess  mich  ausdrücklich  hierher  gehen.  Ihn 
selbst  sah  ich  wieder  leiblich...  leb  badete  in  dem  Bade,  in  welchem  Er 
badete.  Er  nimmt  alle  Gestalten  an;  bald  kommt  er  als  Greis,  bald  als 
Jüngling,  bald  als  kleiner  Knabe,  ist  unerkennbar  und  unverkennbar." 
(S.*48.)  Durch  dergleichen  Ausschweifungen  der  Imagination  kam  denn 
der  liebe  Zürcherprophet,  wie  Schlosser  ihn  nennt,  nicht  nur  in  hef- 
tige Conflicte  mit  den  Berlinern  Aufklärern ,  sondern  auch  mit  Freunden 
and  Wohlgesinnten.  Bei  dem  Allen  wurde  aber  die  Hochachtung  gegen 
den  Gevatter  Hans  Caspar  niemals  gemindert  oder  erschüttert.  Uebrigens 
hatte  die  Bibliothek  des  Antistitiums  in  Basel  noch  manchen,  so  viel  be- 
kannt ist,  ungedruckten  Beitrag  zur  Charakteristik  liefern  können.  Es 
möchte  zejtgemäss  seyn,  an  etliche  Bruchstücke  dieser  Art  hier  zu  er- 
innern. „Es  ist  eine  Zeit  zu  schweigen  und  eine  Zeit  zu  reden."  (La- 
va ter  an  Meriau.  1775.)  —  „Ich  wUnsche  für  einzige  acht  Tage  ab  Ihrer 
Stadtbibliothek  zu  haben :  Joachim  Calaber ,  Kommentarien  Uber  Jesaias. 
Dort  soll  die  schönste  Ausgabe  davon  seyn.  Merkwürdige  Deutuugen  auf 
die  gegenwärtige  Weltlage  sollen  in  diesen  Büchern  vorkommen.  Ich 
möchte  eben  selbst  sehen  und  untersuchen,  da  ich  zu  zweifeln  Ursache 
habe."  (Derselbe  1794.)  —  Am  Tage  vor  seinem  Tode  (2.  Janner  1801) 
schrieb  der  schwor  Leidende: 

a 

„Angetreten  auch  diess  Jahr,  diess  Jahrhundert,  o  Vater! 
Hallclnjah  von  jedem,  dem  Du  noch  Odern  vergönnst! 
Ziehe  die  Hand  nicht  ab  von  uns,  Du  Aller  Erbarmer! 
Unsere  Freude  scy  Du  und  unsere  Hoffnung  und  Hülfe! 
Täglich  werde  Du  mehr  von  uns  gesucht  und  gefunden! 
Jede  wachsende  Noth  verbinde  uns  inniger  mit  Dir! 
Jeder  Abend  finde  des  Daseyns'und  Deiner  uns  froher  !w 
Am  24.  November  1800  empfing  Rathsherr  von  Mechel  folgen- 
den Zettel : 

„Freund  Mechel  in  Basel  herzlich  gegrüsst  durch  eine  brave  Reise- 
gesellschaft Tobler  und  Comp,  von  dem  immer,  vom  Morgen  zum  Abend 
an  fünf  Uebeln  leidenden  Lavater.    1.  Brustbeklemmung  oft  zum  Ver- 


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Beiträge  zur  vaterländischen  Geschichte. 


schmachten.  2.  Peinlicher  Krampfhaften.  3.  Heftiger  Schmer*  too  aus- 
gewichenen Rippen  linker  Seite.  4.  Rückenschmerz  von  Dislokation  des 
Ruckgrales.  5.  Wassernotb,  oft  zum  Entsetzen/'  Der  Leidende  trug  be- 
kanntlich eine  Kugel  im  Leibe.  —  An  die  Freunde,  welche  ihn  wahrend 
seines  Arrestes  in  Basel  (1799)  besucht  hatten,  wurde  dieser  Abschieds- 

gross  gerichtet: 

„Wie  ich  sollte,  wiederbesuchen  kann  ich  Euch  jetzt  nicht; 
Die  ihr  so  freundlich  mir  kamt  in  meinen  lieblichsten  Einschlug 
Nehmt  das  kunstlose  Wort  des  herzlichen  Danks  für  Besuch  an! 
Glücklicher  war  ich  noch  nie  in  dem  oft  mich  erfreuenden  Basel. 
Ich  erkläre  mich  gern  als  der  Freunde  ewigen  Schuldner. 
Könnt  ich  Euch  Segen  erwünschen  und  Freuden  des  harmlosen  Lehens! 
Lehrreich  war  und  erheiternd  der  biedern  Edlen  Besuch  mir. 
Kommt  Ihr,  freier  als  ich,  ins  Krieger  entlastete  Zürch  einst, 
Werdet  ihr  Blicke  des  Danks  in  der  Meinigen  fröhlichem  Aug'  sehn.  — 
Blutzeit!  eile  vorbei!  —  verschwindet  druckende  Heere, 
Das»  wir  froher  Euch  sehen,  führt  Gott  uns  wieder  zusammen. 
Flehe  Jeder  zu  Gott:  „Gott  sende  Uelvetien  Frieden!"  — 

Darauf  folgen  Nachrichten  Uber  den  Dichter  Pfeffel  (st.  1809 J, 
Freund  Sarasins,  und  seiner  Frau  (Zoe  poetisch);  der  Literarhistori- 
ker wird  manches  Erspriessliche  aus  den  Mittheilungen  schöpfen.  Schade, 
dass  der  Verf.  die  Briefauszüge  aus  der  Revolutionsperiode  dem  Leser 
bisher  vorenthalten  bat;  aus  solchen  Nachrichten  denkender  Zeitgenossen 
lernt  der  Kundige  viel,  seihst  der  ordinäre  Compilator.  Pfeffel,  wel- 
cher im  hohem  Alter  hauptsächlich  Fabeln  dichtete,  „weil  die  Bestien  oft 
bessere  Gesellen  seien  als  die  Menschen u,  begrüsste  den  Anfang  der  Re- 
volution mit  grossen  Hoffnungen,  wandle  sich  aber  später  davon  trauernd 
sb  und  betrachtete  die  gewaltige  Katastrophe  ans  dem  christlich  religiösen 
Standpunkt  als  Reinigungsfeuer  der  Menschheit.  „Der  liebe  Gott,  schrieb 
er  neben  anderm,  hat  doch  ein  besonderes  Talent,  Schlingel  und  böse 
Buben  wider  ihr  Wissen  und  Wollen  zu  Dienern  seiner  wichtigsten  Plane 
zu  machen.  Seit  den  Hunnen,  Gothen,  Yandalen  ist  nicht  geschehen,  was 
jetzt  geschieht.  Aber,  aber  —  als  die  Hennen,  Gothen  und  Yandalen 
ihr  Zuchtoieisteramt  ausgeübt  hatten ,  mussten  auch  sie  die  Hosen  abzie- 
hen nnd  endlich  wurden  sie  gar,  wie  eine  unnütz  gewordene  Ruthe,  ins 
Fener  geworfen."  (S.  64.)  Nüchternen,  verständigen  Sinnes  halte  Pfef- 
fel keine  Lust  an  hoebfliegeoden  Sturmvögeln;  selbst  Göthe  hebagte 
ihm  gegenüber  Klopstock  bei  dem  ersten  Auftritt  nicht  besonders. 
»Göthe,  meldet  er  1778  dem  Basier  Freund,  ist  ihm  (Lavater)  das  grösste 
aller  Deutschen  Genies.  Die  Prüfsteine  können  doch  nichts  als*  „Götz" 
und  .  Werther  u  seyn.    Hermanns  Schlacht  bleibt  doch  immer  mehr 


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Deuragc  zur  vaicrianuiscnen  ucscnicnie. 

als  Götz,  und  Agrathon,  der  halbe  Agathon,  mehr  als  Werther, 
beide  bloas  als  Werke  des  Genies  betrachtet."  —  Ueber  Klinker,  den 
Hauptführer  der  Sturm-  und  Drangperiode,  wird  aus  persönlicher  Anschau- 
ung etwas  bitter  und  ungerecht  also  geurtheilt.  „Gestern,  liebste  Freunde, 
ist  Schlosser  und  sein  Schildknappe  wieder  abgereist  (von  Kolmar). 
Wär'  er  (Schlosser)  doch  allein  gekommen!  Alle  unsre  Augenblicka 
wären  selig  gewesen!  —  Aber  das  Freunde,  kann  ich  euch  nur  sagen, 
seit  vorgestern  bin  ich  mit  den  deutschen  Genies  auf  ewig 
zerfallen.  Weder  ich,  noch  die  M  einigen  sind  unmittelbar  beleidigt; 
aber  es  ist  Folter,  einen  Buben,  der  eine  Handvoll  von  Shakspeares- 
excrementen  gefressen  hat,  ehrliche  Leute,  die  nicht  nach  Shakes- 
peareexcrementen  stinken  und  doch  ehrliche  Leute  sind,  verachten  und 
beschimpfen  iu  sehen."  —  Die  Idolatrie  des  grossen  Britten  dauert  be- 
kanntlich noch  jetzt  als  poetisch-politischer  Modeartikel  bei  etlichen  Wort- 
führern fort,  welche  ihr  Andenken  dadurch  aufzufrischen  trachten,  dass 
sie  hundertmal  Gesagtes  wiederholen  und  bei  dem  Culturmichel,  dem  leicht- 
gläubigen, anzubringen  suchen.  Er  kauft,  lieset  und  vergisst  —  Darauf 
folgen  ansiehende  Nachrichten  über  den  unglücklichen  Dichter  Lenz,  den 
durch  Göthe  bekannt  gewordenen  Lerse,  Gehülfen  PfeffeTs  am  In- 
stitut zu  Kolmar,  und  über  den  berühmten  Frankfurter  Philosophen 
und  Aesthetiker,  Job.  Georg  Schlosser  (st.  1799).  Wie  der- 
selbe beide  Richtungen  mit  einander  verknüpfte,  erhellt  schon  aus  dem 
Umstände,  dass  die  erste  Frau,  Göthens  Schwester,  tief  betrauert  und 
bald  darauf  eine  zweite  genommen  wurde.  „Was  ioh  verloren  habe, 
schrieb  der  tief  gebengte  Wittwer  an  Sarasin  (1777),  kann  und  will 
ich  nicht  sagen,  aber  dass  ich  nun  gans  allein  bis  zum  Grabe  wandern 
muss,  das  ist  vor  Alles,  was  ich  sagen  kann.  -  —  Die  Briefe  an  den 
Baslerischen  Gevatter  enthalten  manches  auch  dermalen  noch  Beachtens- 
wertbe.  „leb  bin,  heisst  es  z.  B.  1786,  überhaupt  kein  Freund  von  dem 
theologischen  Sündenwesen  und  Reu-  und  Gnaden-  nnd  Vergebungskram* 
Keine  Sünde  ist  vergeben,  wird  vergeben,  bis  die  Seele  des  Sünders 
so  stark  worden  ist,  dass  sie  weiss,  sie  werde  sie  nie  mehr  oder  ge- 
wiss nie  mehr  ohne  Schmerzen  begeben.  Darum  ist  das  Denken  an  Sün- 
den und  Uebel  und  Dummheiten,  die  wir  gethan  haben,  sehr  nützlich  und 
wer  uns  rüth,  die  Sache  so  zu  vergessen,  schadet  uns  unersetzlich.  In 
jedem  Augenblick  müssen  wir  handeln,  wie  wir  fühlen.  Wenn  nun  eine 
Gelegenheit  wieder  kommt,  Uebels  zu  thun  und  wir  fühlen  dabei,  wie 
weh  uns  wurde,  als  wir's  das  erste  Mal  thaten,  so  thun  wir's  gewiss 


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lieht  wieder.    Vergebung  der  Sünde  und  Sicherheit  dieser  Vergebung 

ist,  denke  ich,  nichts  ab  Sicherheit  des  Ekels  fegen  das  Böse."  > 

Der  zweite  Aufsatz:  „Aventicum.  von  Theophil  Burkhardt, 
gibt  ein  topographisch-historisches  Bild  der  berühmten  Stadt,  wobei  neben 
den  bekannten,  freilich  dürftigen  Quellen,  auch  Inschriften  und  alterthUm** 
ticke  Denkmäler  mit  Glück  benutzt  wurden.  Den  leisten  Stoss  empfing 
oach  der  Sage  die,  von  den  Burgundern  immer  noch  gehaltene  Stadt  im 
nennten  Jahrhundert  dnrch  die  Normannen,  welche  unter  den  Söhnen 
Ragnar-Lodbroks  die  Wiflisburg  (Aveolieum,  Avenches)  sollen 
erstürmt  nnd  zerstört  haben.  Der  Verf.  beruft  sich  dabei  aof  von  der 
Hagens  Ragnar-Lodbroksage  (Breslau),  dieser  auf  We Hauffs  alt- 
nordische Erdbeschreibung.  Hier  beisst  es  allerdings  S.  17:  „Nun  genta 
Ton  Basel  (  Boslar*  borga)  in  einer  Tagefabrt  gen  Solothurn  (Sola- 
tra),  von  da  in  einer  Tagefahrt  gen  Wiflisbu rg  (Vivilsborgar),  wei- 
land einer  grossen,  jetzt  aber  geringen  Stadt,  seit  sie  die  Lodbrokiden 
(Lodbrokarsynir)  zerstört  haben  (brutu  hana).  —  Von  da  ists  eine  Tage- 
reise bis  V  i  v  i  s  (Fivizuborgar)  am  M  a  r  t  i  n  s  s  e  e.  Nun  kommen  die  Wege 
über  die  Alpen  (Mundiofiall)  nach  Süden,  auf  welchen  einherziehen  Franken 
(FrackarJ,  Flaminger,  Gallier  (Walen,  Valir),  Engländer,  Sachsen  (saxar), 
Norm  inner  (Nordmenn.)"  —  Diese  merkwürdige,  hier  aus  Werlauffa 
Schrift  vollständig  mitgeteilte  Stelle  des  Isländischen,  der  zweiten  Hälfte 
des  zwölften  Jahrhunderts  angebörigen  Reisebachs  sielt  offenbar  auf  Aven- 
ticnm  oder,  wie  es  noch  jetzt  beisst,  Wiflisburg.  Spuren  Skandina- 
vischen Götterdienstes  z.  B.  das  Nornenfeld,  fand  noch  unlängst  Blavignao 
am  Jura.  (Archiv  der  Schweizerischen  Geschichte  Bd,  6.  S.  Jahrbücher 
S.  506.)  Fasst  man  diese  Momente  zusammen,  so  ist  es  bei  dem  lebhaf- 
ten Pilger  verkehr  des  hohen  Nordens  und  der  Alpen  erklärlich ,  wie  die 
Sage  Lodbroks  Söhne  au  Zerstörern  der  Wiflisburg  (Villi  ist  nordischer 
Name.  S.  Landaamabuch)  machte.  Dazn  kamen  wohl  auch  noch  während 
des  10.  Jahrhunderts  die  Sarazenen  angriffe  von  Fraxiaetum  in  Süd- 
frankreich aus  und  berührten  verwüstend  einen  Thoit  der  Schweis,  The- 
ten oder  Uotheten,  welche  die  Sage  später  den  Normannern  beilegen 
mochte.  Der  dritte  Aufsatz  von  Dr.  Meyer  gibt  lesenswerthe  Beiträge 
zur  Entstehungsgeschichte  des  ewigen  Bundes  der  Eidgenossen,  charakte- 
risirt  einige  Quellen,  namentlich  den  Johannes  von  Winlerlhur,  Albert  von 
Strasburg  und  Johannes  von  Victring  nnd  entwickelt  dann  darauf  ge- 
stutzt die  Motive  des  Herzogs  Johann  zum  bekannten  Königsmord.  Man 
bekommt  dadurch  gerade  kein  neues  Endergebniss,  aber  doch  bellern 
Einblick  in  die  sachliche  und  persönliche  Stellung  der  Dinge.    In  der 


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28  Beiträge  zur  vaterländischen  Geschichte. 

vierten  Abhandlung  beleuchtet  Herr  Ost  er  tag  den  Ursprung  und  die 
Entwicklung  der  deutschen  Christenthumsgesellschaft  in  Basel  (in  den 
achtziger  Jahren  des  achtzehnten  Jahrhunderts),  den  Stamm  vieler  spä- 
teren, insonderheit  dem  Missionswesen  gewidmeten  Vereine.  Der  fünfte 
Aufsatz,  von  Leonhart  Oser,  bebandelt  Basels  Stellung  zum  Bischof. 
Sollten  nicht  schon  vor  1225  Spuren  des  Raths  in  diesem  alten,  bereite 
von  den  Salischen  Kaisern  ausgestatteten  Gemeinwesen  hervortreten?  Die 
sechste  Abhandlung  des  H.  Adolf  S  a  r  a  s  i  n  erörtert  auf  sehr  anziehende 
und  lehreiche  Weise  die  Entwicklung  des  Psalmengesanges  in  der  refor- 
mirten  Kirche.  „In  den  Psalmen,  dem  Volkaliede  und  den  Kir- 
chenhymneo,  heisst  es  ausdrucksvoll,  tönen  die  drei  Saiten,  deren 
Klinge  in  Luther  zu  frischem,  neuem  Leben  sieh  verjüngten."  (S.  301.) 
So  wurde  nach  Psalm  XH.  das  noch  jetzt  gültige  Klagelied  gedichtet; 
sein  Anfang  lautet  :u 

„Ach  Gott  vom  Himmel  sieh  darein, 

Und  lass  dich  dess  erbarmen, 

Wie  wenig  sind  der  Heilgen  drin 

Verlassen  sind  wir  Armen." 
Diesem  reuigen  Bekenntniss  meistens  durch  Leichtsinn  und  Thorheit 
verschuldeter  Drangsale  trat  deun  der  tröstende  nnd  aufrichtende  Streit- 
gesang, gleichsam  die  Marseillaise  der  Reformation,  nach  dem  4 fiten  Psalm 
entgegen: 

„Eine  feste  Barg  ist  unser  Gott 

Eine  gute  Wehr  und  Waffen." 
Solche  Lieder,  der  religiös-sittlichen  Ueberzeugung  entsprossen  und 
an  die  in  Saft  und  Blut  übergegangenen  Anschauungen  des  altkirchlichen 
Lebens  anknüpfend,  wirkten  mit  wunderbarer  Kraft;  ein  Jesuit  klagte  nicht 
ohne  Grund,  Luthers  Lieder  hatten  mehr  Seelen  bingemordet,  als  Schrif- 
ten und  Deklamationen.  In  derselben  Bahn  wandelten  gleichzeitig  als 
Lehr-  und  Kampfdicbter  Dr.  Justus  Jonas,  Paul  Speratus  und  der 
Meistersänger  Hans  Sachs.  Das  erste  evangelische  Gesangbuch  trat 
1524  mit  acht  Liedern  hervor.  Auch  auf  die  Schweiz  wirkten  Lutbera 
Psalmenlieder  begeisternd  zurück;  in  Basel  wurden  sie  z.  B.  von  den 
Gemeinden  gesungen.  Ambrosius  und  Thomas  Binarer  und  Jo- 
hannes Zwick  dichteten  neue  hinzu;  letzterer  fertigte  ein  eigenes  Ge- 
sangbuch; der  Psalter  bildete  den  Mittelpunkt.  In  der  Französischen 
Schweiz  wirkten  dafür  besonders  Calvin  und  Beza;  sie  hauptsächlich 
verpflanzten  Marots  Psalmen  mit  den  sie  begleitenden,  in  ihrer  Art 
einzigen  Melodien  nach  Genf  nnd  andern  Sitzen  der  Reformation.  Ueber 
den  Ursprung  der  Marot  sehen  Psalmen  am  Hofe  des  Königs  Frans  I. 


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Streabei"    Basler  Taschenbuch.  29 

und  die  ausserordentlichen  Wirkungen  des,  oft  an  weltliebe  Melodien  ge- 
knüpften Kirchenliedes  werden  anziehende  Nachrichten  gegeben.  Oer 
Dauphin  Hein  rieh  sang  a.  B.  den  42ten  Psalm  nach  der  Weise  einet 
Jagdliedes,  Diana  von  Poitiers  den  130ten  nach  der  Melodie  eines 
Tanzliedes ;  die  Königin,  die  den  6ten  Psalm  den  übrigen  vorzog,  sang 
ihn  nach  einer  Melodie  Ober  den  ..Gesang  der  Possenreisser." 
Auf  die  nicht  lange  vorher  in  Antwerpen  erschienenen  Flämischen 
Psalmen  folgten  Volksmelodien;  umsonst  trat  ein  Verbot  der  Sor- 
bonne dazwischen;  der  Hof  liebte  das  Ding  und  die  Reformatoren  ge- 
brauchten es  für  ihre  Zwecke;  die  Psalmen  wurden  Mode  und  mit 
ihr  die  evangelische  Lehre;  mancher  folgte  dem  Strom,  ohne  zu  wis- 
sen, wie  und  warum.  Die  Französischen  Psalmen  und  Melodien,  von 
dem  Königsberger  Professor  Lobwasser  tibersetzt  und  beraosgegeben 
(1573),  gewannen  in  der  reformirten  Tentschen  Schweiz  für  viele  Jahre 
gleichsam  urkundliches  Ansehen;  jedoch  behaupteten  sich  hier  und  da 
die  alten  Psalmen  gegenüber  der  neuen,  weit  hinter  Marot  und  Beza 
zurückstehenden  Verwässerung.  — 

In  der  siebenten  Abhandlung  schildert  Dr.  Streuber  die  erste 
Berufung  der  Jesuiten  nach  Luiern,  in  der  achten  Dr.  Feohter  die 
Anstalten  Basels  zur  Unterstützung  der  Armen  nnd  Kranken  während  des 
Mittelalters.    Beide  Aufsätze  wird  man  mit  Interesse  und  Nutzen  lesen 


Basler  Taschenbuch  auf  das  Jahr  1850.  Herausgegeben  von  Dr.  Streu- 
ber, bei  Schweighauser.    12.    S.  149. 

m 

Dieses  Büchlein  empfiehlt  sich  weniger  durch  seine  einfache,  ohne 
goldenen  Schnitt  nnd  ähnliche  Zierratlien  erscheinende  Gestalt  als  durch 
den  im  Ganzen  lehrreichen  und  anziehenden  Inhalt.  Der  erste  Auf- 
satz von  Friedrich  Fischer  behandelt  den  Bildersturm  (Ascher- 
mittwoch 1529),  also  einen  Gegenstand,  welcher  nach -dem  richtigen 
Ausdruck  des  Vorworts  nicht  nur  für  den  Freund  der  Kirchengeschichte 
nnd  für  den  Historiker  überhaupt,  sondern  auch  für  den  Kunstfreund  von 
hohem  Interesse  ist.  Der  Verf.  hat  für  Basel  besonders  den  bisher  un- 
gedruckten zeitgenössischen  Chronisten  Rippe  II  benutzt,  dem  Ereignisa 
selber  aber  dadurch  noch  tiefem  Boden  gegeben,  dass  er  es  im  Zusam- 
menhange mit  gleichen  Erscheinungen  in  der  übrigen  Schweiz  betrachtet. 
Ganz  richtig  wird  bemerkt,  dass  die  Bilderstürmerei,  gewissermaßen  der 
revolutionäre  Sanskülottismus  der  Reformation  und  Ausdruck  de» 


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Strfcuber  •    Basier  Tasrh^nburh 


rohesten  Volkszoros,  hauptsächlich  in  der  Schweiz,  den  Niederlanden  und 
Scheinend,  durch  die  Wiederleufer,  die  geistlichen  Jocobioer, 
verwirklich!  wurde,  dagegen  io  Sachten,  Thüringen  und  aidern  Landen 
des  lutherischen  Bekenntnisses  entweder  gar  nicht,  oder  nur  lebwach 
hervortrat.  Die  Hauptursache  davon  lag  theils  in  dem  weisen  Benehmen 
der  Obrigkeiten,  welche  zeitig  einlenkend  nur  die  anstössigen  Bilder,  na- 
mentlich die  hölzernen  Figuren,  entfernten,  theils  in  dem  symbolisch« 
poetischen  Sinn  des  grossen  Reformators  und  seiner  unmittelbaren 
Schüler.  Man  erkannte  die  Verflechtung  der  Kunst  in  die  Religion,  des 
Aeussern  und  Innern,  und  hütete  sich  daher  gegenüber  dem  Kult  vor 
leichtfertigem,  puritanischem  Aufräumen  und  Zerstören.  Auch  trennt  sich 
überhaupt  der  Nordländer  -bei  zäherem  Wesen  weniger  leicht  als  der 
Südländer  von  dem,  was  durch  Zeit  und  Gewöhnung  Ansehen  und  Liebe 
gewonnen  hat.  Ist  aber  einmal  das  Eis  gebrochen  und  eine  neue  Bahn 
gewählt  worden,  so  geht  es  vorwärts;  man  bleibt  fest. — Für  die  Dar- 
stellung des  Zürcherischen  Bildersturms  hätte  der  Verf.  noch  Bernhard 
Weiss  (io  Fusslfs  Beitragen  III.,  50  sqq.)  benutzen  können.  „Also", 
heisst  es  da,  „in  diesen  Tagen  auf  Freitag  1534  nahmen  die  von  Sum- 
men ihre  zwo  köstlichen  Taffein,  eine  in  Dorff  und  eine  au  St.  Anna, 
die  War  nicht  vergölt,  sondern  so  subtil,  dasa  man  sie  nicht  mahlen  wollt. 
Aber  die  in  Dorff  war  vergölt  und  gemahlt,  die  beyde  kosteten  wol  30O 
Gulden,  die  verbrannten  sie  beyde  auf  diesen  Freitig  mit  Paternostern, 
und  was  daran  hieng,  uud  wollten  nichts  verkaufen,  Gott  au  Lob  und 
Ehr1,  darum,  dass  sie  diese  Abgötterey  unterdrückten w.  Die  aus  Klöstern 
und  Kirchen  hier  und  da  geretteten  Bilder  liess  der  Rath  in  einer  beson- 
dern Polterkammer  einstweilen  verscbliessen ,  wo  sie  dann  meistens  zu 
Grunde  gingen  (a.  Weiss,  S.  50).  —  Am  rohesten  verfuhr  man  in  Bern, 
namentlich  gegen  die  im  Viucenzmuuster  befindlichen  Kunstsacben  (1528)} 
selbst  die  Orgel  wurde  zerschlagen.  Umsonst  spielte  am  Abend  des  letz- 
ten Vincenzfestes  der  Organist  die  Melodie;  „Ach  armer  Judas,  was  hast 
Du  gethanV  und  verliesa  dann  mit  Schmerz  die  Orgel,  welche  sofort 
zertrümmert  wurde.  Die  köstlichen  Burgundischen  Teppiche  aber  wurden 
keineswegs,  wie  H.  Fischer  meint  (S.  9),  durchaus  vernichtet;  man 
gebrauchte  sie  noch  io  den  Dreissigerjahren  für  die  Tagsatzungsfeier  und 
bestimmt  sie  vielleicht  noch  jetzt  ähnlichen  Festlichkeiten.  Noch  ärger 
ging  es  in  den  St.  Gallischen  Stiftslanden  her;  die  Gotteahausleute  leer- 
ten, Rorschach  voran  (1528),  ihre  Kirchen,  verjagten  die  katholischen 
Pfarrer  und  baten  aich  vom  Rath  in  Zürich  andere  Prediger  aus,  der  ihnen 
„lauter  solche  Schwaben  zuschickte ,  welche  in  Deutschland  von  ihren 


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Streuber*    Basler  Taschenbuch. 


Pfründen  verlrieben  waren.  Denn  wie  vorher  um  Pfründen  alles  nach  . 
Rooi  Ii c  90  1 1 f c  ri  j c dt  d  1 6  Sch Vv* 8  b  c  u  d  s  r u ni  xi  ö c  Ii  7j  ii  r j c  h  ^ S  •  1  y ^ .  I  q 
St.  Gallen  überzog  mau  die  Freskogemälde  der  Kirchenwände,  welche 
Sceoen  aus  dem  Leben  des  h.  Gall  und  Ottmar  vorstellten,  mit  Kalk,  ver- 
wandelte die  Kapelle  des  b.  Johannes  in  eine  Werkstätte,  die  des  b.  Ja- 
kob in  einen  Kalkofen,  schickte  die  Glocken  mit  dem  übrigen  Messing 

Der  Basler  Bildersturm,  durch  ein  recht  gutes  Bild  von  Coostantin  Guise 
erläutert,  wird  anschaulieh  nach  dem  zeitgenössischen  Chronisten  ISikol. 
Rippe 1 1 ,  bisher  Handschrift,  geschildert:  „Was,  sagt  derselbe  neben 
anderm,  von  Steinwerk  wass  und  Altären  wurden  all  abgebrochen  und 
lerschlageo,  die  kilchen  all  geweisset«  (S.  36).  So  recht!  —  Der 
iweite  Aufsatz  von  Dr.  Streuber  gibt  ein  Lebensbild  des  Erasmus 
Ton  Rotterdam  zu  Basel  und  sucht  den  um  die  Wissenschaft  hochver- 
dienten Mann  gegenüber  seiner  schwankenden  Stellung  au  den  Zeitfragen 
nach  Kräften  au  rechtfertigen.  Erasmus  gehörte  aber  nicht  der  star- 
ken, sondern  schwächlichen  Milte  an:  sein  Charakter  bleibt  im  Dämmer- 
licht  nicht  der  überwundenen,  sondern  hin  und  her  wogenden  Gegen- 
sätze; er  ist  Ausdruck  des  stets  negirenden,  uie  positiv- handelnden 
Prmcips  und  verschwindet  daher  in  den  hoch  gehenden  Wogen  der  Re- 
volution. Er  will  es  Allen  recht  machen  und  verdirbt  es  daher  mit  Al- 
lan: seine  Bequemlichkeit,  sein  vornehmer  Uratanff,  seine  Dosen  und  irol- 
denen  Hinge  u.  s.  w.  machen  einen  festen,  unerschütterlichen  Entschluss  im 
kritischen  Augenblick  unmöglich ;  er  war  ein  doktrioftrerWtihler;  — 
den  Wein  und  sonstigen  Comfort  Basels  kann  er  in  seinem  Freibnrger 
Exil  nimmer  vergessen,  zum  Tbeil  wohl  in  Folge  einer  wirklich  zarten 
und  schwächlichen  Leibesbeschaffeeheit.  Herr  Streuber  hätte  Uberhaupt 
die  Briefe  des  Erasmus  an  Amerbach  (Epistolae  familiäres  ad  Bonif. 
Amerbacbium  Basel.  1779)  mehr  benutzen  sollen.  Wie  charakteristisch 
heisst  es  z.  B.  ep.  61.  (Jahr  1530)  von  Freiburg  aus  nicht:  „Jam  pri- 
dem  circumspicio  sedem  aliquam  tranquillam,  ubi  quietus  ac  mecuui  vi- 
vens  exspectem  diem  supremum,  sed  nondum  obligit.  Hoc  corpusculum 
multis  eget ,  praesertim  vino  generös o.  At  non  ubivis  suppetont 
omuia.  >ec  tarnen  desunt,  qui  mihi  male  velint  in  utrisque  castris  etc.u 
—  So  ein  zartes  Männchen  taugte  eben  nicht  für  die  Stürme  des  Le- 


*)  Referent  besitzt  Auszüge  dieser  merkwürdigen  Briefe,  welche  ihm  vor 
Jahren  Dr.  B  er  cht  mittheilte.  In  den  ßänimt  liehen  Werken  des  Erasmus 
stehen  sie  nicht. 


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32  Gerlach  und  Bachofen:   Geschichte  der  Römer. 

bens;  es  war  ein  Friedens-  und  Garnisonssoldat,  gut  als  Vorläufer  nicht 
als  Kämpe.  —  Im  dritten  Aufsatz  gibt  Kart  Buxtorf  Blicke  in  das  Pri- 
vatleben des  wohl  bekannten,  originellen  Dr.  Felix  Plater.  Darauf  fol- 
gen die  Sage  von  der  Stiftung  des  Klosters  Schönthal  und  allerlei  Mis- 
cellen.  Unter  ihnen  sind  fUr  unsere  Tage  besonders  anziehend  die  Nach- 
richten über  die  Cholera  in  der  Umgegend  von  Basel  im  Jahr  1474. 
Die  Hauptstelle  liefert  Job.  Knebel,  bischöflicher  Schreiber  und  Kaplan 
(1458 — 1478}  in  seinen  handschriftlichen  Collectaneen  Ober  Begeben« 
heiten  seiner  Zeit.  Da  heisst  es  nun  in  Betreff  einer  pestartigen  Krank- 
heit des  Jahres  1474  also:  „Zu  dieser  Zeit  war  eine  grosse  Pestilenz 
im  Elsass  ringsum,  so  dass  die  Menschen  fast  eines  plötzlichen  Todes  star- 
ben. Und  das  kam  daher,  weil  es  in  den  vorhergehenden  zwei  Jahren 
sehr  heisse  Witterung  gewesen,  so  dass  die  Cholera  in  den  Leuten 
erzeugt  wurde.  Auch  war  im  letzten  Herbste  ein  ausserordentlich  feuri- 
ger und  starker  Wein  gewachsen.  Von  dem  tranken  die  Leute  und  wur- 
den also  von  der  Cholera  entzündet,  dass  wer  von  ihr  ergriffen  wa^ 
in  einem  Tage  starb.44  —  Mögen  die  Aerzte  über  die  wirkliche  Wahl- 
verwandtschaft der  Ahnfrau  mit  der  heutigen  Enkelin  entscheiden!  Die 
Notiz  bleibt  immerhin  beachtenswertb. 


Geschichte  der  Römer  ton  Fried.  Der.  Gerlach  und  J.  J.  Bachofen. 
Ersten  Bandes,  erste  Abtheiluno.  -  Vorrömische  Zeit*  Basel  bei 
Bahnmeier  1651.  X.  S.  Vorred.  297.  S.  Text  8. 

Als  B.  Niebub r  seine  tief  eingreifenden  Forschungen  Uber  Rom 
und  was  ihm  anhing  in  den  Jahren  1811  und  1812  zuerst  durch  den 
Druck  veröffentlichte,  blieben  sie  geraume  Zeit  wie  ein  verborgener  Schatz 
unbeachtet;  nur  wenige  Leser  erkannten  ausserhalb  des  engen  Kreises, 
vor  welchem  in  Berlin  der  grosse  Mann  gelehrt  hatte,  den  kostbaren  Ge- 
halt. Das  Teutsche  und  auswärtige  Publikum,  von  der,  für  und  wider 
die  Unabhängigkeit  der  Völker  streitenden  Macht  gefesselt,  halte  für  die 
eigenthümliche  Auffassung  so  entlegener  Verhältnisse  weder  den  Sinn  noch 
die  nöthige  Vorkehr.  Erst  die  Freiheitskriege  eröffneten  dafür  nach  er- 
rungener Unabhängigkeit  die  auch  wissenschaftlich  von  neuem  geweckte 
Geisteskraft.  Aber  auch  so  vergingen  noch  mehre  Jahre,  bis  nament- 
lich in  Folge  der  in  den  Heidelberger  Jahrbüchern  erschienenen  Kritik 
W.  Schlegels  das  Buch  im  Umsatz,  sein  Inhalt  in  Fluss  kam. 

(Schlust  folgt.) 


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It.  3.  HEIDELBERGER  UM. 

JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR. 


(Fortsetzung.) 

Historiker,  Juristen,  Philologeo  und  selbst  Gottesgelehrte  nahmen  hier 
und  da  für  und  dawider  Partei;  Nie  bahr  selbst,  durch  den  Gang  seines  äus- 
sern Lebens  nach  der  ewigen  Stadt  geführt  und  heimgekehrt  in  Folge  des  ei- 
genen Wunsches  dem  unmittelbaren  Lehrberuf  zu  Bonn  bestimmt,  widmete 
durch  Wort  und  Schrift  seine  noch  frische  Manneskraft  dem  völligen  Ausbau 
des  Werks  als  eigentlicher  Lebensaufgabe.  Dennoch  blieb  es  in  Folge 
ungünstiger  Umstände  ein  Torso,  doch  hinlänglich,  um  trotz  einzelner 
Aeiderungen  die  Gr  und  an  sichten  des  schaffenden  Meisters  für  immer 
festzustellen.  Manches  mochte  dabei  auf  kühnen  Muthmassungen,  unsichern 
Schlüssen  ruhen,  das  Wesentliche  aber  in  Betreff  der  Plebs,  des  Acker- 
gesetzes und  anderer  Fundamentalsätze  des  politischen  Lebens  der  Römer 
duldete  keine  erhebliche  Einrede,  keine  belangreiche  Blosse  zum  Angriff. 
Das  Missgeschick  aber  lag  in  dem  Fragmentarischen  und  hier  und 
da  unzeiligen  Pikanten,  z.  B.  gegenüber  dem  angeblichen  Epos,  Lücken, 
welche  weder  die  nach  dem  Tode  des  Verfassers  bekannt  gemachten 
Vorlesungen,  noch  die  zahlreichen  Reiben  der  Nachahmer,  beru- 
fener wie  unberufener,  völli?  aufzufüllen  vermochten  Hatte  Niahnhr 
bisweilen  zur  Unzeit  kritisch  negirt,  so  war  er  doch  auch  im  Stande  ge— 
wesen ,  wiederum  meistens  kritisch  zu  schaffen ;  die  Fluth  der  Kopisten 
aber,  wenn  auch  nicht  sowohl  in  geschlossenen  grössern  Schriften  alz  in 
fliegenden  Blättern  und  Lehrvortragen  sichtbar,  erfreute  sich  einer  rein 
obstructiven  Betrachtungsweise  ohne  Fähigkeit  der  Reproduction;  sie 
fand  in  fibertreibendem  Maasse  Mythen  und  Fabelwerk,  symbolisch-alle- 
gorizche  Auslegung  statt  factischer,  wenn  auch  entstellter  (ideaiiairter) 
Verhältnisse  und  Persönlichkeiten;  wirkliche  Kriegergestalten,  wie  Co* 
riolan-us,  Codes,  M.  Scaevola  u.  s.  w.  schrumpften  hierin  osaian- 
sche  Nebelfiguren  zusammen;  „das  Leben  ist  ein  Traum" ,  hiess  es  da. 
Der  Unterzeichnete  hat  es  selber  gewagt,  in  seiner  Römischen  Geschichte 
Mark  und  Bein  der  von  der  Hyperkritik  begrabenen  oder  in  Dunst  auf- 
gelösten Helden  zu  geben,  jedoeh  dafür  keine  Zustimmung  gefanden.  Ganz 
natürlich;  die  romantische  Mythik,  selbst  aal  den  Stifter  des  Christen* 
XUY.  Jahrg.  1.  Doppelheft,  3 


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JR  i  Gerlach  uad  Backofen:  Geschickte  4fr  Römer.  ?  ;  ' : 

thuros  übergetragen,  ^eTailt  den  trügen  Haufen  mehr  ab  die  histori- 
sch e,  zu  r  Thai  und  Nachfolge  anspornende  Wirklichkeil.  Di ese  wohl- 
feile Richtung  war  und  ist  so  allgemein  beliebt,  dass  selbst  W.  Schle- 
gel in  seinem  kritischen  Gegenstreben  hineingerieth.  Er  hielt  z.  B.  den 
Mucius  Scaevola  aus  ziemlich  nichtigen  Gründen  für  eine  poetische  Figur 
und  bedachte  auf  seinem  bequemen  Polslerstuhl  moderner  Weichlichkeit 
nicht,  dass  die  Energie  wider  den  Schmerz,  ein  Merkmal  Römischer  Mann- 
heit  (Yirtus),  sogar  in  entarteten  Tagen  noch  vorgefunden  wurde.  Mo- 
lkig tu  dudi  Kmscr  Domitian us,  damit  die  heroische  Hoheit  der  Alt- 
vordern Widerlegung  empfinge,  einen  gemeinen.  Verbrecher,  sich  durch 
das  Verbrenne«  der  Hand  von  der  Todesstrafe  zu  losen,  und  bestand  4er. 
kraftvolle  Bösewicht  im  Angesicht  von  Tausenden  die  furchtbare  Probe! 
(MarOal,  V»  30-  und  X.  2n.)  -  Eine  verständige  Revision  der  Rö- 
mischen Geschichte  nach  den  geläuterten  Regeln  einer  besonnenen  Kritik» 
welche  zwischen  der  destruktiven  und  rein  konservativen  die 
gerechte,  freilich  schwierige  Mitte  einhält,  ist  daher  nicht  nnr  nütz- 
lich, sondern  sogar  Bedürfnis*  Diese  Aufgabe,  scheint  es,  haben  sich 
dje  Verfasser,  durch  philologische  -  juridische  Arbeiten  rühmlich  bekannt, 
gesetzt,  sie  wollen  masslose,  unbegründete  Neuerungssucbt  meiden,  aber 
eben  so  wenig  denjenigen  heimgekehrten  Emigranten  angeboren,  welche 
wie  weiland  die  Bourbons  nichts  vergessen  und  nichts  gelernt  haben. 
»Nicht  als  wollten  wir,  beisst  es  in  dem  Vorwort,  die  durch  Gebt  und 
Gelehrsamkeit  errungenen  Endergebnisse  von  uns  weisen,  oder  zu  der 
frübarq  Anschauungsweise  Römischer  Verhältnisse  zurückkehren,  wohl  aber 
wollen  wir  den  Scharfsinn  und  die  Zweifelsucnl  nur  innerhalb  der  Gren- 
zen gelte*  lassen,  welche  durch  die  Geschichte  selber  gesteckt  sind.  Ein 
geistreicher  Skepticismus  mag  die  Geister  wecken,  und  was  nur  auf  Tren 
und  Glaube  angenommen,  zur  tiefern  Erkenn  tuiss  umgestalten;  an  die  V«v 
gangenheit  den  Massstab  der  Gegenwart  zu  legen,  kann  auf  eine  neue 
Betracbtungs weise  führen,  und  eine  angenehme  Beschäftigung  gewähren; 
endlich  ans  Zusammenstellen  und  Vergleichen  ähnlicher  Erscheinungen  in 
dem  Lehen  verschiedener  Völker  kann  zu  Uberraschenden  Ergebnissen 
gelangen.-,  eher  um  die  Geschichte  eines  Volkes  zu  schreiben,  genügt 
diese  Art  der  Behandlung  nicht.  Nicht  Gedanken,  Vermuthungen ,  I  r- 
theüe  des  neunzehnten  Jahrhunderts  Uber  alt-römische  Zustände  wollen 
wir  vernehmen,  sondern  die  Theten  und  Schicksale  der  Römer  wollen 
wir  erfahren,  wie  sie  von  ihnen  selber  verstanden,  begriffen 
und  überliefert  werden  sind.  —  Alan  war  bisher  gewohnt,  vorzüg- 
lich da*  Staats-  und  Rechtslehen  der  Romer  in.  Vordergrund  na  stellen 


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CVrlWIi  »nW  Rarhofen*  r^rhichtA  tlfcr  Römer 


nnA   Aim   h  riorr  Arier  Ii  a   Tanfprhoit    «n    nPAiAAn  •    dadurch  ist  ffescfaftkcfl.  dfitt 

una  aie  Kriegeriscne  japierneit  zu  preiaeu ,  wHiurw»  «»  |wwiwcuf 
MD  Dicht  seilen  die  tiefere  Grundlage  des  römischen  Charakters  gern 
anbeten tet  (?>  litis,  das  lebendige  Abhängigkeitsgefühl  yod  der  Mach  t 
der  Götter  u.  a,  w.tt  Dieter  religiös  -  kirchliche  Standpunkt»  bei 
der  entschiedenen  Abhängigkeit  des  Cultus  vom  Staat  etwas  tchwan- 
keod,  wird  bis  zum  Offenbarungs glauben  festgehalten.  „Ihn  ver- 
mittele,  lautet  die  Ansicht,  die  Weisheit  des  ewigen  Geheimnisses,  die, 
durch  heilige  Weihe  von  Geschlecht  auf  Geschlecht  sich  vererbende  Wis- 
senschaft, welche  dem  Volk  als  ein  köstliche*  Ei  gen  tu  um  bis  zu  den  fern- 
sten Zeiten  bewahrt  bleibe,  in  diesem  Glauben  seien  die  Theten  dar 
i^j.  i-u-i — a — t~  vnllhpflfihL  dipDccier  den  Heldentod  gestorben  etc. 

Unglück  habe  dagegen  die  der  strengen,  gleichsam  dogmatischen  Göltet- 
farcht  sich  entwindende  Autfeesueg  betroffen»  den  frevelhaften  Clau- 
dius bei  Drepanuro,  den  überunttthig  tbörigten  Flaminius  beim  Trasimeni- 
sefaea  Se#.tf  —  In  diesem  Zusammenhange  mit  der  Religion  sahen  aller- 
—  --     -j  i  s^Mitk t ai*&i all at  Rnma  dan  nna«dfliitetea  Thatheitaad  andere 

ulUJfS   ßinLCmö   DcriwiiitJi  ©»«imr  uvui»  u«ju  oug* uuu**««»  ±  [luiuvituuu)  — va,w 

«k--  m\t  ihn^n  di«   hi^LnriKphn  Kritik    urtheilten  iedoch  wesentlich 

«Otr     UDQ       Uli"      lUUGU     UiO      UUWIIDUUO      U«(MD,      iaa>  — ■ 11 j  ww.*»a 

verschieden;  tie  vermeinten,  die  Decier  hätten,  die  schuldbeladene  Well 
in  entsühnen  (notio  averruncandi) ,  den  Opfertod  gesucht  und  gefunden, 
der  leichtsinnige  Claudier  durch  Hinterhalt,  der  sorglose,  bei  der  patri- 
.■         v>Q.tat  .ni>u/»ni<rA  PlAminüis  durrl»  L'cbcrfall  des  schlauen  Feindes. 

USCnen    r«f  Wl    auruuiltgu   *  »amiuiu»    uu,t"     v .«w    -vi  rr   |   n  ~— w~    —  r 

unabhängig  vom  Gleubeusprincip,  ihre  Niederlagen  verwirkt.  Auch  miisste 
wohl  die  Verflechtung  de»  Römis  eben,  einem  unabhängigen,  theo - 
kratischen  KircheBprincip  abholden  Staatscultus  in  die  öffentlichen 
und  häuslichen  Sitten  (mores)  alt  wirklich  eigentümliche  Form  des  po- 
etischen and  religiösen  Lebens  hervorgehoben  und  in  allen  Hauptweoh- 
ttin  der  Getchicbte  als  bedeutender  Faktor  des  Glaubens  festgehalten 
werden.  Jedenfalls  kann  das  Publikum  ein  selbständiges,  durch  Gelehr- 
samkeit und  Wirme  ausgezeichnetes  Werk  erwarten,  weichet  vielen  Mite* 
brauchen  und  Ueber treib ungen  der  rein  negirenden,  hypothesenreichen 
Kritik  gründlich  begegnen ,  wenn  auch  nicht  immer  beifällige  Endergeb- 

läsOiche  Anzeige  so  lange  aufschiebt,  bit  der  erste  Band  durch  die  zweite 
Abtbeilung  seinen  Abschluss  gefunden  hat,  muss  er  den  Wunsch  ausspre- 
chen, die  Herren  Verfasser  möchte u  in  diesen  schwierigen,  eben  so  un- 
literarischen als  unpraktischen  Zeitläuften  der  sauren  Gährurng 
eder  politischen  Grippe  ihren  wahrhaft  aufrichtenden,  gewistermasten 
heldenmttlhigea  Plan  einer  Römischen  Gesammthistorie  unabgewendeton 
Blickt  verfolgen  und  unbekuamert  m  din  einstweilige.  Art  der  Anlnahme 


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36  Flegrler:    Geschichte  des  Alterthums. 

ihrem  Ziele  möglichst  rasch  entgegenführen !  Denn  d  i  e  Aosicbl  sieht 
fest,  dass  ohne  Kenntoiss  des  Alterthums  kein  klarer  Einblick  in  die 
Entwicklang  des  Mittelalters,  somit  auch  der  neuern,  selbst  neuesten  Zeit 
Für  den  wahrhaft  wissbegierigen  Staatsmann  und  Bürger  möglich  ist. 


Geschichte  des  Alterthums,  ton  Alexander  Fl e gier.  Stuttgart 
.  1849.    Bei  Frankh.    296  S.  8. 

In  zwei  und  vierzig,  nicht  enge  verbundenen  Abschnitten  wird  das 
Wissenswürdigste  und  Bedeutsamste  von  den  ältesten  Dingen  an  bis  aof 
die  Zeit  Konstantins  des  Grossen  herausgehoben  und  in  einfacher,  klarer 
Sprache  dem  grössern  Publikum  dargestellt.  Qnelienbelege  fehlen  auch 
desshalb;  jedoch  stehet  nichts  destoweniger  der  Verfasser,  dermalen  so 
Zürich,  auf  eigenen  Füssen;  er  hat,  wie  die  Vergleicbnng  unterschiedli- 
cher Stücke  dem  Leser  zeigen  kann,  meistens  selbst  geprüft  uod  io  der 
richtigen  Auswahl  ans  dem  ungeheuren  Stoff  gesundes  Urlheil  bewährt 
Die  Umrisse  der  orientalischen  Völkergeschichte  sind  ihm  besonders  ge- 
lungen: sie  schildern  in  einem  kleinen  Raum  den  Kern  der  Sache  und  ' 
leiden  weder  an  verwirrender  Ueberladung  noch  oberflächlicher  Dürftig- 
keit. Bei  dem  populären  und  doch  wissenschaftlich  gehaltenen  Zweck 
hätte  bei  Niniveh  und  den  Assyrern  ein  veranschaulichender  Blick  anf  die 
jüngsten  Entdeckungen  Botta's  und  Layard's  nicht  fehlen  tollen.  Räson- 

hAtnanl.      itrArwl^rk         f  s\  rt  Vi  *-»      ntasiK      A  I  A      f  A I  A  r»  A  r»  Vk  A  t  I       ^Ä1I-      — aaL|.  rv\  i  I  I  i  t  /» Ir 

neuienis  weraen,  so  nano  aucn  uie  ueiegenneu  »eyn  motnie ,  uui  uiuck 
Vermieden,  dennoch  die  jeweiligen  Culturstufen  der  Völker  im  grossen 
Ganzen  durch  wenige  Worte  recht  gut  angedeutet.  „So  sind  denn, 
schlieft  z.  B.  Nr.  6.,  die  Chinesen  im  vollkommensten  Grade  dasjenige 
geworden,  was  gewisse  Leute  ausscntiessena  praktisch  Meissen ,  sie  sorg- 
ten trefflich  für  die  Bedürfnisse  des  Lebens,  waren  anstellig  zu  allerlei 
Handthiernngen,  machten  im  Handel  gute  Geechäfte  und  Hessen  sich  durch 
tiberschwängliche  Gedanken  nicht  aus  der  Bahn  bringen  *,  aber  der  Reich- 
thum des  geistigen  Lebens  und  das  Gefühl  persönlicher  Freiheit  ist  ihnen 
jederzeit  fremd  und  unbekannt  geblieben.14  —  Hinsichtlich  des  Aegypti- 
achen  Kastenwesens  und  der  daran  geknüpften  Stabilität,  namentlich  in 
öffentlichen  Angelegenheiten,  wird  Nr.  7.  bemerkt:  „Die  Prieater  zu- 
mal hielten  sehr  darauf,  dass  ein  jeglicher  nach  der  Väter  Weise  atiU 
und  geruhig  festsitze  an  einem  und  demselben  Orte,  und  waren  sehr  ge- 
neigt, diejenigen,  die  aich  anders  verhielten,  für  Heimallose  und  Landstrei- 
eher  anzusehen."  —  Den  tollen  Thierdienst  begleitet  die  Bemerkung: 
„Dazu  kamen  noch  viele  heilige  Thiere,  von  denen  keines  ao  berühmt 


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Flecler:    Geschichte  des  Alterthnms. 


geworden,  wie  der  Apis,  oder  der  «ottliebe  Stier  von  Memphis,  der  da- 
selbst in  einem  Tempel  von  Priester«  genährt  und  gepflegt  wurde,  und 
oftmals  ganz  ausserordentliche  Dinge  geweissagt  haben 
soll."  —  Mit  Sorgfalt  berücksichtigt  ferner  der  Verfasser  die  alte  Erd- 
kunde, ein  in  vielen  gelehrten  Schulen,  Hand-  und  Lehrbüchern  sehr 
vernachlässigtes  Fach;  in  klaren  Umrissen  werden  die  Gebirgszüge,  Nie- 
derungen o.  s.  w.  für  den  Gang  der  Völkerentwicklung,  besonders  im 
Orient,  nachgewiesen,  auch  bisweilen  wichtige  Oertlichkeiten  genauer 
herausgehoben  und  in  ihrem  Zusammenhange  mit  den  spätem  Bewohnern 
aufgefasst.  —  Eben  so  wenig  fehlen  die  vorzüglichsten  Erscheinungen 
iü  der  Kunst  und  Literatur,  wobei  natürlich  weder  Vollständigkeit 
noch  tieferes  Eindringen  in  den  Charakter  des  jeweiligen  Schriftstellers 
Rannt  gewinnen.  Denn  was  soll  auch  das  grössere  Publikum  oder 
der  Schüler  mit  einlasslicher  und,  wenn  man  schärfer  prüft,  doch  mei- 
stens oberflächlicher  Literaturgeschichte  anfangen  ?  Ihm  müssen  die  Haupt- 
und  Wendepunkte  genügen,  während  Nebensachen  und  Ausfüllung  der 
notwendigen  Lücken  einem  besondern  Studium  anheimfallen  Niehls  scha- 
dete  s.  B.  in  Teutschland  mehr,  als  das  seit  Jahren  üblich  gewordene  breite 
Hineinzerren  der  Literatur  und  Kunst  in  den  Unterricht.  Man  gewöhnte 
sich  dadurch  auf  Kosten  des  Faktisch  en  an  ein  schales  ästhetisch- philo« 
fophisches  Gerede  und  rhetorisches  Vernünfteln  ohne  Saft  und  Kraft; 
eine  Götbemanie,  ein  Shakespearischer  Taranteltanz  kam  in  die 
jungen  Köpfe,  setzte  sich  darin  fest  und  trieb  die  wunderlichsten  Aus- 
wüchse auf  Kosten  des  Verstandes  und  selbst  der  Vaterlandsliebe  hervor. 
Beherzige  man  doch,  was  irgendwo  Klopstook  sagte: 

„Der  Schüler  der  Aesthetik 

Ist  gleich  dem  Schüler  der  Ethik: 

Er  hört  Gras  wachsen,  aber  nie 

Den  Lorbeer  rauschen  im  Hain  der  Poesie.tf 

Die  kleinen  Kritiken  und  Charakterbilder  des  Verfassers  sind  oft 
eigentümlich.  Wenn  er  z.  B.  den  Thukydidos  (S.  116)  mit  Hecht 
sehr  hoch  stellt,  den  Tacitua  aber  trotz  seines  Geistes  wegen  der  ver- 
bitterten Weltansicht  und  scharfen  Subjectivität  ziemlich  herabsetzt, 
so  möchten  ihm  in  letzter  Beziehung  wohl  die  meisten  Kenner  des  gros- 
sen Römers  nicht  beistimmen.  Tacitus  nämlich  hat  keine  verbitterte, 
wohl  aber  wehmüthige,  eben  desshalb  für  seinen  Standpunkt  wahre 
und  fesselnde  Wellansicht,  ungefähr  wie  sie  ein  Mann  desselben  Geprä- 
ges gegenüber  dem  Tantalischen,  werklosen  Treiben  heutiger  Tage  haben 
könnte.    Daraus  folgt  aber  noch  keine  blinde  Resignation,  vielmehr 


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tf pierer,  wenn  auch  fruchtloser  Gegenstreit,  wie  Ad  nicht  sowohl  die 

MaaflAn     al<    AintAlnA     P»rafln1irMr  öitpn     r^ahiflktivitlfon^     nnfnAhmfln  und 

I1WQI  mfo  ÜJIHpOIIIC  *  CIDVlfllV  lirvoiVCLI  ^OHUJORMT UUvMJ  ouiüviniiwu  uasi* 
l/vl  IC  II  vu     II  I U  »3  v  v  II  • 

Aas  diesen  jüngsten  Arbeiten,  welchen  sich  nächstens  des  grosse, 
fast  vollendete  Werk  Kopp's  über  die  eidgenössischen  Bünde  an- 
schliefen  soll,  erhellt  deutlich,  dass  in  der  Sehweit  trotz  des  politisch- 
kirchlichen Parteiweseue  noeh  ein  lebendiger  Sinn  für  die  Erforschung 
der  Vergangenheit,  namentlich  der  vaterländischen,  herrscht  und  eben 
desshalb  ein  Ueberstürzen  der  gesellschaftlichen  Grundlagen  durch  bohle, 
abstrakte  Plaae  des  Unverstandes  oder  der  Selbstsucht  fast  unmöglich 
macht.  Absichtlich  wird  auf  diesen  Umstand  hier  der  Ton  gelagt,  weil 
wohl  Uber  kurz  oder  lang  manche,,  auf  Anklage  unruhig  revolutionären 
Treibens  gerichtete  Anklagen  der  Fremde  kommen  und  die  hier  oder  dn 
sichtbaren  Fermente  nach  Krallen  bebrüten  werden.  Mögen  die  Schwei- 
zer diese  kurze  Zwischenzeit  benutzen,  den  hohlen,  unnützen  Streit  zwi- 
schen Radikale»  und  Conservativea  durch  den  Blick  auf  den  gemeinen 
Netzen  und  die  Stärke  der  Gesummt  heil  endigen,  damit  sie  die  Hehns«« 
chung  nicht  ^^ic  das  snöchlige,  aber  zerrissene  Teutschland  in  Zwietracht 
findet  Letzteres  bat,  meistern  dar  unmittelbaren  Gegenwart  hingegeben 
und  für  dieselbe  auch  schriftstellerisch  tkitig,  die  historische  Litera- 
tur in  den  jüngsten  Tagen  nur  spärlich  mit  selbständigen  Werken  ausge- 
stattet. Diesen  gehören  besonders  mehre  werlhvolle  Schriften  an,  welehe 
Bezug  auf  einen  in  den  Jahrbüchern  oft  und  vor  geraumer  Zeit  behan- 
delten Gegenstand  haben,  auf  den  alten  und  dennoch  immer  jugendlichen 
Befreiungskrieg.  UebernaUthige ,  anwissende  Epigonen  nannten  ihn,  wie 
das  auch  gerügt  wurde,  anliquirt  oder  wohl  gar  einen  Kampf  fil  reine 
Restaurationszwecke.  Die  letzten  dritthalb  Jahre  habeu  das  Gegentheil 
bewiesen  und  den  bedeutenden  Abstand  der  modernsten  Begeisterung  und 
Geduld  (Ausdauer)  dargelegt.  Dies  soll  j  edoch  keine  Anklage,  vielmehr 
Ermotbigung  heissen  und  andeuten,  wie  schwer  lallig  nnd  Zickzack  missig  diu 
menschlicheu  Dinge,  besonders  im  Staatsleben,  einherwuodeln.  Gott  aber 
oder  das  Schicksal  lenkt  dennoch  den  Wugen  so,  dass  er  nie,  wenn  die 
Jsf^nsckco  nur  Molh  und  Xttbi^btMt  liflhen^  ini  Rumpfe  stecken  bleibt« 


Erinnerungen  aus  den  Jahren  1813  und  1814  ton  Karl  c.  Räume  r. 
Stuttgart,  bei  Liesching.    Vorrede  VIII.    147  S.  8. 

9 

Wio  das  Abschiedswort  an  dio  Leser  meldet,  schrieb  der  ehren— 
werthe  Verf.  diese  Worte  nieder,  um  sich  durch  den  Blick  in  eine  gross- 


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I 


irtiire  Vergangenheit  wider  die  niederdrückenden  Frfalirunffftn  der  f!«- 
gen  wart  aufzurichten  und  EU  stärken.  Ihm  erscheint  Teutschlands  in  den 
Freiheilskriegen  wieder  gewonnene  Ehre  schmachvoll  geschändet  iDm 
Hoho  und  Spott  der  andern  Völker  und,  um  mit  Schiller'»  Allinghausen 
zu  reden,  die  alte  Zeit  begraben.  „Wohl  Dem,  der  mit  der  neuen  nicht 
»ehr  braucht  zu  Üben!"  —  Wenn  man  aber  bedenkt,  das*  die  alter- 
dings  traurige  Wendung  der  inaern  Angelegenheiten  hauptsächlich  durch 
Boverantworllichen  Leichtsinn,  besonders  der  Leiter  und  parlamentarischen 
Wortführer,  verschuldet  wurde,  so  ist  die  wehmüthige  Klage  wohl  er- 
laubt, nieht  aber  gerechtfertigt.  Denn  Fehlgriffe,  mit  Reue  und  Aufrichtig- 
keit erkannt,  vergönnen  dem  Privatmann  wie  de»  Volk  auch  Mittel  der  Bfla- 
serung,  ja,  im  aussehen  Fall  tritt  wie  früher  der  gestrenge  Zuchtmeister, 
der  Krieg,  als  Reformator  auf.  Möchte  er  sich  auf  gerechte  Art  eher 
wider  einen  etwa  übermüthigen  Fremden,  sei  sein  Wohnsitz  der  Nord- 
osten oder  der  Sadwesten,  denn  wider  die  eigenen  Söhne  wenden  I 
Letzteres  erscheint  gerade  wegen  der  Unnatur  und  weil  es  sich  in  den 

Kai/faranififTAn     PoMlonopn     HnrnnLn  link    tVanAtitliitk    olm.aii.l.nn/lA  I) 

ueiuersemgcu  reiuiagcrn  uciuiuicu  mein  um  wcsbuimui  auweicueuuu  iria- 
cipien  handelt,  trotz  des  Waffengelümmels  fast  unmöglich.  Diu  Wolken 
werden  sich  rasch  zertheilen  und  einer  billigen,  wenn  auch  den  Volks- 
wünschen  nicht  überall  entsprechenden  Ausgleichung  zwischen  Preussen 
und  Oesterreich  wie  den  Angehörigen  der  Hauptmächte  Platz  machen. 
Unabhängig  aber  von  seinem  bescheidenen  Nebenzweck  hat  Herr  von 
Räumer,  welcher  meistens  dem  Blücher 'sehen  Hauptquartier  folgte  und 
bedeutenden  Persönlichkeiten  naber  stand,  dankenswerthe  Beiträge  zur 
Geschichte  jener  entscheidenden  Jahre  geliefert.  Sind  doch  Beobachtun- 
gen der  Augenteugen  und  unmittelbaren  Zeitgenossen,  selbst  wenn  sin 
nur  einen  engen  Kreis  umfassen  sollten,  als  ursprüngliche  Quellen  von 
aober  Wichtigkeit.  Diese  gilt  auch  von  den  vorliegenden  Blattern;  aus 
dem  Leben  gegriffen,  schildern  sie  die  Zeit  wahrhafter,  aus  Vaterlands- 
Hebe  und  sittlich  -  religiösem  Ernst  entsprossenen  Bewegung;  sie  konnte 
Grosses  vorrichten,  weil  sie  an  das  Grosse  glaubte  und  persönlich  selbst- 
süchtigen Kleinigkeitskram  fallen  liess,  wenig  redete,  kannegiesserte  und 
unkte,  viel  that,  ertrug,  das  Beschlossene  in  Einigkeit  bei  manchem  Ha- 
der vollsog,  ein  fiel,  die  Bekämpfung  des  Feindes,  vor  Augen  behielt 
aad  ihre  Kräfte  nicht  durch  hochfliegende  Revolntionsplane  zersplitterte. 
Fürsten  und  Völker,  Gelehrte  und  Handwerker,  Geistliche  und  Weltliche, 
empfanden,  dachten  und  bandelten  wie  aus  einem  Guss ;  darum  ging  esr 
wenn  oft  auch  müh-  und  langsam,  vorwärts,  von  der  Spree  bis  zur  Elbe, 
zum  Rhein,  zur  Seine*,  mau  staunte  nachher  selber  bisweilen  über  da* 


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Gelingen  anfangs  bescheidener,  nur  ouf  Abwehr  gerichteter  Plane.  An 
innern  Feinden  fohlte  es  dabei  nicht  ,  viele  Tausenden  ja  Millionen  hatten 
sich  ,  nicht  nur  der  Rheinbund  allein ,  in  die  scbm&klige  Wirthschaft  bin— 
eingelebt,  zum  Theil  hineinphilosophirt.  —  Herr  von  Raum  er,  bei  dem 
Ausbruch  dei  Kriegs  Bergrath,  kam  bald  als  thätiges  Mitglied  dea  Stabes 
in  das  Hauptquartier  der  schlesiacben  Armee;  in  dieser  günstigen  Stel- 
lung konnte  er  nach  eigenem  Ausdruck  in  täglicher  Nahe  der  grössten 
Männer  das  Grösste  erleben  (Vorwort  6).  —  Man  muss  jedoch  keine 
zusammenhängende  Berichte,  umfassende  Schilderungen  erwarten;  die  Mit- 
theilungen geschehen  aphoristisch,  heben  diesen  oder  jenen  Zug  heraas, 
bald  einer  Persönlichkeit,  bald  eines  Ereignisses.  Bisweilen  werden,  die 
Sache  zu  erläutern,  kurze,  schon  anderswo  gedruckte  Briefe  der  Feld- 
herrn eingeschaltet;  sie  kommen  jedoch  nie  zu  spät.  So  z.B.  gibt  Gnei- 
se na  u  am  26.  August  dem  Freund,  Grafen  von  Münster,  in  etlichen 
Zeilen  ein  taktisches  Bild  der  eben  gewonnenen  Katzbacherschlacht 
(S.  22).  „Wir  habentt,  heist  es,  „heule  einen  Sieg  erfochten.  Wir 
hatten  die  Disposition  zum  Angriff  gemacht  und  wollten  sie  eben  in  Aua« 
fuhrung  bringen,  als  man  uns  meldete,  die  feindlichen  Colonnon  seien  ge- 
gen uns  Ober  die  Hatzbach  im  Anrücken.  Schnell  änderten  wir  unser n 
Angriffsplan,  verbargen  unsere  Colonnen  hinter  sanften  Anhöhen ,  zeigten 
nur  unsere  Avantgarde  und  stellten  uns  als  ob  wir  in  die  Defensive  ver- 
fielen. Nun  drang  der  Feind  ttbermttthig  vor.  Auf  einmal  brachen  wir 
über  die  sanften  Anhöhen  hervor.  Einen  Augenblick  war  das  Gefecht  im 
Stillstand.  Wir  brachten  mehr  Cavallerie  ins  Gefecht  ;  zuletzt  unsere  In- 
fanteriemassen; griffen  die  feindlichen  mit  dem  Bajonett  an  und  stürzten 
sie  den  steilen  Rand  des  Flusses,  die  Katzbach,  hinunter. tt  —  Wie  schlicht 
und  wahr!  —  Die  anziehende  Magnetkraft  des  Bltlcher'schen  Heeres, 
welchem  nach  dem  ElbQbergang  bei  Wartenburg  die  übrigen  Gewalts- 
haufen gefolgt  seien,  wird  wohl  zn  hoch  angeschlagen;  der  Schwedische 
Kronprinz  mochte  Ehren  halber  unmittelbar  dieselbe  Richtung  nehmen,  für 
die  grosse,  böhmische  Armee  wirkte  bestimmend  der  schon  früher  fest- 
gesetzte, sorgfältig  beobachtete  Operationsplan  (S.  35).  Wenn  alao  Gnei- 
senau  dem  dreimal  zum  Anscbluss  mahnenden  Könige  Friedrich  Wil- 
helm lakonisch  zurückgeschrieben  haben  soll:  „Ew.  Maj.,  mein  Kopf 
atehet  sn  Ihren  Diensten,  aber  wir  kommen  nicht",  so  ist 
das  eben  ein  romantischer,  un historischer  Soldatenwitz. —  Znr  Leip- 
ziger Völkerschlacht,  in  welcher  500,000  Streiter  einander  fanden,  lie- 
fert der  Verf.  mehrere  anschauliche,  dankenswerthe  Züge;  wie  York  bei 
Möckern  vorarbeitete,  172  Officiere,  5,500  Unlerofficiere  und  Soldaten 


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K.  t.  Räumer:  Erinnerungen. 


an  Todten  und  Wunden  für  den  künftigen  Sieg  am  16.  Oktober  einsetzte, 
wird  auch  hier  mit  gerechten  Lob  hervorgehoben,  daneben  wiederholt  be- 
stiegt, dass  der  Schwedische  Kronprinz  zur  Theilnahme  an  der  Schlacht 
des  18.  durch  Blücher  und  (Jneisenau  gleichsam  moralisch  geoötbigt  wurde. 

—  Eine  artige  Idylle  bildet  dagegen  der  Einzug  des  Cborfflrsten  Wil- 
helm in  Kassel  (21.  Nov.).  „Vor  dem  Chtrfurstee«,  meldet  H.  v.  Rau- 
mer als  Augenzeuge,  „zog  eise  Menge  Bauern  zu  Pferde,  zum  Theil  an- 
getrunken, dann  Förster,  eine  Schaar  weissgekleideter,  vor  Prost  zittern- 
der Mädchen,  Schulmeister  mit  angestrengt  schreienden  Chorschttlern,  Na- 
tionalgarden  zu  Pferde  und  zu  Fuss.  Endlich  kam  der  ChorfOrst  selbst, 
wohl  von  200  Menschen  gezogen.  (Brav!)  Er  stand  im  Wagen  (alt 
Triump hator !) ,  neben  ihm  der  Churprinz.  Der  alte  Herr  trog  eine  mäch- 
tige Zopfperücke,  ein  grosses  Gewächs  am  Hals  nöthigte  ihn  den  Kopf 
seitwärts  zu  neigen.  Ein  Bauer,  der  dem  Einzöge  zusähe,  sagte:  „ sie- 
ben Jahre  habe  ich  ein  Pflaster  vorm  Maule  gehabt,  heute  reiase  ich's 
runter-  ( S.  59}  —  In  Höchst  setzte  der  General  Gneisenau  Bilfer- 
wein  statt  der  in  Bautzen  versprochenen  Tranben  vor.  „So  giugu,  fügt 
der  Berichterstatter  bei,  „in  der  korzen  Zeit  von  zwei  Monaten  das  Un- 
glaubliche in  Erfüllung,  was  Gneisenau" s  prophetische  Heldenseele  in 
Bautzen  ausgesprochen 44  (S.  61).  Aehnliche  Zuversicht  wird  voo  Bla- 
ck er,  jedoch  in  anderer  Form,  gemeldet  Der  Winterfeld  zog  in  Frank- 
rc  i  c  h  b  cIjo  tu  fn  t  m  q  n  l  Ii  c  Anziehende  B  o  1 1  r  3  ^  6  ^  ^vdc  h  c  m  c  1  s  t  c  n  9  dos  (j  c  n  c  ^ 
raiquartier  und  Soldatenleben  betreffen.  So  fragte  einst  Gneisenau  bei 
schlechtem  Wetter  und  bösen  Wegen  in  der  Nähe  von  Laoterecken  eine 
vorübergehende  Infanteriekolonne:  „Kinder,  wie  geht's ?u  — Sonst  wohl 
gut,  war  die  Antwort,  kämen  wir  nur  nicht  immer  so  spät  ins  Quartier. 

—  Nun,  sagte  der  General,  vor  Tische  kommt  ihr  doch,  das  fehlt  nicht. 
.Ja  wohl",  sagten  sie,  und  lachten  herzlich  (S.  71).  Den  berühmten 
Rückzug  Blücher's  auf  Etoges  schildert  der  Verf.  als  Augenzeoge  also: 
„Es  war  der  bedenklichste,  verhängnissvollste  Aogenblick  im  ganzen  Kriege. 
Blocher,  Gneisenao,  Prinz  August  Ferdinand,  Kleist,  Grolmann  und  viele 
andere  höchst  bedeutende  Männer  schienen  dem  Tode  verfallen.  Der 
treffliche  Oberstlieutenant  von  Oppen  hielt  neben  mir.  „Ich  habe", 
sagte  er,  „in  Spanien  unter  Wellington  vieles  erlebt,  doch  so  etwas  nie." 
Es  sind  die  letzten  Worte,  welche  ich  aos  seinem  Monde  vernahm,  kei- 
ner voo  una  sah  ihn  mehr.  Lieutenant  von  Blücher,  ein  Neffe  des  Feld- 
marschalls,  erhielt  einen  tödtlichen  Schuss.  Der  Prinz  Aogost  Ferdinand 
zog  den  Degen  und  rief:  „lieber  wollen  wir  uns  alle  niederhauen  lassen 
ala  uns  ergeben."  —  Ein  Viereck  preossischer  Infanterie  wurde  gebildet; 


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Bebe  noch  die  hohe  Heldengestalt  Grolmann's,  der  mit  grosser,  mu- 

Huri    srhliifrpn  nnc  Hnrrh  Ain  trnnri\zi*f\\m  Pnvalloria  rlnrrfi     wnhAi  «inp  rnaci 

unu  aLiiiii^cu  uns  uui  tu  uio  ir diitiUsjSviio  ^Hvuiiuriö  uuri.ii,  ytuuci  öiiic  russi- 
•che  Batterie  mit  wob)  gerichtetem  Kartätschenfeuer  oos  unters tüt^to  u.  s.w. 
(S.  78}.  —  Sir  Hudson  Lowe,  der  spätere  Wächter  Napoleons» 
konete  deu  kaltes  Muth  nicht  genug  bewundern.     „Es  befand  sich  da- 

BIsWÄ         y         tldäSt       €9  y       ^  Hl) 

der,  ein  langer  hagerer  Hann 
bangend,  die  Zehen  abwärts.  Mit  einem  grosses  Stock  beschrieb  er  rei- 
tend in  der  Luft  Kreise  (wie  ein  Augur?);  er  sprach  sehr  wenig;  sein 
langes,  gegerbtes  Gesiebt  glich  dem  des  Mannes,  „der  niemals  lachet 


nach  dem  Siege  bei  Laon  wird  nicht  nur  in  der  Augenkrankheit  des 
Feldmarschalls,  sondern  auch  in  allerlei  Zerwürfnissen  nachgewiesen.  Der 
alte  Herr  hatte  nämlich  sei  es  aus  Laune  oder  Fahrlässigkeit  eine  Ordre 
verkehrt  unterzeichnet."  Darauf  hin  geht,  lagt  H.  v.  Räumer,  York  zu 
Kleist  uod  sagt:  „da  sieht  man's,  der  Alte  ist  wieder  verrückt  ge- 
worden, wie  früher  in  Pommern.  So  ist's  eigentlich  Gneisen  an,  der 
uns  befiehlt;  das  müssen  wir  nicht  leiden."  Die  Sache  wurde  jedoch, 
obgleich  der  Chef  des  Generalstabs  seinen  Abschied  anbot,  von  den  Mo« 
narchen  ausgeglichen,  und  Alles  blieb  beim  Altes.  So  hat  es  später 
Gneisenau  vertraulich  erzählt  (S.  90).  In  der  Schilderang  des  Bftfi- 
cherschen  Hauptquartiers  (S.  116 ff.)  wird  man  manchen  neuen,  pikan- 
tes, aus  dem  Leben  gegriffenen  Zug  finden;  es  galt  da  geregelte 
Zwaaglosigkeit  ohne  steife  Etikette  und  finstere  Mienen,  trotz  der  oft 
schlimmes  Tage.  Jedoch  scheint  sich  auch  hier  und  da  eise 
fhe,  überflüssige  Persönlichkeit  und  Stellung  eingefunden  zu  haben, 
wohl  die  gestrengen  York  und  Kleist  nicht  ohne  Grund  bisweiten  är- 
gere mochte.  General  Mttfflisg,  darüber  getadelt,  dass  er  in  des 
Bulletins  auf  alle  Weile  die  Verdienste  der  Russen  auf  Kosten  der  hei- 
mischen Krieger  hervorhebe,  antwortete:  die  Preussen  thäten  von  selbst 
ihre  Pflicht,  aber  die  Russen  müssten  durch  solch  Lob  erst  angefeuert 
werden  (S.  122).  —  Den  kühnen  Marsch  auf  Paris  (März)  führte,  meist 
der  Verf.,  hauptsächlich  der  General  G  r o  I  m  a  n  n  herbei,  der  den  Feldzugs- 
plan entwarf.  Bei  Anlass  der  einander  ergänzenden  Persönlichkeiten  B I  li- 
ehe r'e  und  Gneisen  au's  wird  gut  bemerkt:  „Gott  lässt  in  grossen  Augen- 
blicken der  Geschichte  Manner  geboren  werden,  welche  gemeinsam  das 
Ausserge  wohnliche  vollziehen.  So  Luther  und  Melaschthon  —  Schar n- 


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K.  y.  Raumer:    Erinnerungen.  43 

■ofrft,  Blücher,  Gn  ei  gen  an,  York,  Bülow,  6  rol  m  a  n  ■  ■»»- wi« 
Terschieden  waren,  wie  verschiedenes  leisteten  ttet  Und  bei  aller  Ver- 
schiedenheit verfolgten  doch  alle  Ein  und  dasselbe  Ziel:  den  Sturz  Na* 
poleons  und  die  Befreiung  des  Vaterlandes"  (S.  125.).  Mit  besonderer 
Vorliebe  verweilt  der  Verfasser  bei  dem  Bilde  Gneisenau 's.  Und  mit 
Recht;  dieser  wahrhaft  grosse,  und  dabei  bescheidene  Mann  trägt  einen 
antiken  Charakter;  man  könnte  ihn  den  Prcnssischen  oder  Teutleben 
Epaminondas  nennen,  mit  dem  er  auch  die  Gleichgültigkeit  gegen 
Schein,  Rohm  und  materielles  Gut  theitt.  Letzteres  fiel  ihm  sehr  spät 
und  auch  nur  bescheiden  tu,  gleich  wie  dem  Scharnhorst,  einem 
ganz  ähnlichen,  wenn  anch  mehr  einwärts  gekehrten  Charakter.  Die 
biographischen  Nachrichten  Ober  Gneisen  au,  meistens  ans  von  Rhadern 
Wanderungen  eines  alten  Soldaten "'j  entlehnt,  enthalten  auch  manches 
Eigene  nnd  bleiben  desshalb  sehr  schfitzenswerth.  In  Betreff  der  angeb- 
lichen Abstammung  ans  Ulm  hat  Prof.  Hassler  die  gefüllige  Ausknnft  mit« 
getheilt,  dess  man  dort  von  Gneisenau's  Familie  bisher  nichts  wisse,  wohl 
aber  von  dem  allpatrizisehen  Geschlecht  der  ,,N  ei  jj  t  h  a  r  d  "  ,  deren  Vor- 
namen der  Feldmarschall  bekanntlich  führte.  Hier  müsste  das  Wappen  einigen 
Zusammenhang  gewähren;  jedoch  hat  man  bisher  nicht  darauf  geachtet. 
Jäger,  Ulm  im  Mittelalter  S.  774  bemerkt:  „Wag  die  Neitharde 
betrifft,  to  kommt  der  Name  Nithardt  schon  im  neunten  Jahrhundert 
in  der  Nahe  der  Donan  vor,  tu  Einsingen  bei  Ulm,  allein  nnter  mei- 
nen Gollectaneen  ist  der  erste  dieses  Namens  in  Ulm  der  Stadtschreiber 
Heinrich  Neitbard,  der  1303  aus  Auftrag  Ulms  in  Rotweil  ist.  Er 
hat  10  Söhne  gehabt.  Durch  ihre  Stiftungen  haben  sio  sich  sehr  be- 
rühmt gemacht. tt  Wie  leicht  konnte  sich  des  zahlreiche  Geschlecht 
von  da  ab  verzweigen  nnd  auch  in  die  Fremde  hinübergreifen.  Der 
Wanw  ^Gneisenau,  heisst  es  bei  von  Rheden,  soll  von  einem  kltinen 
Besitztum  in  Oesterreich  herrühren.  Gneisenau,  der  Feldmarschall,  war,  daa 
steht  fest,  Sohn  eines  Lutherischen  Hauptmanns  \n  fctfo.  Öster.  Diensten 
nnd  einer  Katholikin,  Tochter  des  Artillerieobersten  und  Commandanten 
der  Festung  Würzburg,  von  Müller.  Am  28.  October  1760  zu  Schiida 
in  Sachsen  geboren,  kam  der  junge  Gneisenau  von  Würzbnrg  nach  Er» 
fort,  wo  er  die  ScbuJe  besuchte  und  als  unbemittelter  Schüler  Cw'e  j*jt" 
ther)  in  den  Singclioren  vor  den  llüuseru  sang  (Kaumer,  S.  122.  j. 
Der  Koadjator  von  Mainz,  später  Fürstprimaa,  Karl  von  Dalberg,  erkannte 
»tad  ermunterte  die  mathematisch- militärischen  Talente  des  Knaben,  wel- 


*)  S.  Jahrbücher.    Jahrgang  1848.   pag.  172  ff. 


44        Schneidawind:  Der  Feldjrag  dci  Herzogs  von  Braunschweig. 

eher  zum  Jünglinge  herangereift  in  die  Kriegsdiensie  des  Markgrafen  von 
Anspach  trat  (1781)  und  mit  den   Markgraflichen  für  Englischen  Sold 
aacb  Nordamerika  hinüberschiffte  (1782),  jedoch  von  hier  nach  bald 
geschlossenem  Frieden  zurückkehrte  und  etliche  Jahre  spater  (1786) 
Preussische  Kriegsdienste  nahm.    Seine  Hauptgarnison  war  Lowenberg  in 
Schlesien ,  sein  Aufrücken  so  langsam,  dass  er  beioahe  20  Jahre  lang' 
Hauptmann  in  einem  FüsilierbataiUon  blieb.    Den  ersten  glanzenden  Na- 
men erwarb  der  47jährige,  bisher  wenig  beachtete  Mann  durch  die  ruhm- 
volle und  glückliche  Vertheidiguog  Kolbergs.  (1807,  April— Juli.) 
Fortan  stieg  lawinenartig  seine  tbatkräftige  Wirksamkeit  mit  den  Ver- 
wicklungen und  Gefahren.    „Blücher,  der  älteste  alte  deutsche  Michel, 
sagt  E.  M.  Arndt,  Gneiseoau  der  hochherzigste,  Grolmann,  von 
Vielen  der  bedeutendste  genannt,  diese  drei  haben  (zunächst  für  Preus- 
sen)  Grosses  und  Unsterbliches  zusammen  vollbracht,  Boy en,  der  Stille, 
Bescheidene,  Feste,  mit  ihnen.    In  Selbstüberwindung  bat  jeder  seine  be- 
ste Stärke  für  ein  Gemeinsames  und  Ganzes  hingegeben;  und  kein  Neid, 
keine  Eifersucht,  keine  Habsucht  bat  sie  jemsls  entzweit.    Froh,  dass  die 
grosse  Sache  gewonnen  worden,  war  jeder  unbekümmert,  ob  sein  Name 
dabei  genannt  ward.    Weil  sie  an  ein  Unsterbliches  geglaubt 
haben,  weil  sie  ein  unsterbliches  deutsches  Vaterland  ge- 
wollt habeo,  müssen  ihre  Namen  im  Vaterlande  unvergänglich  leben." 

Daran  möge  sich  die  verworrene,  oft  kleinfügige  Gegenwart,  wel- 
che Uber  ungeheure  Mittel  der  innern  und  äussern  Politik  in  Folge  der 
Selbstsucht  nicht  zu  verfügen  weiss,  gelegenheitlich  spiegeln.  Doch  sie 
bat  keinen  Sinn  dafür  und  wird  die  Thorheit  durch  neue  Prüfungen  und 
Missgeschicke  bttssen.  Steht  man  doch  bereits  einander  in  Waffen  halb 
gerüstet  gegenüber,  um  leere  Phantasieen  von  Union  und  Bundesstaat 
auf  Kosten  föderalistischer  Einheit  dem  Volke  praktisch  aufzuzwingen. 
Jedoch  glücklicherweise  wird  die  kriegerische  Seifenblase  eben  so  zerplatzen 
wie  weiland  in  Frankfurt  und  Erfurt  die  theoretisch-rhetorische. 

20.  Nov.   

« 

Der  Feldzug  des  Herzogs  Friedrich  Wilhelm  ron  Braunschweig 
und  seines  schwarzen  Corps  im  Jahre  1809.  Von  Franz  Schnei- 
dawind.   Darmstadt,  bei  Leske.    Vorrede  VI.  175.  S.  8. 

Unter  den  wenigen  Fürsten  Teutschlands,  welche  in  den  Tagen 
schmählichen,  theilweise  selbstverschuldeten  Drucks  Männer  blieben,  glänzt 
Herzog  Friedrich  Wilhelm  von  Braunscbweig-Oels  durch  ritterli- 
chen Muth,  vaterländischen  Sinn  und  Feldherrntalent  hervor,  welches  sich 


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S c Viq c i d q i o d  •    Der  F*clcJzu^  des  Hcirxo^s  von 


jedoch  nun  8  u  F  b e s c  ti  r ö  n  b  t  c  m  Spiel  r 3  u  m  u  d  d  bei  ^ er i  öd  i t tel o  eo 
ten  konnte.  Ihn  drängten  Öffentliche  und  häusliche  Unbilden  vorwärts; 
er  hatte  Alles  verloren,  nur  sich  selber  nicht  und  den  Glauben  an  das 
Freiheitsgefühl  der  Landslente  in  engern  nnd  weitern  Kreisen«  Der  be- 
rühmte, nnglOckliche  Vater,  Herzog  Karl  Wilhelm  Ferdinand  von 
Braunscuweig-Lttneburg,  verschied  etliche  Wochen  nach  den  Vernichtung*, 
schlachten  von  Jena  nnd  Auerstedt  als  Flüchtling ,  des  Augenlichtes  be)- 
raubt  anf  dem  Dorfe  Ottensen  bei  Altona  (10.  Nov.);  den  kaum  aus 
dem  Kriegsgetümmel  heimgekehrten  Sohn  und  Erben  traf  Napoleon' §  un- 
würdige Acht.  „Das  Haus  Braunschweig,  lautete  sie,  hat  aufgehört  zu 
regieren.  Möge  der  General  Braunschweig  sich  jenseits  des  Meeres  ein 
anderes  Vaterland  suchen;  Ueberall,  wo  ihn  meine  Soldaten  linden,  soll 
seiner  Kriegsgefangenschaft  warten!"  —  Der  abgesetzte,  auf  Ehrenwort 
nach  der  Schlacht  bei  Lübeck  entlassene  Fürst  zog  sich,  durch  den  Til- 
siter Frieden  in  allen  Hoffnungen  getauscht,  mit  den  Kindern  und  der 
Gemahlin  Maria,  einer  badischen  Prinzessin,  in  die  stille  Einsamkeit  Bruch- 
sals  zurück,  wo  bald  darauf  die  Herzogin  zum  Theil  in  Folge  des  er- 
dnlteten  Ungemachs  starb  (April  1809).  So  des  Vaters,  Vaterlandes 
und  der  zärtlich  geliebten  Gattin  beraubt,  sann  den  Herzog  über  Rache, 
brachte  die  Kinder  gen  England  in  Sicherheit,  raffte  die  Trümmer  des 
Vermögens  zusammen,  eilte  gen  Oesterreich,  als  es  1809  sein  Rhrenjabr 
antrat,  nnd  errichtete  nach  getroffener  Uebereinkunft  auf  eigene  Kosten 
die  seinen  Namen  führende  Freischaar.  Aus  allen  Gauen  Teutschlands 
bunt  zusammengesetzt,  schwarz  gekleidet,  mit  metallenem  Todtenkopf  am 
Tzako  und  desshalb  die  Schwarzen,  auch  wohl  Racheschaar  ge- 
heissen,  empfing  sie  bei  manchen  nnlautern  Stoffen  gemach  kriegerische 
Einheit  und  Hingebung.  „Der  Hersog,  urtbeilte  später  ein  unbekannt  ge- 
bliebener Franzose,  etwa  vierzig  Jahre  alt,  war  von  schöner  Gestalt  und 
Seht  kriegerischer  Haltung.  Nie  verliess  ihn  bei  allem  Feuer  auf  dem 
Schlachtfelde  die  Kaltblütigkeit.  Inmitten  seiner  Waffengefährten  hatte 
man  ihn  für  einen  gemeinen  Soldaten  halten  mögen;  denn  ein  schwarzer 
Rock  nnd  eine  Mütze  derselben  Farbe  bildeten  seinen  ganzen  Kleiderstaat. 
Auf  nackter  Erde  ruhend,  alle  Gefahren,  Beschwerden  und  Entbehrungen  thei- 
lend,  hatte  er  eine  Heldenschaar  geschaffen,  schwach  an  Zahl,  aber  furcht- 
bar durch  Muth  und  Opferbereitschaft."  +)  Offiziere  und  Soldaten  gehör- 
ten, wie  gesagt,  fast  allen  Teutschen  Stammen  an,  jedoch  meistens  den 


*)  Le  royaume  de  Westphalie.    Par  un  leraoin  oculaire.    Paris  1820. 

Äs»  Hdf  st) 61    \  00   ^flf  ÄChliOlnJCe      Jfa^jdjIMrlle)   i843#  0* 


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Scbneidewind:   Der  Feldzug  des  Herzogs  von  Braunschweig. 


nördlichen.    Neben  andern  führt  des  genaue  Verzcichuiss  im  Tagebuch 
des  Herrn  von  WachhotU,  der  urkundlichen  Ilaupiquelle,  aus  Baden 
auf  den  Lieutenant  Rudt  von  Collen berg,  vielleicht  Bruder  dei  der- 
maligen  Staatsrats,  aus  dem  Braunschweigischen  von  Radowitz,  wahr- 
scheinlich Verwandten  dei  berühmten  königlichen  Freundes  uod  Politikers, 
•welcher  die  Gegensätze  Sully  's  und  des  g  ehe  im  aiss  vollen,  magnetisiren- 
tiea  Gro  8S  kop  h  ta  (Ceglioitro)  zu  vereinigen  sucht,  aus  dem  Hessischen 
m\h.  von  Dörnberg,  den  durch  kriegerische  Theten  in.  Spanien  und 
Teutschland  namhaft  gewordenen  Qbris*  der  westfälischen  Garde-Cara- 
niniers,  von  Herzberg  aus  dem  Preussischen ,  welchen  die  Schlachten 
von  Satan aoea,  Vittoria,  an  der  Niveüe  und  bei  Orthez  zum  Obristlieu- 
teoaot  und  Regimentsführer  erhoben,  Korfes  aus  Braunschweig ,  den 
hochverdienten  Major  im  GeneraUtab  der  Schwane»  u.  s,  w.  —  Wenn 
das  Gedächtnis  dieser  und  anderer  Ehrenmanner  wieder  aufgefrischt  wird, 
so  geschieht  dadurch  der  Vaterlandsliebe  ued  Kriegswissenschaft  ein  hö- 
herer Dienst  als  durch  die  zahl-  und  geschmacklosen  Darstellungen  der 
iünanten  Rürfferkravalle  und  Aufstände     denn  derartige   Schildereien,  ire- 
ben  tbeile,  weil  sie  zu  frisch  und  befangen  sind,  den  geschichtlichen  Ver- 
lauf nur  unvollständig  und  parteiisch,  theilf  nähren  sie  trotz  des  Ha- 
schens nach  sittlich- patriotischem  Effect  de»  Bürgeriwist  und  befe- 
stigen die  Kluft  der  Parteien,  deren  eine  die  Schuld  der  andern  zuschiebt 
und  ge hassige  Anklagen  erbebt.  Herr  S  c  h  n  e  i  d  a  w  i  o  d  hat  daher  wohl  I 
aehandehv    wenn  er.  seine  frübern  krieffswissenschaf tlichen  Arbeiten  au 
ergänzen,  ans  guteu  Quellen  den  Fddzug  des  edlen  Weifen  zusammen- 
stellt nnd  ein  im  Ganzen  klares  Bild  jenes  etwas  rauben,  immer  aber 
tapfern  und  patriotischen  Freicorps  der  alten,  beinahe  verschollenen  Zeil 
mm  NaLxea  und  Frommen  der  gleichfalls  zerrissenen  aber  schwächlichem 
Geimnwftft  liefert     Indem   hier  uatur^emüs«  die  militärischen  Einzelnhei- 
tan  übergangen  nnd  dem  Leser  überlassen  werden,  kann  man  doch  nicht 
umhin,  zwei   charakteristische,  weniger  bekannte  Zuge  herauszuheben» 
welche  den  lautera   Gottesglauben  und  die  Grossmuth  des  Her- 
zogs wie  der  Seimgen  beweisen.    AU  jener  bei  sehr  ungleichen  Streit- 
kräften dee  blutige,  unentschiedene  Treffen  bei  Oelper  unweit  Braun- 
schweig liefern  wollte  (1.  Aug.),  suchte  er  den  Muth  der  Krieger  durch 
folgenden  Vers  des  348.  Gesanges   aus  dem  braunschweifischen  Ge- 

saagbuche  zu  beleben:  .  3 

Dir  trau  ich,  Gott,  und  wanke  nicht, 
Wenn  gleich  von  meiner  Hoffnung  Licht 
-J    *  Der  leiste  Funken  schwinder. 

Mein  Helfer  und  rawa  GoU  bist  Du,    .,  i   t  i  !  ,  ,i  .1 


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Schneide  wind:    Der  Feld  tu  g  des  Henogs  von  Braunsen  we  ig.  47 


Durch  den  mein  Hera  doch  endlich  Ruh'  v  •  !*> 

Und  Freude  wieder  findet. 

Von  jeher  hast  Du  mich  geführt 

Und  meines  Wandels  Lauf  regiert; 

Mit  scgensvoller  Vaterhand 

So  manche  Noth  hinweggesandt. 

Unendlicher ! 

Ich  trau  auf  Dich,  Du  leitest  mich,  •  -  • 
Ich  kämpf  und  siege,  Gott!  durch  Dich!a  —  (S.  148.) 
Yon  der  Grossmutb  des  dennociationsfeindlicheo  Herzogs  zeugt  der 
Umstand,  dass  er  in  Leipzig  ihn  übersandte  Verzeichnisse  der  Franzo- 
seofreande  unter  den  Bürgern  verächtlich  auf  den  Tisch  warf  and  dabei 
soldatisch  äusserte :  „Die  Schreiber  solcher  Anzeigen  verdie- 
nen Prügel  auf  den  H  "  (S.  115.)    Merkt  Euch  das  ihr  Leute 

aller  Farben  und  hütet  Euch  vor  geheimen  Angebereien!  Denkt  an  das 
Sprichwort:  „heute  mir,  morgen  dir!4*  —  Sitzen  doch  jetzt  nach  öffentli- 
chen Blättern  in  dem  kleinen  Königreich  S  a  c b  s e  n  1 2,000  Personen  in  rich- 
terlicher Untersuchung.  *)  So  was  war  früher  rein  anmöglich ;  man  be- 
gnügte sich  aUfallig  mit  den  Führern  und  liess  die  Haufen  laufen.  —  In  Be- 
treff des  oben  angezogenen  Beispiels  wäre  es  wohl  das  Beste,  wenn  ab- 
wechselnd probeweise  für  48  Stunden  die  eine  Hälfte  der  Sächsischen  Nation 
bei  Wasser  und  Brot  eingesperrt  and  von  der  andern  bewacht  würde.  Denn 
sicherlich  müsste  man  sodann  die  Unmöglichkeit  der  bezeichneten  mas- 
senhaften Untersuchung  erkennen  and  auf  Vergessenheit  des  Geschehenen 
dringen.  —  Aach  damals  war  Teutschland  in  gefährliche  Parteien  ge- 
weilt, aber  sie  behandelten  einander  milder  als  dermalen  und  verfolgten 
mit  grösserer  Klarheit  das  vorgesteckte  Ziel %  diese  für,  jene  wider 
Frankreich  and  den  Rheinbund.  Bemächtigten  sieb  doch  nach  dem  Hai* 
berstadter  Treffen  die  Knaben  des  Pulvers  und  führten  an  den  nächsten 
Sonntagen  den  Kampf  der  Westphalen  und  Schwarzen,  jedoch  vernünf- 
tigerweise ausserhalb  der  Stadt,  auf!  (S.  140.)  Die  neuen  Kampfer 
aber  streiten  innerhalb  und  befördern  dadurch  die  Einmischung  des 
Auslandes,  bandeln  also  unverständiger  als  die  Kleinen  von  II al Ber- 
stadt. Möge  sich  bald  Alles  einem  reformirten  Bundestage  ak  dem 
Amdrock  des  natürlichen  Föderalprincips  im  Gegensatz  zum  unionischen 
Gebilde  frommer  Wünsche  anschliessen  und  wenigstens  nach  aussen  hin 
ohne  Rücksiebt  auf  Osten  und  Westen  Front  machen!    Denn  nicht  übel 

lautet  ja  das  alle  Sprichwort:   „Es  ist  besser,  einem  Landsmann 

»    •   »  * 


*)  S.  deutsche  Zeitung.  Kr.  329.  Beilage.   „Si  fabula  vera  est." 


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Schneidawind :   Der  Feldzug  des  Herzogs  von  Brannschweig. 


die  Schah«  zu  pulsen,  als  einem  Fremden  die  Fasse  zu 
küssen.«  — 

Der  moralische  Eindruck  des  kühnen  Zuges,  welcher,  von  überle- 
genen Feinden  umgeben,  innerhalb  14  Tagen  62  Meilen  von  der  Sächsich- 
Böhmischen  Grünze  bis  zur  Nordsee  zurückgelegt  und  mehre  blutige  Treffen 
bestanden  hatte,  war  gewaltig.  Er  bekundete  wie  SchilTs  Aus-  und 
Todesfahrt  das  Erwachen  eines  neuen  Geistes  auch  ausserhalb  der  Armeen; 
man  bewunderte,  besonders  in  Teutschland,  den  Muth  und  die  Beharr- 
lichkeit der  Freischaar,  und  selbst  die  Frauen  Hessen  es  nicht,  sagt  der 
Verfasser,  bei  Worten  bewenden.  „Sie  feierten  vielmehr  das  Gedächt- 
niss  an  die  schwarze  Legion  dadurch,  dass  sie  schwarze  Spencer  mit 

blauen  Kragen  a  la  Brunswic  trugen.    Daher  sang  Rückert:" 

■(   •  , 

„Damals  hat  der  Damen  Mode 
Dort  sich  ihm  bequemt  sogar, 
Dass  sie  ihren  Putz  vom  Tode 
Lieh,  wie  er  und  seine  Schaar!" 

Napoleon  aber  rief  zu  Schönbrunn  auf  die  Kunde  des  Geschehe- 
nen lobend  aus:  „Ah!  c'est  un  vaillant  guerrierlu  —  (S.  175.)  Am 
14.  August  landete  der  Herzog  bei  Grimsby  in  England;  alle  anwesende 
Schiffe  flaggten;  das  Abentheuer  war  bestanden,  mancher  fruchtbare 
Saame  der  Aufregung  in  den  GemUthern  des  von  dumpfer  Betäubung 
oder  Gleichgültigkeit  gefesselten  Volks  zurückgeblieben. 

Wer  die  weitern  Schicksale  der  Braunsehweigischen  Schaar  bis  zur 
Fahrt  nach  Portugal  und  daneben  viele  aus  dem  Leben  gegriffene  Züge 
und  Bilder  des  dermaligeu  und  frühern  Kriegswesens  kennen  zu  lernen 
Wünscht,  der  findet  in  dem  Tagebuch  des  Herrn  von  Wachholtz  reiche 
Belehrung.  Der  Verfasser  trat  als  Lieutenant  zu  Nachod  an  der  Böhmi- 
sehen  Gränze  in  das  Corps  ein,  machte  alle  Züge  desselben,  auch  in 
Spanien  mit,  focht  an  der  Seite  des  Herzogs,  welcher  bekanntlich  fiel, 
bei  Quatrebras  und  starb  als  Generalmajor  und  Commandant  des  braun- 
sehweigischen Feldcorps  im  Jahr  1841.  Seine  Aufzeichnungen,  bear- 
beitet und  herausgegeben  durch  C.  Fr.  von  Vechelde  —  (Braunschweig 
1843)  dienen  nicht  nur  als  Hauptquelle  für  die  Geschichte  der  Oelsischen 
Schaar  und  ihres  Führers,  sondern  liefern  auch  Uberhaupt  treffliche  Bei- 
träge zur  allgemeinen  Kenntniss  des  verhängnissvollen  Zeitabschnittes,  wel- 
chen die  französische  Revolution  beginnt  und  der  Sturz  Napoleon'*  endigt. 

(Sckluss  folgt.) 


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Nr.  4.  HEIDELBERGER  1851. 

JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR. 

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Der  Feisten*  des  Grafen  von  Wallmoden, 


—  ' — • 


(Schliua.) 

Der  Feldzug  des  Corps  des  Generals  Grafen  Ludwig  ton  Wallmo- 
den-Gimbo'rn  an  der  Nieder-Elbe  und  in  Belgien,  in  den 
Jahren  1813  und  1814.  Altenburg  1848.  Bei  Pierer.  IV.  76.  8. 

i    «i  ; •        '.  {»"-*,**•»..         .  i 

Der  unbekannte  Verfasser  war  jedenfalls  ein  sehr  hochstehender,  er- 
fahrener und  kriegsllichtiger  Mann;  denn  seine  Angaben ■'  sind  stets  ge- 
nau, seine  Schilderungen  der  Oerthcbkeiten,  Märsche,  Gefechte  pracis, 
streng  faktisch  und  ohne  patriotische  oder  anderweitige  Znthat  nur  auf 
das  militärische  Verständnis*  der  Dinge  gerichtet,  die  hier  und  da 
eingestreuten  Bemerkungen  durchweg  praktisch- nüchtern,  die  Charak- 
teristiken der  Feinde  und  Freunde  endlich,  auf  den  Thatsachen  ruhend, 
schlicht  und  unparteiisch.  Alles  Lieberflüssige  und  Schmuckvolle  wird 
gemieden,  nur  das  unumgänglich  ISoth wendige  in  militärisch 

mitgetheilt.  Die  Schrift  besitzt  daher  eine  gewisse  Ruhe 
wie  sie  den  tieneuten  ues  nesonnenen,  Räumungen 
oder  eingeweiheten  Beobachters  geziemt;  sie  hat  etwas  objectiv  Xeno- 
phontisebes,  wenn  man  nicht  au  Ciiser,  Friedrich  den  Gros- 
sen u.  s.  w.  denken  will.  Wer  z.  B.  die  Charte  in  der  Hand  den 
n  der  Stecknitz  und  niedern  Elbe  unter  Leitung  des  Ver- 
durchmustert, wird  sich  immer  gut  orientirt  finden  und  die  krie- 
gerischen Ereignisse  in  dieser  Beziehung  leicht  begreifen.  Jene  waren 
aber  keinesweges  ohne  Bedeutung;  denn  von  ihrem  Gang  an  der  untern 
Elbe  hingen  t  heil  weise  die  Schicksale  der  Hauptoperationen  tief  strom- 
ab ,  ein  Umstand ,  welchen  man  bisher  häufig  Uberseben,  hat 
der  Marschall  Devons t  gebot  bei  dem  Anfang  der  Feindseligkeiten 
41,000  Mann  tüchtiger  Soldaten,  welchen  Wallmoden,  dem  Kron- 
prinzen von  Schweden  untergeordnet,  nur  22,000  bunt  zusammenge- 
setzte, meistens  ungeübte  Leute  entgegenstellen  konnte.  Wäre  nun, 
wird  ganz  richtig  bemerkt  (S.  15),  der  Französsiche  Heerführer  um  den 
17.  August  mit  Nachdruck  angreifend  vorgegangen,  so  hatte  ihn  bei  der 
damaligen  mangelhaften  Ausbildung  des  Fussvolks  kein  namhafter  Wider- 
stand gehindert,  sich  nm  den  22.  etwa  auf  2  bis  3  Tagemärscho 
XJLIV.  Jahrg.  1.  Doppelheft.  4 


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$9   ;  Der  W*H  des  tr.  v.  Wajlmodeu. 

Berlin  anzunähern  und  seine  Operationen  mit  denen  des  Generals  Gj- 
rtrd  von  Magdeburg  her  zu  verbinden.  Konnte  aber  dann  der  Kron- 
prinz von  Schweden  die  Schlacht  bei  Grossbeeren  annehmen? 
Schwerlich.  Stockte  nun  dieses  eine  Rad  der  Haschine,  so  wäre  ihr 
ganzer  Gang  aufgehalten  worden  und  Napoleon  hätte  Luft  bekommen. 
Es  ist  ein  Verdienst  der  kleinen  Schrift,  diesen  einfachen,  richtigen  Ge- 
sichtspunkt hervorgehoben  und  dadurch  die  eigentliche  strategische  Be- 
deutung des  oft  sehr  vernachlässigten  und  fast  übersehenen  Feldzuges  an 
der  untern  Elbe  mit  seinen  Märschen ,  Yorpos tengefechten  und  dem  blu- 
tigen Treffen  an  der  {Göhrde  in  das  ihm  gebührende  Licht  gebracht  zu 
haben.  Was  übrigens  den  Marschall  Davoust,  einen  sonst  rüstigen 
nnd  unternehmenden  Feldherrn,  an  der,  den  Alliirten  äusserst  vorteilhaf- 
ten Defensive  bewog,  wird  nicht  entwickelt.  Die  Gründe  mochten  wohl 
mehr  politischer  denn  militärischer  Art  aeyn  und  im  Znsammenhange  mit 
der  möglichsten  Schonung  des  Schwedischen  Kronprinzen  stehen,  welcher 
seinerseits  bekanntlich  wiederum  sehr  behutsam,  fast  ängstlich,  auftrat. 
Wie  derselbe  nach  der  Leipziger  Schlacht  alles  Uebrige  vergessend  nur 
den  Norwegisch^Dänischen  Plan  vor  Augen  die  ganze  Kraft  von  Davouet 
ab  auf  die  Dänen  richtete  und  nach  verschiedenen,  theilweise  blutigen 
Gefechten  den  Kieler  Separatfrieden  (16.  Jänner  1814)  ertrotzte,  wird 
von  dem  Verfasser  deutlich  entwickelt.  —  Bin  merkwürdiges  Acten- 
stück  bleibt  der  aufgefangene  Brief,  in  welchem  Napoleon  von  Bautzen 
«na  (17.  August)  dem  Marschall,  freilich  jetzt  fruchtlos,  befiehlt,  den 
schwachem  Feind  anzugreifen  und  sich  nicht  maskiren  tu  lassen,  „Ne 
vous  laissez  pas,  heisst  es  da,  masquer  par  un  petit  nonbre,  et  par  une 
canaille  (sie) ,  teile  quo  les  Anslatos,  la  legion ,  et  les  troupes  de 
Waflmoden.  II  n'y  a  de  bonnes  troupes  contre  Vous,  quo  lea  Suedois, 
et  a  peu  pres  le  quart  de  ce  qua  Bulow,  qui  est  troupe  de  ligne.u 
So  verächtlich  und  zu  seinem  grossen  Schaden  dachte  der  Kaiser  von 
Allem,  was  nicht  unmittelbar  der  Linie  angehörte;  der  Gedanke  eines 
Volkskrieges  war  ihm  auch  damals  noch  fremd,  und  er  ahndete  nicht, 
dass  bald  jene  Canaille  im  Treffen  an  dar  Göhrde  eine  ganze  Division 
Linientrappen  aufreiben  sollte.  _  ,  -  . 

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1  .      "      1  • 


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Gross*    Ennnenitijjen  nus  den  Krieg1  sjfllireo. 


51 


frtfi eru ftgen  aus  den  Krie g syoh r en .  Vom  Geh,  Justizrathe  Dr.  J.  L. 
Gross,  Zum  Besten  der  Pestalozzistiftungen  in  Leipzig  und 
Dresden  herausgegeben,  Leipug>  in  Kommission  bei  Leopold  Voss, 
1850.    IV.    i53.  8. 

Diese  Denkwürdigkeiten ,  deren  Verf.  in  dem  Vorwort  beinahe  zu 
bescheiden  von  seinen  reichhaltigen  Erlebnissen   spricht,   liefern  einen 
sehr  schätzenswerten  Beitrag  xar  Kenntniss  des  behandelten  Zeitraums 
von  1792  — 1815.    Ans  der  unmittelbaren  Anschauung  des  sorgsamen 
Beobachters  und  tbätigen  Geschäftsmannes  entsprossen  und  zunächst  auf 
Leipzig  als  unveränderlichen  Wohnort  und  Mittelpunkt  gerichtet,  liefern 
sie  treue  und  gegenständliche  (objektive)  Schilderungen  der  bald  klein- 
lichen, bald  grossartigen  und  verhängnissvollen  Wirklichkeit  und  be- 
liehen ihren  Reis  gerade  aus  dem  subjektiven  Standpunkt  des  anspruchs- 
losen und  dennoch,  wie  alles  beweist,  sehr  gebildeten  Erzählers.  Neben 
vielen  Zügen  der  gewöhnlichen,  schneckenförmig  sich  abhaspelnden  Le- 
beosprosa oder  bürgerlichen  Alltäglichkeit  (Misere)  treten  bei  plötzlich 
geschehenem  Umschwung  der  Diuge  auch  ernstere  Darstellungen  hervor 
und  liefern  dann,  z.  B.  in  Betreff  des  Kaisens  Napoleon  und  der  Leip- 
ziger  Schlacht,  wahrhaft  geschichtliche,  theilweise  unbekannte  Aufschlüsse 
und  Charakteristiken.    Der  Leser,  wird  daher,  was  sicherlich  selten  be- 
gegnet, in  dem  Büchlein  weit  mehr  finden  ab  es  ankündigt  und  verbeisst 
Wie  beaebtenswertb  sind  nicht,  Anderes  zu  übergehen,  die  beiden,  sorg- 
fältig aufgezeichneten  Gespräche  der  Sächsischen  Abgeordneten  mit  Na- 
poleon!   Sie  stellen  den  ausserordentlichen  Mann  hin,  wie  er  war  nach 
seinen  guten  und  schlimmen  Seiten,  ohne  Hass  und  blinde  Parteinahme. 
Dasselbe  begegne!  gegenüber  andern,  wenn  auch  minder  vorragenden  Per- 
sönlichkeiten,  z.  B.  dem  Herzog  von  Brauns  oh  weig-Oels  und  dem 
Kaiser  Alexander.    Sitten  und  Denkart  des  Volks,  eunfiotsl  in  der 
rührigen  Handelsstadt,  werden  in  treffender,  bisweilen  humoristischer  Weise 
ohne  alle  Bitterkeit  und  übellaunige  Rüge  vorgeführt.  Hin  und  wieder  werden 
anch  laufende  Vorurteile  und  stehende  Redensarten  der  Kritik  unterwor- 
fen.   „Itfl  sollte  doch-,  mutet  eil*  Anmerkung  (S.  2),   „endlich  die 
Phrasen  von  Zopfthum  und  Zopfzeit  nicht  immer  dem  Publikum  wieder* 
holen  und  nicht  vergessen,  dass  Göthe,  Schiller,  Wietand  auch  Zöpfe  tru- 
gen ,  Männer,  deren  dichterische  Werke  wohl  mehr  Genuss  bereiten  als 
die  alle?  unbezopften  Dichter  der  Neuzeit.    Ist  es  am  Ende  Dicht  reine 
■odesache?    Früher  trog  man  das  gesammelt«  Haar  hinterwärts  und 
jetzt  erscheint  der  edle  Kopfschmuck  häufig  als  langer  Bart,  gleichsam 

m  4b 


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5%  Gross:   Erinnerungen  aus  den  Kriegsjahren, 


Ausdruck  einer  vorwärts  gekehrten  Zopfzeit."  —  Der  erste  Abschnitt 
reicht  bis  zum  Jahr  1805,  meistens  auf  Aeusserlicbkeiten ,  *.  B.  Tracht 
des  Militärs,  gerichtet;  der  zweite  behandelt  das  Jahr  1806,  so  weit  die 
Ereignisse  Leipzig  berühren ,  und  bringt  manches  Interessante.  So  sagte 
bereits  im  Frühling  ein  geistvoller  preussischer  Rittmeister  von  Kiddi- 
cker,  welcher  aus  Verdruss  über  den  Kamaschengeist  seinen  Abschied 


genommen  hatte,  den  traurigen  Ausgang  vorher.  „Möchte  man  nicht", 
äusserte  er  bei  dem  Anblick  der  schonen  Kastanienallee,  „des  Teufels 
werden,  wenn  man  bedenkt,  dass  im  Herbst  die  französischen  Soldaten 
liier  herumspazieren  werden  1"  Ein  ähnliches  Urlheil  fällte  bekanntlich  der 
verabschiedete  Mililärschriftsleller  H.  v.  Bülow;  man  hielt  seine  Weis- 
sagung für  Narrheit  und  sperrte  den  kecken  Sprecher  ein.  Gelegenheit- 
lieb  werden  die  wirklich  abentheuerlichen,  an  Wallensteins  Lager  erinnern- 
den Schicksale  eines  sächsischen  Weibsbildes  geschildert,  welches  die 
Laibe  Welt  als  Soldatenfrau  durchzieht  und  zuletzt  in  Calabrien  rastet. 
Eine  merkwürdige  Nachricht  betrifft  das  Isenburgische  Regiment, 
welches,  schon  im  November  aus  gewesenen  Soldaten  des  preussischen 
Heeres  errichtet,  an  Zügellossigkeit  bei  weitem  die  Franzosen  überbot 
und  einen  traurigen  Beweis  der  damaligen ,  in  höhern  und  untern  Re- 
gionen schaltenden  Gesinnungslosigkeit  lieferte.  Dafür  zeigt  auch  das 
Benehmen  der  Leipziger  Universität.  „Letzlere",  heisst  es  s.  18, 
„balle  den  unglücklichen  Einfall  gehabt  (1807),  eine  Sternkarte  ent- 
werfen  und  darauf  ein  neues  Gestirn,  benannt  Napoleonsgestirn, 
einbringen  zu  lassen,  welche  sie  dem  Kaiser  Überreichen  wollte.  *)  Dieser 
entging  aber  durch  frühe  Ankunft  (23.  Juli)  und  Abreise  allen  ihm  zu> 


•  •)  Die  G  e  1  e h  r  s  a  m  k  c  i  l  setzte  damals  wetteifernd  nicht  nur  in  F r a n k- 
reich,  sondern  auch  in  Teutschland  dem  französischen  Kaiser  Denkmäler 
einer  an  Adoration,  itpoaxJvTjoi; ,  grunzenden  Verehrung.  Beinahe  alle 
Universitäten  opferten  trotz  theil weiser  Opposition  dem  Genius  des  Jahr- 
hunderts, von  welchem  man  die  Wiedergeburt  des  Menschengeschlechts  er4- 
wartete;  es  galt  das  in  Göttingen,  Heidelberg,  Würzburg  n.  s.  w.  als  Mode- 
sache und  Zeichen  erhes  edlen,  freien  Geistes.  Leipzig  stellet  durchaus  nicht 
in  dieser  Rücksicht  vereinzelt  da ;  es  handelt  nur  geräuschvoller  und  mit  einem 
gewissen  literarisch  zierlichen  Aufsehen.  Die  von  dem  Verfasser  angedeutete 
Huldigung,  welche  Napoleon  bei  der  Rückkehr  von  Tilsit  empfing  oder  vielmehr, 
weil  er  müde  des  Schmeichlertrosses  rasch  durchreiste,  empfangen  sollte,  wird 
im  Intelligenzblalt  der  Jenaer  Liter aturzeitun g.  9.  VIT.  S.  590.  weitläufig 
beschrieben.  „Die  Universität,  heisst  es  da  neben  Anderm,  hatte  sich  in  Bereit- 
schaft gesetzt,  dem  unsterblichen  Helden  ihre  Ehrfurcht  und  Dankbarkeit  für 
den  genossenen  Schutz  darzubringen.  Zu  dem  Ende  hatte  sie  eine  lateinische 
Elegie  (2  Bogen  in  fol.)  verfertigen  lassen  und  die  Stiftung  eines 


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r<        „  „  .  nn  APnn  -«m     „„„     JA«  1'«'M.!.Um« 

uross.    cainnerungen  aus  ucn  nrieg>janren. 


gedachten,  auch  mit  Glockengeläute  verbundenen  Huldigungen."  —  Der 
He  Abschnitt  erzählt  anziehende  Ereignisse  des  Österreichischen  Ehren- 
jahres 1809  und  gibt  besonders  lehrreiche  Nachrichten  über  die  Schwär- 
zen und  den  Herzog  von  Braunschweig-Oels.  Etliche  Namen  und 
Worden  sind  aber,  wie  man  aus  dem  Tagebuch  des  Herrn  von  Wach- 
holz  ersieht,  dabei  nicht  richtig  angegeben;  die  Ratbsacten  hatten  darin 
geirrt  So  heisst  der  in  innen  erwähnte  Officier  nicht  Korl  .nsky,  son- 
dern Kottolinsky,  war  Herr  von  Katte  nicht  Major,  sondern  Ritt- 
meiner,  ebenso  der  Herr  von  Otto.  (S.  30.)  Obschoo  der  Hersog  für 
seine  Truppen  nur  Fourage,  Essen  und  Trinken  forderte  und  diese  Pro- 
klamation vom  12.  Junius  im  Ganten  auch  treu  hielt,  machte  er  doch  bei 
seiner  Ankunft  in  Leipzig  davon  notgedrungen  eine  Ausnahme;  es  wur- 
den neben  andern  Kriegsbedürfnissen  40  Pferde  gefordert  und  dem  Ma- 
gistrat, welcher  in  dem  Begehren  Eingriff  in  Privateigenthum  sah,  aus 
der  Bi wach t  bei  Lützen  (23.  Juni)  folgende  Mahnworte  geschrieben :  „Den 
Franzosen  zu  Ehren  sind  Feste  und  Feierlichkeiten  veranstaltet  worden; 
mn  deren  Wohlwollen  in  erhalten,  ist  kein  Opfer  zu  gering  geachtet 
worde,  num  es  freudig  darzubringen.  —  Von  der  Pferdereqnisition  kann 
ich  nicht  abgeben,  und  zwar  muss  die  Ablieferung  diesen  Abend  ganz 
unfehlbar  geschehen.  Sie,  meine  Herren,  sind  mir  dafür  mit  Ihrem  Pri- 
ntvermögen  verantwortlich.*4  —  Das  wirkte;  die  Rosse  kamen.  — 
Die  Beweglichkeit  des  Publikums  zeigte  sich  aber  darin  ,  daaa  man  an- 
fingt den  Braunschweigtscben,  etliche  Tage  später  (26.  Juni)  des  West- 
pbalen,  Holländern,  Franzosen  und  Sachsen  zujauchzte.  „Da  rief  mürrisch 

eis  sächsischer  Dragoner  aus:  „Was  soll  denn  das  beiisen?  Gestern  ha- 

    * 

Denkmals  beschlossen  und  nach  dem  Antrage  der  darüber  befragten  Professoren 
Hindenburg  und  Rüdiger  beschlossen,  die  tum  Gürtel  und  Schwerte  des 
Orions  gehörigen,  und  die  dazwischen  liegenden  bisher  nicht  benamseten  Sterne 
künftig  die  Sterne  Napoleons  ru  hetssen.  Eine  zu  diesem  Zweck  neu  ent- 
worfene Stern charte  ist,  mit  Genehmigung  des  Königs  von  Sachsen,  an  das 
National  ins  ti  tu  t  zu  Paris  abgeschickt  worden,  mit  der  Bitte,  dieselbe  dein 
Kaiser  zur  Annahme  dieser  Huldigung  vorzulegen.  Die  Charte  führt  die  lieber- 
schritt:  „Kapoleoni  Magno  Sospitatori  Pacificatori  Musagetae  Opt.  Max.  Acade- 
nia  Lipsiensis  sospes  grata."  Daneben  hatte  Mag.  Stoy  ein  künstliches  latei- 
nisches Gedicht  für  den  23.  Julius  verfertigt,  welches  die  Schlagworte  Aurch- 
Wirte :  „Viva!  Napoleon  invictus  redux  —  uos  rite  o remus. u  —  Die  Dresdener 
Bibliothek  feierte  gleichfalls  den  Kaiser  als  summus  paeificator  durch  Inschriften 
aod  Gedichte.  —  Möge  der  Himmel,  könnte  man  beifügen,  das  getrennte 
Teutschland  bald  unter  einem  föderativen  Schirm-  und  Wetterdache  verbinden, 
dasselbe  vor  kaiserlichen  oder  nicht  kaiserlichen  Friedensstiftern,  sei  es 
des  Ostens  oder  das  Westens,  gnadigltch  bewahren! 


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Gross:   Erinnerungen  aus  den  Kriegsjanrc*. 


ben  sie  den  Braunschweigern  Vivat  zugerufen,  und  heute  uns;  das  ist  ja 
mfrerabel!«  —  Der  vierte  Abschnitt  liefert  für  das  Jahr  1812  Unbedeu- 
tendes, dar  fünfte,  für  den  Wendepunkt  1813  mehre  belangreiche  Züge 
und  gröatere  Aufzeichnungen.  Letaleren  gehören  namentlich  die  Schlacht 
von  Lützen  und  das  ebendaselbst  reit  Napoleon  am  Abend  des  Kampf- 
tage (2.  Mai)  abgehaltene  Gespräch  an.  Die  Frnnzosen  hätten ,  er- 
zählte ein  Slabsoflicier  dem  Verf.,  kein  Zusammen  treffen  erwartet  und  «ch 
ruhig  auf  dem  Manche  nach  Leipsig  befunden,  als  wrf  einmal  die  Coloe- 
nen  der  Alliirlen  in  der  rechten  Flanke  sichtbar  geworden  seien.  Darauf 
hebe  der  Kaiser  sogleich  die  Schlachtordnung  gebildet  und  bei  dem  deut- 
lichen Mangel  an  Reiterei  ausgerufen :  „oous  aurons  une  bataille  d'Ggypte ! * 
(a  64.)  —  In,  dem  Gespräch  mit  den  Abgeordneten  der  Stadt  fragte 
der  Kaiser,  an  den  Verf.  steh  wendete:  .Ihr  Name?"  Gross,  lautete 
die  Antwort,  Doctor  der  Rechte  und  Mitglied  des  Magistrat*.«  Ach,  ent- 
gegnete Napoleon,  welcher  die  erste  Bezeichnung  aufzufassen  schien,  die 
Universität  ist  nicht  gerade  gut  gesinnt",  (I/Universite  n  est  pns  trop  bonne} 
und  fragte  sodann  Frage:  „Wer  sind  Sie?«  Auf  dessen  Antwort: 
„Mitglied  des  Magistrat»  und  Kaufmao»« ,  {ragte  er  segnen :  „Was  feie 
der  Zucker?",  worauf  Frege  mit  Wahrheit  aeiworaen  konnte,  dass  der 
Centner  noch  100  Thaler  gelte.  Bei  einer  Im  Gesurften  eintretenden 
Pause  bemerkte  einer  der  Marschälle,  wahrscheinlich  Ney:  „Site,  cetait 
nee  balle  journöe",  und  Napoleon  erwiderte:  „Qui,  eile  n  fait  tomber 
beaueoup  desperances.«  Diess  war  kein  leeres  Wort;  denn  seiest  Kai- 
ser Frans  meldete  bekanntlich  neben  Andern,  den  lt.  Mai:  „Jai  cro 
devoir  utlendre  ,  pour  eiTocluer  cet  envoi ,  le  moment  que  depuis  long 
temps  j'ai  prevu,  celui  oü  une  p rentiere  ofTaire  aurait  amorti  bien 
des  passions  et  dissipe  beaueoup  de  ch  im  eres."  £Sic.)  — 
Das  zweite,  hier  zuerst  vollmundig  mitgetheilte  Gespräch  zwischen  dem 
Französischen  Kaiser  und  den  Leipziger  Abgeordneten  wurde  am  dritten 
Julius  zu  Dresden  im  Marcolinischen  Palais  abgehalten:  es  ist  ein  äus- 
serst merkwürdiges  Docoment  und  schildert  vortrefflich  Zeit  nnd  Per- 
sonen ;  die  militärisch  -  politische  Energie ,  das  Vermögen ,  in  alten 
Administrationssachen  sich  schnell  zu  orientiren  und  in  Folge  besserer 
Beiehrung  selbst  eigenen  Vorertheilee  und  Ansichten  zu  entsagen ,  wie 
wenn  er  sie  selber,  die  neue  Wendung,  gefunden  hätte ,  —  diese  Sei- 
ten treten  zu  Gunsten  Napoleon*»  hervor,  während  trotziger  Hoch- 
muth  und  politisch-literarische  Befangenheit  wider  ihn  zeugen.  Das  Ganze 
bietet  eine  wirklich  lehrreiche,  dramatische  Scene,  in  welche  die  Abge- 
ordneten, etliche  Generale  und  der  Keiter  verflochten  sind*  jene  fordern 


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TW  Allen  Aufhebung  des  über  Leipzig  wegen  etlicher 
verhängten  Belagerungszustandes;  dieser  willst  auch,  eines  Bei-, 
sern  belehrt,  in  die  Bndschufl  des  ,  damals  in  Teutschland  noch  ziemlich 
unbekannten  Instituts  ein.  Bei  einem  dritten  Gesprach  zu  Leipzig 
(14.  Juli)  erkundigt  sich  Napoleon  mit  besonderer  Sorgfalt  nach  den 
Gang  der  Sachsischen  Schafzucht  und  des  Wollhandels,  Einzel- 
heiten, welche  ihn  der  Kaufmann  Köhler  zur  Zufriedenheit 
legt  und  entwickelt.  Bs  nag  genügen,  hier  etliche  Bruchstücke 
zwar  nicht  Platonischen,  jedoch  immerhin  anziehenden  Dialogen 
nützntheilen.  In  Dresden  fuhr  der  Kaiser  bei  Anlass  der  meistens  von 
Studenten  anagegangenen  patriotischen  Manifestationen  also  auf:  „Ihr 
habt  keine  Energie  bei  Euch,  Ihr  habt  weder  Polizei,  noch  Energie;  Ihr 
seid  gute  Leute,  die  Deutschen  sind  gut  fial  wobl  jetzt  anders).  Bare 
Universität  —  (hier  fehlt  etwas)  —  die  Universität  zu  Paria  war  eben 
so  zur  Zeit  CarFs  dea  Fünften.  Diese  Privilegien  müssen  bei  Buch  und 
in  ganzen  Rheinbünde  geändert  werden  (das  geschah  auch).  Ihr  habt 
bei  Euch  fünfhundert  Schurken,  die  Eure  ganze  Stadt  compromittiren; 
der  Magistrat  mag  nun  schleunig  Gericht  Aber  sie  halten,  und  die  Ord- 
nung wird  hergestellt  seyn  u.  s.  w.  Wenn  meine  Feinde  bei  Euch  sind, 
so  möge  man  Yivat  schreien,  so  viel  man  will,  aber  dabei  bedenken, 
den  ich  den  andern  Morgen  wieder  als  Sieger  einziehen  kann.  —  Für 
den  Einwohner  ist  es  das  Beste,  nicht  zu  politisiren  und  sieh  sei-: 
nen  Geschäften  zu  widmen.  Ausserdem  muss  man  den  Mnth  haben, 
auf  alle  Annehmlichkeiten  des  Lebens  zu  verzichten,  Alles 
entbehren  zu  können,  was  angenehm  und  bequem  ist,  das  Le- 
ben selbst  hinzugeben,  kurz,  seine  Meinung  mit  seinem  Blut  zu 
besiegeln.  Die,  welche  nicht  diesen  Muth  hüben,  thun  besser,  sich  um 
Nichts  zu  kümmern,  und  die  Welt  ihren  Gang  gehen  zu  lassen."  —  Als 
ein  Abgeordneter,  DUfour,  die  grosse  Mehrzahl  der  Leipziger  als  Gut- 
gesinnte der  Art  bezeichnete  und  den  Strassenlärn  nur  wenigen  gefahr- 
losen Schreiern  zuschrieb,  fiel  der  Kaiser  wohlgefällig  ein:  „Ah,  mei* 
Lieber;  was  sagen  Sie  nir  da?  Glauben  Sie,  dass  ich,  der  Regent  ei- 
nes grossen  Staats,  das  nicht  wisse?  Aber  dergleichen  Schurken  können 
gefährlich  werden;  wir  haben  das  in  Frankreich  gesehen.  Denken  Sie 
nnr  an  die  blutigen  Kampfe  von  2,  September/  Tausend  oder  Zwölf- 
Paris  in  Furchtu  u.  s.  w.  Gegen  die  Uni- 
aich Napoleon  trotz  der  von  den  Gelehrten 
entdeckten  Napoleon'asterne  ziemlich  rauh;  er  wiederholte  mehrmals  den 
beliebten  Ausdruck    „Ideologen",   sagte   jedoch  nicht,  wie 


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56     Schriften  von  Colquhoun  and  Bowyer  Aber  rftm.  Hecht  in  England. 

wohl  ausstreute,  sie  möchten  ihre  Zöglinge  decliniren  und  conjugiren 
lehren  (S.  92).  Ab  Professor  Clodius  nach  beendigter  Audienz  noch 
etwas  anbringen  wollte  nnd  mit:  „mais  Sireu  —  begaon :  unterbrach 
der  Kaiser  den  Redner  mit:  „mais,  c'est  £ni«  nnd  verlies*  den  Saal.  — 
Aach  die  Geschichte  der  Leipziger  Schlacht  und  der  nächsten  Tage 
bekommt  hier  nnd  da  erläuternde  oder  berichtigende  Anmerkungen.  Der 
Verfasser  beweist  z.  B.  als  Augenzeuge,  dess  nicht,  wie  gewöhnlich  Über- 
liefert wird,  die  verbündeten  Monarchen  gleichseitig  am  19.  October  auf 
dem  Marktplatz  eintrafen,  sondern  nur  Ksiser  Alexander  und  König 
Friedrich  Wilhelm  zusammen  im  Geleite  des  Kriegsvolks  einritten 
und  dadurch  hauptsächlich  die  Stadt  vor  Plünderung  und  andern  Nach- 
weben des  Sturmes  bewahrten.  Namentlich  gebühre  dem  Russischen  Kaiser 
dieses  Verdienst.  Man  ersieht  aus  dem  Angezogenen,  das»  die  Erinne- 
rungen einen  wahrhaft  geschichtlichen  Werth  haben  und  Unabhängig  von 
ihrem  wohltätigen  Zweck  gelesen  zu  werden  verdienen.  Möchten  nur 
noch  mehre  derartige  Aufzeichnungen  von  Zeitgenossen  und  Augenzeugen 
eines  jedenfalls  grossartigen  Wendepunktes  kommen!  Die  dermalige  be- 
sonders jüngere  Generation  kann  manches  Nützliche  aus  den  frühem 
Kämpfen,  Leiden,  Missgriflen  und  gelongeuen  Thaten  schöpfen  und  na- 
mentlich die  Wahrheit  erlernen,  dass  ohne  Mässigung  und  geschichtlichen 
Boden  kein  praktischer  Plan  gelingt,  sondern  mehr  an  den  eigenen  Fehl- 
griffen denn  fremden  Hindernissen  scheitert.  Hortfuit. 
,i.      .  i     '         .    :     -  •    '  t  :  "•'  *J  •'•  •»*'       '  i 

Studium  dem  römUche«  Bechta  Iii  F«M;lau«V 

1)  Ä  summary  of  the  Roman  Civil  law  illustraled  by  Comentaries  on 
r-J  Parallels  from  the  Mosaic,  Canon,  Mohamedan,  English  and  foreign 

lawby  Patrik  Colquhoun,  Juris  Doclor  Heidelberg.  M.A.Johns 
College  Barrister  at  law  Inner  Temple.  G.  G.  S.  of  Greece  etc. 
>  l  London  1849.  1650. 

2)  Commentaries  on  the  modern  civil  law.  By  Georg  Bowyer  D.  C.  L. 
~     Barrister  at  law.    London  1848. 

Die  Frage  Uber  den  Werth  dos  Studiums  des  römischen  Rechts  für 
England  ist  in  England  und  Nordamerika  selbst  in  neuester  Zeit  lebhaft 
verbandelt  worden.  Es  ist  belehrend,  die  neuesten  englischen  Arbeiten 
Uber  römisches  Recht  näher  zu  betrachten,  in  ao  fern  sie  den  Zweck 
haben,  bei  ihren  Landsleuten  die  Liebe  zum  römischen  Rechte  noch  mehr 
anzuregen  und  die  Kenntniss  desselben  zu  erleichtern.  Es  ist  nicht  sebwie- 


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Schriften  von  Colnuhoun  and  Bowver  über  röm  Recht  in  England.  57 


rig"  nachzuweisen ,  dass  in  das  ganze  bürgerliche  Recht  Englands  und 
Nordamerika  s  das  römische  Recht  sich  tief  verwachsen  und  ein  Theil 
des  Rechts  jener  Länder  geworden  ist,  so  data  ohne  Kenntniss  des  rö- 
mischen Rechts  es  unmöglich  ist,  das  englische  Civilrecht  gründlich  ken- 
nen za  lernen.  Die  grössten  Zierden  der  juristischen  Welt  Englands  ba-: 
hen   dieis    zu  allen  7f»itpn  nnerltnnnf      Hat  arn«<ft  Matthew  Hain  erklärte 

bei  jeder  Gelegenheit  dass  die  wahren  Grundlagen  und  die  Weisheit  des/ 
Rechts  in  den  römischen  Pandekten  enthalten  seien,  so  dass  Niemand  sich 
einbilden  kann,  das  Recht  als  Wissenschaft  zu  verstehen,  wenn  er  es 
nicht  in  der  römischen  Hechts  quelle  sucht-,  nicht  selten  beklagte  daher 
Haie,  dass  diess  Recht  so  wenig  in  England  studirt  wird.  (Burnet's  Life 
of  Haie  p.  24).  Einer  der  bedeutendsten  Gelehrten  Amerikas,  der  Kass- 
ier Kent,  handelt  in  seinem  trefflichen  Commentar  on  American  law  vol.  1 
p.  514.  in  der  Einleitung  unter  den  Quellen  des  amerik.  Rechts  vom  röm.  Recht 
und  erklärt,  dass  das  römische  Recht  einen  sehr  bedeutenden  Einfluss  auf  das 
Recht  seines  Vaterlandes  ausübe.    Die  Eigentümlichkeit  liegt  nur  darin, 
dass  die  Rechtsanschauung  in  England  durch  die  Nationalität,  welche  alle 
Verblltnisse  und  so  auch  die  Hechts  Verhältnisse  des  grossen  Landes  durch- 
dringt, sich  ausbildete  und  ein  traditionelles  Recht  unter  dem  Einflüsse 
der  nationalen  Ansichten,  Gewohnheiten  und  Bedürfnisse  sich  entwickelte, 
und  selbst  fortschreitend  sich  fortbildete.  Während  in  Deutschland  in  den 
Lindern,  in  welchen  daa  gemeine  Civilrecht  gilt,  die  römischen  Hechts- 
Institute  als  giltig  betrachtet  werden  ,  jeder  Rechtssuchende  auf  römische 
Aussprüche  ebenso  wie  auf  verbindliche  gesetzliche  Vorschriften  sich  bezieht, 
wie  der  französische  Jurist  auf  sein  Civilgesetzbuch  sich  beruft,  kann 
ia  England  kein  RechUgelehrter  für  seine  Behauptung  der  Giltigkeit  ei- 
nes gewissen  Rechtssatzes  auf  römisches   Recht  sich  berufen  z.  B.  im 
Eherechte  anführen,  dass  die  Ehefrau  so  behandelt  werden  müsse,  wie 
das  römische  Recht  diess  vorschreibt  für  eine  Frau,  die  nach  dem  jure 
dotium  lebt;  jeder  englische  Jurist  muss  sich  auf  englisches  Recht 
berufen:  ist  in  dem  Rechtstheile,  auf  welchen  ea  in  einem  Falle  ankömmt, 
ein  Statut  ergangen,  so  ist  begreiflich  nur  diess  Statut  das  entscheidende 
Gesetz,  und  zur  Ergänzung  und  Auslegung  kann  sich  der  Jurist  auf  ein 
nen  römischen  Rechtssatz  nur  soweit  berufen,  als  man  sich  sonst  auf  die 
Antonia t  eines  grossen  Juristen  oder  auf  das  Vernunftrecht  beruft  oder 
eine  Behauptung  dadurch  rechtfertigen  will,  dass  der  Satz  bei  allen  ge- 
bildeten Völkern  anerkannt  sei,  wofür  die  Autorität  des  römischen  Rechts, 
als  des  Rechts  des  grössteu    und  gebildetsten  Volkes  der  alten  Welt 
spricht,  oder  der  Jurist  müsste  sich  darauf  berufen,  dass  der  römische 


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38     Schriften  von  Colquhoun  und  Bowyer  über  röm.  Recht  in  England. 

Satz,  den  er  anführt,  in  die  Rechtsübung  Englands  bei  Anwendung  des 
Statuts  übergegangen  sei.  In  diesem  Sinne  erklärte  einmal  Lord  justice 
Lee,  dass  er  römisches  Recht  anführe,  nicht  weil  es  gesetzlich  gilt,  aber 
wobt  as  opinions  of  tearned  men,  und  Lord  Tindal  drückte  einmal  treff- 
lich diess  so  aas:  the  Roman  law  forniah  no  roie  Dinding  in  ilselt  upon 
the  subjects  of  these  realms,  bot  in  deciding  a  ease  upon  principle, 
where  no  dir cct  authority  can  be  cited  in  oor  books,  it  affords  no  amall 
evidence  of  the  soodness  of  the  conclusion ,  at  wh ich  we  bave  arri ved, 
if  il  pro? es,  to  be  sopporled  by  tbe  Roman  law,  the  fruit  of  the  researches 
of  the  must  learned  men ,  tbe  coliective  wisdom  of  ages  and  tbe  ground- 
work  of  the  municipal  law  of  Enrope.  Io  den  Lebren,  die  auf  dem  com-» 
mon  law  beruhen,  ist  die  Autorität  des  römischen  Rechts  in  England  noch 
grösser  r  in  so  fern  diess  Recht  einen  Theil  des  englischen  common  law 
bildet;  allein  auch  hier  muss  man  sieb  hüten,  das  Verhält niss  so  zu  be- 
trachten, wie  es  in  Deutschland  besteht  0er  englische  Jurist  kann  auch 
hier  nicht  auf  einen  römischen  Sali  sich  so  berufen  (wie  man  in  Deutsch- 
land es  tbut),  als  ob  der  Satz  für  sieb  selbst  gelte,  weil  das  römische 
Recht  verbindliche  Rechtsquelle  sei,  sondern  nur,  indem  er  zeigt,  dass 
durch  die  Rechtsautoritäten,  denen  der  englische  Jurist  folgen  darf,  im 
common  law  der  Satz  gelte,  und  dabei  werden  die  Aussprüche  der  gros- 
sen englischen  Richter,  auf  deren  Stimme  die  englischen  Juristen  horchen, 
ebenso  angeführt,  wie  die  Präjudizien  der  Gerichtshöfe  über  eine  Lehre. 
Bei  dieser  Gelegenheit  nun  wird  die  Anführnng  des  römischen  Rechte, 
wichtig;  denn  der  Jurist  beruft  sich  darauf,  in  so  fern  er  nachweist,  dass 
ein  Oberlichter  Englands,  dessen  Aussprach  hochgeachtet  wird,  auf  das 
römische  Recht  in  dieser  Lehre  baute,  oder  dass  ein  Gerichtsspruch  einen 
Rechtssatz,  der  erweislich  aus  dem  römischen  Rechte  stammt,  annahm;  in 
solchen  Fällen  werden  in  der  Praxis  auch  unbedenklich  die  römisohen 
Stellen  vor  Geriebt  angeführt,  die  als  Folgesätze  des  als  common  law  auf- 
genommenen römischen  Hauptsatzes  erscheinen.  Ein  interessantes  Beispiel 
bietet  die  Lehre  vom  Irrthum  und  seinen  Wirkungen.  Hier  gilt  das  rö- 
mische Recht  ;  um  diess  nachzuweisen,  beruft  man  sich  auf  die  Aussprüche 
grosser  englischer  Richter  z.  B.  Lord  Mansfield  (Story  a  treatise  on  the 
law  of  contracts  p.  63).  Die  Folge  ist,  dass  dann  in  der  ganten  Lehre 
vom  Irrthum  römische  Stellen  sowohl  in  der  Ausführung  der  Anwälte  als 
in  den  wissenschaltlicben  Arbeiten  angeführt  werden  (Story  a  treatise  on 
tbe  law  of  sales  of  personal  properly.  Boston  1847  p.  116).  Dage- 
gen hat  das  englische  Recht  in  Bezug  auf  die  Vertrags  Verhältnisse,  an 
weichen  eine  Ehefrau  Aulheil  nimmt,  das  römische  Recht  keinen  Eingang 


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Schriften  von  Colquhonn  nad  Bowyer  ober  röm.  Recht  in  England.  59 

finden  lassen»  weil  die  englische  Sitte  mächtiger  Wir  ose!  die  aas  älterer 
Zeit  stammende  Ansicht  von  der  Gewehr  des  Ehemanns  eine  Stellang 
von  Mann  nad  Frau  herbeiführte,  welche  es  unmöglich  machte,  dia  auf 
ganz  andere  Rechtsvorstellungen  beruhenden  Ansichten  des  römischen  Rechts  • 
ia  das  englische  common  law  aufzunehmen,  so  dass  die  Regel  in  England 
die  isi    dass  die  Ehefrau  durch  ihre  Rechtsgeschäfte  den  Ehemann  nicht 

j;,    Ha^k»    JA„    Ba,lii,fi,;CQfl  'fnL_> .        r\-       M  j  :_„u  

uic  JiüciJi   uer  dcuui  misse  ucruviiuiirvo.     uiv   liuriitiiiicriKanisciiDu  juriairu 

fühlen  es  wohl,  dass  diese  alle  englische  Ansicht  aasern  Lebensverhält- 
nissen widerspricht  und  dringend  eiaer  Verbesserung  bedarf  (Story  treatise 
ob  tue  law  of  sales  p.  35.)  Ausser  England  sind  noch  zwei  Ansichten  über 
das  engtische  dvilr***  vielfach  verbreitet,  welche  der  richtigen  Auffassung 
des  englischen  Rechts  sehr  schaden  :  es  ist  diess  vorerst  die  Ansicht,  dass  in 
England  das  Civilrecht  auf  einer  Hasse  von  Präjudizien  beruhe,  und  der 
englische  Jurist  eigentlich  nur  mit  der  Aufsuchung  dieser  Rechtssprüche 
sich  an  beschäftigen  habe,  so  dass  ein  starres  Festbalten  an  den  durch 
dm  Gerichte  einmal  angenommenen  Salzen,  jeden  freieren  Aufschwung  der 
Wissenschaft  in  England  hindern,  ferner  dass  überhaupt  eine  Rechtswissen- 
schaft im  Civilrechte  in  England  um  so  weniger  sich  bilden  könne,  als  ia  Eng« 
and  auch  in  Civil* achen  Geschworne  urtheilten  welche  nicht  auf  eine  wis- 
senschaftliche Grundlage  ihre  Ausspruche  bauten,  sondern  mehr  dem  Bedürf- 
nisse des  einzelnen  Fallen  gemäss  urtheilten.  Wir  halten  beide  Ansich- 
ten m  ihrer  Allgemeinheit  für  unrichtig;  wir  gehören  nicht  zu  Denjeni- 
gen, welche  blind  den  Recbtszustand  bewundern,  welcher  sich  nur  auf 
Rechtssprüche  stützt,  wir  kennen  die  Gefahr  der  Präjudizien,  bei  welchen 
an  oft  ein  unter  gewissen  Verhältnissen ,  durch  die  Autorität  eines  ein- 
flußreichen Mannes  entstandener,  wenn  auch  noch  so  sonderbarer  Recht- 
sate  viele  Jahre  hindurch  feststeht,  weil  einmal  das  Gericht  daran  fest- 
hält und  oft  aus  Reqoemlichkeitsliehe  eine  Art  Ehre  darein  setzt,  diess 
zu  thun,  so  dass  die  Advokaten  nur  zu  gerne  statt  der  wissenschaftlichen 
Forschung  und  eigenen  seihst  ständigen  Hechts  ent  Wickelung  nur  fragen, 
welche  Meinung  bisher  bei  dem  Gerichte  festgehalten  wurde.  Wir  wis- 
sen, wie  auch  in  England  in  dem  common  law  durch  Autorität  einzelner 
Oberrichter  Rechtssatze  aufgestellt  werden,  die  schwerlich  die  Vernunft  billigt 
und  welche  in  ihrer  Anwendung  höchst  nachtheilig  wirken,  a.  B.  der  von 
Lord  Coke  (in  Beverns  Case)  aufgestellte  Satz:  a  man  ahall  not  be 
aüowed  to  stoUif*  himself,  so  dass  darnach  eine  Partei  ihr  Rechtsgeschäft 
weht  angreifen  dürfte,  wenn  sie  auch  zeigen  kann,  dass  sie  zur  Zeit  der 
Abschhessung  geisteskrank  war;  allein  diess  sind  seltene  Ausnahmen  un4 


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60      Schriften  von  Cokmhoun  and  Bowver  über  röm.  Recht  in  England. 

die  Geschichte  des  englischen  Rechts  lehrt,  doss  solche  Sitze  später,  mit 
Kraft  angegriffen,  als  unverständig  nachgewiesen  worden.  Die  bessere  Ansicht 
siegte  bald  und  eben  dor  oben  angeführte  Satz  von  Lord  Coke  wurde  durch 
.  den  grossen  Juristen  Holt  als  nicht  zu  rechtfertigender,  und  von  Fonblan- 
qu e  als  ein  dem  Recht  aller  gebildeten  Völker  widersprechender  erklärt  Es 
ilt  eine  irrige  Auffassung  der  Stellung  des  englischen  Richters,  wenn  man 
annimmt,  dass  er  starr  an  den  einmal  von  dem  Gerichte  früher  ausge- 
sprochenen Rechtssatze  festhalt;  darin  liegt  eben  die  würdige  Stellung 
der  Richter  in  England,  dass  sie  immer  an  die  fortschreitenden 
Bedürfnisse,  Sitten  und  Zustände  sich  anscbliessen  und  so  das  Recht  fort- 
bilden, durch  Ausnahmen  eine  zu  starre  Regel  mildern,  oder  den  im 
Laufe  der  Zeit  selbst  unpassend  gewordenen  Satz  nach  den  Bedürfnissen 
modificiren.  Gerade  in  dem  grossen  Einflüsse,  den  die  obersten  Ge- 
richte in  England  auf  die  Rechtsanwenduog  haben,  liegt  ein  fester  An- 
haltspunkt im  englischen  Recht.  Der  Mittelpunkt  des  Rechts  liegt  in  Lon- 
don. Die  Mitglieder  des  obersten  Gerichtshofs  sind  es,  welche  in  ganz 
England  Rächt  sprechen  und  fortbilden ;  die  in  die  Grafschaften  reisenden 
Richter,  genau  vertraut  mit  der  Rechtssprechung  des  obersten  Gerichts, 
bringen  die  feste,  gleichförmige  Rechtsansicht  in  alle  Gerichte  Englands;  sie 
veranlassen,  dass  in  Füllen,  in  welchen  sie  die  Wichtigkeit  eines  Rechts- 
salzes erkennen  und  nicht  selbst  erkennen  wollen,  die  Frage  an  das 
oberste  Gericht  gebracht  und  dort  entschieden  werde  5  da  in  England  die 
Richter  öffentlich  abstimmen,  so  lernt  man  die  Gründe  der  Richter  ken- 
nen, und  die  Kenntniss  der  Jurisprudenz  wird  um  so  mehr  verbreitet, 
ab  in  England  die  Reporters  sich  befinden,  welche  die  Verbandlungen  be- 
kannt machen,  so  dass  jeder  Jurist  in  bestfindig  lebendiger  Kenntniss  des 
Gangs  der  Rechtsbildung  ist.  Die  Eigenschaft  der  Richter  des  obersten 
Gerichtshofs  (15  Richter)  gibt  gewisse  Bürgschaften  für  die  Gründlich- 
keit der  Rechtssprechung.  Jene  Richter  sind  Männer,  die  nach  einer  lan- 
gen Schule  der  Erfahrung,  die  sie  als  viel  beschäftigte  Advokaten  durch- 
gemacht haben,  meist  in  vorgerückten  Jahren,  vertraut  mit  der  bisheri- 
gen Rechtssprechung  in  einer  Lehre,  geleitet  von  dem  eigentümlich  prak- 
tischen Sinne  der  Engländer  bei  jeder  zur  Entscheidung  vorliegenden 
Frage  den  einzelnen  Fall  mit  allen  seinen  Umständen  und  Bedürfnissen 
auffassen,  zergliedern  und  dann  den  passenden  Hechtssatz  dafür  aufsuchen ; 
die  Abstimmung  des  Richters  ist  das  Ergebniss  einer  langen  Selbstberatbung 
und  Studiums,  bei  welchem  ebenso  die  Natur  des  vorliegenden  Rechts, 
die  Ansichten,  welche  in  dem  Gerichtshöfe  sich  in  der  Lehre  seit  einer 
Reihe  oft  von  Jahrzehnten  geltend  machten,'  und  die  Ansichten  des  rö- 


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jcnriiieu  von  vx>i(]unouri  una  Dovvyer  uoer  roni.  necm  in  cngianu.  01 


In  deo  Aussprüchen  des  höchsten  Ge- 
richts in  England  liegt  häufig  eine,  obwohl  gedrängte,  aber  schlagende, 
klare  und  scharfsinnige  Darstellung  der  ganzen  Hechtstheorie,  die  auf  die 
vorliegende  Lehre  sich  besieht.  Macht  man  sich  näher  in  einzelnen  Fra- 
gen mit  dem  Entwicklungsgange  des  Hechtssatzes  in  England  vertraut,  so 
trifft  man  oft  in  den  Aussprüchen  der  Oberrichter  Englands  und  in 


Weisheil;  es  ist  nicht  schwierig,  nachzuweisen,  dass  oft  ein  einziger 
Ausspruch  eines  grossen  Richters  schon  vor  Jahrzehnten  in  einer  Lehre 
durchgeschlagen  und  eine  Umgestaltung  der  Ansichten  hervorgebracht  hat. 
Wer  erinnert  sich  nicht  an  den  Ausspruch  des  mutbigen  Richten  Vau g- 
han  in  Bush  ei 's  case  im  Jahr  1670,  von  dem  au  sich  die  richtige  Theorie 
der  selbständigen  Stellung  der  Geschwornen  herleitet?  Hit  Achtung  liest 
auch  der  ausländische  Jurist  die  Aussprüche  englischer  Oberrichter,  wie 
Holt,  Mansfield  u.  A.    Die  Juristen  des  Continents  beachten 


sehr  befürchteten  Gefahren,  dass  die  Geschworenen  zu  sehr  durch  ihre 
Wahrsprücbe  über  Rechtspunkte  bloss  nach  Laune  und  ohne  gehörige 
Rechtskenntnisse  entscheiden,  und  auf  diese  Art  eine  Rechtswissenschaft 
in  England  sich  nicht  gehörig  ausbilden  kann ,  beseitigt  werden.  Es  ist 
diess  die  Einrichtung  der  charges  durch  die  Richter  und  die  der  Special- 
verdikts.  Der  englisch  -  prflsidirende  Richter  instruirt  nämlich,  wenn  die 
Verhandlungen  geschlossen  sind,  in  seinem  Schluss  vor  trage  (charge)  die 
cs ch ^rVO no © d  Ii b g r  d  i  ö  8 11 C  ifa rc 0  3 h rs p n  11  c \\  ciuflussrticliCQ  R ß ch p uo  1& 1 0 
und  entwickelt  ihnen  in  einer  klaren,  allgemein  verständlichen  Weise  mit 
grosser  Präcision  die  Rechtssätze ,  auf  welche  es  in  dem  Falle  ankömmt; 
häufig  gibt  der  Richter  dabei  auch  die  Gründe  an,  welche  die  Richtigkeit 
des  Rechtssatzes  nach  der  Zweckmässigkeit  zeigen.  In  diesen  charges 
liegt  oft  grosse  praktische  Weisheit,  obwohl  wir  auf  der  andern  Seite 


ter  in  diesen  charges  finden  und  wohl  m»c( 
darin  aufgestellt  werden,  welche  der  unparteiische  Jurist. nicht  billigen 
kann.  Die  Geschwornen  werden  durch  sie  geleitet,  aber  sie  folgen  nicht 
blind,  ihr  gesunder  Verstand  prüft  selbst  die  Eigentümlichkeiten  und  Be- 
dürfnisse des  Falles.  Damit  stehen  aber  noch  im  Zusammenhange  die 
Specialverdikts,  die  in  Strafprocessen  höchst  selten,  desto  häufiger 
in  Civilprocessen  vorkommen,  wo  selbst  die  Parteien  zuweilen  die. 
Khwornei  auffordern,  ein  solches  Verdiel  zu  erlassen,  durch  welches  die 


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62     Schriften  von  Colquhoun  und  flowycr  über  röm.  Recht  in  England. 


nur  Uber  du  Dasein  und  die  Beschaffenheit  der  blossen 
des  Falles  sich  aussprechen,  die  Entscheidung  des 


würde  sehr  irren,  wenn  man  unter  solchen  Umständen  ver- 
wollte,  dass  Englands  Recht  einer  Hechts  Wissenschaft  fähig  ist  und 
das  Land  auch  eine  solche  Wissenschaft  besitzt.  Trefflich  bat  in  neuerer 
Zeit  Lewis  kl  einem  in  der  sehr  zn  beachtenden  englischen  Zeitschrift: 
the  law  Review  and  quarterly  Journal.  May  1849  p.  23—55  abgedruck- 
ten Aufsatz:  the  law  of  Englaad  considered  as  a  science,  die  Ehre  der 
englischen  Rechtswissenschaft  vertheidigt  und  mit  redlicher  Angabe  der 
Licht**  und  Schattenseiten  *a  ohl  mit  Recht  p.  44  den 
Charakter  des  englischen  Rechts  darin  gefunden  ,  dass  der 
dieses  Rechts,  das  sogenannte  common  law,  wie  er  sagt,  gebaut  ist  Up 
-prtnciples  founded  in  immemorial  reeeption  and  adoption  by  tbe  people.  Ein 
wiederholtes  Studium  englischer  Rechtsgeschichte  bat  dem  Verf.  dieser 
zeige  wieder  recht  klar  gemacht,  dass  in  der  hohen  Bedeutung  des  < 
.beben  common,  welches  im  Volke  lebt,  durch  das  eigentümliche 
menwirken  von  Richter  und  Geschwornen  forterhalten,  gepflegt,  ansc 
lieh  gemacht ,  fortgebildet  ist  und  durch  die  Rechtssprüche  des  ober- 
sten Gerichts  lebendig  aufgefrischt  und  zergliedert  wird,  die  Kraft  der 
Rechtswissenschaft  liegt.  Man  muss  cur  Ehre  der  englischen 
redigirton  juristischen  Zeitschriften ,  z.  B.  des  lauf  review  und 
des  law  magasine,  ebenso  wie  der  trefflichen  nordamerikanischen  'juristischen 
Zeitschrift:  american  jurist,  sagen,  dass  sie  ihre  Aufgabe,  die  Wissen- 
schaft, anzuregen,  sie  in  ihrer  erhabenen  Bedeutung  aufzufassen,  dem  Ge- 

,  alle  unpassende  Rechtssatze  und  Einrichtungen 
gefährliche  Rechtssprüche  anzugreifen,  gewissenhaft  erfüllen,  so  dass 
auch  der  Jurist  des  Auslandes  in  diesen  englischen  Zeitschriften  nicht 
bloss  eine  Fülle  des  Materials  für  die  Kenntniss  des  englischen  Rechtsle- 
bens, sondern  auch  wahre  wissenschaftliche  Arbeiten  über  schwierige 

Man  liest  im  law  review  und  im  law  magazioe  ebenso 
Arbeiten  über  einzelne  Rechtslebren ,  sie  unter** 
scheiden  sich  nur  von  den  deutschen  juristischen  Arbeiten  gewöhnlich  da- 
rin, dass  sie  eine  mehr  praktische  Richtung  haben  als  die  letzten;  sie 
an  Klarheit  der  Darstellung  keinem  juristischen  Werke  eines  an*- 
i.  sin  vermeiden  aber  lansre.  nnnöthiffe  DhilosoDÜische 
ngen,  geben  klar  die  Natur  des  einzelnen  Rechts- 
verhältnisses an,  zergliedern  es  genau  und  setzen  einen  Hauptwerk  da- 
rein, alle  möglichen  Verzweigungen  der  Lehre  oder  einteilet  RechUsäU 


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Schriften  von  Celcjuhoun  und  Bowyer  über  röm.  Recht  In  England.  ÖS 


ia  ihrer  Anwendung  gewöhnlich  mit  gedrängter  Angabe  der  Gründe  durch- 

üjjrco  u  d  d  ü  Geröll  d  \  c  K  c cfa tssp rlich  o  sazu^ c  Ij cb^  8  b er  fluch  d G  r u  o cl 
losigkeit  derselben,  wo  sie  vorbaodeu  ist,  nachzuweisen.  Man  muss  auch 
sar  Ehre  dieser  Zeitschriften  bemerken,  dess  sie,  wenn  die  Richter  un- 
gegründete Rechtssatze  in  ihren  charges  oder  Entscheidungen  aufstellen, 
mit  Kraft  die  Ehre  der  Wissenschaft  verteidigen  und  die  Ansichten  an- 
greifen. Noch  neuerheh  hat  das  law  megaiine  1850,  Augustheft  p.  114 
gegen  die  Ansichten  des  Präsidenten  in  dem  Fall,  wo  Pate  wegen  Schla- 
geos auf  die  Königin  vor  Gericht  stand  —  mit  Würde  Einwendungen  ge- 
gen die  Theorie  des  judge  Uber  Verantwortlichkeit  wegen  Geisteskrank- 
heit geltend  gemacht. 


lang  des  englischen  Rechts  hat  nun  das  römische  Recht  eine  entschei- 
dende Stelle.  Kein  gebildeter  Jurist  Englands  verkennt  den  Werth  des 
Studiums  des  römischen  Rechts;  der  Fehler  ist  nur,  dass  man  auf  den 
englischen  Universitäten  zu  weniir  gründlich  sich  mit  römischem  Recht  be- 
schaftigt,  dass  selbst  viele  englische  Advokaten  schon  wogen  der  Art, 
wie  der  junge  Mann  sich  zur  Ausübung  seines  Berufs  ausbildet,  nicht  ge- 
nug vorbereitet  sind,  nm  in  den  Geist  des  römischen  Rechts  einzudringen 
und  mit  den  Quellen  sich  vertraut  m  machen.  Wir  bitten  unsere  Leier, 
einen  Blick  auf  die  Zeugnisse  zu  werfen,  welche  in  dem  merkwürdigen 
Report  of  the  committee  oo  legal  edneation  1846  Uber  die  Art  der  Rechts- 
büdang  in  England  mitgetheilt  sind.  (Wir  haben  in  der  kritischen  Zeit « 
schrift  für  Gesetzgebung  des  Auslandes  XX.  S.  130  Austilge  aus  diesem 
Berichte  gegeben.)  Erfährt  man  wie  wenige  Stunden  Vorlesungen  Uber 
civil  law  auf  den  Universitäten  gegeben  und  wie  schlecht  sie  von  den 
Zuhürern  besucht  werden,  so  ist  wenig  Erfreuliches  zu  erwarten;  der 
deutsche  Jurist  weiss,  welche  Zeit  und  Muhe  ein  gründliches  Studium  des 
röm.  Rechts  erfordert.    Dennoch  wurde  man  Unrecht  thun,  wenn  man 

Igemeinen  die  englischen  Juristen  mit  dem  röm.  Rechte 
;  der  Verfasser  dieser  Anzeige  bat  das  Glück  gehabt, 
lernen,  die,  vertraut  mit  den  Werken  deutcher  Juristen 
sehe*  Recht,  durch  ihre  Gespräche  bewiesen  ,  dass  sie  das  rö- 
mische Recht  kennen  und  die  Vergleichung  einzelner  englischen  Aufsitze 
und  Werke  Uber  Civil  recht  lehrt,  dass  die  Verfasser  die  Bedeutung  des 
roBuscnen  tiocnis  würdigen,  .vi  .  >.  >>  <  t  f.  j  * 

Es  ist  begreiflich,  wenn  man  die  Rechtsgeschichte  Englands  ver- 
folgt, da»  das  römische  Recht  das  ganze  Civilrecht  Englands  durchdrin- 
gen und  ein  wichtiger  Theil  de»  common  law  werden  musste.  Wir  haben 


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64      Schriften  von  Colquhoun  und  Bowyer  über  röm.  Recht  in  England. 

schon  frQber  nnf  das  treffliche  Werk  von  G.  Spence  the  cquitable  ju- 
risprudence  of  the  court  of  Chancery  in  diesen  Blättern  aufmerksam  ge- 
macht ;  auch  für  die  Geschichte  des  römischen  Rechts  in  England  ist  dieses 
Werk  höchst  wichtig.  Man  weiss,  dass  schon  König  Heinrich  I.  in 
England  eine  Compilation  verfertigen  liest,  welche  eine  Art  Gesetzbuch 
sein  sollte,  und  deren  Verfassern  das  römische  Recht  bekannt  war.  Den 
Verfassern  der  bekannten  Gesetze  Hoels  des  Goten,  schwebte  das  römi- 
sche Recht  vor.  Im  Jahr  1143  brachte  Erzbischof  Theobald,  Vor- 
gänger Becketts,  der  in  Bologna  das  römische  Recht  stvdirte,  den 
Juristen  Vacarius  mit,  welcher  in  Oxford  das  Civilrecht  lehrte,  and 
ein  Werk  hinterliess,  welches  in  England  viel  gebraucht  wurde.  Be- 
kannt ist  es,  dass  nicht  selten  vom  König  Richard  II.  an  Professoren  des 
römischen  Rechts  als  Richter  des  obersten  Gerichts  ernannt  worden.  Franz 
Accursius,  der  Sohn  des  berühmten  Accorsios  in  Bologna,  wurde 
von  Eduard  I.  127S  aus  Bologna  nach  England  gebracht  und  wurde 
Hauptrathgeber  des  Königs  (Speuce  on  equitable  jurisprodence  i.  p.  108. 
131).  Vergleicht  man  die  Werke  von  Glanvilla,  vorzüglich  lirac- 
10 n  (unter  Heinrich  III.),  so  zeigt  sich  überall,  wie  jene  Männer, 
deren  Werke  Haoptgrundlagen  des  common  law  wurden,  mit  dem  römi- 
schen Rechte  genau  vertraut  waren  und  überall  sich  bemühten,  das  römische 
Recht  in  das  englische  Recht  su  ziehen.  Diese  Werke  werden  Doch 
immer  in  England  geschätzt.    In  dem  court  of  eqoity,  aof  dessen  Ans- 

das  römische  Recht  ein  Haoptleitslern  der  Entscheidungen  (Spence  1. 
p.  412.)  vorzüglich  in  einigen  Lehren,  z.  B.  von  den  Vermächtnissen 
(Spence  1.  p.  523.).  Die  classtsche  Geschichte  der  englischen  Kanzler 
von  Lord  Campbell  Lives  of  the  Lord  Cbaneellors.  London  1848. 
ist  sogleich  ein  höchst  merkwürdiges  Werk,  um  die  Forlbildung  des  rö- 
mischen Rechts  in  England  zu  zeigen.  Zwar  hatte  man  in  England  aas 
politischen  Gründen  and  ans  Hass  gegen  die  römische  Hierarchie  unter 
Eduard  III.  plötzlich  die  grösste  Abneigoog  gegen  römisches  Recht 
gezeigt  und  unter  Richard  IL  protestirten  die  Barone  gegen  römisches 
Recht  —  allein  die  Geschichte  lehrt,  dass  ein  Irrtbum  nie  dauernd  bei 
einem  Volke  sich  erhalt;  die  innere  Kraft  und  Herrlichkeit  des  römischen 
Rechts,  die  Sitte,  dsss  die  Richter  diess  Recht  studirteo,  und  an  die 
Werke  von  B  r  a  c  t  o  n  sich  hielten,  der  Einfloss,  welchen  bei  den  geist- 
lichen und  Admiralittftsgerichten  das  römische  Recht  fortdauernd  behielt,  be- 
wirk teo,  dass  immer  mehr  in  des  ganze  common  law  unvermerkt  dss  rö- 
mische Recht  einwirkte.     (&chl*s$  folgt.)  r.  > 


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Hr.  5.  HEIDELBERGER  1851. 

JAHRBÜCHER  OER  LITERATUR. 


Selirtrteii  von  Colquhoun  und  Bov%  jer  über 
rftniteches  Recht  in  England. 

(SCUUM.) 

Für  die  Nachweis  ung  der  Art  und  den  Umfang  dieser  Einwirkung  scheint 
ans  aber,  soweit  wir  seit  Jahren  die  englische  Literatur  studirten,  noch  nicht 
genug  geleistet.    Bs  tritt  nämlich  noch  eine  Eigentümlichkeit  ein,  dasa 
nicht  selten  ein  römischer  Hechtssalz  in  die  englische  Rechtsübung  aber* 
ging,  aber  in  einem  völlig  andern   Sinne,  als  das  römische  Recht  den 
Satx  aufgefasst  hatte.    Das  englische  Recht  fordert,  wie  das  nordame- 
rikanische   für  jeden  Vertrag,  der  nicht   unter  Siegel  errichtet  wird, 
das  Dasein  einer  Consideration.   Prägt  man,  woher  dieser  Satz  stammt» 
so  erhalt  man  die  einfache  Antwort,  dass  diess  schon  aus  dem  römischen 
Recht  stamme,  denn:  ex  nudo  pacto  non  oritur  actio  (Story  a  treatise 
on  tbe  law  of  contracts  not  under  seal  p.  71}.    Der  geistreiche  Ver- 
fasser eines  schönen  Aufsatzes :  on  the  doclrine  of  nudum  pactum  in  the 
english  law  im  Law  Review  1849.   May  he»  p.  56.  fühlte  sehr  gut,  wie 
wenig  diese  Rechtfertigung  genügt,  wenn  man  die  römische,  nur  histo- 
risch zu  erklürende  Einteilung  von  contractus  und  pactum  auf  das  eng* 
liscbe  Rechtsleben  anwenden  will,  wo  es  darauf  ankommt,  festzusetzen, 
welche  Arten  von  Verträgen  klagbar  sind ,  daher  den  gesetzlichen  Schubs 
finden,  wo  dann  die  Frage  entsteht,  ob  der  Vertrag  als  gesetzlich  klagbar 
betrachtet  wird.  Noch  neuerlich  hat  Herr  Keyser  in  seiner  sehr  beach- 
tangs würdigen  Schrift:  the  law  relating  to  Irans aclions  on  the  Stock 
Exchange.  London  1850.  diese   Frage  in  der   Anwendung   auf  Ver- 
trage Ober  Staatspapiere  sehr  gut  erörtert    Es  ist  kaum  zu  bezweifeln, 
dass  nur  MissversUndniss  der  ältern  englischen  Juristen  in  Bezug  anf  das 
römische  Wort:  causa  die  Veranlassung  gab,  causa  für  gleichbedeutend 
mit  consideration  zu  nehmen,  dadurch  entstand  in  England  eine  sehr 
ausgebildete  Theorie  von  consideration  (am  ausführlichsten  in  Cap.  IV. 
des  Werkes  von  Story  p.  71 — 101).    Man  unterscheidet  dabei  good 
consideration  von   valuable   (schätzbare)   consideration   (Spence  on 
equitable  jnrisprudeuce  p.  185).    Zu  welchen  sonderbaren  Folgerun- 
gen die  englische  Theorie  führt,  mag  ein  vorgekommener  Fall  zeigen 
(Law  Review  p.  62).  —  Ein  Mann  lebte  mit  einem  Mädchen  im  Conen- 
biaat;  spiter  bereute  man  diesen  Lebenswandel  und  der  Mann  versprach 
XLIV.  Jahrg.  1.  Doppelheft  5 


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60    Schriften  von  Colquhon»  und  Bowyer  Uber  rtm.  Recht  in  England. 

dem  Weibe,  dass  er  ihr  nach  ihrer  Trennung,  wenn  sie  sich  gut  be- 
irüge, eine  gewisse  Unterstützung  geben  würde.  Die  Pran  klagte  später 
gegen  den  Mann,  weil  er  nicht  bezahlen  wollte,  und  das  Gericht  wiess 
sie  ab,  weil  es  dem  Vertrage  an  der  consideration  fehle.  Vergebens 
fragt  man  um  den  Sinn  nnd  Verstand  einer  Vorschrift,  die  (durch  irrige 
Auffassung  des  römischen  Rechts  erzeugt)  auf  einer  höchst  unbestimmten 
Grundlage  beruht.  Man  fragt  mit  Recht,  ob  dem  gesunden  Rechtsbe- 
wusstsein  des  Volkes  ein  Anhaltspunkt  gegeben  wird,  wenn  man  ihm 
(wie  in  Story  treatise  on  the  law  of  conlracts  p.  73.  geschiebt)  sagt, 
dass  eine  valuable  consideration  die  sei,  emanating  from  some  injury  or 
inconvenienco  to  the  one  party  or  from  some  beneflt  to  tbe  other  party. 
—  Mit  Recht  sagt  der  Verfasser  des  Law  Review  p.  67:  A  court  of 
justice  is  often  called  a  schooi  of  morality  and  wherever  it  enforces  the 
solemn  dictates  of  bonesty  and  good  conscience,  bringing  down  the  arm 
of  the  law  on  ebicanery,  falsbood  and  crime. 

Wir  werden  an  einem  andern  Orte  eine  grosse  Zahl  ähnlicher  Son- 
derbarkeiten, die  im  englischen  Civürechte  vorkommen,  und  btfußg  durch 
Missverständnisse  des  römischen  Rechts  veranlasst  sind,  anführen.  —  Um 
so  wichtiger  ist  für  England,  durch  das  gründliche  Studium  des  römi- 
schen Rechts  zur  reinem  Rechtsbildung  Englands  beizutragen.    Wir  glau- 
ben, dass  nach  dem  Standpunkte  der  heutigen  Erfahrungen  deutscher  Ju- 
risten über  römisches  Recht  das  blosse  Studium  von  den  in  das  Engli- 
sche übersetzten  Werken  vom  Dornet  und  P  o  t  h  i  e  r  nicht  genügen  kann  ; 
wir  haben  mit  Freude  in  London  Männer  kennen  gelernt,  welche  mit  den 
Werken  von  Savigny,  Hugo,  Vangerow,  Mühlenbrucb  ver- 
traut waren,  und  kennen  junge  Männer,  die  auf  deutschen  Universitäten 
gründliche  Studien  im  römischen  Rechte  machen;  in  Schottland  selbst 
blüht  diess  Studium  noch  mehr.    England  besitzt  auch  einzelne  beach- 
tungswürdige Werke  über  römisches  Recht;  aus  dem,  wenn  auch  aar 
eine  gedrängte  Darstellung  des  römischen   Rechts  enthaltenden  Werke 
von  Hai  Ii  fax  (einst  Lord  Rishop  von  Asaph)  an  anatysis  of  the 
civil  law,  in  wich  a  comparison  is  occasionaly  made  between  the  Roman 
law  and  those  of  England,  in  den  Ausgaben  von  Geldart  (Professor 
des  römischen  Rechts  in  Cambridge),  Cambridge  1836,  sieht  man,  dass 
der  Verfasser  das  römische  Recht   gut  kannte;  Wilde,  prelimioary 
lecture  to  the  course  of  lectures  on  Institutes  of  Iustinian.  Irvings  Observa- 
tion on  the  study  of  civil  law;  Reddie,  historical  ootes  ob  romen  law  ; 
Brown'a  remarka  etc.  sind  brauchbare  englische  Schriften  über  rönais- 
chea  Recht.  i  .  .  , 

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Wir  halten  es  für  Pflicht,  unsere  Leaer  näher  mit  den  zwei  neue? 
sten  Werken,  deren  Titel  wir  oben  angaben,  bekannt  zu  machen  und  be- 
merken nar,  dess  neuerlich  noch  ein  Werk  von  Phillimore  introdec- 
tiofl  to  the  study  and  history  of  (he  Roman  law.  London  1848.  erscuie- 
nan  ist,   welches  zwar  keine  systematische  Darstellung  des  römischen 
Rechts,  dagegen  Bemerkungen  Uber  einzelne  Kapitel  des  Civilrechts  und 
römische  Rechtsgenchichte  enthalt,   und  vorzüglich  aufmerksam  macht, 
wie  in  dem  englischen  Rechte  durch  lächerliches  Festhalten  an  gewissen 
Formeln  und  technischen  Ausdrücken  in  der  Rechtsanwendung  Nachlheile 
und  sonderbare  Entscheidungen  veranlasst  werden.    Der  Verfasser  des 
unter  Mr.  1.  oben  angeführten  Werkes,  Colquhoun  (Nachkomme  der  iu 
der  Geschichte  Schottlands  bedeutend  gewordenen  Familie,  der  Enkel 
des  ausgezeichneten  Begründers  der  Polizei  im  würdigsten  Sinne,  Sohn 
des  ehrenwerthen  Consuls  der  freien  Städte)  hat  in  Deutschland  studirt, 
hat  in  seiner  Prüfung  als  Doktor  in  Heidelberg  vorzügliche  Kenntnisse 
gezeigt  und  dann  durch  lange  Reisen  durch  Europa  mit  den  Recbtsznstän* 
den  fremder  Länder  sich  vertraut  gemacht;  er  hielt  es  für  zweckmässig, 
seinen  Lendsleuten  ein  Werk  zu  liefern,  in  welchem  er  sie  mit  den  Er- 
gebnissen neuerer  Forschungen  Uber  römisches  Recht  und  in  systematischer 
Darstellung  mit  dem  Geiste  aller  römischen  Rechtsinstitute,  mit  den  Einzelnhei- 
ten ihrer  Durchführung  bekannt  macht,  zugleich  aber  auch  die  Fortbildung  des 
römischen  Rechts  in  Europa  lehrt,  vorzüglich  durch  den  Einfluss  des  canoni« 
sehen  Rechts  und  die  Art,  wie  in  England  die  Rechtssalze  durch  Gerichtsge- 
brauch und  Statute  sich  eigentümlich  ausbildeten.  Da  für  England  die  Kennt- 
niss  ausländischen  Rechts  wichtig  wird  wegen  der  vielfachen  juristischen  Be- 
ziehungen Englands  mit  andern  Nationen ,  so  glaubte  der  Verfasser  auch  in 
jeder  Lehre  auf  fremdes  Recht,  vorzüglich  auf  türkisches  Recht,  Rücksicht 
nehmen  zu  müssen,  und  das  Hervorheben  des  Letztern  mag  seinen  Grund 
vorzüglich  darin  haben,  dass  der  Verfasser  Bevollmächtigter  der  hanseatischen  ' 
Republik  an  dem  türkischen   Hofe  war  und  dadurch  mit  dem  muhame- 
dänischen  Rechte  näher  bekannt  wurde.  —  Der  Verfasser  hielt  es  aber 
auch  (wohl  mit  Recht)  für  zweckmässig,  seiner  systematischen  Darstellung 
eine  Rechtsgeschichte  vorherzusenden ;  diese  füllt  denn  auch  die  ganze 
erste  aus  296  Seiten  bestehende  Abtheilung  des  Werket  und  enthält 
vorerst  die  äussere  römische  Rechtsgeschichte;  —  da  wo  er  von  einem 
Verhältnisse  derselben  spricht,  welches  mit  dem  modernen  Rechte  seines 
Vaterlandes  Aehnlichkeit  hat,  schaltet  er  die  Darstellung  des  englischen 
Verhältnisses  ein,  z.  B.  p.  14,  nachdem  er  vom  römischen  Senate  ge- 
handelt aal»  spricht  er  von  der  Ausbildung  und  Verfassung  des  engl*- 

5* 


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68     Schriften  von  Colquhoun  und  Bowyer  aber  röm.  Recht  in  England. 

sehen  Parlaments  (p.  14 — 22).    Umständlich  wird  die  Fortbildung  des 
römischen  Rechts  anter  den  morgenlündischeu  Kaisern  (p.  77)  geschil- 
dert, dann  das  Verhältnis*  der  KreozzUge  p.  85,  die  Assisen  von  Je- 
rusalem (j).  86)  angegeben  and  von  p.  91  an  die  Geschichte  des  mu- 
liamedaniscben  Rechts  eingeschaltet.    Auf  ähnliche  Weise  geht  der  Ver- 
fasser von  p.  93  an  zur  Geschichte  des  römischen  Rechts  in  dem  westlichen 
Reiche  und  zuerst  in  Italien  und  in  den  germanischen  Reichen  Uber, 
Überall  mit  kurzer  Schilderung  der  sogenannten  Leges  Barbarorum,  spricht 
dann  p.  113  von  den  verschiedenen  Ansichten  Uber  Fortdauer  des  ru- 
mischen Municipalsystems  in  Italien  und  p.  121  von  der  Fortdauer  des 
römischen  Rechts  überhaupt.    Der  Verfasser  folgt  in  diesen  Lehren  ge- 
wöhnlich Savigny'a  Ansichten,  handelt  dann  p.  124  von  dem  Sy- 
stem der  Persönlichkeit  der  Rechte   unter  den   germanischen  Völkern 
und  schildert  p.  131  IT.  das  Lehenswesen  und  seine   Ausbildung,  ver- 
weilt dann  p.  148  bei  der  Geschichte  des  Aufblühens  der  Universitäten 
im  Mittelalter  und  schildert  die  einzelnen  grossen  Juristen  jener  Zeit, 
geht  dann  p.  183  zur  Geschichte  des  deutschen  Kaiserreichs  Uber,  zeigt 
das  Aufblühen  der  deutschen  Universitäten  (p.  185)  und  gibt  wieder 
eine  juristische  Literargeschichte,  insofern  einzelne  Juristen  einen  grossen 
Einfluss  auf  dio  Dogmengeschichte  und  Rechtsentwicklung  halten.  Daran 
reiht  sich  von  p.  233  an  die  Geschichte  des  canonischen  Rechts,  der 
Quellen  und  des  Einflusses  der  verschiedeneu  Päbste.    Von  S.  268  an 
folgt  eine  Geschichte  des  englischen  Rechts,  von  der  Zeit  der  Römer  an, 
die  verschiedenen  Perioden  hindurch,  so  dass  bei  jedem  Könige  seine 
Hauptwirksamkeit  und  zugleich  die  Namen  und  Werke  der  bedeutendsten 
in  einer  gewissen  Zeit  wirksamen  englischen  Juristen  angegeben  werden. 
Am  Schlüsse  der  Abtheilung  folgt  (S.  283)  die  Entwicklung  der  Eintbei- 
lung  des  römischen  Rechts  in  common  und  Statute  law  und  die  Quellen  dersel- 
ben. Die  zweite  Abtheilung  beginnt  mit  einer  Darstellung  der  verschiedenen 
Bedeutungen    und  Einteilungen  des  Rechts;  bei  den  einzelnen  Lehren, 
f.  B.  bei  Entwickelung  der  Entstehung  vom  Lex  im  römischen  Rechte  ist 
von  p.  311  an  die  Lehre  von  den  Parlamentsstatuten,  wie  sie  zu  Stande 
kamen  und  p.  318  bei  den  Constitutiones  und  rescripta  prineipnm  auch 
die  Lehre  von  der  Art,  wie  in  England  der  König  seinen  Willen  aus- 
spricht und  Vorrechte  ausübt,  geschildert.    Der  IL  Titel  p.  345  behan- 
delt nun  die  Lehre  vom  Status,  schildert  auf  eine  klare,  systematische 
Weise  die  verschiedenen  Zustände  nach  römischem  Recht  und  schaltet 
überall  die  abweichenden  Ansichten  des  englischen  Rechts  ein,  t.  B.  p.  357 
Uber  die  verschiedenen  Altersstufen  und  die  daran  geknüpften  Rechte, 


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> 

Schriften  von  Colquhoun  und  Bowycr  über  röm.  Recht  in  England.  69 


p.  371,  nachdem  der  Verfasser  von  der  römischen  übertat  und  jure  quiritium 
gehandelt  hat,  spricht  er  von  den  Freiheiten  englischer  Bürger.  Nach  der  Schil- 
derung der  römischen  Sklaverei  folgt  p.  414  die  Aasbildung  der  Leibei- 
genschaft im  Mittelalter  und  eine  gute  En t Wickelung  (von  p.  417  bis  427), 
wie  in  England  von  der  frühesten  Zeit  an  die  bäuerlichen  Verhältnisse 
steh  aasbildeten  und  allmählig  die  Zustände  der  villani  sich  verbessertes 
und  Sklaverei  aufgehoben  wurde.    Eine  auf  eigene  Anschauung  der  Zu- 
stände gegründete  Darstellung  der  Verhältnisse  der  Sklaverei  im  türki- 
schen Reiche  folgt  von  p.  429  ff.  an  —  Nach  einer  Darstellung  des  Eherecbts 
nach  römischem  Rechte  folgt  p.  480  eine  Schilderung  der  Ehegesetze 
und  Gebräuche  in  England.    Auf  ähnliche  Weise  ist  bei  jeder  Darstel- 
lung des  Rechtsverhältnisses,  I.  B.  Ebehindernisse,  Ehescheidung,  Legitima- 
tion sogleich  das  abweichende  Recht  Englands  eingeschaltet.  Aehnliches 
findet  sich  bei  der  Darstellung  der  Lehre  von  der  Verwandtschaft  nach 
römischem  Rechte ;  der  Verfasser  gibt  überall  in  systematischer  Entwicke- 
lang die  römischen  Gesetzesstellen  an  und  verweist  auf  deutsche  Hand- 
and  Lesebücher  z.  B.  von  Glück,  Thibaul  u.  A.  —  Eine  ausführliche 
Erörterung  Ober  die  Lehre  von  Municipium,  Colonieen  und  Corporatiooeit 
zuerst  nach  römischem  Recht,  und  dann  nach  englischem  Rechte  (worin 
die  Lehre  von  den  Corporationen  sehr  schwierig  ist)  macht  den  Scbluss 
(p.  627—667)  dieser  Abtheilung.    Wir  können  nicht  bei  Einzelnheiten 
der  Darstellung  des  Verfassers  verweilen.    Deutsche,  mit  dem  römischen 
Recht  vertraute  Leser  werden  darin  in  Bezug  auf  römisches  Recht  nichts 
Neues  finden,  dagegen  müssen  wir  dem  Werke  des  Verfassers,  welchem 
die  Kenntniss  der  deutschen  Forschungen  zu  Statten  kam,  ein  rühmliches 
Zengniss  geben,  da  sein  Werk  mit  Klarheit  systematisch  die  römischen 
Rechtsverhältnisse  schildert  und  geeignet  ist ,  den  englischen  Juristen  die 
Auffassung  des  römischen  Rechts  zu  erleichtern.    Oft  möchte  man  nur 
wünschen,  dass  der  Verfasser  weniger  an  die  bloss  historisch  bedeutenden 
Bestimmungen  des  römischen  Rechts  sich  gehalten  und  in  seiner  Darstellung 
mehr  den  Geist  des  römischen  Rechts  in  einer  Lehre  und  die  consequento 
Art,  wie  die  römischen  Juristen  die  leitenden  Grundsätze  in  den  Einzeln-* 
betten  durchführten,  entwickelt  hätte.    Gewisa  würde  er  dadurch  bei  den 
folgenden  Banden,  in  denen  die  Lebren  des  römischen  Rechts  zu  erör- 
tern sind,  worin  die  römischen  Juristen  ewig  unübertroffen  dastehen  wer- 
den, z.  B.  im  Obligationenrechte,  aich  ein  grosses  Verdienst  um  seine  Lands- 
leute erwerben  und  dazu  beitragen,  dass  manche  Miss  Verständnisse  des 
römischen  Rechts  aus  der  englischen  Praxis  verschwänden.  Das  Werk  im 
Ganzen  macht  dem  Forschungsgeist  und  Eifer  des  Verfassers  Ehre. 


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70     Schriften  tob  Colauhoun  und  Bowver  über  röm.  Recht  in  England. 

Io  einen  andern  Sinne,  wenn  tuen  mit  dem  gleiohen  Streben,  du 
Studium  des  römischen  Rechts  in  England  zu  fördern,  ist  das  unter  Nr.  2 
oben  genannte  Werk  geschrieben.    Der  Verfasser  bezweckte  in  einer  zu- 
sammengedrängten Darstellung  die  wichtigsten  Lebren  und  Regeln  des  römi- 
schen Reehts  in  einer  klaren  Form,  so  dass  auch  der  nicht  streng  Rechts- 
gebildete sie  verstehen  kann,  zusammenzustellen.    Um  diesen  Zweck  zu 
errennen,  mussie  uer   veriasscr  aen  lecnuiscnen  unu  msioriscnen  cror- 
terungen  entsagen  und  sich  an  die  Darstellung  des  neuen  römischen  Rechts 
(modern  civil  law} ,  daher  in  der  praktischen  Richtung  desselben  hat- 
ten; der  Verf.  betrachtet  römisches  Recht  als  written  reason  (wie  die 
Franzosen  von  raison  ecritc  sprechen)  und  sucht  von  dem  römischen  Rechte 
die  Rechtssatze  und  leitenden  Grundregeln  zu  geben,  welche  die  Schluss- 
steine der  Rechtswissenschaft  sind  und  zugleich  die  Gründe  der  Rechts- 
ausspräche  aufzustellen.     Der  Verf.  hat  seinen  Beruf  als  Schriftsteller  zu 
wirken  schon  hinreichend  dargethan.    Er  ist  der  Verfasser  des  guten 
Werks  Ober  engliaches  Staatsrecht :  Comentaries  on  Ibe  constitutione  law 
of  England,  by  G.  Bowyer,  second  edit.  Load.  1946,  vorzüglich  bedeu- 
tend durch  die  genaue  Darstellung  des  englischen  Verwaltungsrechts  und 
des  innern  Zusammenhangs  der  verschiedenen  Aemter.  —  Dass  der  Verf. 
mit  rechtshistorischen  Studien  sich  mit  Erfolg  beschäftigt,  lehrt  seine 
Schrift:  A  dissertation  on  the  Statutes  of  tue  cities  ofltaly.  Lond.  1838, 
worin  der  Verf.  von  dem  Einflüsse  der  aufblühenden  Städte  in  Italien, 
•uf  die  Rechtsbildung  des  Mittelalters  und  die  Abfassung  der  alten  Städte- 
Statute  und  dem  Wirken  grosser  Juristen  ,  z.  B.  in  Bologna,  spricht.  — 
Eiae  andere  Schrift  des  Verf.  ist  folgender  Two  Readings  delivered  in 
the  middle  Temple  Hall.  By  Bowyer  1840.    Der  Verf.  ist  Professor  des 
römischen  Rechts  in  middle  Temple  und  hat  als  solcher  Vorlesungen  ge- 
halten, von  denen  er  zwei  in  der  eben  genannten  Schrift  abdrucken  liess, 
die  erste  Uber  den  Gebrauch  der  Rechtswissenschaft  und  über  die  Einteilun- 
gen der  Gesetze  (worin  der  Verf.  über  die  Wichtigkeit  des  Studiums  des  eng- 
lischen Rechts  sioh  erklärt),  und  die  zweite  Uber  den  Gebranch  des  rö- 
mischen Rechts  in  England  nnd  das  Verhttltniss   desselben  zum  common 
law,  worin  der  Verf.  warnt  vor  dem  unverständigen  Gebrauche,  indem 
manche  römische  Sätze,  s.  B.  quod  prinoipi  placnit  legis  habet  vigorem 
im  geraden  Widerspruche  mit  dem  Geiste  der  englischen  Verfassung  seien 
und  unpasaender  Gebrauch  dem  Studium  des  nationalen  Rechts  schaden 
würde,  während  der  rechte  Gebrauch,  so  wie  die  grössten  englischen 
Richter  den  römischen  Aussprüchen  als  den  Aussprüchen  des  vernünftig- 
sten Rechts  folgten,  wohlthütig  sein  wird. 


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Schriften  über  Colquhoan  and  Bowyer  über  röm.  Recht  in  England.  71 


Das  Werk  des  Herrn  Bowyer  Ober  das  römische  Recht 
scheidet  sich  von  dem  des  Herrn  Colqohonn  durch  die  reine 
sehe  Richtung  und  die  gedrängte  Darstellung.  Der  Verf.  sendet  eine 
Geschichte  des  römischen  Rechts  voraus  (p.  1}  and  schildert  (p.  14} 
den  Geist  der  einzelnen  römischen  Rechtssammlungen ,  Institutionen,  Pan- 
>;  er  zergliedert  die  einzelnen  Theile  des  Rechts  der 
or  Charakteristik  die  eigenen  Worte  der 
anfuhrt  und  sie  (wegen  Berechnung  des  W< 
auf  Nichtrechtsgelehrte}  in  englischer  Uebersetzung  mittheilt.  Im  Per- 
sonenreebte  wird  von  der  Ehe  und  von  der  Vormundschaft  gebandelt 
Nicht  ganz  versteht  der  Verf.  dieser  Anzeige,  warum  er  Uber  manche  Leh- 
ren so  knrz  hinweggebt,  z.  B.  von  der  römischen  väterlichen  Gewalt  fast 
Nichts  sagt;  er  erklärt  nur  p.  47,  die  Lehre  von  der  väterlichen  Ge- 
walt habe  keinen  praktischen  Werth  in  unsern  Zeiten  und  unserm  Lande; 
ist  wohl  soweit  richtig,  dass  nicht  die  ganze  väterliche  Gewalt  des 
Rechts  in  England  anwendbar  ist;  allein  Niemand  kann  leug- 
nen, dass  doch  die  Kenntniss  dieser  Lehre  zum  Verstehen  des  ganzen 
römischen  Rechtssystems  gehört  und  dass  manche  römische  Satte  noch  in 
das  englische  Rechtssystem  Ubergingen.  Ausführlich  dagegen  ist  das  rö- 
mische Vormundschaftsrecht  (p.  47 — 60}  vorgetragen.    Im  Sachenrecht, 

handelt,  fahrt  er  überall  die  Aussprüche  von  Grotius,  Puf  endorf  u.  A. 
an,  am  zu  zeigen,  welche  Ansichten  im  Völkerrechte  modificirend  ein« 
wirken;  auf  ähnliche  Weise  geschiebt  diese  auch  p.  73  bei  der  Darstei- 
der Erwerbsarten.  Verdienstlich  und  aoeb  für  den  auslandischen  Ju- 
we  Ith  voll  ist  es,  dass  der  Verf.  bei  den  römischen  RechtsverhlU- 
i,  z.  B.  der  speeifleatio,  Besitz  (p.  95  umständlicher  vorgetragen, 
wie  von  p.  100  an  die  Lehre  von  der  Verjährung},  dem  Bauen, 
Frttchtenerbebnng  die  abweichende  römische  Ansiebt  angibt.  Besonders 
ausführlich  ist  das  römische  Erbrecht  (von  p.  131  an}  dargestellt  und 
von  P.  167  an  das  römische  Obligationsrecht  entwickelt,  da  eben  in  die- 
seni  Recbtstbeile  das  römische  Recht  den  grössten  Einfluss  auf  das  eng— 
tische  Recht  erlangt  bat.  Auch  hier  finden  wir  wieder  den  oben  schon 
angeführten  Satz,  dass  im  englischen  Recht  der  Vertrag  eine  oonsidera- 
tioe  haben  mnss,  was  der  Verfasser  gleichbedeutend  mit  mntual  interest 
(f.  121}  zu  nehmen  scheint.  Die  wünschenswerte  tiefere  Begründung 
dieses  Satzes  finden  wir  auch  bei  dem  Verf.  nicht.  Die  einzelnen  Ver- 
trage sind  sehr  umständlich  und  klar  abgehandelt,  so  wie  Überhaupt  die 
Darstellung  durch  grosse  Klarheit  und  Bestimmtheit  der  Sätze  sich  aus- 


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72  Yallaorii  hisloria  critica  lilerarum  latinarum. 

zeichnet,  so  dass  wir  Dicht  zweifeln  können,  dass  das  Buch  Terdienstlich 
and  sar  Verbreitung  römischer  Rechtskenntnisse  wirken  wiro\  —  Von 
dem  Verfasser  wird  nächstens  eine  Schrift  über  den  Werth  nnd  Ge- 
brauch  des  canonischen  Rechts  in  England  erscheinen.  Wir  werden 
in  der  Folge  in  diesen  Blättern  von  den  neuesten  englischen  Werken 
Über  einzelne  Lehren  des  Civilrechts  Nachricht  geben  und  vor  Allem  das 
neueste  Werk  von  Grant  a  practical  treatise  on  tbe  law  of  corporatioos 
in  general,  inclnding  rannicipal  corporations,  Railway,  Banking  etc.  Lon- 
don 1850.  anzeigen,  das  bestimmt  ist,  eine  grosse  Lücke  in  der  englischen 
Literatur  über  die  höchst  schwierige  Lehre  der  Corporationen  auszufüllen. 

Hlttermaler. 

Thomae  Vallaurii  historia  critica  lilerarum.  latinarum.  Editio  al- 
tera, animadrersiontbus  aucla.  Accedit  itapepYOV  aliquot  monu- 
mentorum  latini  sermonis  tetustiorii.  August ae  Taurinomm.  Ex 
officina  regia.    An.  MDCCCL.    208  S.  8. 

•  • 

Was  wir  unter  diesem  Titel  erhalten,  ist  eigentlich  ein  Abriss  der 
Geschichte  der  römischen  Literatur  au  akademischen  Vorträgen  als  Grund- 
lage bestimmt,  wie  zum  Privatstudium  Derjenigen  geeignet,  die  einen 
vollständigen  Ueberblick  Uber  das  weite  Gebiet  der  römischen  Literatur 
in  einer  gedrängten,  nichts  Wesentliches  Ubergehenden  Zusammenstellung 
in  gewinnen  wünschen ;  nnd  dieser  Abriss  ist  eingekleidet  in  die  Sprache 
des  alten  Roms  selber,  die,  wie  wir  mit  Vergnügen  aus  dieser  Schrift 
ersehen,  in  dem  Verfasser  derselben  nicht  bloss  ihren  kräftigen  Vertreter 
und  Verlheidiger  gegen  die  neuerungssüchtige  Unwissenschaftlichkeit  un- 
serer Zeit  gefunden  bat,  sondern  auch  einen  Mann,  der  sie  selbst  mit 
Gewandheit  zn  handhaben,  der  in  ihr  in  einer  fliessenden,  klaren  and 
selbst  anziehenden  Weise  sich  auszudrücken  versteht.  Weil  es  nun  seine 
nächste  Absiebt  war,  jungem  Leuten  ein  Gesammtbild  der  römischen  Li- 
teratur in  ihrer  Entwickelung  zu  geben  (adolescentibus ,  schreibt  er  im 
Vorwort  p.  20,  latinae  eloquentiae  studiosis  in  brevi  veluti  tabella  lilera- 
rum latinarum  vices  spectandas  exhibere  constitui,  vergl.  aueh  am  Schlnss 
S.  191 J,  so  hat  er  bei  der  Behandlung  die  Abtheilung  nach  Perioden 
der  rein  systematischen,  die  einzelnen  Disciplinen  nach  einander  darstel- 
lenden Methode  vorgezogen  und  demnach  das  Ganze  in  vier  Perioden 
abgehandelt,  von  weloben  die  erste  bis  auf  den  Tod  des  Sulla  reicht, 
die  zweite  das  sogenannte  goldne  Zeitalter  befasst,  bis  auf  den  Tod  des 
Angustus;  die  dritte  geht  von  da  bis  zu  Hadrian!» ;  die  vierte  stellt  die 


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Vallaurii  hisloria  critica  literarum  latinarnm.  73 

Periode  des  Verfalls  zwischen  Hadrian  und  Odoacer  dar.  Dass,  wenn 
Bio  einmal  sich  für  diese  Art  von  Behandlung  der  römischen  Literatur 
entschliefst,  diese  vier  Perioden  jedeofalls  unter  den  verschiedenen,  in 
dieser  Beziehung  vorgeschlagenen  Abiheilungsweisen,  die  zwetkmassigsten 
sind,  wird  man  nicht  bestreiten  können,  zumal  bei  einem  Buche,  das  die 
oben  erwähnten,  bestimmten  didaktischen  Zwecke  verfolgt.  So  zerfallt 
die  gtnie  Schrift  in  vier  Bücher,  von  denen  jedes  eine  dieser  vier  Perio- 
den behandelt;  jedes  Buch  befasst  eine  Anzahl  von  Capitel,  die  sich  nach 
dem  Umfang  der  Gegenstände  so  wie  der  einseinen  Disciplinen ,  denen  ge- 
wöhnlich ein  Capitel  gewidmet  ist,  richten,  bisweilen  auch  mit  einzelnen 
Paragraphen  als  den  betreffenden  Unterabteilungen.  Unter  dem  Texte) 
finden  sich  die  Anmerkungen,  welche  die  Belegstellen  so  wie  die  litera- 
rischen Nach  Weisungen  enthalten,  und  uns  hinreichend  zeigen,  dass  der 
Verfasser,  wenn  er  auch,  wie  von  ihm  nicht  anders  so  erwarten  war, 
Italienische  Schriftsteller  der  neuesten  wie  der  früheren  Zeit  dabei  be- 
sonders berücksichtigt,  doch  mit  der  gesammten  neueren,  namentlich  deut- 
schen Literatur  durch  das  Studium  der  dahin  einschlagigen  deutschen 
Werke  eine  Bekanntschaft  gewonnen  hat,  wie  wir  sie  sonst  nicht  jen- 
seits der  Alpen  anzutreffen  gewohnt  sind.  Wenn  wir  nun  auch  nicht 
immer  mit  der  getroffenen  Auswahl  übereinstimmen,  oder  wenn  hier  und 
da  einzelne  Versehen  mit  untergelaufen  sind,  so  wird  man  bei  diesen 
ersten  Versuche,  das  jetzige  Italien  mit  den  Forschungen  transalpinischer 
Gelehrsamkeit  bekannt  zu  machen  und  dadurch  zu  deren  Studium  zu  ver- 
anlassen  ,  diesen  kleinen  Missständen  nicht  ein  Gewicht  beilegen  dürfen, 
das  ungerecht  machen  würde,  wollte  man  darüber  das  Verdienstliche  der 
ganzen  Arbeit  verkennen.  Wir  wollen  daher  auch  hier  nicht  von  ein- 
zelnen Verstössen  im  Drucke  griechischer  Textesstellen ,  zumal  im  Ac- 
ceot,  reden,  aber  wir  werden  wohl  fragen  dürfen,  warum  der  Verfasser, 
der  seine  Darstellung  lateinisch  gibt,  in  den  Noten  einigemal  Werke, 
die  ebenfalls  lateinisch  geschrieben  sind,  französisch  anfuhrt,  wie  wenn 
sie  französisch  geschrieben  oder  ins  Französische  übersetzt  wären,  was 
doch  onsers  Wissens  nicht  der  Fall  ist.  So  z.  B.  in  der  Note  2.  so 
8.  23:  „Rbunkea  (statt  Ruhnken)  Eloge  d'Hemsterbuis"  oder  S.  30: 
-Endlicher  Catalogoe  des  manuscrits  de  la  bibliotheque  de  Vienne."  Un- 
bekannt ist  dem  Referent  das  Citat  S.  23:  „Schar dami  tbes.  quae  in« 
Kribilur:  Latiua  lingua  est  dialectus  linguae  Graecae.  Leydae  1776.« 
Oder  soU  Scheid  hier  gemeint  seyn?  S.  29  Note  4  ist  über  die  Co« 
lomoa  Rostrata  citirt  Ganges  de  Goze  De  coL  rostr.  C.  Duilii  Rom. 
1635.    Es  war  aber  Gauges  de  Gozze  zu  citiren  und  auf  T.  IX.  de« 


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74 


Vallaurii  historia  critica  litcrarum  latinarum. 


Burmannschen  Thesaurus  zu  verweisen.  Auch  ist  statt  Apulejus  vorzuziehen 
Appulejus;  statt  Satyra  die  riehtigere  Schreibweise  Satira;  statt  To- 
ns ob  als  Accusntivform  von  Tomi,  der  als  Exil  des  Ovidias  bekann- 
ten Stadt,  lieber  To  mos  (S.  68).  Cicero  wird  meist  als  Toi  Mos 
Oder  abgekürzt  Tu  11  oitirt,  Orelli  stets  Orell  und  zwar  nicht  als 
abgekürzte  Namensfonn.  Anderes  wollen  wir  übergehen,  da  am  Ende  sol- 
che Versehen  doch  von  keinem  besondern  Belang  sind.  In  die  Anführung 
von  Ausgaben  der  einzelnen  Schriftsteller  hat  sich  der  Verfasser  nicht 
eingelassen;  es  scheint  der  bibliographische  Zweck  seiner  Aufgabe  ferner 
gelegen  zu  haben.  Nur  an  wenigen  Orten  findet  sieb  von  dieser  Noras 
eine  Ausnahme  gemacht 

Ueberblicken  wir  nnn  das  Einzelne  nach  den  vier  Büchern,  in  welche, 
wie  bereits  bemerkt  worden,  der  ganze  Stoff  zerlegt  ist,  so  kann  es  wahr- 
haftig nicht  unsere  Absicht  seyn,  einzelne  Nachträge  und  dergleichen  so  ge- 
ben; wir  wollen  nur  den  Gang  und  die  Behandlungsweise  andeuten,  am  so 
nnsern  Lesern  es  möglich  zu  machen,  ein  Bild  des  Ganzen  zu  gewinnen. 

Das  erste  Buch  behandelt  die  Atteste  Periode  der  römischen  Li- 
teratur, bis  zu  SullaV  Tod  oder  bis  zum  Jahr  676  u.  c,  nnd  beginnt 
mit  einem  Cap.  De  origine  linguae  latinae.  Der  Verfasser,  der  natürlich 
in  eine  tiefere  Untersuchung  des  Ursprungs  der  Lateinischen  Sprache  hier 
nicht  eingehen  konnte,  halt  an  dem  gemeinsamen  Ursprung  der  Griechischen 
nnd  Lateinischen  Sprache  fest  und  betrachtet  beide  als  Schwestersprachen, 
wesshalb  er,  am  Schlüsse  dieses  Abschnittes,  auch  seinen  Landsleuten  das 
Studium  der  Griechischen  Sprache  insbesondere  empfiehlt,  in  ahnlicher 
Weise,  wie  diess  schon  vor  ein  paar  Jahrhunderten  Moretus  gethan  hatte. 
Qua  qoidem  posita  llnguarum  cogoatione,  schreibt  er  S.  24,  hoc  prae- 
seriim  intetligi  vOlo,  frustra  niti  latinarum  titerarum  studiosos,  ut  aliquant 
doctrinae  praestantiam  consequantur,  si  graecas  ne  leviter  quidem  attige- 
rint.  Leider  kann  man  auch  für  Deutschland  diese  Mahnung  gelten  las- 
sen, wo  man  seit  den  glorreichen  Marzereignissen  des  Jahres  1848  da- 
hin an  manchen  Orten  gekommen  ist,  dass  man  das  BUdongsmittel  der 
Griechischen  Sprache  als  Etwas  jetzt  überflüssiges  ansieht,  das  durch 
den  Geist  der  Neuzeit  ersetzt  werden  kann.  —  Auf  diesen  einleitenden  Ab- 
schnitt folgen  die  altem  Sprachdenkmale  RonTs,  dann  die  dramatische 
Poesie,  die  epische  (mit  Einschluss  der  darstellenden  und  erzählenden  Poe- 
sie überhaupt,  also  z.  B.  des  Ovidius),  die  didactische  (Luoretius)  und 
die  Satire,  darauf  die  älteste  Geschicbtschreibung  (die  Annalisten),  Be- 
redsamkeit und  Philosophie,  Naturkunde  (Cato's  Schrift  de  re  rustica), 
Jurisprudenz  und  Grammatik. 


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Vallaurii  historia  critica  litcrarum  l&tiosriini 


Das  zweite  Bach  beginnt  eich  einem  einleitenden  Abschnitt  mit  der 
dramatischen  Poesie  im  zweiten  Cap.,  dann  folgt  die  epische,  die  didac- 
tisebe  nnd  bukolische,  die  Satire,  die  lyrische  Poesie  und  die  Elegie,  woran 
Geschichte,  Beredsamkeit,  Philosophie,  die  Mathematik  und  Naturwissen- 
schalten (hier  auch  die  Medicin),  Jurisprudenz  und  Grammatik  sich  anreiben. 
Nor  ein  paar  Bemerkungen  mögen  dem  Verf.  zeigen,  dasa  wir  seine  Schrift 
aufmerksam  durchgangen  haben.    Cap.  IV.  §.  2  werden  die  (verlorenen) 
Gedichte  des  Aemilius  Macer  genannt,  mit  Anführung  der  Hauptstelle  dea 
Ovidius  Trist.  IV.,  10,  43;  dann  wird  hinzugefügt:  „Exstat  Macri  carmen 
de   virtntibus  herbor  um  cum  comment. ,  ed.  Basileae  1581.  H.w  Hier- 
nach sollte  inen  glauben,  es  sey  hier  ein  Uchtes  nnd  wahres  Gedicht  dea 
Aemilius  Macer  angeführt,  wfihrend  doch  das  angefahrte  Gedicht  ein  Pro- 
dnet  aus  den  ietiten  Zeiten  der  Karolinger  ist  (s.  Gesch.  d.  Karotieg.  Li- 
teratur §.  56.),  mitbin  hier  gar  nicht  so  nennen  oder  doch  mit  einem 
die  spatere  Abfassung  andeutenden  Zusatz  zu  versehen  war.  —  Ebenda- 
selbst wird  Terentina  Varro  genannt,  dessen  Pragmente  aus  den  libri 
aavales  Wernsdorf  gesammelt;  in  der  Note  dann  des  letztern  Poetae  lati- 
ni  minores,  Altenborgi  1782.  8.  angefahrt,  aber  ohne  Angahe  des  Ban- 
des fdes  fünften  Volum.    Pars  I.),  was  hier  doch  unerllsslich  scheint, 
auch  wenn  keine  Anführung  der  erschöpfenden  Abhandlung  Wflllner's  ge- 
geben werden  sollte.  Ueberdem  bestehen  Ober  die  ganze  Schrift  manche 
Zweifel  nnd  wird  dieselbe  von  Binigen  dem  andern  Varro  (von  Beate) 
beigelegt.    Weiter   wird  daa  Gedicht  Aetna  geradezu   dem  Lucilius 
Junior,  dem  Freunde  des  Seneca,  beigelegt  unter  Berufung  auf  Werns- 
dorf.    Indessen  diess  wird,  obwohl  auch  (der  vom  Verf.  nicht  ge- 
kannte) Jacob  in  seiner  Ausgabe  (Ups.  1826.  8.)  darauf  hinweist,  doch 
keineswegs  so  ausgemacht  seyn,  und  vielmehr  noch  manchen  Bedenken 
unterliegen.  —  Bei  den  dem  Cornelius  Nepos  hier  unbedingt  zuge- 
schriebenen Vit 8e  wird  nur  in  einer  Note  bemerkt:  „fuere  qui  existtma- 
rent,  hujusmodi  vitas  aut  omuino  ab  Aemilio  Probo  fuisse  profectas,  qui 
Theodor  aeqoalis  fnit,  aut  ab  eodem  in  compendium  fuisse  redactas. 
Sed  alind  auadent  operia  concinnitas,  et  i IIa  qoae  leguntur  in  vila  Epa- 
minondae,  nbi  hiatoricus  justam  brevrtatem  pollicefur.u    Aber  diese  ver- 
meintliche Widerlegung  wird  am  wenigsten  da  genügen  können,  wo  wir 
eine  ganz  andere  Auffassung  nnd  Darstellung  des  ganzen  Verhältnisses 
and  der  wahren  Sachlage  erwartet  hatten,  indem  bekanntlich  die  hand- 
feiriftlicne  Ueberlieferang  —  und  hiernach  auch  alle  altereu  gedruckten 
Ausgaben  bis  aal  Lambin's  Zeiten  —  nur  den  Aemilius  Probus  als  Ver- 
fasser dieser  Vitac  kennt,  an  dessen  Stelle,  durch  Lambin's  Bemühungen 


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76  Vallaurii  hisloria  critica  literarum  lalinarnm. 

haoptsächtlich,  jetzt  Cornelius  Nepos  gesetzt  ist,  der  allerdings,  auch  nach 
unserer  Ansicht,  Verfasser  der  Vitae  ist,  aber  nur  nicht  in  der  Gestalt, 
wie  sie  jetzt  uns  vorliegen  und  wie  wir  dieselben  jetzt  lesen.  Mit  sicht- 
barer Vorliebe  und  in  einer  äusserst  ansprechenden  Weise  ist  Livius  ge- 
schildert; gegen  manche,  mit  Unrecht  in  neuerer  Zeit  wider  ihn  erho- 
bene Machtsprüche  wird  er  verdienter  Weise  in  Schatz  genommen.  Von 
den  verlorenen  Schriften  des  Terentius  Varro  von  Reale  würden  wir 
wenigstens  die  Antiquitates  —  um  von  andern  zu  schweigen  —  einer  Er- 
wähnung für  würdig  erachtet  haben,  die  wir  hier  nicht  findeu.  Cicero 
wird  vom  Verfasser  gut  und  uopartheiisch,  auch  als  Philosoph  gewürdigt ; 
bei  Erwähnung  der  Schrift  de  republica  dürfte  es  aber  doch  zu  Viel  ge- 
sagt seyn,  wenn  behauptet  wird,  sie  enthalte  nichts  Anderes  als:  quan- 
dam  imperii  Romani  historiam,  in  qua  per  summa  capita  ea  enarrantnr, 
quae  Romani  ad  rem  publicam  constituendam  et  tutandam  sanxerunt;  quibus 
mnltae  animadversiones  accedunt  ex  philosophia  etoivili  prudentia  depromptae. 

Auch  würden  wir  da,  wo  von  den  Fragmentensammliingen  des  Ci- 
cero die  Rede  ist,  statt  der  veralteten  Sammlungen  des  Sigonius  und  Pa- 
tricias lieber  die  neueren  von  Orelli  und  Nobbe  angeführt  haben. 

Geben  wir  zu  dem  dritten  Buch  oder  der  dritten  Periode  des  sil- 
bernen Zeitalters  über,  so  finden  wir  hier  den  Gegenstand  in  ähnlicher 
Weise  und  nach  denselben  Abtheilungen,  wie  im  zweiten  Buch  behandelt. 
Nach  einem  einleitenden  Capitel,  das  über  die  Ursachen  des  Verfalls  der 
Literatur  nach  August  sich  verbreitet,  kommen  Cap.  IL  die  Tragödien  des 
Seneca,  als  der  einzige  Rest  der  dramatischen  Poesie  dieses  Zeitalters,  zur 
Sprache.  Obwohl  über  den  Verfasser  sich  kaum  etwas  Bestimmtes  er- 
mitteln lasse,  so  meint  doch  der  Verfasser,  die  Ansicht  derjenigen,  welche 
eine  Mehrzahl  von  Verfassern  dieser  Tragödien  annehmen ,  die  nachher 
„a  liberariis"  in  ein  Corpus  zusammengetragen  worden,  komme  der 
Wahrheit  am  nächsten.  Diess  ist  im  Ganzen  die  Ansicht  des  Lipsius,  der 
für  diese  zehn  Stücke  nicht  weniger  als  vier  verschiedene  Verfasser, 
darunter  freilich  auch  den  Philosophen  Seneca  für  die  Hedea,  annehmen 
zu  können  glaubte,  wie  diess  auch  bei  Daniel  Heinsius,  jedoch  mit  eini- 
gen weiteren  Modificationen  in  der  Vertheilung  der  zehn  Stücke  unter 
diese  vermeintlichen  Verfasser,  der  Fall;  war.  Diese  Ansicht  hält  jedoch 
Ref.  für  die ,  welche  bei  der  auch  jetzt  meist  so  ziemlich  anerkannten 
Gleichheit  der  Stücke  in  ihrer  ganzen  Passung  und  Haltung,  in  Styl  wie 
in  Ausdruck  —  die  einzige  Octavia  scheint  eine  Ausnahme  davon  zu  ma- 
chen —  weniger,  auf  Wahrscheinlichkeit  Ansprüche  machen  kann,  zu- 
mal da  die  äussere  Tradition,  d.  h.  die  Zeugnisse  des  Quintiiianus,  Pris- 


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Vallanrii  histuria  critica  liieraram  latinarum.  77 

cianus,  Terentianns,  Valerias  Probat,  und  vielleicht  selbst  des  Servias,  der 
iq  Virgils  Aeoeide  XII.,  395  eiaeo  Vers  des  Oedipas  (1057)  citirl,  aber  unter 
das  Statins  Namen  (wenn  aaders  hier  kein  Textverderbniss  anzunehmen 
und  Statins  in  Seneca  zu  corrigiren  ist),  doch  unverkennbar  für  den 
Philosophen   Seneca  spricht,  und  die  dagegen  vorgebrachten  inneren 
Grfinde  keineswegs  von  dem  Belang  uod  Gewicht  erscheinen,  am  hier  ei- 
nen Ausschlag,  and  zwar  wider  den  Philosophen  Seneca,  za  geben.  Ein 
Punkt  scheint  überhaupt  bei   dieser  ganzen  Streitfrage   noch  gar  nicht 
gehörig  erörtert  und  ina  Reine  gebracht :  das  Verhältniss  der  Handschrif- 
ten, die  doch  in  nicht  so  geringer  Anzahl  von  diesen  Stücken  vorhanden 
scheinen,  da  z.  B.  Grutcr  (zu  Vers  140  des  Hercules  für.)  von  neun 
hc  d  c  ni  ^    f ti  1  z l ä c h t3 n *  q I s o  jetzt  V8 1 1 c o.n  1  s c hc n  lläQcisciirift&Ki  spricht^  ü b er-- 
dem  auch  noch  andere  Codices  an  andern  Orten  vorbanden  und  selbst 
theilweise  benutzt  worden  sind,  ohne  dais  jedoch,  eine  unbedeutende  and 
angenügende  Notiz  bei  Hieronymus  Commelinus  im  Vorwort  seiner  Aus« 
gäbe  (1589)  abgerechnet,  uns  auch  nur  einigermassen  bekannt  wäre, 
wie  sich  diese  Handschriften  wir  Frage  nach  dem  oder  den  Verfassern 
dieser  Tragödien  verhalten,  welche  Auskunft  sie  Uberhaupt  darüber  bieten 
und  ob  sie  in  irgend  einer  Beziehung  zu  den  Handschriften  der  Werke 
des  Philosophen  Seneca  stehen.    Diess  sind  lauter  Punkte,  die  vor  Allem 
bei  der  Frage  nach  dem  Verfasser  dieser  Tragödien  noch  einer  nlheren 
Erledigung  entgegensehen,  bevor  ein  bestimmter  Ausspruch  erfolgen  kann. 
Uebrigens  hätten  wir  gewünscht,  bei  dem  Verf.  auch  darüber  eine  kurze 
Angabe  zu  finden,  dass  diese  Tragödien  nicht  sowohl  für  die  Bühne,  als 
für  das  öffentliche  Vorlesen  wie  für  die  Privatlectüre  bestimmt  gewesen. 
Für  die  Fragmente  der  übrigen  verlorenen  Tragiker  wird  auf  Scriverina 
verwiesen,  d.  b.  auf  dessen  Nomenciator  tragicorum  latinorum.  Wir  wür- 
den eine  Verweisung  auf  Bothel  Sammlung  oder  auf  Lange's  Vindiciae 
vorgezogen  haben.     Bei  Vellejus  Paterculus  vermissen  wir  eine 
kurze  Notiz  über  die  Schicksale  des  binterlassenen  Werkes,  das  jetzt  ohne 
urkundliche  Autorität  uns  vorliegt;  Tacitus  scheint  uns  etwas  zu  kurz 
behandelt;  das  Gleiche  finden  wir  bei  Suetonins  und  Curtius,  wenn 
nicht  die  gedrängte  Kürze  und  der  beschränkte  Raum  dieses  Abrisses  dem 
Verf.  hier  einen  allerdings  zu  beachtenden  Entschuldigungsgrund  bieten 
ksnn.    Bei  Qaintilianus  kommt  der  von  dem  Kaiser  Vespasian  aus  der 
Staatskasse  den  Lehrern  der  Beredsamkeit  angewiesene  Gehalt  zur  Sprache, 
—  centena  sestertia,  die  eben  so  Viel  betragen  als  bei  uns,  wird 
hinzugesetzt:  „17790  francki.«    Ex  quo  jam  patet,  heisst  es  dann  wei- 
ter, quanto  melius  cum  romanis  olim  rhetoribus  actum  fuerit,  quam  cum 


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78  Vallaurii  historta  critica  literarum  latinarum. 

nostris,  quorum  labores  ei  praemia  spectentur  iisdem  proposila,  raullo  tni- 
noris  (pudet  dicerel)  quam  humillimi  cujusque  arlificis  aestimantur." 
Man  sieht  aus  dieser  Aeosserung,  dass  auch  in  Piemont  so  gut  wie  bei 
uns  die  Marzerrungenschuften  nicht  gerade  eine  Verbesserung  des  Lehr- 
Standes  in  seiner  äusseren  Lage,  wohl  aber  das  Ge  gentheil  bewirkt  ha- 
ben —  ein  Resultat,  das  uns  kaum  befremden  kann.  Und  dass  Überhaupt 
in  Italien  die  neueste  Zeit  wenig  Vortheil,  wenig  Aufmunterung  bei  dem 
politischen  Sehwindel,  von  dem  auch  sie  hingerissen  war,  der  Pflege  der 
elastischen  Studien  gebracht  hat,  das  möchten  wir  ans  der  Aufforderung 
des  Verfassers  schliessen,  die  er  am  Schlüsse  seiner  Darstellung  an 
die  studirende  Jugend  gerichtet  hat:  „Caeternm  eloquentiae  studiosoa 
vehementer  hortabor,  ut  banc  literarum  latinarum  kaereditatem ,  quam  a 

reputent,  Ilalos  commodis  suis  perperam  consuluisse,  quotiescunque  rerutn 
euarum  pertaesi  externa  et  adventicia  taatura  sectarentur.u  Was  sind  hier 
die  „externa  et  adventicia",  denen  die  Italische  Jugend  nackgeht?  Sol- 
len wir  an  Frankreich  denken,  das  auch  nach  dieser  Seite  hin  sein  ver- 
derbliches Gift  und  seine  verderblichen  Einflüsse  dem  Italischen  Nachbar- 
land eben  so  gut  augeweodet  hat,  wie  dem  Deutschen? 

..  In  der  vierten  Periode,  die  von  117  p.  Chr.  bis  476  p.  Chr. 
reicht  und  im  vierten  Buch  bebandelt  ist,  sehen  wir  auch  einige  der 
christlichen  Dichter  und  Prosaisten  mit  aufgenommen,  was  wir  keineswegs 
tadeln  wollen.  Jedoch  mochten  wir  nicht  einige  der  gelegentlich  vom 
Verf.  ausgesprochenen  Urlheile  unterschreiben,  wie  z.  B.  wenn  es  von 
Prudentius,  dessen  „carmina  abere  sane  copia  et  mira  affectoum  suavi- 
tate  christianam  pietatem  redolentium  laudanturu,  dann  weiter  heisst:  at 
Stylus  barbaris  saepe  aut  obsoletis  vocibus  horridas,  a  germana  latini 
sermonis  vennstate  longissime  abest;  dieses  Unheil  einer  mit  barbarischen 
Ausdrücken  überfüllten  Schreibweise  scheint  uns  zu  hart  bei  einem  Dich- 
ter, der  in  seiner  ganzen  Ausdrucks  weise  sich  nach  dem  alteren  clesst- 
aohen  Mustern  richtet,  diese  vorzugsweise  nachbildet,  und  darum  schon 
von  Sidonius  Apollinaris  dem  Horaüus  an  die  Seite  gestellt,  von  ßentley 
aber  schon  als  der  christliche  Maro  oder  Flaccus  bezeichnet  worden  ist. 
Der  allerdings  bei  ihm  nicht  zu  leugnende  Gebrauch  veralteter  Ausdrü- 
cke wird  sich  wohl  aus  iholichen  Gründen  wie  bei  Appulejus  herlei- 
ten and  erklären  lassen,  in  keinem  Falle  aber  wird  der  christliche  Dich- 
ter andern  Dichtern  seiner  Zeit,  die  er  vielmehr  überragt,  nachstehen,  wie 
z.  B.  dein  Clandiaaus,  den  der  Verfasser  übrigens  ganz  richtig  in  folgen- 
der Weise  nharakterisirt :  Stylo  usus  est  eleganti,  florido,  magnifico  et 


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Vallaorii  hiitoria  critica  lilcrarum  laiinarum. 


sententiarum  allitudioe  spectando.  Iu  fwgendo  tarnen  liberior  est,  et  ni- 
ffljum  quiddam  ac  sonaos  in  dictionibus  iüterdum  sie  captat,  ut  verborum 
graaditate  leclori  facum  facere  videatur."  Ausooius  erscheint  hier,  in 
Bezug  auf  seine  XX  Idyllia  unter  der  bukolischen  Poesie,  wie  diess  in 
allen  Haodbüchern  und  Lehrbüchern  der  römischen  Literaturgeschichte  (auch 
des  Unterzeichneten)  der  Fall  ist :  dass  diese  Dichtungen  aber  näher  be- 
trachtet, kaum  Etwas  von  dem  an  sich  tragen,  was  den  eigentlichen  Cha- 
rakter der  bukolischen  Poesie  ausmacht,  wird,  wenn  man  diese  Dichtun- 
gen näher  geprüft  hat,  kaum  in  Abrede  zu  stellen  seyn;  sie  gehören  so 
gut  wie  die  meisten  Übrigen  Dichtungen  des  Ausonios  in  das  Gebiet  der 
beschreibenden  und  darstellenden  Poesie,  welche,  indem  sie  sich  noch  ganz 
in  dem  Geschmacke  der  älteren  heidnischen  Poesie  Roms  hält  and  dieser 
in  Fassong  und  Darstellung  ganz  gleichzukommen  sucht,  zugleich  den 

de«,  wenn  auch  gleich  Ausonios  so  got  wie  die  andern  Dichter  jener 
Zeit,  die  ebenfalls  in  diesem  Geschmack,  in  diesem  Sinne  und  Geist  dich- 
teten, selbst  ein  Christ  bereite  war.  —  Bei  der  Geschichte  wird,  was 
wir  vollkommen  billigen,  am  Schlüsse  auch  noch  auf  Sulpicius  und 
Orosius.  hingewiesen,  eben  so  werden  bei  der  Philosophie  auch  die 
verschiedenen  Kirchenväter,  Tertollianus,  Arnobius,  Minucius,  Lactantius,  Cy- 
prianus,  Hieronymus,  Ambrosius,  Augustinus,  Salvianus,  Boethius  und  Ca*« 
liodorns  genannt,  aber  dann  von  ihnen  gesagt,  wie  sie  bei  ihrem  bloss 
aaf  die  Seche  und  den  Inhalt  gerichteten  Streben:  „venustae  et  concin- 
nae  orationis  securi,  barbarum  plane  atque  borridum  scribendi  geuus  usnr- 
paruot"  ;  nur  Minucius  und  Lactantius  werden  ausgenommen ,  auf  beide 
werden  Alle  die  verwiesen,  die  über  Gegenstände,  welche  in  den  Bereich 
der  christlichen  Lehre  fallen,  Lateinisch  zu  schreiben  gedenken:  „ne  vi- 
deKcet  nobis  contingat  illa  scriptionum  portenta  aaepios  oculis  usurpare, 
in  quibus  religiosae  atque  altiores  sententiae,  posthabita  omni  dignitate, 
eo  sermone  qui  vix  latinum  referat  colorem,  efferri  consueveruut."  Indes- 
sen erscheint  doch  auch  obiges  Urtheil  eines  „horriduro  scribendi  genus" 
zu  hart,  und  selbst  ungerecht  gegenüber  einem  Hieronymus  und  selbst 
einem  Augustinus,  um  nur  diese  zu  nennen,  deren  Redeweise  doch 
keineswegs  einer  solchen  Bezeichnung  unterliegen  kann.  Bei  Sulpicius, 
den  der  Verfasser  dem  Orosius  vorzieht,  wird  die  Nachahmung  des  Sal- 
loftius  rühmend  hervorgehoben,  das  Studium  des  hinterlassenen  Büchleins 
der  Weltgeschichte  aber  vor  andern  neueren  Büchern  empfohlen,  —  prae 
quibus  dam  reeeotiumbus  libellis,  quos  audio  pueris  nostris  proponi,  latinae 
iiogaae  stodiosis ;  in  der  Note  wird  bemerkt,  es  beziehe  sich  diess  auf  ein 


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SO  Vallaurii  historia  critica  literarum  latinarum. 

den  Schülern  der  lateinischen  Grammatik  in  die  Hände  gegebenes  Büchlein 
eines  Nicolaus  Tommsseus,  betitelt :  „Selecta  christianorum  scriptorum",  und 
dann  wird  hinzugesetzt:  „Vah  !  apage  a  nobis  Ii  bellum  bujuscemodi  qui 
germona  barbarie  adolescentulos  nostros  infuscat,  quorum  aures  permagni 
referret  nitidis  diclionibus  adsueseere."  Referent  kennt  diess  Schulbüch- 
lein nicht,  um  die  Aeusserung  des  Verfassers,  und  die  „germana  (?) 
barbaries1',  welche  dadurch  verbreitet  wird,  vollkommen  zu  verstehen. 

In  einem  Anhang:  Ttapepvov  aliquot  monumentorum  latini  sermo- 
nis  vetustioristt  S.  193  ff.  werden  einige  der  ältesten  römischen  Sprach- 
denkmale abgedruckt,  das  Lied  der  Arvali  sehen  Brüder  (mit  der  Italieni- 
schen Uebersetzung  von  Galvani),  eioige  Reste  der  Leges  regine ,  die 
Reste  der  Zwölftafelgesetze,  die  Grabscbriften  der  Scipionen  nebst  der 
Inschrift  der  Columna  rostrata  und  dem  Senatusconinltum  De  Bacchanalibns. 

Gedenken  wir  noch  schliesslich  der  Vorrede,  in  welcher  uns  der 
Verfasser  eine  kurze  aber  anziehende  Skizze  der  Pflege  gibt,  welche 
die  Alterthumsstudien  überhaupt  in  seinem  Vaterlande  gefunden  haben. 
Die  neueste  Zeit  erscheint  auch  hier  in  keinem  sehr  günstigen  Lichte ; 
sie  bat  durch  die  in  den  Gang  und  in  die  Behandlung  der  Unterrichts- 
gegenstände eingeführten  Aenderungen  noch  wenig  Gutes  gestiftet,  wohl 
aber  Schlimmes ,  das  uns  noch  Schlimmeres  erwarten  lasst  \  man  sucht 
die  jungen  Leute  mit  den  verschiedensten  Gegenständen  zu  überschütten, 
so  dass  sie  ei  Omnibus  aliquid  und  ex  toto  nihil  lernen,  gerade  wie  man 
diess  auch  bei  uns  in  Deutschland  gemacht  hat,  wo  die  Vernachlässigung 
der  goldenen  Regel :  non  multa  sed  multum  sich  auf  dem  Gebiete  des 
Unterrichts,  den  man  reit  sogenannten  Realien  (richtiger  wohl :  nutzlosen 
Unterrichtsgegenständen)  überhäuft  hat,  schon  so  schwer  gerächt  hat, 
dass  diess  Niemanden  entgehen  kann.  Unser  Verfasser  verweist  diese 
Reformer  des  Unterrichts,  die  nur  nach  den  Neuem  „quos  unice  colunt 
et  observanl«  ihren  Blick  richten,  auf  Quintilian  und  dessen  Grundsatz: 
pueris  quae  maxime  ingenium  alant  atque  animum  augeant,  praelegenda; 
caeteris,  quae  ad  eruditionem  modo  pertinent,  longa  aetas  spstium  dabit 
(Instit.  Orat.  I,  8,  8).  Die  Worte  aber,  die  er  dann  zur  Erläuterung 
folgen  lasst,  wollen  wir  uns  auch  uns  und  unseren  Schulen  gesagt 
seyn  lassen:  „Qu od  quidem  Fabii  monitum  eo  spectat,  ut  adolescentes  e 
nostris  sebolis  eloquentes  et  ornati  scriptores  prodeant,  non  ineptr,  non 
rüdes,  non  sermone  barbari,  non  ardeliones,  non  deniqne  erudituli,  aut 
inanibus  tantummodo  praeeeptis  imbuti.-1  Chr.  Bftlur* 


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HU  HEIDELBERGER  1851. 

JAHRBÜCHER  OER  LITERATUR 


> 


John  Stephens  1  neiden  ts  of  Tratet  in  Central  -  America ,  Chiapas  and 
Yucatan,  illttstrated  by  numerous  Engratings.  London ,  184t. 
2  Voll,  in  8. 

John  Stephens  Incidents  of  Tratet  in  Yucatan,  illustrated  by  120  En- 
gratings.   London,  1843.    2  Voll. 

Cathencood  Views  of  ancient  Monuments  in  Central- America,  Chiapas 
and  Yucatan.    New  -  York ,  1844.  in  Fol. 

Auf  die  Anzeige  von  Squire  und  Davis  Ancient  Monuments  of  the 
Mississippi  Valley")  lassen  wir  den  Bericht. Uber  obige  für  die  Aller  thums- 
kunde  und  Geschichte  der  neuen  Welt  höchst  wichtigen  Werke  folgen, 
die  von  Neuem  ein  grosses  Interesse  gewahren.  Herr  Stephens,  ein  Bür- 
ger der  Vereinigten  Staaten,  rühmlich  bekannt  durch  eine  nach  Aegypten 
und  Palästina  unternommene  Reise,  wurde  im  Jahr  1839,  kurz  vor  Aus- 
bruch des  mexicanischen  Kriegs,  von  dem  Präsidenton  der  Union  mit 
einer  Mission  an  die  mit  Mexico  verbundenen  Staaten  Centralamericas  be- 
traut.   Er  benutzte  diese  günstige  Gelegenheit,  die  in  den  so  wenig  be- 
kannten  Landern  vorkommenden   alten  Denkmäler  einer  Untersuchung  zu 
unterwerfen.    Da  die  Geschäfte  der  Mission  wenig  zeitraubend  waren,  und 
er  ab  Gesandter  sich  des  Schutzes  der  Regierungen  zu  erfreuen  hatte,  so 
konnte  er  sein  Vorhaben  leicht  ausfuhren.  Er  war  so  glücklich,  eine  sehr 
grosse  Anzahl,  meist  in  Waldungen  verborgener  und  mit  Bäumen  bewach- 
sener Monumente  zu  entdecken,  welche  in  hohen  Pyramiden,  in  reich  und 
geschmackvoll  mit  Sctilpturen  verzierten  Tempeln  und  Pallästen ,  in  Stein- 
tafeln und  Monolithen  mit  eingegrabenen  menschlichen  Figuren  und  Hiero- 
glyphen bestehen.    Von  diesen  sind  ausführliche  Beschreibungen ,  Ausmes- 
sungen und  Grundrisse  gegeben.    Sein  Reisegefährte,  der  geschickte  und 
talentvolle  Maler,  Herr  Calherwood,  war  bemüht  die  nöthigen  Abbildun- 
gen beizufügen.    Die  in  Honduras,  Guatemala,  Chiapa  und  Yucatan  befind- 
lichen prachtvollen  alten  Bauwerke,  welche  allgemein  Bewunderung  und 
Staunen  erregt  haben,  können  füglich,  sowohl  im  Umfange,  in  der  Gross- 
artigkeit und  in  der  Schönheit  des  Bauslyls,  als  iu  dem  Reichtbum  und 
Geschmack  der  ornamentalen  Sculpturen  den  Alterthümern  des  alten  Con- 
tinenls  au  die  Seite  gesetzt  werden.    Sie  gewähren  die  Ueberzeugung, 
dass  in  jenen  Ländern,  lange  vor  Entdeckung  und  Eroberung  durch  die 

*ü.  diese  JsArb7l850  p..94  ff. 
XLIY.  Johrg.  1.  Doppelheft.  6 


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82   r  Stephens  und  Catkefwfrod:  Ueber  Centrai-Amerika. 

Spanier,  ein  viel  höherer  Grad  der  Civilisttion  bestand,  als  man  bisher 
anzunehmen  geneigt  war.    In  mehrfacher  Umsicht  verdienen  sie  daher  von 
den  Geschieht*  -  und  Alterlhums  -  Forschern  beachtet  au  werden.  Und  wir 
müssen  uns  den  Herrn  Stephens  und  Catherwood  zum  lebhaftesten  Daok 
für  ihre  schätzbaren  Untersuchungen  verpflichtet  fühlen,  welche  ein  neues 
Licht  über  die  alten  Völker  Amerikas  verhreiten.    Zunächst  wird  Refer. 
in  gedrängter  Kürze  Bericht  über  Stephens  Reisen  erstatten,  wobei  er  sich 
jedoch  auf  den  wichtigsten  und  wesentlichsten  Theil  derselben,  auf  die 
Beschreibung  der  alten  Monumente  beschränkt.    Um  dieser  leichter  folgen 
zu  können,  bittet  er  den  Leser,  die  in  obigen  Werken  enthaltenen  Ab- 
bildungen zu  vergleichen ,  ohno  welche  die  Beschreibung  schwer  verständ- 
lich sein  möchte.    Die  vielfach  eingestreuten  Bemerkungen  und  Betrach- 
tungen Über  die  socialen  Zustünde  jener  in  einer  Umwälzung  begriffenen 
Länder,  die  Schilderungen  der  Sitten  und  Gebräuche  der  Bewohner,  so 
anziehend  und  lehrreich  sie  auch  sind,  so  wie  die  Erzählung  erlebter 
Abenteuer,  muss  Refer.  des  Raumes  wegen  mit  Stillschweigen  übergehen. 
Dagegen  aber  hat  er  die  in  den  Schriften  der  spanischen  Conquistadoren 
:ond  Missionare  Über  die  alten  Bauwerke  enthaltenen  Nachrichten  beige- 
"fügt.    Dass  Stephens  mit  denselben  wenig  vertraut  war,  wollen  wir  ihm 
"als  Diplomaten  nicht  znm  Vorwurf  machen.  In  dieser  Unbekanntschaft  ist  je- 
doch begründet,  dass  er  manches  Bauwerk  für  neu  entdeckt  hielt,  dessen 
Spanische  Schriftsteller  schon  gedacht  haben.    Viele  alte  Berichte  lagen 
als  Manuscripto  in  Kloster  -  Bibliotheken  zu  Mexico  und  Guatemala,  so  wie 
in  den  Archiven  zu  Summen,  Sevilla,  Toledo  und  Salamanca  verborgen, 
und  wurden  erst  in  neuerer  Zeit  durch  den  gelehrten  Juan  Baptista  MuiToz 
'ans  Licht' gezogen.    Mehrere  hat  Ternaux^Compans  ins  französische  über- 
setzt herausgegeben  £  Recoeil  de  Docutnents  et  Ble'moires  originaux  surr 
Thistoire  des  possessions  e?pagnoles  de  l'Amerique.  Paris.).    Refer.  hat 
es  sich  ferner  zur  Aufgabe  gemacht,  die  Monumente  Central  -  Amerikas  mit 
denen  der  Lünder  der  alten  Welt  zu  vergleichen,  um  zu  ermitteln,  ob  sie 
diesen  «hrilich  als  Werke  von  Völkern  angeschen  werden  müssen,  welche 
aus  Ländern  der  alten  Welt  in  Amerika  eingewandert  sind;  oder  ob  sie, 
einen  eigentümlichen  Bauslyl  zeigend  ^  vielmehr  für  die  Werke  amerikani- 
scher Völker  gehalten  werden  miisssen.  Nach  seinem  Bedünken  ist  dies  der 
alleinigo  Weg,  auf  dem  die  schwierige  Fr8ge  über  den  Ursprung  der  frü- 
heren Zivilisation  der  neuen  Welt  zur  Entscheidung  gebracht  werden  kann. 
i-JI'--  Stephen!  trat  seine  erste  Reise  im  October  des  Jahres  1839  auf 
einer  englischen  Brig  an,  welche  in  der  britischen  Niederlassung  Balize, 
in  der  Bai  von  Honduras,  vor  Anker  gieng.    Von  hier  begab  er  sich  zur 

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Stephens  und  Catherweod:   Ueber  Central- Amerika.  83 


Stadt  Yzaba\  im  Golfo  dolce,  von  wo  er  auf  Mault  liieren  die  rauhen  Ge- 
birge Überschrat  und  zum  Flusse  Melagua  in  der  Provinz  Houduras  ge- 
hegte. In  dem  unter  dem  14  Grad  nördl.  Br.  liegenden  Dorfe  Copan 
erhielt  er  diu  Kunde  von  in  der  Nahe  befindlichen  Ruinen  einer  grossen 
allen  Stadt,  die  er  sogleich  zu  besuchen  beschloss.  Sie  liegen  in  einem 
frachtbaren  Tbale  am  rechten  felsigen  Ufer  des  Flusses  Copan,  an  dem  sie 
»eh  gegen  zwei  englische  Meilen  hinziehen.  An  Umfang  und  Grossartig- 
keit übertreffen  sie  bei  weitem  die  Ruinen  von  Palenque.  Grossen! he ils 
waren  sie  mit  Wald  überwachsen ,  der  von  Scbaaren  von  Affen  bevölkert 
wurde.  Nach  mühsamer  Lichtung  und  stelienweiser  Abrüumung  des  Walds 
erblickte  man  aus  bebauenen  Steinen  aufgeführte  Wälle,  hohe  terrassen- 
förmige Gebäude,  mehrere  grosse  Pyramiden  und  viele  Monolithen  und 
Opferaltäre,  aar  denen  reich  verzierte  menschliche  Figuren  in  erhabener 
Arbeit  dargestellt,  und  Hieroglyphen  eingegraben  waren.  Die  meisten  und 
grössten  Gebäude  schienen  einem  prächtigen  Tempel  angehört  zu  haben, 
der  sich  in  Form  eines  länglichen  Vierecks  von  Norden  nach  Süden  in  der 
Lange  von  620  Fuss  erstreckte,  und  dessen  Umfang  gegen  2860  Fuse 
betragen  haben  mochte.  Von  den  zu  ihm  gehörigen  Gebäuden  ist  ein 
Gruadriss  beigefügt. 

Das  in  Terrassen  aufgeführte  Hauptgebäude  ist  gegen  100  Fuss 
hoch,  und  liegt  auf  dem  steilen  felsigen  Ufer  des  reissenden  Flusses  Co- 
paa.  In  seiner  Nähe  befinden  sich  mehrere  grössere  und  kleinere  Pyra- 
Duden ,  und  verschiedene  andere  Gebäude ,  welche  Hofräume  einschliessen. 
Der  grösste  Raum  hat  eine  Länge  vou  300  Fuss,  und  gleicht  einem  läng- 
lichen Viereck.  An  drei  seiner  Seilen  erheben  sich  übereinander  viele 
Siefen,  wie  die  Sitze  in  einem  Amphitheater.  Anf  diesem  Platze  wurde 
der  colosaale,  6  Fuss  hohe,  in  Stein  gehauene  Kopf  eines  Mannes  gefun- 
den,  der  abgebildet  ist.  An  der  vierten  nördlichen  Seite  steht  eine  grosse, 
120  Fuss  hohe,  ganz  aus  bebauenen  Steinen  gebildete  Pyramide,  zu  deren 
abgestumpften  Spitze  schon  verzierte  Treppen  führen.  Dieas  war  wohl  der 
Ort,  wo  die  Opfer  gebracht  wurden  und  die  grossen  religiösen  Ceremo- 
nieo  statt  hatten,  die  von  dem  Volke  auf  den  Sitzen  des  Amphitheaters 
angeschaut  wurden. 

An  dem  Sockel  mehrerer  Gebäude  erblickte  man  viele  Ueberreate 
schöner  Sculptureo  verschiedener  Art,  namentlich  Reiben  Bittender  mensch- 
licher Figuren  mit  kreuzweise  übereinander  geschlagenen  Beinen,  in  rei- 
ther Kleidung,  mit  grossen  Kopfbinden  und  Federn,  mancherlei  Gegen- 
stande in  den  Händen  haltend ,  und  ferner  viele  colosaale  Thierköpfe,  die 
Affen  ähnlich  waren.    Von  diesen  Sculpturen  sagt  Stephens :  „some  have 

6* 


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84  Stephens  und  Ca ihcrwood:   Ueber  Centrai-Amerika. 

roore  elegant  designs,  and  somo  in  workmanship  are  eqoal  to  the  finest 
monuments  of  tbe  Egyptians."  Auf  diese  Aassage  dürfen  wir  ein  um  so 
grösseres  Gewicht  legen,  indem  er  Aegypten  bereist,  und  sich  mit  den 
Monumenten  dieses  Wanderlandes  bekannt  gemacht  hat. 

Zu  den  merkwürdigsten  Monumenten  Copans  gehören  12  bis  20  Fuss 
hohe,  vierseitige,  aas  einem  Stein  bestehende  Säulen,  welche  man  an  meh- 
reren Stollen  zwischen  den  Gebäuden  aufgerichtet  fand,  und  von  denen 
Abbildungen  beigefügt  sind.  Auf  der  vorderen  Seite  der  Monolithen  ist 
die  Figur  eines  Mannes  oder  Weibes  in  erhabener  Arbeit  dargestellt,  in 
reicher  Meidung,  mit  mancherlei  Schmuck  und  Verzierungen  überladen. 
Die  Männer  haben  grosse  und  hohe,  sonderbar  geformte  Diademe,  Brost- 
platten,  reich  verzierte  Gürtel  und  Armbänder,  uod  die  nackten,  mit  Knie- 
bändern umwundenen  Beine  sind  mit  schön  geschmückten  Sandalen  beklei- 
det ,  welche  den  Mocasins  der  Indianer  gleichen.  Die  weiblichen  Figuren 
tragen  kurze  Roben ,  und  der  Hals  und  die  Vorderarme  sind  mit  grossen 
Perlschnüren  verziert.  Diese  Figuren  stellen  unverkennbar  fürstliche  Per- 
sonen, Könige  oder  Helden  dar.  Die  beiden  Seiteu  und  die  hintere  Fläche 
der  viereckigen  monolithen  Säulen  sind  ganz  mit  Hieroglyphen  in  den  ver- 
schiedensten Figuren  bedeckt,  welche  wahrscheinlich  Nachricht  über  die 
Thaten  und  Schicksale  der  mysteriösen  Personen  geben.  Vor  oder  in  der 
Nähe  der  Säulen  belinden  sich  noch  grosse,  gleichfalls  aus  einem  Steine 
bestehende,  mit  mancherlei  Ornamenten  und  hieroglyphischen  Figuren  be- 
deckte Altäre.  Diese,  so  wie  die  Säulen  zeigten  Spuren  von  rolher Farbe, 
mit  der  sie  bemalt  waren. 

In  einiger  Entfernung  von  obigen  Gebäuden  des  grossen  Tempels, 
mitten  im  Walde,  stiess  Stephens  auf  steinerne,  in  Absätzen  aufgeführte 
Wälle,  an  denen  sich  Reihen  von  Sitzen  befanden.  Sie  sch  Ii  essen  einen 
grossen  Raum  ein,  auf  denen  ebenfalls  viele  hohe  vierseitige  Monolithen 
mit  den  Figuren  von  Königen  oder  Helden  aufgestellt  find.  Drei  Seiten 
derselben  sind  mit  Tafeln  und  Schilden  von  Hieroglyphen  bedeckt  Die 
Säulen  stehen  grossen  Theils  noch  aufrecht,  mehrere  sind  niedergefallen 
oder  eingesunken,  andere  sind  zerbrochen  uud  mit  Bäumen  and  Wurzeln 
dicht  Uberwachsen.  Von  vielen  derselben  sind  Abbildungen  gegeben. 
Stephens  sagt  von  ihnen:  ..In  workmanship  they  are  equal  to  the  finest 
Egyptian  aculpture.  In  dead  it  wood  be  impossible ,  with  tbe  best  instru- 
menta of  modern  times,  to  cut  stones  more  perfecUy."  Vor  den  Statuen 
sind  reich  verzierte,  mit  Hieroglyphen  bedeckte  steinerne  Altäre  aufge- 
führt.   Sehr  beaebtungswerth  ist,  dass  sowohl  die  Köpfe  aller  Figuren,  ab 


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Stephens  und  Catherwood:    Ueber  Ccntral-Amcrika. 

mm  m  mr  mm  mmm  mm  mmmm        mmmmmm        ^»        ■  mm  mmm    m  *   mr  w  '       •  «     mr  w  ■»    p  ^—         ■  ■  •       •  "  mm  m       ■         ■  »»» 


die  Charaktere  der  amerikanischen  Menschen  -  Rasse  teilen,  woraus  sich 
ergiebt,  dass  die  alten  Bauwerke  Copan's  nicht  etwa  von  einem  einge- 
wanderten Volke  der  caucasüischen  oder  mongolischen  Rasse  aufgeführt 
worden  sind,  worauf  wir  spötor  zurückkommen  werden. 

Stephens  schliesst  die  Beschreibung  der  merkwürdigen  Rainen  mit 
folgenden  Worten:  „Of  the  moral  effect  of  the  monuments  themselves, 
standing  as  they  do  in  the  dephtes  of  tropical  forest,  silent  and  solemn, 
stränge  in  designe,  excellent  in  sculpture,  rieh  in  Ornament,  different  fron 
the  worka  of  any  other  people,  their  uses  and  parposes,  their  whole 
hislory  so  eetirely  unknown,  witä  hieroglyphes  explaining  all,  but  per- 
fectly  unintelligible,  I  shall  not  pretend  to  convey  any  idea.  Orten  tbe 
Imagination  was  peined  in  gazing  at  them.  The  tone  which  prevades  tbe 
rains  is  tbat  of  deep  solemnity.  An  imaginative  mind  migbt  be  infected 
with  snperstitious  feelings.  We  regarded  the  solemn  mcmorials  as  Idols, 
deified  kings  and  beroes,  objects  of  adoration  and  ceremonial  worship." 

Refer.  fügt  nun  die  Nachrichten  über  Copan  bei ,  welche  er  aus  den 
alteren  Schriften  spanischer  Autoren  entnommen  hat.    Franc,  de  Fuenles. 
der  Geschichtschreiber  Guatemalas,  gedenkt  eines  Orts  dieses  Namens,  der 
ia  der  alten  Provinz  Cbiqoimula  de  Sierras  lag,  und  von  Indianern  des 
Stamms  des  Chontales  bewohnt  wurde.    Guatemala  und  Honduras  wurden 
bekanntlich  im  Jahr  1523  von  dem  grausamen  Pedro  de  Alvarado  unter 
Strömen  von  Blul  erobert  und  verheert,  wie  Oviedo  (Historia  de  laslo- 
das.  Manuscript.  Lib.  33.  Cap.  44.}  berichtet  bat.    In  seinen  Berichten  au 
Cortei  schildert  er  jene  Länder  als  sehr  fruchtbar  und  volkreich.  Auch 
Diego  de  Godoi  (Relation  adressee  a  Ferdinand  Cortez,  in  einem  Briefe 
rom  28.  July  1524.  in  Ramusio  T.  3  p.  247)  gedenkt  einer  im  Inneren 
des  Lands  Tapalan ,  fünfzehn  Tagereisen  von  der  Stadt  Guatemala  gelege- 
sehr  bevölkerten  Stadt ,  die  grösser  als  Mexico  sei ,  in  der  sich  viele 
bewunderungswürdige  Gebäude  (mornvillosos  et  grandes  edifleios) 
,  welche  aus  behauenen  Steinen  und  Kalk  aufgeführt  seien.  Dies 
war  vielleicht  die  Stadt  Copan.    Im  Jahre  1530  empörten  sich  die  India- 
ner and  sachten  das  spanische  Joch  abzuwerfen.    Hernando  de  Chaves 
wurde  abgesendet,  den  Aufstand  zu  unterdrücken.    Unter  den  Cazikeo, 
die  den  Aofsland  angeregt  und  den  hartnäckigsten  Widerstand  leisteten, 
wird  Copan  Cabal  genannt,  der  mit  einem  Heere  von  30,000  Indianern 
den  Spaniern  grossen  Schaden  zufügte.  Chaves  rückte  endlich  vor  Copan, 
welches  die  grössfe,  bevölkertste  und  reichste  Sladt  der  Provinz  Honda* 
ris  war,  und  nahm  es  nach  tapferer  Gegenwehr  mit  Slarm ,  plünderte  und 


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86  Stephens  und  Calherwood:    üeber  Central- Amerika. 

Die  erste  Nachricht  Uber  die  in  Rainen  liegende  Stadt  Copan  und 
die  in  ihr  befindlichen  alten  Bauwerke  hat  Palacios  in  seiner  Beschreibung 
Guatemalas  gegeben,  die  er  im  Jahre  1576  an  den  König  Philipp  II. 
sendete,  welche  lange  als  Hanuscript  in  einem  Archive  verborgen  la*r. 
Ternaux  Compans  hat  sie  ins  französische  übersetzt  veröffentlicht  (De- 
scriplion  de  la  Province  de  Guatemala  cnvoyee  au  roi  d'Espagne  en  1576. 
Paris  1840).  Aus  seinen  Nachrichten  über  die  alten  Bauwerke  heben  wir 
das  Wichtigste  heraus.  „Wenn  man,  sagt  Palacios,  von  Garcias  a  Dios 
in  die  Provinz  Honduras  gelangt,  so  stösst  man  auf  Chontal  Indianer.  Bei 
der  Ankunft  auf  dem  Wege  von  San  Pedro  erblickt  man  im  ersten  Dorfe, 
welches  Copan  heisst,  die  Ruinen  prächtiger  Gebäude,  welche  zeigen, 
dass  hier  einst  eine  grosse  Stadt  stand,  von  der  sich  nicht  annehmen 
Insst,  dass  sie  von  den  dort  wohnenden  rohen  Indianern  erbaut  wurde.  Sie 
lag  io  einer  fruchtbaren  Ebene  an  den  Ufern  eines  schönen  Flusses,  nnd 
war  von  Mauern  umgeben.  Bei  dem  Besuch  der  Ruinen  stiegen  wir  zu- 
nüchst  auf  grosse  Bäume,  die  von  Menschenhänden  gepflanzt  zu  sein  schie- 
nen, und  auf  dicke  Mauern,  vor  denen  ein  aus  Stein  gehauener  colossaler 
Adler  aufgeführt  war.  Auf  seiner  Brust  hatte  er  ein  eingegrabenes  Vier- 
eck mit  unbekannten  Charactercn.  Bei  weiterer  Annäherung  erblickten 
wir  eine  grosse  steinerne  Figur,  von  dem  die  uns  begleitenden  alten  In- 
dianer aussagten,  es  sei  der  Wächter  des  Heiligthums  gewesen.  Von  die- 
sem stammt  wohl  der  colossale  Kopf  her,  den  Stephens  abgebildet  hat. 
Ferner  sahen  wir,  fährt  Palacios  fort,  ein  drei  Ellen  hohes  steinernes 
Kreuz,  von  dem  ein  Querbalken  abgebrochen  war.  Nach  dem  Eintritt  in 
das  Innere  der  grossen,  in  Ruinen  liegenden  Gebäude,  welche  ans  schön 
behauenen  und  reich  verzierten  Steinen  aufgeführt  sind,  fanden  wir  eine 
grosse,  mehr  als  vier  Varas  hohe  Statue,  die  einem  Bischoff  mit  einer 
Mitra  ähnlich  ist.  Nahe  dabei  ist  ein  grosser  Platz,  der  von  vielen  Rei- 
hen steinerner  Sitzen  umgeben  ist,  und  einem  Theater  gleicht.  An  eini- 
gen Stellen  zählten  wir  achtzig  Reihen  von  Sitzen.  Auf  diesem  Platz  sind 
sechs  grosse  Statuen  aufgestellt,  drei  von  Männern  mit  reich  verzierten 
Rüstungen,  Waffen,  und  Bändern  an  den  Beinen,  und  drei  von  Frauen 
mit  langen  Roben.  Es  scheint ,  dass  diese  Statuen  Idole  darstellen ,  denn 
vor  jeder  befindet  sich  ein  grosser  steinerner  Opfer-Altar,  mit  einer  Rinne 
zum  Abfluss  des  Blutes.  Auch  sieht  man  noch  andere  Altäre,  die  wahr- 
scheinlich zom  Verbrennen  von  wohlriechenden  Harzen  dienten.  Mitten 
auf  dem  Platt  befindet  sich  ein  aus  Steinen  gebildetes  Bassin.  Nachdem 
wir  diesen  Platz  überschritten  hatten,  stiessen  wir  auf  eine  grosse  Pyra- 
mide, zn  deren  Spitze  viele  Stufen  führen.    Auf  dieser  hatten  wohl  die 


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Stephens  und  Catherwood:  üeber  CeMral-Amcrika.  87 

gross«  religiösen  Feierlichkeilen  slatt.  Seitlich  liegt  eine  grosse  hohe 
Terrasse,  welche  den  am  Fusse  fliessenden  Strom  beherrscht,  N  dem  eine 
in  den  Felsen  gehauene  Treppe  biaabfUhrt.  In  Copan  befinden  »ich  noch 
viele  andere  merkwürdige  Alterthttmer,  welche  beweisen,  dass  das  Land 
einst  von  einer  zahlreichen  civilisirlen  Bevölkerung  bewohnt  war,  die  in 
den  Kauften  grosse  Fortschrilto  gemacht  hatte.  Vergeblich  haben  wir  uns 
auf  alle  Weise  bemüht,  bei  den  Indianern  Nachrichten  über  die  Erbauer 
jener  Bauwerke  einzuziehen.  Dai  nur  haben  wir  von  Greisen  erfahren, 
dass  die  Gebäude  von  einem  mächtigen  Herrscher  aufgeführt  wurden,  der 
aosYacalan  gekommen  war.  Diess  ist  um  so  wahrscheinlicher,  als  nach 
alten  Sagen  die  Provinzen  von  Ayatal,  Lacandon,  Verapaz,  Chiquiroula 
uod  Copan  von  den  Bewohnern  Yucalons  erobert  wurden.  Es  scheint  auch, 
dass  die  Monumente  gauz  denen  ähnlich  sind,  welche  die  Spanier  bei  der 
Eroberung  in  diesem  Lande  vorfanden." 

Der  Ruinen  Copans  haben  ferner  die  beiden  Geschiohtschreiber  Guaw 
temalas,  Francisco  de  Fuentes  und  Juorros  (Compendio  de  la  historia  de 
Guatemala)  gedacht.  Jener  besuchte  sie  im  Jahr  1700,  und  beschrieb 
die  im  Circus  aufgestellten  männlichen  und  weiblichen  Figuren,  deren 
Sculptur  er  bewundert,  welche  mit  rolher  Farbe  bemalt  waren.  Zn  dem 
Circus  führte  ein  grosses  steinernes  Portal,  an  dem  grosse  Figuren  stan- 
den. Im  Jahre  1836  endlich  befand  sich  der  Obrist  Galindo  zu  Copan, 
der  zur  Untersuchung  der  Ruiuen  von  der  Regierung  zu  Guatemala  abge- 
seadet  war.  Seine  Nachrichten ,  welche  im  Wesentlichen  mit  denen  der 
ilteren  spanischen  Geschicbtschreiber  und  denen  von  Stephens  tiberein- 
stimmen, finden  sich  in  den  Schriften  der  geographischen  Gesellschaft  zu 
Paris  und  in  der  Lilerary  Gazette  von  London.  Er  war  so  glücklich,  ein 
altes  Grabgewölb  zu  entdecken,  in  dem  Gefüsse  aus  gebrannter  rother 
Erde  mit  Resten  von  Knochen  standen.  In  einem  derselben  befand  sich 
ein  Schm^ragd  mit  einem  eingeschnittenen  schönen  Kopf. 

Von  Copan  aus  reiste  Stephens  über  eine  hohe  Sierra  nach  der 
Stadt  Esquipulas  und  Uber  das  Gebirg  Quezaltepec  nach  Guatemala ,  der 
Hauptstadt  der  Republik  von  Central- Amerika.  Hier  hatte  er  diploma- 
tische Verhandlungen  mit  Carrera,  der  sich  im  Bürgerkrieg  zum  Dictator 
aufgeworfen  bat.  Dann  unternahm  er  eine  Reise  zu  den  Vulkanen  Agua, 
lealeo  u.  a.,  und  besuchte  die  Liinder  Antiqua,  Nicaragua,  Costn  Rica  und 
die  Koste  der  Südsee.  Bei  seiner  Rückkunft  erhielt  er  die  Kunde  von  den 
westlich  von  Guatemala  in  einem  Walde  liegenden  Ruinen  der  alten  Stadt 
Quirnga,  welche  er  zu  besuchen  beschloss.  In  der  Naho  des  Dorfs  En* 
eaentros  am  Fluss  Motagua  gelangte  er  in  einen  hohen  Wald  von  Codern 


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88  Stephens  tmd  Catherwood:   üeber  Centrai-Amerika. 

und  Mahagoni  -  Bäumen  ,  in  dem  er  zunächst  auf  eine  gegen  20  Fuss  höbe, 
und  5'/2  Fast  breite,  aus  einem  Stein  bestehende  vierseitige  Säule  sliess. 
An  der  vorderen  Fläche  war  eine  sehr  wohl  erhaltene  und  reich  vereierte 
colossale  männliche  Figur,  und  auf  der  Rückseite  eine  weibliche  Figur 
ansgehauen.  Die  Seitenflächen  waren  mit  Hieroglyphen  bedeckt,  welche 
denen  von  Copan  glichen.  In  der  Nähe  stand  eine  zweite  ähnliche,  23  Fuss 
hohe  monolithe  Säule,  und  nicht  weit  davon  ein  26  Fuss  hoher  Obelisk, 
an  dem  eingehauene  menschliche  Figuren  und  Hieroglyphen  zu  erkennen 
waren.  Ausserdem  wurden  im  Walde  noch  mehrere,  theils  aufrecht  ste- 
hende, theils  niedergefallene,  mit  Moos  bewachsene  Säulen  gefunden,  vor 
denen  Altäre  standen.  Eine  auf  einer  Erhöhung  aufgeführte  Slule  war 
von  einem  kreisförmigen  Steinwall  umgeben.  Ausserdem  erblickte  man  die 
Ueberreste  vieler  in  Ruinen  liegender  alten  Bauwerke,  die  denselben  Cha- 
rakter, wie  die  zu  Copan  hatten,  nur  waren  sie  mehr  zerstört  und  schie- 
nen älter  zu  sein. 

Stephens  setzte  nun  seine  Reise  in  nördlicher  Richtung  zu  dem  am 
westlichen  Abhang  der  Cordilleren  liegenden,  von  hohen  Felsenwänden 
eingeschlossenen  See  Atttlan  fort.  An  diesem  wohnteu  einst,  wieJuarros 
berichtet,  die  tapferen  Indianer -Stämme  der  Zutugiles,  die  von  mehreren 
Caziken  beherrscht  wurden.  Ihre  Hauptstadt,  Santiago  d'Atillan,  oder 
Atziquinixal,  was  in  der  Quiche  -  Sprache  Haus  des  Adlers  bedeutet,  lag 
auf  einem  hohen  Felsen.  Sie  wurde  so  genannt,  weil  der  daselbst  reai- 
dirende  Cazike,  wenn  er  in  den  Krieg  zog,  einen  aus  den  Federn  des 
Vogels  Quetzal  gefertigten  grossen  Adler  trug.  Im  Jahr  1524  wurde 
die  Stadt  von  Pedro  de  Alvarado  unter  grossen  Grausamkeiten  erobert 
und  zerstört,  wie  ein  Augenzeuge,  Don  Diaz  de  Castilo,  berichtet.  Die 
dem  spanischen  Joche  unterworfenen  und  hart  bedrückten  Caziken  rich- 
teten im  Jahre  1571  eine  Besch werdescbrift  an  den  König  Philipp  IL, 
welche  Ternaux  Compans  herausgegeben  hat.  (Requete  de  plusieurs  chefs 
Indiens  d'Atitlan.  Paris  1838). 

Unsere  Reisenden  uberstiegen  hierauf  die  hohen  Gebirgsrücken  der 
Cordilleren,  um  die  an  deren  östlichem  Abhänge  unter  dem  16.  Grad 
nördlicher  Breite  liegenden  Ruinen  von  Santa  Cruz  del  Ouiche  zu  besu- 
chen, in  deren  Nähe  sich  das  Stadtchen  Santo  Thomas  befindet.  Hier 
stand  einst  die  grosse  und  reiche  Stadt  Ulatlan,  die  Residenz  der  mäch- 
tigen Köuige  von  Quiche'  und  Kachiquel,  welche  von  den  aus  Mexico 
eingewanderten  Tolteken  abstammten.  Nach  der  Angabe  von  Don  Fer- 
dinando  de  Alva  Ixtlilxochitl,  einem  Nachkommen  der  Könige  von  Tezcuco 
(Histoire  des  Chichemeques ,  herausgegeben  von  Ternaux  Compans),  war 


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Stephens  und  Calherwood:   Ueber  Central-Ameriks.  89 

TopilttiQ  der  neunte  und  letzte  König  des  toll eki sehen  Reichs,  welcher 
nach  unglücklich  geführten  Kriegen,  und  nach  eingetretenem  Miss  wachs, 
grosser  Hnngersnotb  und  verheerenden  Seuchen,  welche  den  grössten  Theil 
der  Bevölkerung  weggerafft  hatten,  die  Ueberreste  der  Tolle ken  tua 
Mexico  wegfahrte.  Dicss  geschah  gegen  das  Ende  des  sehnten  Jahrhun- 
derts. Sie  zogen  in  südliche  Länder,  nach  Tehuantepec ,  Guatemala  und 
Nicaragua.  Fucntes  und  Junrros ,  die  Geschicbtschreiber  Guatemalas ,  be— 
richten,  dass  die  eingewanderten  Tolteken  daselbst  die  Reiche  Utatlan, 
Ouiche  und  Kachiquel  gründeten,  welche  von  den  Spaniern  unter  Alva- 
rado  erobert  nnd  verheert  wurden.  Nach  einem  von  Gonzalo  Fernanden 
de  Oviedo  y  Veldes  verfassten  Manuscript  (Histoire  de  Nigaragua,  von 
Ternaux  Compans  herausgegeben)  bestand  auch  in  Nicaragua  ein  von  den 
Tolteken  errichtetes  Reich.  Die  Bewohner  redeten  die  Chorotega,  Chon- 
tal  und  mexikanische  Sprache,  und  hatten  aus  Pergament  bestehende  zu- 
sammengefaltete Bücher,  deren  Bilderzeichen  mit  rother  und  schwarzer 
Farbe  gemalt  waren.  Neuerlichst  hat  Squire,  der  Botschafter  der  Ver- 
einigten Staaten  (Bulletin  de  In  Societc  de  Geographie  Sixsieme  Serie. 
T.  13  p.  232)  auf  der,  im  See  Nicaragua  liegenden  kleinen  vulkanischen 
Insel  Pensacola  Ueberreste  von  Teocallis  und  in  Stein  gehauene  mexicani- 
sche  Götzen  gefunden. 

Die  Reisenden  Ubernachteten  in  der  Nähe  der  Ruinen  der  alten  Stadt 
Utatlan,  in  einem  sehr  ärmlichen  Kloster  der  Dominikaner,  welches  von 
Alrarado  gegründet  ist,  um  vom  Himmel  die  Vergebung  seiner  begange- 
nen Sünden  zu  erflehen.  Das  elende  Kloster  bildete  in  seinem  verfallenen 
Znstande  einen  grellen  Gegensatz  zn  den  Ueberresten  der  ehemaligen 
prächtigen  Hauptstadt  eines  untergegangenen  mächtigen  Königreichs.  Wenn 
wir  den  Nachrichten  des  Chronisten  Fuentes  Glauben  schenken  dürfen,  so 
unterwarf  sich  der  Sohn  des  in  der  Schlacht  gegen  Alvarado  gefallenen 
letzten  Königs  Tacumuman,  dem  Sieger,  dem  er  reiche  Geschenke  an 
Gold  und  Edelsteinen  sendete.  Zugleich  bat  er  ihn  in  die  Stadt  Utatlan 
zn  kommen.  Da  Alvarado  die  Stadt  sehr  gross  und  volkreich  fand  und 
Verrath  fürchtete,  so  verliess  er  sie  schnell  wieder,  und  verlangte  die 
Unterhandlungen  im  spanischen  Lager  fortzusetzen.  Den  unglücklichen 
Prinzen,  der  im  Lager  erschien,  Hess  der  grausame  spanische  Feldherr 
sogleich  aufknüpfen,  unter  dem  Vorwand,  der  Prinz  habe  einen  Aufstand 
beabsichtigt.  Im  Jahre  1524  nahm  der  Wütherich  die  auf  einem  Berg 
liegende,  sehr  feste  Stadt,  zu  der  nur  zwei  schmale  Zugänge  führten,  mit 
Sturm  ein,  metzelte  die  Bewohner  nieder,  und  plünderte  und  zerstörte  die 
Stadt.    In    seinem   Berichte  an  Cortez  (Lettre  a  Ferdinand  Cortez  le 


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90  Stephen«  und  Calherwood:  Ueber  Ccniral-Amerika. 

11  Avri!  1824,  in  Kamusio  T.  3  p.  247)  schreibt  Alvarado :  La  viilc 
L'tatlan  est  tres  forte,  on  n'y  penetre  que  par  deux  eulrees,  Fun  par 
uii  escalier  de  plus  de  trente  nierche  de  pierres,  tres  eleve,  Fautre  par 
ime  route  faite  de  ntain  d'homme  et  pave.  Von  den  Grausamkeiten, 
welche  die  Spanier  bei  der  Eroberung  der  Stadt  begiengen ,  hat  der  Bi- 
schof} Las  Casas  mit  grossem  Abscheu  geredet.  Zur  Zeit,  da  Fuentes 
Ulatlan  besuchte ,  waren  viele  Gebäude  noch  erhalteo.  Die  am  Berge  lie- 
gende Stadt  war  von  einem  tiefen  Abgrunde  umgeben,  der  einen  natür- 
lichen Graben  bildete,  und  über  den  nur  zwei  schmale  Wege  führten. 
Die  auf  der  Spitze  des  Berges  liegende  Festung  mit  dem  königlichen  Pal- 
last war  ein  prächtiges  Gebäude.  Torquemada  sagt,  es  sei  grösser  ge- 
wesen, als  der  Pailast  Montezumas  zu  Mexico.  Es  halte  die  Gestalt  eines 
lauglichen  Vierecks,  welches  728  Fuss  lang  und  340  Schritte  breit  war. 
E*  war  ganz  aus  behaueuen  Steinen  in  verschiedenen  Farben  erbaut,  und 
bestand  aus  sechs  grossen  Abtheilungen.  In  ihm  befanden  sich  ehemals 
die  Caserne  für  die  königliche  Leibwache,  die  Gemächer  des  Königs  mit 
dem  grossen  Thronsaale,  die  Wohnungen  für  die  Königin ,  die  königliche 
Familie  und  die  Concubinen.  Ausserdem  enthielt  es  die  Schatzkammer 
und  den  Gerichtshof.  In  den  Umgebungen  des  Pallastes  sollen  sich  grosse 
Garteuanlagen  mit  Bädern  und  Behältern  für  Thiere  befunden  haben.  Die 
Stadt  soll  auch  ein  grosses  Seminar  enthalten  haben ,  in  dem  einige  tau- 
send Kinder  auf  Kosten  des  Königs  erzogen  wurden.  Kurz,  die  alte  Stadt 
Utatlan  scheint  in  Grösse,  Pracht  und  Reichthum  die  Stadt  Mexico  über- 
troffen  zu  haben 

Im  Jahre  1834  sendete  die  Regierung  von  Guatemala  eine  Com- 
mission  unter  Miquel  Rivera  nach  Utatlan ,  um  die  alten  Bauwerke  zu  un- 
tersuchen, die  sich  aber  vorzuglich  mit  Schatzgraben  beschäftigte.  Beim 
Suchen  nach  Gold  wurden  die  alten  Bauwerke  grossen  Theils  zerstört. 
Stephens  fand  sehr  ausgedehnte  Ruinen,  welche  sich  in  drei  Absätzen 
Uber  einander  an  einem  kegelförmigen  Berge  erhoben.  Die  Gebäude  be- 
ateben aus  behanenen,  durch  Mörtel  verbundenen  grossen  Steinen.  Von 
der  auf  der  Spitze  des  Bergs  gelegenen  Festung  und  dem  Pallaste  des 
Königs  ist  nur  noch  ein  Thurm  und  eine  Opfer- Pyramide  vorhanden. 

Ueber  das  Innere  vieler  Gegenden  Guatemalas,  Chiapas  und  Hon- 
duras ist  noch  immer  viel  Dunkel  verbreitet.  Von  dem  Cura  des  Orts 
Santo  Thomas  erfuhr  Stephens ,  dass  Sagen  bestehen ,  in  entlegenen  Thä- 
lern  der  Gebirgsketten  seien  noch  alte  Städte  freier  Indianer  vorhanden, 
welche  ihre  Unabhängigkeit  und  alte  livilisation  erhalten  hatten.  Die  Ein- 
wohner, welche  die  Maya  Sprache  reden,  hätten  bis  jetzt  das  Eindringen 


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Stephens  und  Catherwood:   lieber  Central-Araerika.  91 


der  Spanier  und  jedes  Weissen  verhindert.  Diese  Nachricht,  so  unwahr- 
scheinlich sie  erscheint,  kann  aber  doch  wahr  sein.  So  erzahlt  Baron 
Friedrichsthal ,  der  bei  seinen  Reisen  in  jenen  Ländern  auch  der  Ruinen 
Tieler  alter  Bauwerke  gedacht  htit  (Bulletin  de  la  Societe  de  Geographie 
Juil.  Aout  1839,  Juil.  1640),  dass  in  den  Archiven  der  Stadt  Cartbago 
ii  der  Provinz  Costarica  die  Berichte  von  Missionären  aufbewahrt  worden, 
denen  zufolge  in  der  Provias  Telamauca  noch  im  Jahre  1650  eine  Stadt 
der  Indianer  bestanden  habe,  die  16,000  Krieger  zählte.  Es  ist  gar  wohl 
möglich,  dass  im  Inneren  dieser  grossen,  und  so  wenig  durchforschten 
Länder  noch  einzelne  Ortschaften  sich  finden,  welche  nie  mit  Europaern 
Verkehr  halten,  deren  Einwohner  ihre  alten  Gebräuche  beibehalten  haben, 
uad  die  vielleicht  bei  der  letzten  Empörung  unter  Carrera  ihre*  alten  Hechte 
geltend  zu  machen  suchten. 

Stepbens  setzte  von  Utatian  nus  seine  Reise  Uber  hoho  Gebirge  nach 
Qaezaltenanco  fort,  und  besuchte  die  in  der  Nähe  liegenden  Ruinen  der 
alten,  einst  sehr  volkreichen  Stadt,  welche  gleichfalls  von  Alvarado  er- 
obert und  zerstört  wurde.  Von  ihr  sind  nur  noch  zwei  grosse  pyrami- 
denförmige Gebäude  übrig,  welche  Spuren  von  Stucco  und  alten  Ma- 
lereien tragen.  An  dem  Fusse  des  einen  Gebäudes  entdeckte  man  ein 
Gewölbe,  worin  aus  Terra  Cotta  gebildete  Gefaase  mit  Knochen  enthalten 
waren.  Stephens  überstieg  hierauf  die  hohe  Sierra  Madre,  auf  der  sich 
mehrere  Vulkane,  darunter  der  Tnjamulco,  und  einige  Seen  befinden,  und 
gelangte  Uber  den  Rio  Lagartos  nach  der  Stadt  San  Domingo  Comitlan  in 
der  Provinz  Cbiapas.  In  geringer  Entfernung  von  hier  liegt  das  von  ho- 
hen Bergen  umgebene  Dorf  Ocozingo,  von  Chontales  Indianern  bewohnt. 
In  seiner  Nahe  erblickte  man  auf  einer  Anhöhe  die  Ruinen  einer  alten 
Festung,  die  in  füuf  Terrassen  aufgeführt  ist.  Auf  der  Spitze  steht  ein 
50  Fuss  langes  and  35  Fuss  breites  Gebende,  und  in  diesem  fand  man 
mehrere  Gemächer,  deren  Wände  mit  Stucco  bekleidet  waren.  Auf  die- 
sem sind  viele  männliche  und  weibliche  Figuren  abgebildet.  Iu  der  Um- 
gebung befinden  sich  ferner  noch  die  Ueberreste  mehrerer  Pyramiden  und 
vieler  grosser  Gebäude.  Die  Ruinen  bei  Ocozingo  hält  man  für  die  üeber- 
bleibsel  der  alten  Stadt  Tulha. 

Von  Ocozingo  aus  erreichte  Stephens  in  fünf  Tagen,  nach  einer 
höchst  beschwerlichen  Reise  über  steile  und  rauhe  Gebirge  und  durch  tiefe 
Thäler,  in  denen  sich  nur  einige  elende,  von  rohen  Indianern  bewohnte 
Dörfer  befinden,  das  Dorf  8t.  Domingo  de  Palenqne.  Es  liegt  im  Di- 
stride  Carmen,  der  Provinz  Ciudad  Real  de  Cbiapas  (unter  dem  17.  Grad 
nördlicher  BreilcJ,  und  ist  von  Indianern  der  Nation  der  Chontales  oder 


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92  Stephen*  und  Catherwood:  Ucber  Central- Amerika. 

Tzendales  bewohnt,  in  deren  Besitz  es  nach  Eroberung  des  Landes  durch 
die  Spanier  geblieben  ist.  Erst  im  Jahre  1700  kam  ein  spanischer  Mis- 
sionär dahin.  Hier  machte  Stephens  seine  Zubereitungen  zu  den  Unter- 
suchungen der  in  westlicher  Richtung  liegenden  und  acht  englische  Mei- 
len entfernten,  in  einem  Walde  verborgenen  merkwürdigen  Ruinen,  deren 
kein  älterer  spanischer  Schriftsteller  gedacht  hat.  Erst  um  die  Mitte  des 
vorigen  Jahrhunderts  wurden  die  alten  Bauwerke,  welche  den  Indianern 
lingst  unter  dem  Namen  Casas  de  piedra  bekannt  waren,  von  einigen 
verirrten  spanischen  Reisenden  besucht.  Die  Nachrichten ,  welche  sie  Ober 
dieselben  nach  Mexico  brachten,  erregten  solches  Aufsehen ,  dass  die  Auf- 
merksamkeit der  Regierung  auf  sie  gelenkt  wurde.  Im  Jahre  1786  wurde 
der  Capitfin  Antonio  del  Rio  mit  der  Untersuchung  der  Ruinen  beauftragt, 
der  im  folgenden  Jahre  durch  einige  hundert  Indianer  den  Wald  räumen 
Hess,  in  dem  sie  versteckt  lagen.  Er  fand  noch  14  bis  15  Gebäude, 
von  denen  er  eine  oberflächliche  Beschreibung  mit  einigen  rohen  Abbil- 
dungen an  Don  Josua  Estacharia,  den  damaligen  Gouverneur  von  Guate- 
mala, sendete.  Diese  wichtigen  Entdeckungen  veranlassten  den  gelehrten 
Doctor  Paul  Felix  Cabrera  Untersuchungen  über  die  alte  Geschichte  Ceo- 
tral-Amerikas  und  seine  erste  Bevölkerung  anzustellen,  welche  er  im  Thea- 
tro  critico  Americano  veröffentlicht  hat. 

Im  Jahre  1820,  nach  dem  Ausbruche  der  Revolution  in  Mexico, 
erhielt  der  in  der  Stadt  Neu-Guatemala  wohnende  englische  Resident  die 
Kunde  von  dem  im  Archive  aufbewahrten  Berichte  del  Rio\»,  von  dem  er 
sich  eine  Copie  tu  verschaffen  wusste,  die  er  mit  Abbildungen  noch  Lon- 
don sendete,  welche  Berthoud  ins  Englische  übersetzte  und  im  Jahre  1822 
unter  folgendem  Titel  bekannt  machte:  Description  of  an  ancient  City, 
discovereJ  near  Palenqud,  in  the  Kingdom  of  Guatiroala;  translated  from 
the  Mannscript  Report  of  Capitain  Don  Antonio  del  Rio ;  followcd  by  Tea- 
tro  Critico  Americano,  or  a  critical  investigation  and  research  into  the 
History  of  the  Americans  by  Doctor  Felix  Cabrera.  Im  Jahre  1823  er- 
schien eine  deutsche  Uebersetzung,  unter  dem  Titel:  Huehuetlapallan, 
Amerikas  grosse  Urstadt,  nen  entdeckt  vom  Capitön  Don  Antonio  del  Rio, 
und  als  eine  phönicisch-kananäische  und  Carthagische  Pflanzenstadt  erwie- 
sen von  Dr.  P.  F.  Cabrera.  Meiningen  1823. 

In  den  Jahren  1805—1807  wurde  auf  Befehl  des  Königs  Karl  IV. 
abermals  eine  Commission  mit  der  Untersuchung  der  alten  Bauwerke  Pa- 
lenque"s  beauftragt,  an  deren  Spitze  der  Capitän  Dupaix  stand,  der  sich 
dabin  mit  dem  Maler  Castanada  begab,  welcher  die  Ruinen  mit  grosser 
Genauigkeit  aufnahm.    Da  während  der  Zeit  Spanien  von  den  Franzosen 


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Stephens  und  Catherwood:  Ucber  Centrai-Amerika.  03 

besetzt  wurde,  so  blieben  der  Bericht  und  die  Zeichnungen ,  welche  nach 
Madrid  gesendet  werden  sollten,  in  der  Douanc  zu  Veracruz  liegen,  und 
wurden  spater  nach  Mexico  gebracht,  wo  sie  im  Museum  für  Naturge- 
schichte aufbewahrt  wurden.  Hier  wurden  sie  zufällig  im  Jahre  1828  von 
Baradere  entdeckt,  der  von  der  Regierung  eine  Abschrift  des  Berichts  von 
Dupaix  mit  den  Abbildungen  erhielt,  dnter  der  Bedingung,  sie  in  Paris 
herauszugeben.  Diess  geschah  in  dem  Werke:  Antiquitcs  Mezicaines, 
ouvrage  contenant  les  trois  Voyages  de  Dupaix,  traduits  et  annotes  par 
Chr.  Farcy,  welches  im  Jahre  1834  zu  Paris  erschien,  mit  Anmerkungen 
von  Lenoir,  Warden,  Baradere  und  St.  Priest.  Was  Lord  Kingshorough 
in  seinem  Prachtwerk,  Antiquities  of  Mexico  Uber  Palenque  mittheilt,  ist 
aas  obigem  Werke  entnommen.  Seit  jener  Zeit  haben  auch  der  Obrist 
Gaiindo,  Dr.  Corry,  Franck,  Nebel  und  Waldeck  einige  Nachrichten  über 
Palenque  gegeben. 

Refer.  wird  versuchen,  einen  gedrängten  Auszug  aus  Stephens  Be- 
schreibungen der  merkwürdigen  Beinen  mitzutheilen.  Wenn  man  vom 
Dorfe  Palenque  aus  seinen  Weg  in  sudwestlicher  Richtung  zu  dem  hoben 
Gebirgs-Plateau  nimmt,  auf  dem  sich  die  grossartigen  Bauwerke  majestä- 
tisch erheben,  so  kommt  man  nach  zwei  Stunden  zu  dem  kleinen  Fluss 
Micol ,  der  von  Westen  kommend  sich  mit  dem  Flusse  Tulija  verbindet, 
welcher  seinen  Lauf  nach  Tabasco  nimmt.  Nach  dem  Uebersch reiten  jenes 
Flusses  fangt  das  Gebirg  an  sich  zu  erheben,  und  man  sieht  bald  in 
einem  dichten  Walde  an  dem  Bache  Otolun  grosse  Haufen  von  Trümmer 
alter  Bauwerke,  welche  eine  halbe  Stunde  lang  den  Weg  sehr  beschwer- 
lich machen.  So  wie  man  die  steile  Anhöhe  erstiegen  hat,  erblickt  man 
die  grosse  Fa^ade  des  auf  einem  gewaltigen  pyramidalen  Unterbau  ruhen- 
den Hauptgebäudes,  mit  seinem  hohen  viereckigen  Thurm,  welches  die 
Indianer  den  Pallast  nennen.  Der  aus  drei  Absätzen  bestehende  Unterbau 
stellt  ein  längliches  Viereck  dar,  welches  310  Fuss  lang,  260  Fuss  breit 
and  gegen  60  Fuss  hoch  ist.  Er  ist  ganz  aus  behauenen ,  durch  Mörtel 
verbundenen  Steinen  aufgeführt.  In  seiner  Mitte  befindet  sich  eine  sehr 
breite  Treppe.  Der  mit  der  Fa<jade  nach  Osten  gerichtete  Pallast  ist 
228  Fuss  lang,  180  Fuss. breit  und  25  Fuss  hoch.  Ringsum  läuft  eine 
schöne,  vorspringende,  aus  behauenen  Steinen  gebildete  breite  Kranzleiste. 
Die  ganze  Facade  war  einst  mit  Stucco  bekleidet  und  bemalt.  . 

An  der  Fronte  des  Gebäudes  befinden  sich  vierzehn  Eingänge, 
welche  von  de/  Terrasse  aus  ins  Innere  führen ,  und  gegen  9  Fuss  breit 
sind.  Einige,  so  wie  die  rechte  Boke  des  Gebäudes  sind  niedergefallen. 
Die  P/eiler  zwischen  den  Eingangen  sind  mit  schön  gearbeiteten  halb  er- 


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94  Stephens  und  Catherwood:   Uebcr  Central-Amerika. 

habenen  menschlichen  Figoren  in  Lebensgrösse  verziert,   von  einem  rei- 
chen Rahmen  eingefasst.    Ueber  denselben  befinden  sich  Hieroglyphen. 
-Auf  einem  Pfeiler,  der  noch  sehr  wohl  erhallen  ist,  and  von  dem  auch 
del  Rio  (Tnf.  Ii)  eine  Abbildung  gegeben  hal,  erblicht  man  eine  ste- 
hende Figur,  wie  es  scheint,  ein  Cazike,  mit  sehr  zurückweichender Stirne 
und  künstlich  verlängertem  Schüdel.    Diese  künstliche  Verunstaltung  des 
Kopfe»  ist,  was  sehr  Beachtung  verdient,  an  allen  Figuren  zu  Palenque 
sehr  deutlich  zu  erkennen,  nnd  dies*  weist  darauf  hin,  das*  die  allen 
Bauwerke  von  einem  Volke  der  amerikanischen  Rasse  aufgeführt  worden 
sind.    Der  Kopfputz  der  Figur  besteht  aus  einem  hohen ,  reich  verzierten 
Helm  mit  langen  Büscheln  von  Federn.    Das  Antlitz  ist  ausgezeichnet 
durch  eine  »enge,  stark  vortretende,  gebogene  Nase,  und  volle  Lippen. 
In  den  verlängerten  Ohren  befinden  sich  herabhängende  Zierraiben.  Anf 
den  Schultern  ruht  eine  aus  Schnüren  von  Perlen  oder  kleinen  Kugeln 
"bestehende  Bedeckung.    Der  nackte  linke  Arm  hält  einen  grossen  reich 
▼erzierten  Stab,  vielleicht  eine  Art  Scepter.    Um  die  Hüften  hingt  eine, 
durch  einen  Gürtel  befestigte  Haut  eines  Panthers.    Die  Füsse  sind  mit 
schönen  Sandalen  oder  Mocassins  bekleidet.    Vor  und  hinter  der  stehen- 
den Hanptfigur  befinden  sich  sitzende  nackte  Fignren  mit  gekreuzten  Bei- 
nen, offenbar  in  bittender  Stellung.    Sehr  auffallend  ist  der  kleine ,  platt- 
gedrückte Schädel  der  Figuren.    Die  stehende  Figur  scheint  ein  Fürst  oder 
Cazike  zu  sein,  und  die  sitzenden  Fignren  stellen  offenbar  besiegte  und 
wir  Unterwerfung  gebrachte  Völker  dar.    Ueberreste  ähnlicher  ,  nur  mehr 
verstörter  Figuren  wurden  auf  allen  Thürpfeilern  wahrgenommen.  Der 
Stucco,  aus  welchen  die  Fignren  gebildet  sind,  ist  sehr  fest  nnd  hart 
wie  Stein.    Er  War  mit  rother,  blauer,  gelber,  weisser  und  schwarzer 
Farbe  bemalt,  von  denen  man  i  oberresle  erkannte.    Die  grosse  Terrasse 
vor  dem  Pallaste  muaste  mit  den  Pfeilern  und  ihren  schönen  Figuren  einen 
sehr  imposanten  Anblick  gewahrt  beben. 

Der  Pallast  ist  an  allen  Seiten  von  einem  äusseren  und  inneren 
Corririor  umgeben ,  dessen  Wände  aus  Cemeat  bestehen ,  und  die  von  einem 
schrägen,  aus  grossen  Steinplatten  gebildetem  Dach  bedeckt  sind.  Er 
scWiesst  mehrere  Hofraume  in  sich,  von  denen  man  in  die  Gemächer  ge- 
lengt. Wese  enthalten  keine  Fenster-Oeftnungen ,  sondern,  in  der  Höhe 
erblickt  man  in  den  Mauern  nur  Oeffnungen,  welche  die  Form  eines  um- 
gekehrten Taus  haben.  Durch  diese,  bo  wie  durch  die  Touren,  musste 
*0es  Lieft!  lind  die  Luft  den  Zugang*  in  die  Gemicuer  Andern  i.  »•  l. 
•  '  1  Vtem  Inneren  Oorridor  gelaugt  man  auf  der  Nords«*  zu  emn 
länglich  viereckigen  grossen  Hofraum,  der  80  Foss  lang  und  TO  Fuss 


» 


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Stephens  and  Catherwood:   Ueber  Central- Amerika.  95 


breit  ist,  und  zu  dem  man  auf  einer  breiten  Treppe  hinabsteigt.  Reben 
dieser  sind  zu  beiden  Seiten  in  grossen  Steinplatten  halb  erhabene,  9  bis 
10  Fuss  hohe  colossale  Figuren  in  bittender  Stellung  eingegraben.  Ihre 
stark  niedergedrückten  Schädel  sind  mit  Binden  und  Federn  verziert,  nnd 
sie  tragen  lange  Ohrgehänge  und  Halsbänder.  Jener  Treppe  gegenüber 
befindet  sich  eine  andere,  auf  der  man  wieder  zu  einem  Gebäude  mit 
zwei  Corridors  aufsteigt.  Neben  der  Treppe  sind  Tafeln  mit  Hieroglyphe 
sehen  Figureu  aufgerichtet.  Vom  inneren  Corridor  des  Gebäudes  führen 
finf  Eingänge  in  «inen  zweiten  kleineren  Hofraum.  Die  zwischen  ihnen 
befindlichen  Pfeiler  sind  reit  ähnlichen  Figuren  in  Stacco  verziert ,  wie  die 
der  Huuplfocade ,  denen  sie  in  der  künstlichen  Verunstaltung  des  Kopfes, 
den  Helmen  mit  Federbüschen,  den  Ohrgehängen ,  Halsbändern,  den  Schür- 
zen, Gürteln  and  Sandalen  gleichen.  Die  Handlungen,  welche  sie  dar- 
stellen, beziehen  sich  offenbar  auf  Begebeuheiten  aus  der  Geschichte  der 
ehemaligen  Beherrscher  Paleuque's.  An  der  Westseite  des  Hofraums  er- 
blickt man  drei  Eingänge  von  Gemächern. 

Im  südlichen  Theil  des  Pallastcs  sind  ebenfalls  zwei  von  mehreren 
Gebinden  eingeschlossene  Höfe  enthalten.  Auf  dem  grösseren  Hof  steht 
ein  viereckiger,  pyramidaler  Thurm,  welcher  30  Fuss  breit  und  75 Fuss 
koch  ist.  Er  ist  aus  behanenen  Steinen  aufgeführt  und  hat  mehrere  Stock- 
werke ,  die  durch  breite  Karniefe  getrennt  sind.  Die  auf  den  Thurm  füh- 
rende Treppe  hat  auf  allen  vier  Seiten  Fenster  -  OelTnungen.  Das  oberste 
Stockwerk  ist  eingefallen.  Vom  Hof ,  auf  dem  4er  Thurm  sieht,  gelangt 
man  gegen  Osten  durch  zwei  Einginge  in  ein  langes  schmales  Gemach, 
das  mit  Figuren  in  Stiicco  verziert  ist.  Besonders  zn  beachten  ist  eine 
in  die  Wand  eingesetzte,  vier  Fuss  hohe  ovale  Steinplatte,  auf  der  zwei 
schone  Figuren  dargestellt  sind.  Von  ihr  hat  auch  Del  BSo  eine  Abla- 
dung (Taf.  13)  gegeben.  Die  Hauptfigur  stellt  ein  nacktes  Weib  dar, 
welchen  mit  unterschlagenen  Beinen  auf  einem  Thier  mit  Leopardenköpfen 
sitzt,  deren  Halse  mit  Perlachnttren  geschmückt  sind.  Die  Haltung  des 
Weibes  ist  gefällig  und  rahig.  Auf  dem  künstlich  geformten  Kopf  trägt 
es  einen  sonderbar  gestalteten  Schmuck,  nnd  in  den  Obren  befinden  sich 
laoge  Gehänge.  Um  den  Hals  ist  eine  Kette  geschlungen,  an  dem  ein 
grosses  Medaillon  hängt,  auf  dem  ein  Antlitz  mit  Strahlen  tu  erkennen 
ist,  welches  dem  Bilde  der  Sonne  gleicht.  Der  rechte  Arm  ist  gegen 
die  Brost  gebogen ,  nnd  der  linke  Arm  stützt  sich  anf  den  einen  Schen- 
kel. Die  Handgelenke  sind  mit  Armbändern  geziert,  die  Fasse  aber  sind 
nackt.  Vor  dieser  Figur  sitzt  eine  andere  weibliche  Figur  mit  gekreuz- 
ten Beinen,  deren  Kopf  ebenfalls  künstlich  geformt  ist.  Ausgezeichnet  ist 


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96  Stephens  und  Catherwood:   Ueber  Centrai-Amerika. 

sie  durch  eine  grosse,  gebogene  Nase.  Sie  ist  mit  einem  Brusttuch,  einem 
breiten  Gürtel  und  einer  Robe  bekleidet.  Auf  dem  Kopfe  trägt  sie  Pulz. 
Mit  beiden  aufgerichteten  Händen  reicht  sie  der',  auf  dem  doppelköpfigen 
Leoparden  oder  Panther  sitzenden  Figur  ein  hohes,  mit  einem  grossen 
Strauss  Federn  geschmücktes  Diadem.  Oben  an  der  Tafel  befinden  sich 
zu  beiden  Seiten  einige  eingegrabene  hieroglyphische  Figuren,  welche, 
wie  es  scheint,  die  Namen  bezeichnen.  Vor  dieser  Tafel  stand  ein  Altar, 
der  auf  Del  Rio**  Abbildung  dargestellt  ist. 

Es  ist  ferner  noch  ein  kleiner  Hofraum  vorhanden,  in  dessen  Um- 
gebung sich  viele  Gemacher  befinden,  die  aber  in  Ruinen  liegen. 

Stephens  schliesst  die  Beschreibung  des  prächtigen  Pallastes  mit  fol- 
genden Worten:  With  the  aid  of  tbe  plan,  the  reader  will  be  able  to 
find  bis  way  through  the  rnined  palace  of  Palenque;  he  will  form  some 
idea  of  Ute  profusion  of  its  Ornaments,  of  their  unique  and  striking  che- 
racter,  and  of  their  mournfull  eflect,  shrouded  by  trees;  and  perbaps 
with  him,  as  with  us,  faucy  will  present  it  as  lt  was  before  the  band 
of  r uin  had  swept  over  it ,  perfect  in  its  amplitude  and  rieb  decorations, 
and  occupied  by  the  stränge  people  whose  portraits  and  figures  dow 
adorn  its  walls. 

In  der  Umgegend  des  grossen  Pallastes,  die  überall  mit  Schult  und 
Trümmern  bedeckt  ist,  befinden  sich  noch  mehrere,  grossen  Theiis  mit 
hohen  Bäumen  bewachsene,  ziemlich  wohl  erhaltene  pyramidenförmige 
Bauwerke,  auf  deren  abgeplatteten  Spitzen  Gebäude  stehen,  welche  wahr- 
scheinlich Teocallis  oder  Tempel  waren.  Ihre  Lage  ist  auf  dem  Grund- 
plan  von  Palenque  angegeben.  Die  grösste  Pyramide  (Casa  Nr.  1)  stösst 
an  die  sttd-wesiliche  Ecke  des  Pallastes,  und  ist  an  der  schiefen  Fläche 
gemesseu  110  Fuss  hoch.  Zu  ihrer  Spitzo  führen  auf  allen  vier  Seiten 
Stufen.  Auf  der  abgeplatteten  Spitze  steht  ein  länglich  viereckiges,  66 
Fuss  langes  und  25  Fuss  breites  Gebäude,  zu  dem  von  der  Plattform  aus 
fünf  Eingange  führen.  Die  ganze  Facade  und  die  Pfeiler  zwischen  den 
Eingängen  sind  mit  menschlichen  Figuren  in  Stucco  verziert,  und  an  den 
Enden  der  Facade  sind  grosse  Tafeln  mit  Hieroglyphen  eingesetzt.  Auf 
einem  Pfeiler  erblickt  man  ein  Weib  mit  einem  reichen  Gürtel  versiert, 
welches  ein  nacktes  Kiud  trögt.  Die  Figuren  der  anderen  Pfeiler  haben 
sehr  gelitten,  doch  erkennt  man  noch  die  Ueberreste  von  Mausern  in 
reicher  Kleidung,  mit  Gurtein,  Helmen  und  Diademen,  die  mit  grossen 
Federbüschen  geschmückt  sind.  .  ,J 

•,»-..:•       \  >  (Fortsetzung  folgt.)      •   ■     V  /        '  , 

lr  i  tvfi  ♦ '  y  .  •  *   .'.    ./  ..  '  .  i*  -  ,    ••  tili  i  i  .1  ei  L.  -   ;  .     .       -         •    .1»  .  .  It  t 


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kl  HEIDELBERGER  1851. 

URRBÜCHER  DER  LITERATUR. 


Stephen»  und  rather w oo dt  Leber  Central- Amerika. 


(Fortsetzung.) 

Die  die  Figuren  einfassenden  Rahmen  zeigen  schöne  Ornamente,  and 
über  jeden  sind  Hieroglyphen  befindlich.  Die  an  dem  Endpfeiler  jeder 
Seite  eingesetzten  grossen  Tafeln  sind  ganz  mit  horizontal  laufenden  Rei- 
ben von  Hieroglyphen  bedeckt,  welche  schätzbare  Nachrichten  und  Auf- 
schlösse enthalten  mögen.  Von  einem  schmalen  Corridor  aus  gelangt  man 
durch  drei  Eingänge  in  drei  gesonderte  Gemficher.  In  der  Mitte  der  Rück- 
wand des  mittleren  grösseren  Gemachs  ist  eine  13  Fuss  lange  nnd  8  Fuss 
hohe  Tafel  eingelassen,  welche  ganz  mit  schönen  Hieroglyphen  bedeckt 
ist.    Dieser  merkwürdigen  Tafel  hat  weder  Del  Rio  noch  Dupaix  gedacht. 

Anf  einer  zweiten ,  8us  behauenen  Steinen  gebildeten  Pyramide  steht 
ein  50  Fuss  langes  und  31  Fuss  breites  Gebäude  (Casa  Nr.  2),  welches 
ebenfalls  drei  Eingänge  bat,  nnd  dessen  Pfeiler  auch  mit  Figuren  inSlucco 
▼entert  sind.    Im  Inneren  befindet  sich  ein  Altar,  Uber  dem  eine  grosse 
Tafel,  an  beiden  Seiten  mit  Reihen  von  Hieroglyphen  versehen,  aufge- 
richtet isl.    Diese  Tafel  haben  auch  Del  Rio  (Tuf.  VIII.)  und  Dupaix  ab- 
gebildet   In  der  Mitte  der  Tafel  erblickt  man  die  Figur  eines  grossen, 
reich  vertierten  Kreuzes,  welches  mit  seinem  Postament  auf  einem  scheuss- 
lichen  Thierkopf  ruht.    Anf  der  Spitze  des  reich  verzierten  Kreuzes  sitzt 
ein  grosser  Vogel  mit  langem  Schweif.    Zu  beiden  Seiten  des  Kreuzes 
steht  eio  Hann.    Der  Hann  rechts  ist  stark  und  hoch  gewachsen,  hat 
eine  Art  Bischoffsmütze  auf  dem  Haupte,  tragt  grosse  Ohrgehänge  und 
eine  lange  Schürze.    Hit  ausgestreckten  Armen  halt  er  gegen  das  Kreuz, 
wie  es  scheint,  ein  auf  einem  Tuche  liegendes  kleines  Kind.    Der  Mann 
tinks  ist  klein  und  steht  auf  einem  schön  verzierten  Postament,  er  bat  ein 
sonderbar  geformtes  Diadem  und  sehr  reiche  Kleidung.    Jener  scheint  ein 
Friesler,  dieser  ein  Cazike  oder  Fürst  zu  sein.    Auf  der  Tafel  befinden 
sieh  noch  mehrere  hieroglyphische  Zeichen.    Neben  dieser  Pyramide  fand 
Stephens  eine  auf  dein  Boden  liegende,  10  Fuss  6  Zoll  hohe  merkwür- 
dige Statue  eines  Mannes ,  die  einige  Aehnlichkeit  mit  einem  aegyptischen 
Priester  hatte. 

Nicht  weit  von  jener  Pyramide  befindet  sich  ferner  eine  dritte,  auf 
der  ein  38  Fuss  langes  und  28  Fusa  breites  schönes  Gebäude  mit  drei 
XLIV.  Jahrg.  1.  Doppelheft.  7 


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98  Stephens  und  Catherwood:   Ucber  Central- Amerika. 

Eingängen  steht.  (Casa  Nr.  3).    Auf  den  zwei  mittleren  Thürpfeilern  er- 
blickt man  zwei  menschliche  Figuren.    Es  hat  ein  reich  verliert«  brei- 
tes Karnies,  und  Uber  diesem  noch  einen  Aufsatz  mit  verschiedenen  Fi- 
guren.   Das  Gebäude  enthält  ein  mittleres  grosses  Gemach  und  zwei  klei- 
nere Settengemficher.    An  der  Rückwand  des  mittleren  Gemachs  ist  Uber 
einem  Altar  eine  grosse,   aus  drei  Stücken  bestehende  steinerne  Tafel 
eingesetzt,  deren  weder  Del  Rio  noch  Dupaix  gedacht  hat.  Stephens  hat 
sie  neben  dem  Titel  des  zweiten  Bandes,  mit  der  Bezeichnung:  To  biet  on  * 
the  back  Wall  of  Altar  Casa  Nr.  3 ,  abgebildet.    Auf  ihr  sieht  man  wie- 
der dieselben  sehr  schön  ausgeführten  Männer  in  aufrechter  Stellung, 
welche  sich  auf  der  Tafel  mit  dem  Kreuze  befinden,  denen  sie  in  den 
Gesichtszügen  uud  in  der  Kleidung  vollkommen  gleichen,  und  die  in  der 
Geschichte  Palenques  eine  wichtige  Rolle  gespielt  haben  müssen.    Beide  * 
stehen  auf  dem  Rücken  niedergebogener  Männer,   welche  sich  tuf  die 
Hände  und  Kniee  stutzen.    Der  hochgewachsene  Maon  rechts  halt  mit  * 
beiden  Händen  ein  Tuch,  auf  dem  ein  kleines,  mit  einem  Diadem  ge-  4 
schmttcktes  Kind  aufrecht  sitzt.    Der  kleine  Mann  links  trägt  mit  beiden 
Händen  ein  kleines  bässliches  Götzenbild.    Zwischen  beideu  Figuren,  am  , 
Fusse  der  Tafel ,  sitzen  zwei  alte  Männer  mit  gekreuzten  Beinen,  in  ganz 
gekrümmter  Stellung,  welche  auf  ihrem  Rücken  ein  reich  ornamentirtes 
Gestell  tragen.    Auf  diesem  ruhen  zwei  gekreuzte  Stäbe,  an  denen  in 
der  Mitte  ein  Schild  mit  einer  sebeusslichen  Maske  befestigt  ist.  Zu  bei- 
den  Seiten  jener  grossen  Tafel  mit  den  Figeren  ist  noch  eine  Tafel  mit  , 
sechszebn  Reihen  von  Hieroglyphen  vorhanden.  Unter  diesen  erblickt  man 
Menschen-  und  Thier -Köpfe,  und  Figuren  der  verschiedensten  Art,  deren 
Bedeutung  sich  nicht  errathea  lässt.    An  den  Pfeilern  des  Eingangs  zum 
mittleren  Gemach  standen  noch  Steinplatten  mit  menschlichen  Figuren  in 
erhabener  Arbeit,  welche  ausgebrochen  und  nach  dem  Dorfe  Palenqne  ge- 
bracht worden  sind,  wo  sie  Stepbeos  auffand.    Die  eine  an  der  rechten 
Seile,  welche  auch  Del  Rio  abgebildet  bat  (Tafel  X.),  stellt  einen  sta- 
benden alten  Mann  mit  einer  heim  artigen  Kopfbedeckung  und  einem  gros- 
sen Mantel  dar,  der  ein  Blase  -  Instrument  im  Monde  bat.    Die  Figur 
links,  ebenfalls  von  Del  Rio  abgebildet  (Tafel  VII.),  ist  ein  stehender 
Mann  mit  einem  grossen  Helm  und  einem  Federbusen  t  der  die  Figur  eines 
Vogels  hat,  welcher  einen  Fisch  im  Schnabel  halt.    Die  Brust  und  die 
Schultern  sind  von  einer  Brnstplatte  bedeckt,  in  deren  Milte  man  das 
Bild  der  Sonne  erkennt.    Uebrigens  trägt  die  Figur  einen  reichen  Gürtel, 
Armbänder  und  Sandalen.    Dem  Kopfe  gegenüber  sind  Hieroglyphen  ein- 
gegraben.  Südlich  von  der  ersten  grossen  Pyramide,  in  einer  Entfernung 


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Stephens  und  Calberwood:    Ueber  Central- Amerika.  99 

Yoa  1500  Fuss,  steht  an  einem  Bache,  auf  einem  scbrolTeu  Fe Ueii,  noch 
eioe  150  Fuss  hohe  Pyramide,  auf  deren  abgestumpften  Spitze  ein  zer- 
fallenes 20  Fuss  langes  und  18  Fuss  breites  Gebäude  ruht.    De«  Ein- 
gänge gegenüber  erblickt  man  eine  in  die  Mauer  eingesetzte  grosse  Tafel, 
auf  der  eine  männliche  Figur,  mit  einem  unterschlagenen  Bein,  auf  einem 
reich  verzierten  Polster  sitzt.    Der  Polster  liegt  auf  dem  Kücken  eines 
Leoparden  oder  Panther,  mit  zwei  Köpfen  und  vier  t Füssen,  der  mit 
Hals-  «od  Armbändern  geschmückt  ist,  und  eine  Art  Throne  darstellt. 
Del  Rio  hat  davon  bereits  eine  Abbildung  gegeben  (Tafel  XII.).  Der 
Scbidel  des  Mannes  weicht  sehr  zurück,  nnd  ist  von  einem  kleinen  Hein 
mit  Federbuseben  und  verschiedenen  Zierrathen  bedeckt.    Die  sehr  stark 
rortretende  Nase  ist  sehr  gekrümmt.    Um  den  Hals  ist  eine  Perlschnur 
geschlungen.    Von  den  mit  Armbändern  verzierten  Armen  ist  der  rechte 
ausgestreckt,  der  linke  aber  gebogen,  die  Hand  erhoben  und  der  Zeige- 
finger ausgestreckt.    Der  Oberleib  ist  nackt,  und  die  Hüften  sind  von 
einer  faltenreichen  und  mit  Fransen  besetzten  Schürze  bedeckt.    An  den 
nackten  Schenkel  sieht  man  Kaiebü nder  und  an  den  Füssen  reich  ver- 
zierte Sandalen.    Die  Figur  ruht  auf  dem  rechten  untergeschlagenen  Bein, 
während  das  linke  Bein  am  Polster  herabhangt  und  sich  auf  die  Zehen  »tlttzt. 
Diese  Figur  zeichnet  sich  vor  allen  durch  sehr  correcte  Zeichnung  aus. 

Diess  sind  die  wichtigsten  Ergebnisse  der  mehrere  Wochen  lang  mit 
grösstesn  Fleisse  und  vielen  Anstrengungen  von  Stephens  angestellten  Un- 
tersuchungen der  merkwürdigen  Ruinen  Palenques,  welche  Catherwood 
durch  eine  sehr  grosse  Anzahl  schöner  Abbildungen  erläutert  hat.  Am 
Schlüsse  tilgt  er  folgende  Bemerkung  bei:  Wnat  we  bad  before  onr  eyea 
was  grand ,  enrious  and  remarkable.  Here  were  the  reraaina  of  a  colli— 
rsted,  polisned,  and  peculiar  people,  who  had  passed  trough  all  the 
stages  incident  to  the  rise  and  fall  of  naiions;  reacbed  tbeir  golden  age, 
and  perished  entirely  uoknowo.  The  links  which  connected  them  with  the 
human  tamily  were  severed  and  lost,  and  these  wäre  the  only  memo- 
rinls  of  tbeir  footsteps  upon  eartb.  We  liwed  in  the  ruined  palace  of 
their  kings;  we  went  np  to  their  desolate  temples  and  fallen  alters;  and 
itooff  we  moved  we  saw  tbo  evidences  of  their  taste,  their  skill  in 
«rts,  tbek  wealtb  and  power. 

In  <ien  Äwssartigen  und  prächtigen  «Bauwerken  Palenque's  bat  der 
Gesolinfattiors^ier  unleugbar  die  Houumeutc  eines  VnHei  vor  Augen,  wei- 
tes mit  eimer  Jkohwi  Stufe  der  Cultur  stand.  Welches  Volk  diess  aber 
war,  zu  welcher  Zeit  es  blühte,  wann  es  die  schönen  Bauwerke  auf- 
diircb  welche  llande  sio  zerstört  wurden,  das  ist  gänzlich 


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100  Stephens  and  Catherwood:    Ueber  Centrai-Amerika. 

unbekannt  und  in  tiefes  Dunkel  gehüllt.  Könnte  man  die  vielen  im  Paf- 
laste  und  in  den  Tempeln  angebrachten  Figuren  und  Hieroglyphen  deuten 
und  verstehen,  die  sich  sicherlich  auf  seine  Geschichte  beziehen ,  dann 
wären  die  Räthsel  gelöst.  So  viel  kann  wohl  als  gewiss  angesehen  wer- 
den, dass  Palenquö  bereits  Hingst  zerstört  war,  da  die  spaoischen  Er- 
oberer den  Boden  des  neuen  Continents  betraten ,  indem  keiner  seiner  ge- 
dacht hat.  Wäre  es  in  der  Zeit  noch  bewohnt  gewesen,  da  Cortez  im 
Jahr  1524  seinen  Eroberungszug  von  Mexico  nach  Honduras  antrat,  der 
mit  so  grossen  Beschwerden  und  Mühseligkeiten  verbunden  war,  so  würde 
er  gewiss  nicht  unterlassen  haben  Palenque"  zu  erobern  und  zu  plündern. 
Bei  seinem  Marsch  am  See  Peten  war  er  nur  wenige  Meilen  von  ihm 
entfernt,  da  er  im  Dorfe  Las  Tres  Croces  sein  Hauptquartier  hatte,  wo 
er  angeblich  drei  Kreuze  aufrichten  Hess.  Damals  scheint  das  Andenken 
an  Palenqoe  selbst  bei  den  Indianern  schon  ganz  erloschen  gewesen  zu 
sein.  Ueber  die  alte  Stadt  und  ihre  Erbauer  herrschen  nur  Muthmassun- 
gen.  Der  gelehrte  Dr.  Cabrera  glaubte  in  den  Ruinen  das  alteHuehuet- 
lapallan  entdeckt  zu  haben,  welches  er  für  eine  phönicische,  cananüische 
oder  carthaginensische  Pflanzstadt  hielt.  Andere  meinten  in  denselben  die 
alte  Stadt  Culhuacan  zu  erkennen. 

Am  vierten  Juny  verliess  Stephens  mit  seinem  Begleiter  das  stille 
und  friedliche  Dorf  Palenqu6,  naehdem  der  wackere  Cura,  der  Alcade 
und  die  gutmttthigen,  freundlichen  Indianer,  Männer,  Franen  nnd  Kinder, 
unter  Thränen  herzlichen  Abschied  genommen  und  zur  baldigen  Wieder- 
kehr eingeladen  hatten.  Die  Reisenden  schlugen  den  nächsten  Weg  durch 
die  Ebene  nach  dem  gegen  fünf  Tagereisen  entfernten  Golf  von  Mexico 
ein.  Sie  erreichten  bald  den  Rio  Chicho,  auf  dem  sie  in  einem  leichten 
Canot  in  den  grossen  Fluss  Usumasinta  und  die  Lagunas  de  Termine«  ge- 
langten, an  denen  die  Provinzen  Tabasco,  Cbiapas  und  Yucatan  zusam- 
menstossen.  In  der  auf  der  Insel  Carmen  gelegenen  Stadt  Lagnna  be- 
stiegen sie  eine  nordamerikanische  Brig,  welche  sie  in  wenigen  Tagen 
nach  dem  Hafen  von  Sisal  führte,  von  wo  sie  sich  sogleich  nach  Merida, 
der  Hauptstadt  Yucataus,  begaben. 

Nach  einem  kurzen  Aufenthalt  daselbst  fasste  Stephens  den  Ent- 
schluss,  die  Ruinen  der  20  Leguas  von  Merida  entfernten  alten  Stadt 
Uxmal  tu  besuchen.  Ihr  früherer  Name  ist  unbekannt,  man  hat  ihr  den 
Namen  Ouchmal  beigelegt,  was  vergangene  Zeit  bedeutet  Die  alten  Bau- 
werke bat  zuerst  Cogolludo  (Historie  de  Yucatan.  Madrid  1688.  Ltb.  4 
Cap.  2)  in  der  Mitte  des  siebenzebnten  Jahrhunderte  besucht.  Er  spricht 

von  ihnen  mit  Bewunderung,  als  von  Werken  vollendeter  Baukünstler, 

» 


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Stephens  and  Catherwood:   Ueber  Centrai-Amerika.  101 

deren  Namen  die  Geschichte  nicht  aufbewahrt  habe.  Im  Jahr  1835  ver- 
weilte daselbst  der  Maler  Friedrich  von  Waldeck,  der  auf  Kosten  seines 
Gönners,  des  Lord  Kingsborougb ,  eine  Reise  nach  Mittel-Amerika  unter- 
nommen hatte.  Seiner  Absicht,  die  alten  Monamente  zu  beschreiben  und 
abzubilden,  widersetzte  sich  aber  die  Regierung,  worüber  er  sich  also 
äussert:  Malheur eusement  ma  lache  n'a  pu  £tre  acheve.  Les  obstacles  in- 
snrmontables,  que  le  Gouvernement  de  la  Republique  Mexicaine  a  op- 
poses  a  fexecntion  de  mes  projets,  nTont  empeche  de  compleler  mon 
oeuvre  d'investigation.  Das  unvollendete  Werk  erschien  unter  dem  Titel: 
Voyage  pittoresque  et  archeologique  dans  la  Province  de  Yucatan  pen- 
dsnt  les  ann.es  1834—36,  dedie  ä  la  Memoire  de  feu  le  Vicomle  de 
Kingsborougb.  Paris  1838.  gr.  fol. 

Die  Ruinen  der  einst  sehr  grossen  und  volkreichen  Stadt  liegen  in 
einem  weit  oasgedehnten  Walde,  an  der  Westseite  eines  Bergabhangs, 
vier  Leguas  von  der  Stadt  Nohcacab  entfernt.  Seit  anderthalb  Jahrhun- 
derten sind  sie  mit  allen  Ländereien  der  Umgegend  im  Besitze  der  Spa- 
nischen Familie  Peon ,  die  sich  in  Yucatan  niedergelassen  und  in  der  Nähe 
eiae  schöne  Hacienda  errichtet  hat.  Der  Name  der  Stadt,  die  Erbauer 
derselben,  sowie  die  Zeit  der  Zerstörung  ist  den  jetzigen  Besitzern  gänz- 
lich unbekannt,  und  darüber  habeo  sich  unter  den  Indianern  selbst  keine 
Sagen  erhalten.  Wahrscheinlich  war  sie  lange  vor  der  Ankunft  der 
Spanier  zerstört.  Waldeck  hielt  sie  ohne  hinlänglichen  Grund  für  die  alte 
Stadt  Itzalane.  In  spanischen  Urkunden  werden  die  Ruinen  Las  Casas  de 
Piedra  genannt 

Mit  aller  Gastfreundschaft  wurden  die  Reisenden  von  Don  Simon  de 
Peon  in  seiner  Hacienda  aufgenommen  und  ihnen  alle  Hülfe  bei  der  Un- 
tersuchung der  Ruinen  zugesagt.  Da  der  Wald  seit  Waldecks  Besuch 
grossen  Tbeils  abgeräumt  war,  so  gewährten  die  vielen  prächtigen  Bau- 
werke einen  grossartigen  Anblick,  der  die  eifrigen  Forscher  mit  Freude, 
Staunen  und  Bewunderung  erfüllte.  Sogleich  schritten  sie  zur  Verferti- 
gung eines  Grundrisses,  zu  Ausmessungen  und  Zeichnungen.  In  Folge 
der  grossen  Anstrengungen  wurde  aber  Catherwood  bald  von  einem  hef- 
tigen Fieber  befallen,  das  ihn  nöthigte  seine  Arbeiten  einzustellen.  Da 
ihn  das  Fieber  nicht  verliess,  seine  Gesundheit  auch  durch  die  früheren 
Strapatzen  der  Reise  in  einem  heissen  Lande  erschüttert  war,  und  der 
Aufenthalt  in  der  Hacienda  bei  der  Nähe  von  stehendem  Wasser  in  die- 
ser Ukreneil  ungesund  war,  so  fassten  sie,  wiewohl  ungern,  den  Ent- 
schloss ,  ihre  Untersuchungen  aufzugeben  und  schnell  nach  Merida  zurück- 
zukehren.   Ihr  Vorsatz  war,  die  Arbeiten  unter  günstigeren  Verhältnissen 


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102  Stephens  und  Catherwood:   Ueber  Central-Amerika. 

wieder  aufzunehmen.  Sobald  es  der  Zustand  Calherwoods  erlaubte,  bc- 
gaben  sie  sieh  nach  Sisal,  wo  sie  eine  Spanische  Brig  bestiegen  und  Ende 
July  wieder  in  New- York  eintrafen. 

Schon  im  nächsten  Jahre  kehrte  Stephens,  von  Wisshcgierde  ge- 
trieben, mit  Catherwood  nach  Yucatan,  dem  Lande  der  alten  Denkmäler, 
zurück.    Es  hatte  sieh  ihnen  Doctor  Cabot  ans  Boston,  ein  eifriger  Or- 
nithologe,  angeschlossen,  der  die  Vögel  Yacatans  kennen  zu  lernen 
wünschte.    Die  sehr  schätzbaren  Forschungen  der  zweiten  Reise  sind  in 
dem  anderen  Werke  enthalten,  welches  den  Titel  führt:  Incidents  of  Tra- 
vel in  Yucatan,  und  das  ebenfalls  mit  einer  grossen  Anzahl  von  Grund- 
rissen und  Zeichnungen  ausgestaltet  ist,  wodurch  die  Beschreibungen  ver- 
ständlicher werden.    Es  wurden  die  grossartigen  Leberreste  von  mehr  als 
vierzig,  in  Waldungen  verborgen  liegender  alten  Städte  der  Vorzeit  mit 
ihren  Pyramiden,  Tempeln  und  PaDästen  besucht,  welche  Zeugniss  able- 
gen für  die  einst  in  diesem  räthselhaften  Lande  lebende  grosse  Bevölke- 
rung und  den  Grad  einer  früheren  hohen  Crvifisation,  Ober  welche  die 
Conquistadoren  nur  spärliche  und  ungenügende  Nachrichten  gegeben  ha- 
ben.   Das  Dasein  der  alten  Denkmäler  war  selbst  den  meisten  Bewoh- 
nern Meridas  unbekannt,  und  nur  wenige  spanische  Geistliche  hatten  eine 
oder  die  andere  Ruine  besucht.    Die  Zeit  und  die  Elemente,  und  vor  allen 
die  Hegengüsse  der  Tropen  werden  die  völlige  Zerstörung  der  merkwür- 
digen Bauwerke  bald  herbeifahren ,  und  nach  wenigen  Generationen  wer- 
den die  schönen  Facaden  mit  ihren  prachtvollen  Skulpturen  und  Orna- 
menten von  den  Wurzeln  mächtiger  Büume  Uberwachsen  und  zersprengt, 
nnter  Schutt  und  Trümmern  vergraben  liegen,  noch  ehe  das  Zeitalter,  io 
dem  sie  erbaut,  und  die  Erbauer  selbst  erforscht  sind.    Zum  lebhaftesten 
Dank  fühlen  wir  uns  daher  den  eifrigen  Forschern  verpflichtet,  dass  sie 
uns  durch  ihre,  mit  so  grossen  Entbehrungen  und  Anstrengungen  ver- 
bundene Reise  die  Kenntniss  jener  Monumente  verschafft  haben.  Und  ge- 
wiss wird  eine  Zeit  kommen,  in  der  sie  überraschende  Aufschlüsse  Ober 
die  so  dunkle  Geschichte  des  neuen  Continents  geben  werden.    Die  bei- 
gefügte Karte  von  Yucatan  mit  der  Reiseroute  und  den  Orten,  an  denen 
sich  Ruinen  befinden ,  wird  künftigen  Forschern  sehr  willkommen  sein. 

Nach  einem  kurzen  Aufenthalte  zu  Bierida ,  um  die  nuthigen  Vor- 
kehrungen zur  Reise  zu  treffen,  begab  sich  Stephens  am  12.  November 
1840  nach  Uxmal,  um  die  Untersuchungen  der  Ruinen  fortzusetzen, 
welche  im  vorhergehenden  Jahre  durch  die  Krankheit  CathcrwootTs  un- 
terbrochen wurden.  Auf  dem  Wege  dahin  machten  sie  einen  Abstecher 
nach  den  Ruinen  von  Mayapan.   welches  einst  die  Hauptstadt  des  alten 


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md  Catherwood:   Ueber  Centrai-Amerika.  103 

Landes  Maya  war.    Diese  liegen  südöstlich  acht  Legaas  von  Merida  ent- 
fernt und  nehmen  eine  grosse  mit  bobem  Wald  bewachsene  Flache  ein. 
Der  Major  domo  der  in  der  Nähe  befindlichen  Hacienda,  San  Joaquin, 
welcher  den  Fuhrer  machte,  sagte  ans,  dass  die  grosse  alte  Stadt  ein- 
stens von  einer  sehr  dicken  Mauer  umgeben  war,  von  der  man  noch  jetzt 
im  Walde  an  vielen  Stellen  Ueberreste  finde.    Man  gelaugte  zunächst  zu 
einem  60  Fuss  hohen,  offenbar  künstlich  aufgeführten  pyramidalen  Hügel, 
n  dem  auf  vier  Seiten  20  Fuss  breite  steinerne  Treppen  führten.  Auf 
der  Spitze  des  Hügels  befand  sich  eine  aus  behauenen  Steinen  gebildete 
Plattform,  welche  15  Fuss  im  Durchmesser  hielt,  und  wahrscheinlich  der 
Opferplati  war.    Ueberall  im  Walde  zerstreut  lagen  mit  schönen  Sculp- 
turea  verzierte  Steine.    Auf  mehreren  erkannte  man  Figuren  von  Men- 
schen und  Tbieren.    Es  fanden  sich  noch  mehrere  solcher  Hügel  und  auf 
einem  stand  ein  rundes  thurmartiges,  steinernes  Gebäude,  welches  24  Fuss 
Zu  einem  einzigeo  Gemach  führte  eine  Thüre.    Das  Innere 
nr  mit  Slucco  bekleidet,  der  mit  rother,  gelber,  blauer  und 
Farbe  bemalt  war.    An  die  Südseite  des  Gebindes  stiess  eine 
Terrasse,   auf  der  eine  doppelte  Reihe  acht  Fuss  hoher  Säuleo  stand, 
welche  aus  runden,  2i/2  Fuss  im  Durchmesser  haltenden  Steinen  aufge- 
i,  die  jedoch  keine  Cepitaler  hatten.    Nach  der  Untersuchung 
n  sieh  die  Reisenden  nach  der  Hacienda  von  Uxtna!, 
wo  sie  sogleich  Leute  und  Lebensmittel  tu  den  alten  Bauwerken  mit  sich 
nahmen ,  um  in  denselben  längere  Zeit  zu  verweilen.    Sie  fanden  bald  in 
einem  noch  wohl  erhaltenen  Gebäude  ein  passendes  Gemach ,  aus  dem  sie 
durch  ein  angezündetes  Feuer  die  Fledermäuse  und  Musquitos  vertrieben, 
und  den  Schutt  wegräumten,  so  dass  sie  schon  Abends  die  Hängematten 
befestigen  konnten.    Eine  alte  Indianerin  kam  jeden  Morgen  von  der  Ha- 
cienda, um  Tortillas  zu  bereiten  und  das  Kochen  zu  besorgen,  und  ein 
Indianer  -  Knabe  wurde  ihr  Diener.    Am  anderen  Morgen  begannen  sie 
die  Arbeite«,  und  es  wurde  zuerst  ein  Siluations  -  Plan  der  Gebäude 


Die  sehr  zahlreichen  und  grossartigen  Bauwerke  bestehen  theils  aus 
Pyramiden,  welche  nus  behauenen  Steinen  aufgeführt  sind ,  und  auf  deren 
Plattform  Tempel  oder  Teocallts  ruhen;  theils  sind  es  prachtvolle,  auf  ho- 
hen Terrassen  stehende  Pallüste,  mit  den  schönsten  und  reichsten  Sculp- 
tureo  geziert.  Ausserdem  finden  sich  noch  viele  in  der  ganzen  Umge- 
gend, im  Walde  zerstreute  Gebäude,  deren  Bestimmung  sich  nicht  er- 
auffein  lies».  Ans  den  auf  einer  grossen  Fläche  ausgebreiteten  Bauwerken 
man  folgern,  dass  hier  einst  eine  sehr  volkreiche  Stadt  stand. 


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104  Stephens  und  Calberwood:   lieber  Centrai-Amerika. 

Refer.  wird  sich  bemühen»  in  möglichster  Kürze  Nachrichten  über  die 
wichtigsten  Monumente  mitzutheilen. 

Das  grösste  und  interessanteste  Gebäude  steht  neben  einer  verfal- 
lenen'Pyramide  auf  drei  Uber  einander  liegenden  Terrassen,  die  aus  bc- 
hauenen  Steinen  gebildet  sind.  Wahrscheinlich  war  es  ein  königlicher 
Pallast.  Man  hat  ihm  den  Namen  Casa  del  Gobernador  beigelegt.  Von 
seiner  prachtvollen  Fac.ade  ist  eine  grosse  Abbildung  gegeben.  Die  un- 
terste Terrasse,  welche  nur  eine  Höhe  von  3  Fuss  hat,  ist  675  Fuss 
lang  und  15  Fuss  breit.  Die  zweite  Terrasse  ist  20  Fuss  hoch,  545  Fuss 
lang  und  250  Fuss  breit.  Die  dritte  Terrasse  endlich,  zu  der  man  auf 
einer  sehr  breiten  Treppe  aufsteigt,  hat  eine  Höhe  von  90  Fuss,  ist  30 
Fuss  breit  und  360  Fuss  lang.  Auf  dieser  steht  der  Pallast,  ein  läng- 
lich viereckiges  Gebäude,  dessen  Facade  322  Fuss  lang  ist.  Er  ist  ganz 
aus  bebauenen  Steinen  aufgeführt  und  besteht  nur  aus  einem  Stock  zu 
ebener  Erde  mit  einem  gegen  15  Fuss  hoben,  aufs  reichste  verzierten 
Karniess  und  einem  Fries,  welches  um  das  ganze  Gebäude  läuft.  Jeder 
einzelne  Stein  des  Kranzgesimses  hat  seine  besonderen  Ornamente,  und 
die  Steine  sind  mosaikartig  zu  Greques,  Arabesken,  Mäandern  und  ver- 
schiedenen anderen  Figuren  zusammengefügt  und  verbunden,  so  dass  dos 
ganze  Karniess,  wie  sich  Stepbens  ausdrückt,  a  sculptered  Mosaic  dar- 
stellt. Von  der  oberen  Terrasse  führen  vorn  eilf  grosse  Eingänge  und 
zwei  an  den  Seiten  in  das  Innere  des  Gebäudes ,  und  zwar  gleich  in  Ge- 
mächer. Der  mittlere  Eingang  ist  der  grösste  und  der  am  meisten  durch 
schöne  Sculpturen  verzierte,  unter  denen  man  auch  bieroglyphische Figu- 
ren erkannte.  In  grösseren  Zwischenräumen  sieht  man  aus  den  Karniess 
hakenförmige,  1  Fuss  7  Zoll  lange,  ebenfalls  verzierte  Steine  hervor- 
treten. Fälschlich  wähnte  Waldeck  darin  Elephanten  -  Rüssel  zu  erkennen, 
womit  Stephens  aber  keine  Aebnlichkeit  fand.  Refer.  hält  sie  für  blosse 
Haken,  welche  bestimmt  waren,  die  Stangen  von  grossen  dachförmigen 
Vorhängen  oder  Matten  zu  tragen,  welche  zeltartig  ausgespannt,  die  Ein- 
gänge beschatteten  und  das  Eindringen  der  Sonnenstrahlen  und  des  Regens 
in  die  Gemächer  verhinderten. 

Der  Pallast  enthält  zwei  Reihen  schmaler,  länglich  viereckiger  Zim- 
mer, von  denen  die  beiden  mittelsten,  in  welche  der  Haopteingang  führt, 
die  geräumigsten  sind.  Jedes  Zimmer  der  vorderen  Reibe  steht  durch 
eine  schmale  Thttre  mit  einem  Zimmer  der  hinteren  Reihe  in  Verbindung. 
Erstere  waren  wohl  die  Wohnzimmer,  letztere  die  Schlafzimmer.  Die 
Zahl  aller  Gemächer  beträgt  vier  und  zwanzig.  Fenster  -  Oeffnungen  sind 
nirgends  vorhanden ,  Licht  uod  Luft  hatten  daher  nur  durch  die  Eingänge 


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Stepbeos  und  Cathcrwood:    Ueber  Ccntral-Amcrika.  105 

Zatrilt,  und  diese  wurden  wohl  in  der  Nacht  durch  Vorhänge  geschlos- 
sen. Die  Gemacher  sind  hoch  und  die  Decken  laufen  oben  spitz  oder 
pyramidenartig  zu.  Sie  sind  nicht  aus  Holz  gebildet,  sondern  sie  beste- 
ben aus  grossen,  horizontal  gelegten  und  gegen  einander  vortretenden 
behauenen  Steinen,  und  stellen  also  keine  bogenförmig  gesprengte  Ge- 
wölbe dar.  Holz  fand  sich  nur  hin  und  wieder  an  den  ThUrschwellen, 
und  die»  war  meistens  vermodert.  An  den  glatten  Wänden  zeigten  sieb, 
noch  deutliche  Spuren  verschiedener  Farben,  besonders  häufig  sah  man 
rotbe  Abdrucke  von  Händen  mit  ausgespreizten  Fingern.  Auch  erblickte 
man  in  mehreren  Gemächern  Vertiefungen  in  den  Wänden,  in  denen  wohl 
die  Stangen  zum  Befestigen  der  Hängematten  eingefügt  waren.  An  der 
Südseite  des  Pallastes  befand  sich  eine  3  Fuss  hohe  und  15  Fuss  breite 
Terrasse,  auf  der  man  üeberreste  von  18  Zoll  dicken  Säulen,  ohne  Fuss- 
gestelle und  Capitäler  wahrnahm. 

Beim  Graben  in  einiger  Entfernung  von  der  Casa  del  Gobernador 
fand  man  eine  steinerne  Figur,  die  ein  monströses  Thier  darstellte,  wel- 
ches aus  zwei  im  Körper  verbundenen  katzenartigen  Tbieren  besteht, 
deren  Köpfe  nnd  VorderfUise  nach  entgegengesetzten  Seiten  gerichtet 
sind.  Stephens  sagt:  It  seems  intended  to  represent  a  double  beaded 
cat  or  lynx.  Seine  Länge  betrug  3  Fuss  2  Zoll  und  seine  Höbe  2  Fuss. 
Beachtongs werlh  ist,  dass  ähnliche  steinerne  Figuren  in  den  Ruinen  zu 
Copan  und  Palenque  gefunden  wurden. 

Seitlich  von  der  Casa  del  Gobernador,  auf  der  zweiten  Terrasse, 
steht  noch  ein  anderes  kleines  länglich  viereckiges  Gebäude,  welches  im 
der  Fronte  94  Fuss  lang  und  34  Fuss  breit  ist,  und  einfachere  Verzie- 
rungen hat.  Ausgezeichnet  ist  es  durch  eine  Reibe  von  Schildkröten,  die 
sich  im  Karniess  befindet.  Nach  diesen  hat  man  ihm  den  Namen  des 
Hauses  der  Schildkröten  (Casa  de  las  Tortugas)  beigelegt.  Im  Inneren 
ist  es  ganz  verfallen.  Mutmasslich  war  es  ein  Wirtbschafts  -  Gebäude, 
vielleicht  eine  Küche. 

Nordlich  vom  Pallast  liegen  auf  hohen  Terrassen  vier  grosse  pracht- 
volle Gebäude,  die  einen  länglich  viereckigen  Hofraum  einschliessen ,  der 
258  Fuss  lang  und  214  Fuss  breit  ist.  Gegen  diesen  sind  die  reich  ver- 
tierten Faceden  der  Gebäude  gekehrt.  Ihrer  bat  zuerst  der  Padre  Co- 
golkdo  gedacht,  unter  dem  Namen  Conventos  de  las  Monjas  del  fuego, 
ia  denen  der  Sage  nach  einst  Jungfrauen  ein  ewiges  Feuer  unterhalten 
maulen.  Das  grösste  gegen  die  Casa  del  Gobernador  gerichtete  Gebäude 
ist  279  Fuss  lang  und  hat  in  seiner  Mitte  einen  10  Fuss  breiten  Thorweg, 
der  in  den  grossen  Hofraum  führt.    Zn  beiden  Seiten  desselben  sind  noch 


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106  Stephens  und  Cntherwood:   üeber  Centrai-Amerika. 

vier  kleinere  Eingänge  vorhanden ,  durch  die  man  in  eine  Reihe  Gemacher 
tritt.  Das  rechts  gelegene  Gebäude  ist  158  Fuss  lang  und  das  links 
173  Fusb.  Diese  beiden  Gebäude  haben  keine  Eingänge  von  aussen,  alle 
ihre  zahlreichen  Thür  -  Oeflnungen  gehen  auf  die  gegen  den  Hof  gekehr- 
ten Terrassen.  Bei  dem  Eintritt  durch  den  grossen  Thorweg  gewähren 
die  Facaden  jener  Gebäude  einen  imposanten  Anblick.  Alle  haben  sehr 
hohe,  mit  den  schönsten  und  reichsten  Mosaik -Sculptaren  der  verschie- 
densten Art  geschmückte  Karniesse.  Zwischen  denselben  erblickt  man  an 
dem  mittleren  Hanpt- Gebäude  zwei  sich  umschlingende  colossale  Klap- 
perschlangen ,  welche  mit  ihren  Krümmungen  die  grossen  Felder  und  Ab- 
theilungen der  Ornamente  umziehen.  Neben  dem  Thorweg  sieht  man  den 
mit  einer  Federkrone  geschmückten  Kopf  der  einen  Schlange,  welcher 
sieh  unter  der  Klapper  des  Schwanzes  der  anderen  Schlange  befindet. 
Im  weit  geöffneten  Rachen  nimmt  man  den  Kopf  eines  Menschen  wahr. 
Aach  Waldeck  hat  davon  eine  Abbildung  gegeben  (PI.  XIII. ).  In  den 
Ornamenten,  die  zum  Tbeil  sehr  gelitten  haben,  lassen  sich  Köpfe  and 
Figuren  von  Menschen  erkennen. 

Dis  vierte  Gebäude  endlich ,  welches  dem  grossen  Thorweg  gerade 
gegenüber  auf  einer  20  Fuss  hohen  Terrasse  liegt,  hat  eine  Lfinge  von 
264  Fuss.  Zn  ihm  führt  zwischen  zwei  kleinen  Gebäuden  eine  95  Fuss 
breite  Treppe,  die  aber  sehr  verfallen  ist  Seine  Höhe  betrügt  bis  zum 
Karniess  25  Fuss,  uud  mit  diesem  42  Fuss.  Es  hat  13  Eingange,  durch 
die  man  in  zwei  Reiben  von  Gemächern  gelangt.  Auch  die  Facade  die- 
ses Gebäudes  ist  mit  reichen  Mosaik -Ornamenten  geschmückt,  die  sehr 
verwickelt  sind.  Hin  nnd  wieder  erblickt  man  menschliche  Figuren,  zwei 
sind  mit  musikalischen  Instrumenten  dargestellt,  von  denen  eins  Ärmlich- 
keit mit  einer  kleinen  Harfe,  das  andere  mit  einer  Guitarre  hat.  Eine 
dritte  Figur  bat  eine  sitzende  Stellung ,  und  ihre  Arme  sind  auf  der  Brust 
gekreuzt. 

An  dem  rechts  vom  Haupteingange  befindlichen  Gebüude  ist  die 
Facade  am  besten  erhalten,  und  man  sieht  fünf  in  das  Innere  der  Ge- 
mächer führende  Thür  -  Oeflnungen.  Sein  hohes  Karniess  ist  sehr  schön 
verziert.  Ueber  dem  mittelsten  grossen  Eingang  »befindet  sich  ein  gros- 
ses Ornament,  und  über  den  kleineren  Eingängen  erblickt  man  Masken 
mit  ausgestreckter  Zunge.  Zwischen  diesen  verlaufen  vorspringende  ho- 
rizontale Linien,  an  deren  Enden  Schlangenköpfe  mit  weit  geöffneten 
Rachen  angebracht  sind.  Waldeck  hat  die  Facade  dieses  Gebäudes  ab- 
gebildet (PI.  16),  und  nennt  es,  man  weiss  nicht  warum,  den  Sonnen- 
tempel.   Sehr  reich  verziert,  mit  grossen  gitterartigen  Feldern,  sind  die 


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Stephens  und  Calherwood:   Ueber  Cenlrnl-Amcrika.  107 

Ecken  dieses  Gebäudes.  Alle  Fanden  der  Tier  Gebäude  des  Hauses  der 
Nonnen  waren  bemalt,  und  Spuren  der  Farben  waren  noch  deutlich  zu 
erkennen.  Stephens  scbliesst  seine  Beschreibung  mit  folgenden  Worten : 
The  reader  may  imagine  what  the  eflect  must  have  been  when  all  litis 
buildiugs  was  entire,  and  according  to  its  supposed  design,  in  its  now 
desolate  doorways  stand  noble  Maya  maidens,  like  the  vestal  virgins  of 
the  Romans,  to  cberish  and  keep  alive  the  sacred  (Ire  burning  in  the 
temples. 

Waren  jene  Gebäude  wirklich,  wie  die  Sage  geht,  von  Jungfrauen 
für  einen  religiösen  Cultns  bewohnt,  so  mnss  die  Zahl  derselben  sehr 
gross  gewesen  sein;  denn  es  finden  sich  in  denselben  28  Gemächer.  Auf 
dem  grossen  Hofraum  wurde  noch  ein  Kreis  von  behauenen  Steinen 
wahrgenommen,  und  in  diesem  stand  ein  grosser  altarförmiger  Stein. 
Platten  mit  eingegrabenen  Schildkröten  aber,  deren  Wal  deck  hier  gedenkt 
und  eine  abbildet,  bat  Stephens  beim  Graben  nicht  aufgefunden. 

Seitlich  ?om  Hause  der  Nonnen,  und  von  ihm  durch  einen  Hof- 
raum  getrennt,  steht  eine  grosse,  ganz  aus  behauenen  Quadersteinen  auf- 
geführte Pyramide,   auf  deren  Plattform  sich  ein  Tempel  oder  Teocatli 
erhebt.    Waldeck  hat  ihr  den  Namen  der  Pyramide  Kingsboroughs  bei- 
gelegt.   Stephens  und  Calberwood's  Beschreibungen  und  Abbildungen  der- 
selben weichen  gar  sehr  von  denen  jenes  Reisenden  ab.    Die  Pyramide 
ist  an  der  Grundfläche,  soweit  sieh  bei  dem  Schott  der  herabgefallenen 
Steine  ermitteln  liess,  gegen  255  Fuss  lang,  155  Fuss  breit  und  88  Fuss 
hoch.    An  der  Ost  seile  führt  eine  sehr  breite,  steile,  aus  steinernen  Stu- 
fen gebildete  Treppe  zur  Plattform.    Man  zahlte  mehr  als  hundert  Stufen, 
von  denen  viele  zerfallen  waren.    Auf  der  aus  grossen  Steinen  gebilde- 
ten Plattform  steht  ein  langes,  schmales  Gebäude,  der  eigentliche  Tempet 
oder  das  Teocalli,  welches  72  Fnss  lang,  aber  nur  12  Fuss  breit  ist, 
und  ganz  aus  behauenen  Steinen  aufgeführt  ist.    Rings  um  das  Gebäude 
teaft  ein  hohes,  reich  verziertes  Karniess,  welches  schön  gearbeitete 
Seulpturen  enthalt,  die  ans /sehr  grotesken  Grecs,  Arabesken  und  Mäan- 
dern bestehen,  und  ans  kleinen  Steinen  mosaikartig  zusammengesetzt  sind. 
Zwischen  ihnen  erbliekt  man  Köpfe  von  Menschen  und  Tbieren,  sowie 
Laubwerk  nnd  Blumen  verschiedener  Art.    Das  Ganze  macht  einen  gross- 
artigen  Eindruck. 

Das  Gebäude  enthält  drei  Gemächer,  in  die  von  der  Plattform  aus 
drei  Tnfireo  fahren.  Die  Wände  der  Gemächer,  von  denen  das  mittlere 
das  grösste  ist,  «nd  glatt  poliert,  ohne  alle  Verzierungen.  Nach  Cogol- 


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10t*  Stephens  und  Catherwood:   Ueber  Centrai-Amerika. 

ludo  sollen  io  den  Gemächern  Idole  gestanden  haben,  ond  hier  wurden 
auch  wohl  die  Opfer  gebracht 

Von  diesem  höchsten  Gebäude  fuhrt  noch  ein  aus  Cement  gebilde- 
ter breiter  Pfad  zu  einem  seitlich  gelegenen  Vorsprung  mit  einer  Platt- 
form, auf  dem  ein  kleineres  Gebäude  ruht.  Aeusserlich  ist  es  auf  ähn- 
liche Weise  reich  wie  jenes  verziert.  Durch  eine  Thüre  gelangt  man  in 
ein  zwölf  Fuss  hohes  Gemach,  dessen  Wände  aus  glatt  polierten  Steinen 
bestehen.  Dieses  Gebäude  betraten  die  Indianer  mit  einer  abergläubischen 
Ehrfurcht,  und  nannten  es  das  Haus  des  Anano  oder  Adivino.  Der  Sage 
nach  soll  in  demselben  einst  ein  mächtiger  Zwerg  gewohnt  haben.  1 

Nordwestlich  von  der  Casa  del  Gobernador  endlich  befindet  sich  ein 
grosses  viereckiges  Gebäude,  welches  einen  geräumigen  Hof  einschliesst. 
Es  wird  Casa  de  Palamos,  Haus  der  Tauben,  genannt    Seine  Facade  1 
mit  einer  Reihe  von  pyramidenförmigen  Erhöhungen  versehen,  ist  245 
Fuss  lang.    In  der  Hauer  erblickt  man  eine  grosse  Anzahl  kleiner  schma-  i 
ler  Vertiefungen,  die  das  Ausseben  haben,  als  wenn  sie  zu  Nestern  von  s 
Tauben  bestimmt  gewesen  wären.    Daher  seine  Benennung.    In  der  gan- 
zen Umgebung  obiger  Gebäude  liegen  ferner  im  Walde  zerstreut  noch  c 
viele  Ruinen  von  zerfallenen  Pyramiden  und  Häusern,  in  deren  Beschrei-  * 
buog  weiter  einzugehen  der  Raum  nicht  gestattet.  i 

Nach  Beendigung  der  Untersuchungen  verliessen  unsere  Reisenden,  a 
am  ersten  Tag  des  neuen  Jahres,  Uxmal,  wo  sie  sieben  Wochen  ver- 
weilt hatten.    Sie  besuchten  noch  die  in  der  Nähe  liegenden  Ruinen  einer  t 
alten  Stadt  beim  Dorfe  Ticul,  wo  sie  mehreere,  mit  Wald  bewachsene 
pyramidale  Hügel  und  Ueberreste  alter  Gebäude,  sowie  viele  zerbrochene 
Steine  mit  Sculpturen  fanden.    Beim  Graben  zu  San  Francisco  entdeckte  * 

■ 

man  ein  schön  geformtes  irdenes  Geftss,  worauf  Hieroglyphen  und  der  , 
Kopf  eines  Mannes  mit  künstlich  verunstalteten,  platt  gedrückten  Kopf  und  | 
einer  sehr  vortretenden  gebogenen  Nase  abgebü  ßt  war.    Dann  begaben  . 
sie  sich  zu  den  Ruinen  von  Nobpat,  die  in  der  Nähe  des  grossen  Dorfs  ^ 
oder  Städtchens  Nohcacab  liegen.    Auch  hier  sah  man  verfallene  Pyra-  , 
miden,  grosse  Steine  mit  eingegrabenen  menschlichen  Figuren ,  und  meh- 
rere Steine ,  auf  denen  Todtenköpfe  und  ins  Kreuz  gelegte  Rübrenknochen 
dargestellt  waren.    Hierauf  nahmen  die  Reisenden  einen  längeren  Aufent-  ^ 
halt  bei  dem  gastfreien  Cura  zu  Nohcacab ,  um  sich  mit  der  Untersuchung  ^ 
der  Ruinen  der  einige  Leguas  entfernten  alten  Stadt  Kabah  zu  beschäfti-  K 
gen,  welche  ebenfalls  in  einem  Walde  liegen,  und  aus  mehreren  Pyra-  Q 
miden  mit  Teocallis  nnd  grossen  pallastartigen  Gebäuden  bestehen.  Mit 
Hülfe  einer  grossen  Auzahl  Indianer  wurden  zunächst  die  Bäume  von  den 

• 


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Stephens  und  Cathcrwood:   Ueber  Centrai-Amerika.  10t 

Bauwerken  weggeräumt,  was  eine  sehr  beschwerliche  Arbeit  war.  Das 
höchste  Gebäude,  von  dem  man  die  ganze  Umgegend  Uberblickte,  ist  eine 
gegen  80  Fuss  hohe  Pyramide,  deren  Treppen  und  Mauerwerk  sehr  zer- 
fallen ist  In  einer  Entfernung  von  3 — 400  Yards  sah  man  ein  auf 
einer  hohen  Terrasse  liegendes  grosses,  151  Fuss  langes  pallast  arti- 
ges Gebäude,  zu  dem  eine  breite  Treppe  aufstieg.  Die  ganze  Facadc  ist 
vom  Boden  bis  zum  flachen  Dach  mit  den  reichsten  und  schönsten  Mo- 
saik-Sculpturen  bedeckt,  von  denen  eine  Abbildung  beigefugt  ist.  Von 
der  Kraozleiste  oberhalb  der  Einginge  sagt  Stepbens:  The  cornice  run- 
ning  over  the  doorways,  tried  by  the  severest  rules  of  art  recognised 
among  us,  would  embellish  the  architecture  of  any  now  era,  and,  amid 
a  mass  of  barbarism,  of  rnde  and  uncrouth  coneeptions,  it  Stands  ns  an 
ofiering  by  American  builders  worthy  of  the  aeeeptance  of  a  polished 
people. 

In  das  Innere  des  Gebäudes  gelangt  man  durch  drei  Eingänge, 
welche  in  mehrere  grosse  Gemächer  mit  ähnlichen  aus  Steinen  gebildeten, 
hoben  nnd  gewölbten  Decken  führen,  wie  zu  Uxmal.  In  der  Nähe  liegt 
auf  einer  Terrasse  noch  ein  zweites  pall astartiges  Gebäude,  welches  147 
Fuss  lang  nnd  106  Fuss  breit  ist  Deutlich  sind  drei  Stockwerke  vor- 
handen ,  von  denen  das  zweite  nnd  dritte  niedriger  und  schmaler  als  das 
untere  Stockwerk  ist,  indem  sieb  vor  ihnen  an  der  Facade  eine  breite 
Plattform  befindet  An  allen  vier  Seiten  des  unteren  Stocks  sind  Ein- 
gänge in  Gemächer.  An  zwei  grossen  Eingängen  erblickte  man  in  der 
Mitte  eine  6  Fuss  hohe  Slnle  mit  plumpen  viereckigen  Sieinen  statt  des 
Fassgestells  nnd  Capitals.  Durch  die  Säule  wird  die  Tbür-Oeffnung  in 
zwei  kleinere  abgetheilt  Am  Ende  des  Gebäudes  befindet  sich  das  grosse 
Treppenhaas ,  durch  das  man  auf  die  Plattform  vor  die  Eingange  der  bei- 
den oberen  Stockwerke  gelangt. 

In  einer  Entfernung  von  ohngefähr  350  Yards  von  jenen  Gebäuden 
liegt  ein  drittes  Gebäude  auf  einer  Terrasse,  die  ganz  mit  Bäumen  be- 
wachsen war.  Die  Indianer  des  Ranchos  nannten  es  la  Cesa  de  la  Ju- 
sucia.  Es  ist  113  Fuss  lang  nnd  bat  fünf  Eingänge,  die  zu  Gemächern 
fähren.  Zwischen  den  Thoren  sind  drei  neben  einander  stehende  Säulen 
Hi  die  Mauer  eingelassen.    Das  Karniess  besteht  aus  einer  Reibe  kleiner 

Juttift    naL.n    uinonHop    clalianrtap    QVnlon         iniaa*    nKirran    opmm*  C  aK  ii  nA  An 

uivut  ueueu  cjuaijuci    Biciicuuor  obuicu.      aiihci    uuigou  giuracu  uiuuuuou 

sind  noch  viele  kleinere,  im  Walde  zerstreite  vorhanden,  die  aber  alle 
in  Schutt  nnd  Trümmer  zerfallen  sind.  Besonders  merkwürdig  ist  (in 
neben  einer  eingestürzten  Pyramide  stehender  hoher  Bogen,  der  aus  be- 
hauenen  Steinen  gebildet  ist,  nnd  dessen  Thorweg  14  Fuss  breit  ist 


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110  Stephens  und  Catberwood:    üeber  Centrai-Amerika. 

Ueber  dieses  äussert  sich  Stephens  also:  Durkness  reste  upon  iu  bistory, 
but  in  tbat  desolalion  and  solilude  among  the  ruins  arround ,  it  stand 
like  the  proud  memorial  of  a  Rotnao  triumpb.  Perhaps,  like  Uie  areb  of 
Titus,  which  at  tbis  day  spans  Ibe  Sacred  way  at  Rome,  it  was  erected 
to  commemorate  a  victory  over  euemies. 

In  einem  kleineren ,  verfallenen  Gebäude  endlich  fand  man  am  Ein- 
gang,  im  Schutt  versteckt,  zwei  grosse  Steinplatten ,  aufweiche«  mensch- 
liebe  Figuren  eingegraben  waren,  die  ganz  den  in  Palenque  befindlichen 
glichen.  Auf  der* einen  Platte  steht  ein  Mann  in  reicher  Kleidung,  mit 
einem  Helm,  der  mit  Federn  geschmückt  ist.  Vor  ihm  liegt  eiu  Mann 
auf  den  Knien,  flehend  die  beiden  Hände  erhebend.  Au/  der  anderem 
Steinplatte  erblickte  man  in  stolzer  Haltung  einen  ähnlichen  Mann,  vor 
dem  eiu  anderer  kniet,  der  seine  Waffe,  ein  gezähntes  Schwert,  über- 
reicht. Unten  an  den  Steinen  ist  eine  Reihe  Hieroglyphen  eingegraben. 
Beizufügen  ist  noch,  dass  man  hier  auch  mehrere  Balken  von  sehr  har- 
tem Holz  fand,  in  das  Figuren  eingeschnitten  waren.  Der  Ruinen  zu 
Kabah  hat  kein  Spanischer  Schriftsteller  gedacht,  nur  hei  den  Indianern 
not  sich  die  Sage  erhalten,  dass  hier  einst  eine  grosse,  von  ihren  Vor- 
fahren erbaute  Stadt  stand. 

Am  22.  Januar  verliessen  die  Reissenden  Nobcacab  und  begaben 
sich  nach  dem  nur  vier  Leguas  entfernten  Ranoho  Schawill,  um  die  in 
der  Nähe  liegenden  Ruinen  von  Zayi  oder  Salli  zu  besuchen.  Sie  nahmen 
in  dem  von  Indianern  bewohnten  ßaacho  ihr  Aheteige  -  Quartier  in  der 
Casa  real,  die  zugleich  für  die  Beberbergung  von  Reisenden  bestimmt 
l>t.  Da  die  Indianer  nur  der  Maya-Spracbe  kundig  sind ,  so  war  es  sehr 
schwer  mit  ihnen  zu  verkehren.  Den  Dollmetecher  machte  ein  Indianer, 
den  Stephens  als  Diener  von  Merida  mitgenommen  halte.  Schon  am  fro- 
hen Morgen  des  nächsten  Tags  stieg  man  zu  Pferd,  um  die  ebenfalls  in 
einem  Walde  verborgenen  Rainen  aufzusuchen.  Nachdem  man  anderthalb 
englische  Meilen  zurückgelegt  hatte,  befand  man  sich  am  Fuss  eines  mit 
Bäumen  bewachsenen  pyramidalen  Hügels.  Die  Diener  und  mitgenom- 
menen Indianer  bahnten  sogleich  mit  Aexten  einen  Weg  in  den  Wald, 
und  bald  erreichte  man  ein  groaee*,  aus  weissem  Sandstein  gebildetes 
Cfebüude,  welches  die  Indianer  Casa  grau  de  nannten.  Den  ganten  Tan; 
über  war  man  mit  grosser  Anstrengung  beschäftigt,  die  Bäume  sowohl 
in  seiner  Umgebung,  als  die,  weiche  auf  ihm  standen,  wegzuräumen. 
Es  besteht  aus  drei  terrassenurlig  über  einander  aufgeführten  Stockwer- 
ken. In  seiner  Mitte  befindet  tkh  ein  32  Fuss  breites  Treppenhaus, 
durch  das  man  zir  Plattform  vor  dem  zweiten  Stockwerk  aufsteigt.  Am 


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Stephens  und  Collier  wo  od:    Ueber  Central- Amerika. 


114 


unteren  Stockwerke  erkannte  man  noch  seebszehn  in  Gemacher  führende 
Eingänge.  Daa  zweite  Stockwerk,  schmaler  als  das  untere,  zeigte  vier 
grosse  Tbüren,  von  denen  jede  durch  zwei,  6  Fuss  6  Zoll  hohe  Säulen, 
mit  niederen  viereckigen  Capitälern,  in  drei  schmale  Eingänge  abgetbeilt 
ist.  Das  Karniess  des  zweiteu  Stocks  ist  reich  verziert.  Zwischen  den 
grossen  Tbüren  finden  sich  Zugänge  zu  Treppen,  welche  auf  die  Platt- 
form des  dritten  Stockwerks  leiten.  In  diesem  ist  eine  grosse  Anzahl 
kleiner  Gemächer  vorhanden.  Ausser  obigen  Gebäuden  worden  noch  die 
Ruinen  vialer  im  Walde  zerstreut  liegender  Bauwerke  entdeckt.  Darnach 
läset  sich  vermuthen,  dass  auch  hier  ehemals  eine  grosse  Stadt  stand. 

Von  Schawill  ging  die  Reise  nach  dem  Rancho  Sennacte ,  wo  man 
gleichfalls  einige  alte  Bauwerke  fand ,  und  dann  begab  man  sich  nach 
dem  Rancho  Sabacbse\    Hier  wurde  abermals  ein  längerer  Aufenthalt  ge- 
nommen, um  den  in  einiger  Entfernung  liegenden,  noch  sehr  wenig  be- 
kannten Ruinen  von  Labnah  einen  Besuch  zu  machen.    Am  folgenden  Tag 
erreichte  man  hei  gnter  Zeit  die  einige  Leguas  entfernten,  in  einer  Ma- 
lerischen Gegend  zwischen  HUgeln  zerstreuten  alten  Bauwerke,  welche 
Erstaunen  erregten.    Da  auch  sie  von  einem  Walde  bedeckt  waren,  so 
liess  man  durch  eine  grosse  Anzahl  mitgenommener  Indianer  die  in  der 
Nahe  der  grossen  Gebäude  stehenden  Baume  fällen  und  wegräumen.  Zu- 
nächst wurde  die  Aufmerksamkeit  auf  einen  45  Fuss  hohen  pyramidalen 
Hügel  gelenkt,  auf  dem  ein  schmales  hohes  Gebäude  steht,  dessen  ver- 
zierte Facade  nach  Süden  gerichtet  ist.    Zn  ihm  führt  eine  breite,  ganz 
verfallene  Treppe,  die  mit  hohen  Stauden  der  Agave  omericana  bedeckt 
war.    Es  hat  drei  Eingänge,  von  denen  aber  einer  mit  einem  Tbeile  des 
Gebäudes  eingestürzt  ist    Der  mittlere  Eingang  fährt  in  zwei  Gemächer. 
Oberhalb  eines  schmalen  Karoiesses  befindet  sich  eine  30  Fase  hohe 
Wand,  die  ganz  mit  Ueberresten  colossaler  Figuren  in  Staceo  bedeckt 
ist.    Oben  auf  dem  Rande  des  Gesimses  erblickte  man  ein«  Reihe  von 
Todtenkopfen ,  und  unter  diesen  menschliche  Figuren  in  Relief,  von  denen 
Glieder  und  Waffen  übrig  sind.    In  der  Mitte  erkannte  man  man  oolos- 
sale  sitzende  Figur  mit  einer  grossen  Kogel  auf  dem  Haupte,  welche 
zwei  nebenstehende  Figuren  zu  stützen  schienen.    An  allen  Figuren  war» 
den  noch  Spuren  von  Farben  wahrgenommen.  Von  diesem  Gebäude  einige 
hundert  Fuss  entfernt  erblickte  mau  ein  anderes  grosses,  mit  einem  hohen 
reich  ornamentirten  Karniess  versehenes  Gebäude,   das  in  seiner  Mitte 
einen  hohen,    1°  *'uss  breiten  Thorweg  hatte,  durch  den  man  in  einen 
Prossen  Hofraum  gelangte.    Von  diesem  aus  führten  Eingänge  in  Go-> 


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112  Stephens  und  Catherwood:    Ucber  Central- Amerika. 

mächer.  Oberhalb  jedes  Einganges  befindet  sich  eine  reiche  Verzierung 
in  Stucco,  in  der  man  das  Bild  der  Sonne  mit  ihren  Strahlen  erkannte. 

Nordöstlich  von  dem  Hügel,  auf  welchem  das  Gebäude  mit  den 
colossalen  Figuren  steht,  in  einer  Entfernung  von  obngefähr  150  Yards, 
liegt  auf  einer  Terrasse  ein  anderes  sehr  verfallenes,  ganz  mit  Bimmen 
bedecktes  Gebäude,  welches  nur  wenige  Ueberbleibsel  von  verzierten 
Sculpturcn  zeigte.  Und  noch  weiter  entfernt  in  derselben  Richtung  stiess 
man  auf  ein  wahrhaft  prachtvolles  Gebäude,  von  dem  eine  grosse  Abbil- 
dung gegeben  ist.  Es  steht  auf  einer  sehr  hohen,  400  Fuss  langen  und 
150  Fuss  breiten  Terrasse,  die  ganz  mit  Bauwerken  bedeckt  ist.  Die 
Facade  des  pallastartigen  Gebäudes  bat  eine  Länge  von  282  Fuss.  Es 
besteht  aus  drei,  im  Styl  verschiedenen  Tbeilen,  die  vielleicht  auch  zu 
verschiedenen  Zeiten  aufgeführt  wurden.  Die  ganze  lange  Furade  ist  vom 
Grund  aus  mit  den  reichsten  und  schönsten  Sculpturen  verziert,  zwischen 
denen  sich  in  die  Mauer  eingelassene  kleine  Säulen  befinden.  Auf  diesen 
ruht  ein  hohes  vorstehendes  Karniess  mit  den  verschiedensten  Figuren  ge- 
schmückt. Am  linken  Ende  des  Hauptgebäudes ,  gerade  an  der  vorsprin- 
genden Ecke,  erblickte  man  den  weit  geöffneten  Rachen  eines  Alligators 
oder  eines  anderen  Ungeheuers,  in  dem  der  Kopf  eines  Menschen  zu  se- 
hen ist.  Längs  der  ganzen  Fronte  befinden  sich  sehr  viele  Eingänge  zu 
Gemächern.  Auf  diesem  Gebäude  steht  wie  auf  einer  Terrasse  noch  ein 
zweites  kleineres,  welches  viele  kleine  Gemächer  enthält. 

Nachdem  unsere  Reisenden  mehrere  Tage  auf  die  Untersuchung  und 
Abbildung  der  Ruinen  zu  Labnah  verwendet  hatten,  begaben  sie  sich  nach 
dem  drei  Leguas  entfernten  Rancho  Kewick,  in  dessen  Nähe  mehrere  in 
Jiuiuen  liegende  Gebäude  gefunden  wurden,  von  denen  Beschreibungen 
und  Abbildungen  gegeben  sind.  Dann  giengen  sie  nach  Xul,  wo  sie  von 
dem  alten  Cur»,  einem  gebornen  Spanier,  gastfreundlich  aufgenommen 
wurden.  Dicht  neben  seiner  Wohnung  stand  einst  ein  pyramidaler  Hügel, 
«reichen  der  Geistliche  hatte  abtragen  lassen,  um  die  Steine  zum  Auf- 
bauen seines  Hauses,  der  Kirche  und  einer  grossen  Cisterne  zu  verwen- 
den. In  die  Mauern  waren  viele  alte  Steine  mit  Sculpturen  eingesetzt, 
zum  Andenken,  dass  hier  einst  eine  alte  Indianer  -  Stadt  gestan- 
den halte   ' 

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HEIDELBERGER  1851. 


JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR. 

«  • 

Stephens  und  Catherwoodt  Heber  Central- Amerika, 


(Fortsetzung.)  i 

Nach  einem  abermaligen  Aufenthalt  in  Ticul,  wo  Stephens  an  den 
Fastnacht«  -  Belustigungen  Theil  nahm ,  die  in  Stiergefechten ,  Pferderennen 
und  Ballen  bestanden,  wurde  die  Reise  in  südlicher  Richtung  von  Nohcacab 
forlgesetzt.  Kaum  waren  sie  einige  Meilen  von  letzterem  Ort  entfernt, 
so  stiessen  sie  wieder  auf  die  Ruinen  alter  Gebäude,  und  auf  eine  10  Fuss 
breite,  ans  Steinen  aufgeführte  alte  Indianer- Strasse ,  Sacbey  genannt, 
die  einst  zwischen  den  Städten  Uxmal  nnd  Kabah  bestanden  haben  soll. 
Anf  dem  Wege  nach  dem,  mehrere  Leguas  entfernten  Dorfe  Bolonchen 
befanden  sieb  die  Leberreste  von  mehreren  grossen  Gebäuden,  die  mit 
Sculpturen  verziert  waren,  welche  unter  dem  Namen  der  Städte  Xampon 
and  Cbunhubn  bekannt  sind. 

Von  Bolonchen  aus,  wo  man  das  Nachtquartier  genommen ,  be- 
suchte man  am  anderen  Tag  mit  einem  freundlichen  Cura  die  in  einem 
grossen  Walde  verborgen  liegenden  Rainen  von  Labpbak.  Unter  den  vie- 
len Ueberresten  alter  Bauwerke  zeichnete  sich  besonders  ein  grosses,  auf 
einer  Anhöbe  liegendes ,  aus  weissen  Steinen  gebildetes  pallastartiges  Ge- 
bäude aus,  das  mit  Bäumen  bewachsen  war.  Dreissig  Indianer  waren 
den  ganzen  Tag  über  beschäftigt,  die  Bäume  in  der  nächsten  Umgebung 
zu  fallen  und  wegzuräumen.  Nach  Beendigung  dieser  Arbeit  erblickte 
man  das  prachtvolle  Gebäude,  welches  aus  drei,  in  Terrassen  Uber  ein- 
ander stehenden  Stockwerken  aufgeführt  ist.  Nur  das  Erdgeschoss  bat 
viele,  in  kleine  Gemächer  führende  Eingänge.  Die  beiden  oberen  Stock- 
werke besteben  aus  solidem  Mauerwerk,  und  zu  ihrer  Plattform  gelangt 
man  anf  einer  schönen  breiten  Treppe.  An  den  beiden  schmalen  Seiten 
des  länglich  viereckigen  Gebäudes  fand  man  mehrere  grosse,  in  die  Mauern 
eingesetzte  Steiotafeln ,  in  denen  menschliche  Figuren  in  Relief  eingegra- 
ben sind.  Sie  gleichen  ganz  denen  in  Palenque  gefundenen ,  nur  sind  sie 
weniger  gut  gezeichnet  und  ausgeführt.  Die  Reisenden  hatten  die  Ab- 
liebt, hier  mehrere  Tage  zu  verweilen,  um  die  alten  Monumente  genau 
tu  untersuchen.  Sie  richteten  sich  daher  in  einem  Gemache  ein ,  führten 
einen  kleinen  Heerd  anf  nnd  befestigten  ihre  Hängematten.  Es  trat  aber 
XLIV.  Mrg.  1.  Doppelheft.  8 


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tUZi         Stephens  und  Cathcrwood:  Ufebtr  Cenlrnl-Amerika.        .f.  . 

bald  heftiger  Regen  ein ,  und  Calberwood  bekam  einen  Anfall  von  kalten 
Fieber.  Die»  nöthigte  die  Arbeiten  einzustellen  und  den  Rückweg  an- 
zutreten. Das  Ergebniss  der  Bemühungen  beschrankte  sich  auf  die  Zeich- 
nung des  Grundplans  und  der  Parade  des  grossen  Gebäudes,  sowie  auf 
die  Abbildung  der  Figuren  einer  Steintafel.  Von  Bolonchen  gieng  die 
Reise  nach  dem  erst  seit  wenigen  Jahren  angelegten  Dorfe  Iturbide,  wel- 
ches in  der  Nähe  der  Ruinen  der  alten  Stadt  Zibilnacac  liegt.  Man  sieht 
hier  noch  mehrere  verfallene  pyramidale  Hügel ,  und  die  Ueberreste  eines 
134  Fuss  langen  und  27  Fuss  breiten  Gebäudes,  an  dessen  inneren  Wän- 
den sich  Spuren  von  Gemitfden  befinden.  Die  Steine  dieser  und  anderer 
Gebäude  werden  jetzt  zur  Aufführung  neuer  Häuser  verwendet.  In  die- 
sem Dorfe*  welches  sich  an  der  Grenze  des  bewohnten  Theils  von 
catan  befindet,  wurde  die  Reise  in  südlicher  Richtung  beendigt.  Weilar 
hin,  bis  zu  dem  unter  dem  17,  Grad  n.  Br.  liegenden  See  Peten  er- 
streikt sich  eine  grosse  Wildnias,  iu  der  sich  nicht  getaufte  Indianer  von 
dun  Stamme  der  Lacaudones  aufhalten  sollen.  In  Iturbide  herrschte  eben- 
falls oje  Sage,  dass  sich  in  den  Gebirgen  jenseits  des  Sees  eine  von 
freien  Indianern  bewohnte  Stadt  beiladen  soll ,  die  noch  von  keinem  Eu- 
ropäer besucht  wurde,  und  in  der  die  Indianer  noch  ganz  in  dem  Zu« 
Stande  leben  sollen,  wje  zu  den  Zeiten  vor  der  Entdeckung  und  Erobe- 

mM  ,  Von  Iturbide  schlugen  die  Reisenden  ihren  Weg  in  nordwestlicher 
Richtung  ein,  um  die  alte  Stadt  C  Iiichen  -  Itza  zu  besuchen.  Sie  kamen 
durch  Macroba,  die  freundliche  Stadt  Tekex  und  verweilten  einige  Tage 
in  Manu  wo  noch  die  Ueberreste  alter  Gebäude  vorbanden  sind.  In  letz- 
terer Stadt  hielt  sich  die  königliche  Familie  des  Reichs  Maya  nach  dem 
grossen  Aufstande  der  Caziken  und  nach  der  Zerstörung  der  Uaephtadt 
Mayapan  auf.  Von  hier  aus  unterwarf  sich  Tutul  Xiu,  der  leiste  Spröss- 
ling  des  alten  Königlichen  Hauses  den  Spaniern,  unter  Don  Francisco 
Mpntejo,  und  liess  sich  taufen.  An  diesem  Orte  beüeden  aick  auch,  eoch 
die  Ruinen  eines  grosaeq  Hauses  %  welches  der  spanische  Eroberer laflMw 

;Ajn,  7.  März  begab  *jck  Stephens  nach  Pete,  der  Hanptstadt  des 
Departements  gießen,  Samens,  wo  er  von  dem  Gefe  politico,  öoo  Pio 
Percz,  Fragmente  eines  alten,  in  der  Maya  -Sprache  >  erfaßten  Documenta 
erhielt.  Heber  Tacbxin  und  Piste  erreichte  mao  am  11.  Mün  beim  Son- 
nen-Untergang  die  prachtvolles  Ruinen  der  «ladt  iCkiehntt- Itoa,  darea 
hohe  Gehrde  gro^e  Schatten  über  die  Ebene  warfen  und  einen  wnader- 
ynllen,  ^nWick  darboten.    Die  La*dstras*e  führt  zwischen  den  alten  Bau« 

r>  ,jj  g    ■  J  J  J  .1  .1 «  .  *  .rl 


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Stephens  und  Calherwood:   Uober  Central- Amerika.  115 


werken  zu  einer  grossen  Hacienda,  in  der  die  Reisenden  eil«  freund- 
liche Aufnahme  fanden.  Die  »raten  Nachrichten  über  die  alle  Stadt,  welche 
neun  Leguas  von  der  Stadt  Valladoiid  entfernt  ist,  hat  im  Jahre  1840 
Baron  Friedrichstbal  gegeben.  Der  Name  Chichen  ist  ans  zwei  Worten 
der  Maya-Sprache  gebildet ,  na  ml  ich  Chi  Mündung  und  Chen  Quelle,  also 
Quellen- Mündung.  Es  befindet  sieb  hier  ein  grosses  Becken  von  vor- 
trefflichem Wasser,  welches  von  hoben  Felsen  wänden  eingeschlossen  ist. 
Die  zahlreichen,  sehr  grossartigen  Gebäude  sind  anf  einer  Flache  von 
ohagefabr  zwei  englischen  Meilen  im  Umfang  ausgebreitet.  Ueber  ihre 
Lage  ist  ein  Groodriss  beigefügt.  Im  Ganzen  sind  sie  noch  gut  erhalten. 
In  der  Beschreibung,  welche  Refer,  ganz  gedrangt  geben  wird,  folgt  er 
dem  Grundplan.   

Das  erste  grosse  Gebäude,  welches  250  Yards  von  der  Hacienda 
entfernt  ist,  liegt  mit  der  Parade  nach  Osten,  nnd  hat  eine  Läege  von 
149  Fuss  und  eine  Breite  von  48  Fuss.  Es  besteht  nur  ins  einem  Erd- 
geschoss  und  einem  breiten  Treppenhaus,  durch  das  man  anf  das  flache 
Dach  gelangt.  Zu  beiden  Seiten  des  Treppenhauses  befinden  sich  zwei 
Thor wege,  und  an  der  Westseite  sind  sieben  Einginge  vorhanden.  Durch 
die  Eingänge  kommt  man  in  achtzehn  Gemächer.  In  einem  derselben  fand 
msn  eine  steinerne  Tafel,  in  die  sehr  roh  die  sitzende  Figur  eines  Man- 
nes mit  aufgerichtetem  rechten  Arm  eingegraben  ist,  Sie  tragt  eine  mit 
langen  Federn  verzierte  Kopfbedeckung,  ein  breites  Halsband,  Armbän- 
der und  Sandalen.  Am  Stein  nahm  man  zugleich  einige  Reihen  Hiero- 
glyphen wahr,  welche  den  in  Copan  und  Palenque  gefundenen  glichen. 
Was  diese  Figur,  von  der  eine  Abbildung  gegeben  ist,  eigentlich  be- 
deute, lies«  sich  nicht  erratben. ,  .  ,  .  :  i  i  i 

Ostwärts,  in  einer  Entfernung  von  150  Yards,  sah  man  ein  aWei- 
tes,  sehr  gut  erhaltenes  prachtvolles  Gebäude ,  dessen  Facade  35  Fuss 
lang  and  25  Fuss  hoch  ist.  Es  wird,  wie  eine  der  Hauptgebäude  zu 
Uxmal,  Caaa  de  las  Monjaä  genannt.  Seine  ganze  Vorderseite  ist  vom 
Boden  an  bis  zum  flachen  Dach  auf  das  reichste  und  schönste  mit  Mo- 
saik-Scuipturen  verziert.  In  das  Innere  fuhrt  nur  eine  grosse  Thür- 
OeQnuig,  über  welcher  man  zwanzig  kleine  Felder  in  v«r  Reihen  er- 
blickt, die  mit  Hieroglyphen  bedeckt  sind).  Weiler  oben,  am  sehr  hoben 
Karniess,  befindet  sich,  cioe  grosse  halbeiförmige  Nische  mit  einer  sstseo- 
den  menschlichen  Figur,  .deren-  Haupt  »U  einer  Federkrone  gtttei*  ist. 
Das  flache  Dach  des  Gebäude*  war  ganz  mit  tropischen  Gewachsen  be- 
deckt, welche,  Uber  das  Karniess  herabhängend,  der  schönen  Facade  ein 
malerisches  Aussehen  verliehen. 

8* 


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116  Stephens  und  Catherwood:   Ueber  Central -Amerika. 

Das  Haus  der  Nonnen  stüsst  rückwärts  durch  eine  Verlängerung, 
in  der  sich  viele  zu  kleinen  Gemächern  führende  Eingänge  befinden,  un- 
ter einem  rechten  Winkel  an  eine  lange,  hohe,  aus  solidem  Mauerwerk 
aufgeführte  Terrasse.  Auf  dieser  steht  ein  grosses  Gebäude,  welches 
zwei  Stockwerke  bat,  vor  denen  sich  breite  Plattformen  hinziehen.  Zu 
diesen  gelangt  man  auf  einer  56  Fuss  breiten  uud  32  Fuss  hohen  Treppe. 
Von  den  Plattformen  führen  Eingänge  in  kleine  Gemächer,  deren  Wände 
mit  Figuren  bemalt  waren ,  von  denen  sich  noch  viele  Ueber  reste  fanden. 

Ganz  in  der  Nähe  der  Casa  de  las  Monjas  liegt  ein  26  Fuss  lan- 
ges, 14  Fuss  breites  und  31  Fuss  hohes  Gebäude,  Eglesia  genannt.  Es 
zeichnet  sich  durch  drei  breite,  reich  mit  Mosaik  -  Sculpturen  geschmückte 
Karniesse  aus.  Es  hat  nur  einen  Eingang,  durch  den  man  in  ein  Gemach 
tritt,  dessen  Wände  mit  Stucco  überzogen  sind,  und  an  denen  man  Spa- 
ren von  Hieroglyphen  fand. 

Nördlich  von  diesen  Gebäuden,  in  einer  Entfernung  von  400  Fuss, 
steht  auf  zwei  hohen  Terrassen  ein  rundes  tburmartiges  Gebäude,  mit 
abgerundeter  Kuppel,  und  vier  Eingängen,  welches  22  Fuss  im  Durch- 
messer bat.  Und  nicht  weit  davon  entfernt  liegt ,  ebenfalls  auf  einer  Ter- 
rasse, ein  anderes  Bauwerk,  welches  die  Indianer  Chichencob  nannten, 
was  in  der  spanischen  Sprache  Casa  Colorada  beisst  Es  ist  länglich 
viereckig,  und  bat  eine  Länge  von  43  Fuss  und  eine  Breit o  von  23  Fuss. 
Zu  ihm  führt  eine  20  Fuss  breite  Treppe.  An  der  reich  verzierten  Fa- 
cade  sind  drei  in  einen  Corridor  gehende  Eingänge  vorhanden.  In  dem 
Gesims  des  Corridors  sind  steinerne  Tafeln  mit  Reihen  von  Hieroglyphen 
eingesetzt,  von  denen  eine  Abbildung  gegebon  ist.  Aus  dem  Corridor 
gelangt  man  in  drei  kleine  Gemächer,  deren  Wände  viele  Ueberreste  von 
Malereien  zeigten.  Ausserdem  sind  noch  die  Ruinen  mehrerer  anderen 
Gebäude  vorhanden.  In  die  Sosseren  Mauern  eines  derselben  sind  Stein- 
ten eingesetzt,  auf  denen  man  viele  Figuren  von  Kriegern  mit  Helmen 
erkannte,  welche  in  den  Händen  Bündel  von  Pfeilen  oder  Speeren  tra- 
gen. In  einem  inneren  Gemach  sind  die  Wände  vom  Boden  bis  zur  Deke 
mit  gemaltes  Figuren  verschiedener  Art  bedeckt.  Darunter  erblickte  man, 
was  sehr  zu  beachten  ist,  ein  grosses  Schiff ,  ferner  Krieger  mit  Helmen, 
Schildern  nnd  Spicsseu,  sowie  Männer  und  Fraueo  in  eigentümlichen 
Trachten,  welche  von  denen  der  jetzigen  Indianer  ganz  verschieden  sind. 
Diese  Gemälde  scheinen  sich  ouf  die  Einwanderung  eines  fremden  Volks 
zu  bezieben.  Von  jenen  Steintafeln  nnd  diesen  Gemälden  sind  Abbildun- 
gen beigefügt.   


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Stephens  ud  Catherwood:   üeber  Centrai-Amerika.  117 

Am  weitesten  entfernt  von  der  Haciendi  in  nördlicher  Richtung  be- 
Bodet  sich  eine  grosse,  ans  behauenen  Steinen  aufgeführte  vierseitige 
Pyramide,  Castillo  genannt.  Ihre  Grundfläche  misst  an  der  Nord-  und 
Süd-Seite  196  Fuss,  und  an  der  Ost-  und  West- Seile  202  Fuss.  Ihre 
vier  Seiten  sind  aber  nicht  genau  nach  den  Weltgegenden  gerichtet.  An 
der  West  -  und  Ost  -  Seite  führen  zur  Spitze  breite  Treppen.  Beiderseits 
am  Fasse  der  Treppen  erblickte  man  in  Stein  gehauene  colossale  Köpfe 
tob  Schlangen  mit  weit  geöffnetem  Rachen.  Die  Plattform  auf  der  Spitze 
der  Pyramide  misst  gegen  60  Fuss.  Auf  ihr  steht  ein  viereckiges  Ge- 
bäude, der  eigentliche  Tempel,  der  49  Fuss  lang  und  43  Fuss  breit  ist. 
Voo  der  Plattform  führte  an  jeder  der  vier  Seiten  ein  Eingang  in  das 
Innere  des  Gebäudes.  Die  obere  Thürschwelle  der  Einginge  besteht  aus 
moderigem  Sapotenholz,  an  dem  man  Schnitzwerk  wahrnahm.  Die  Tbür- 
pfosten  sind  von  Stein ,  und  iu  diese  sind  stehende  Figuren  von  Männern 
in  reicher  Kleidung  eingegraben ,  welche  wahrscheinlich  Fürsten  oder  Ca- 
xiken  darstellen.  Ihre  Kopfbedeckung  ist  mit  langen  Federn  geschmückt. 
Das  Antlitz  ist  würdevoll.  Von  der  Scheidewand  der  gebogenen  Nase 
haagt  eine  Zierrath  herab.  Das  Gebäude  enthält  ein  grosses  Gemach, 
dessen  Dach  durch  zwei  vierseitige  Säulen  getragen  wird.  Diese  Säulen 
«nd  an  allen  Seiten  durch  eingegrabene  Figuren  verziert. 

In  westlicher  Richtung  von  der  grossen  Pyramide  endlich  befindet 
•ich  ein  grosser  viereckiger  Platz,  der  an  jeder  Seite  400  Fuss  misst. 
Dieser  Platz  ist  von  mehreren  Reiben  kleiner  niederen  Säulen  umgeben, 
welche  theils  noch  aufrecht  stehen,  tbeils  umgefallen  sind.  Wozu  die- 
selben gedient  haben  mochten,  liess  sich  nicht  errathen. 

üeber  das  an  grossartigen  und  zum  Theil  noch  sehr  gut  erhaltenen 
alten  Bauwerken  so  reiche  Chichen-Itza  geben  die  alten  spanischen 
Schriften  keine  sicheren  Nachrichten.  Es  scheint  der  Ort  zu  sein,  an  dem 
die  Spanier  unter  Don  Francisco  Montejo,  nach  der  Landung  über  Ake, 
m  das  Innere  des  Landes  vordringend,  eine  Zeit  lang  verweilten.  Wahr- 
scheinlich hatten  sie  die  Kunde  voo  den  grossen  Gebäuden  erhalten,  in 
deoen  sie  sich  gegen  die  Angriffe  der  Indianer  zu  vertheidigan  gedach- 
tea.  Sie  wurden  aber  bald  nach  grossen  Niederlagen  genöthigt  zu  der 
Koste  zurückzukehren. 

Nach  Beendigung  der  Untersuchnngeo  in  Chichen-Itza  begab  sich 
Stephens  mit  seiner  Reise  -  Gesellschaft  am  29.  März  nach  der  Stadt  Val- 
ladolid  und  von  da  nach  dem  Hafen  von  Yalahqo.  Hier  mietbete  er  ein 
grosses  Canol,  um  die  KUsten  zu  besuchen  und  die  an  denselben  etwa 
befindlichen  Ruinen  alter  Bauwerke  kennen  zu  lernen.    Zunächst  besuchte 


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fö  Stephen!  und  Catherwood :  Ueber  Centrtf-Amerika. 


er  das  C«p  Cttoche,  wo  die  Spanier  zuerst  gelandet  halten,  und  begab 
steh  von  da  zur  Insel  Cozumel  oder  Cozamil,  die  Juan  de  Grijatva  im 
Jabr  1518  entdeckt  hat.  Die  Insel  war  damals  sehr  bevölkert  und  hatte 
viele  ans  Steinen  aufgeführte  Gebäude,  sowie  thurmartige  Tempel,  deren 
Bemal  Diaz  gedacht  hat.  Auch  Cortez  hatte  sie  im  Jahr  1519  bei  sei- 
nem Zug  nach  Mexico  besucht.  Stephens  fand  die  Insel  unbewohnt  ond 
gtns  mit  Wald  bedeckt.  In  der  Nahe  der  Ktlste  sliess  man  auf  zwei 
alte,  aof  Terrassen  liegende  und  aus  behanenen  Steinen  aufgeführte  Ge- 
bäude. Das  eine  ist  16  Fuss  lang  und  hat  vier  Eingänge.  Das  andere, 
20  Poss  lange  ond  7  Fuss  breite  Gebäude  hat  nur  zwei  Eingänge.  Auch 
sind  die  Ruinen  einer  alten  von  den  Spaniern  erbauten  Kirche  vorhanden. 
Von  Cozumel  kehrten  die  Reisenden  zu  den  Küsten  des  festen  Landes  zu- 
rück, und  besuchten  von  dem  Rancho  Tancar  aus  die  in  der  Nähe  der 
See  in  einem  Walde  liegenden  Rainen  von  Tuloom.  Sie  bestehen  aus 
einem  grösseren,  auf  einer  hohen  Terrasse  stehendem  Gebäude  mit  zwei 
Flögeln,  in  dessen  Nähe  mau  die  Ruinen  von  Altarhügeln  und  verschie- 
denen anderen  Bauwerken  antraf,  sowie  grosse  Mauern,  die  einst  eine 
Stadt  umschlossen.    Die  Ruinen  von  Tuloom  sind  höchst  wahrscheinlich 

• 

die  Ueberreste  jener  grossen  Stadt ,  deren  bei  der  Expedition  Grijalvas 
gedacht  ist.  In  seinem  Berichte  heisst  es:  „Nachdem  wir  Cozumel  ver- 
lassen, sahen  wir  am  zweiten  Tag  an  der  Küste  eine  Stadt,  welche  so 
gross  und  so  schön  wie  Sevilla  war.  Am  Ufer  befanden  sich  Haufen 
Indianer  mit  Fahnen,  die  sie  schwenkten,  znm  Zeichen,  dass  wir  landen 
möchten.  Wir  entdeckten  ferner  eine  geräumige  Bai,  in  der  die  ganze 
spanische  Flotte  hfitte  ankern  können."  Diese  Bai  ist  ohne  Zweifel  die 
ron  Ascensiou ,  welche  nur  acht  Leguas  von  den  Ruinen  der  Stadt  Tuloom 
entfernt  ist. 

An  diesem  Punkte  kehrte  Stephens  um,  und  fahr  längst  der  nörd- 
lichen Kdste  Yucutans  hin.  Zunächst  landete  er  an  der  kleinen  Insel  Mu- 
geres,  deren  Berna!  Diaz  bei  der  Expedition  von  Cortez  gedacht  hat, 
nnd  auf  der  er  ein  tharmartiges  Gebäude  erblickt  hatte.  Hier  fanden 
die  Reisenden  auf  einem  Felsen  ein  noch  wohl  erhaltenes  Gebäude  aus 
behanenen  Steinen  aufgeführt,  anf  dessen  Plattform  sich  die  Ueberreste 
eines  Altars  zeigten.  Nach  Umschiffung  des  Caps  Catoche  wurde  im  Ha- 
fen von  Sisan  gelandet,  in  dessen  Nahe  &uf  einem  hohen  Hügel  viele 
Ueberreste  von  alten  verfallenen  Gebäuden  liegen.  Hier  stand  einst  eine 
Stadt,  in  der  die  Spanier  unter  Francisco  Montejo  nach  ihrer  Flucht  von 
Chichen-Ilza  eine  Zeit  lang  verweilten.  Von  Sisan  schlugen  die  Reisen- 
den wieder  den  Weg  in  das  Innere  des  Landes  ein,  nach  der  8  Leguas 


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Stephen!  und  Catherwoöd:   Ueber  Central-Amerikjt  Mf 


entfernten,  sehr  freundlich  gelegenen  Stadt  Izamal.  In  ihrer  nächsten 
Umgebung  sah  man  mehrere  grosse  pyramidale  Hügel  mit  Rainen  alter 
Tempel  und  viele  Ornamente  in  Stucco.  linier  anderen  wurde  der  Kopf 
einer  colossalen  Statue  gefunden ,  welcher  7  Fuss  8  Zoll  hoch  Und  7  Fusa 
breit  ist,  vou  dem  eine  Abbildung  gegeben  ist.  Zo  Izamal  befindet  sich 
ein  grosses  Franciskauer-  Kloster  mit  einer  prächtigen  Kirche,  welche  nach 
den  vom  Padre  I  nana  gegebenen  Nachrichten  im  Jahr  1533  auf  einer 
Erhöhung  aufgeführt  wurde,  auf  der  früher  eine  Tempel- Pyramide  aUodi 
Beim  Bau  des  Kösters  hat  man  die  Steine  der  abgebrochenen  alten  Ge- 
bäude verwendet. 

Auf  der  Rückreise  nach  Merida  hat  Stephens  endlich  noch  die  Rui- 
ne-D der  alten  Stadt  Ake  besucht,  welche  in  der  Nähe  einer  Hacienda  auf 
einem  ganz  mit  Wald  bewachsenen  Hügel  liegen.  Auf  einer  grossen 
Plattform,  zu  der  man  auf  einer  130  Fuss  langen  Treppe  gelangt,  sah 
man  36  viereckige  Pfeiler,  welche  in  drei  Reihen  stehen.  Die  114  bis 
16  Fuss  hohe  und  4  Fuss  breite  Pfeiler  trugen  mutmasslich  ein  Doch, 
von  dem  aber  keine  üeberreste  vorhanden  sind.  In  der  Umgegend  www 
den  noch  die  Ruinen  vieler  verfallenen  alten  Gebäude  gefunden.  Der 
Stadt  Ake  wird  in  spanischen  Schriften  bei  dem  Marsche  Don  Francisco 
Mootejo's  von  der  Küste  ins  Innere  Yucatans  gedacht.  Er  wurde  hier 
ron  einem  grosseu  Heere  Indianer  angegriffen  und  es  fand  eine  zwei- 
tägige blutige  Schlacht  statt,  in  der  <iie  Spanier  nach  grossem  Yerlurt 
den  Sieg  errangen.  ' 

Von  Ake  begaben  sich  die  Reisenden  nach  der  nenn  Legnas  ent- 
fernten Stadt  Herida  zurück,  von  wo  sie  nach  kurzer  Rast  am  16.  Mai 
die  Rückreise  nach  den  Vereinigten  Staaten  antraten.  • 

So  haben  wir  den  eifrigen,  mit  grossen  Anstrengungen  verbünde- 
nen  Bemühungen  und  Forschungen  Stephens  nnd  Catherwoods  die  Unter- 
suchung, Beschreibung  und  Abbildung  einer  sehr  grossen  Anzahl,  zum 
Theil  noch  wohl  erhaltener  alten  Bauwerke  zu  verdanken.  An  Grossar- 
tigkeit und  Schönheit  übertreffen  dieselben  bei  weitem  alles,  was  bisher 
von  alten  Denkmälern  in  anderen  Landern  des  neüen  Continents,  im  Thale 
des  Mississippi,  in  Mexico,  Bogota,  Quito  und  Peru  aufgefunden  worden 
ist.  Und  wie  viele  Üeberreste  solcher  Werke  mögen  noch  in  den  Wal- 
duagen  Yucatans,  Chiapas,  Guatemalas  und  Honduras  verborgen  liegen, 
deren  Auffindung  und  Untersuchung  erst  kommenden  Zeiten  vorbehalte* 
ist,  wenn  der  sociale  Zustand  jener  schönen  Länder  geordnet ,  und  die 
iVeigung  zu  archäologischen  und  historischen  Forschungen  erwacht  sein 
wird.    Jene  Bauwerke  liefern  einen  neuen  überzeugenden  Beweis  gegen 


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120  Stephens  und  Catherwood:   Ueber  Central- Amerika. 

Robertson  und  andere  Historiker,  dass  der  neue  Continent  nicht  bloss  von 
rohen  Völkern  und  sogenannten  Wilden  bewohnt  war.  Es  lebten  hier 
bereits  Völker,  die  eine  höhere  Civilisatiou  erreicht  hatten  und  bei  denen 
der  Sinn  für  die  schönen  Künste  erwacht  war. 

Die  alten  Bauwerke  zeigen  im  Im  fange,  in  der  Grossartigkeit  und 
Erhabenheit  der  Massen,  in  der  Schönheit  der  Formen  und  Verhältnisse, 
in  der  Wahl  und  Bearbeitung  des  Baumaterials,  sowie  in  dem  Reichtham 
und  der  Ausführung  der  ornamentalen  Sculptiiren  eine  Vollkommenheit, 
die  Bewunderung  erregt.  Und  jedenfalls  nehmen  sie  in  der  Architeclor 
einen  viel  höheren  Rang  ein,  als  ihnen  ein  berühmter  Reisender,  Herr 
von  Humboldt  (Monumens  des  penples  indi genes  de  TAmcrique.  p.  199) 
einzuräumen  geneigt  war,  indem  er  sagt:  „L'arcbitecture  ame  ricaine,  nous 
ne  saurions  assez  le  repeter,  ne  peut  surprendre  ni  per  la  grandeur  des 
masses,  ni  par  Pelegance  des  forroes."  Jeder  Unbefangene  indess,  der 
jenen  Bauwerken  nur  einige  Aufmerksamkeit  schenkt,  wird  kein  Bedenken 
tragen,  sie  den  alten  Denkmälern  Aegyptens,  Syriens,  Persiens  und  In- 
diens an  die  Seite  zu  steilen. 

Bei  der  Betrachtung  der  geheimnissvollen  Denkmäler  einer  verloren 
gegangenen  Bildung,  weiche  so  mächtig  die  Wissbegierde  reizen,  drän- 
gen sich  mancherlei  Fragen  über  ihren  Ursprung  auf.  In  welchem  Zeit- 
alter wurden  sie  aufgeführt  und  wer  waren  die  Erbauer?  Müssen  sie  als 
die  Werke  von  Völkern  angesehen  werden,  welche  vor  der  Entdeckung 
und  Eroberung  Amerikas  durch  die  Spanier  aus  Ländern  der  alten  Welt 
eingewandert  waren,  und  dahin  ihre  Cultur  verpflanzt  haben?  Oder  wur- 
den sie  von  den  Eingeborenen  des  neuen  Continents  selbst  errichtet, 
welche  in  ihrem  eigenen  Entwicklungsgang  eine  höhere  Stufe  der  Cultur 
erlangt  hatten?  Diese  Fragen,  so  anziehend  und  wichtig  ihre  Beantwor- 
tung für  die  Welt-  und  Cultur -Geschichte  ist,  lassen  sich  bei  der  Dürf- 
tigkeit,  ja  in  vieler  Hinsicht  beim  gänzlichen  Mangel  historischer  Quellen, 
welche  durch  die  Conquistadoren  vernichtet  wurden,  nur  sehr  unbefrie- 
digend lösen.  Es  kann  daher  nicht  befremden,  wenn  die  Autoren,  die 
sich  mit  der  Beantwortung  jener  Fragen  beschäftigt  haben,  in  ihren  An- 
sichten und  Meinungen  gar  sehr  von  einander  abweichen  und  sich  viel- 
fältig in  Muthmassungen  verirrt  haben. 

Was  zunächst  das  Alter  der  rätselhaften  Bauwerke  betrifft,  so  ha- 
ben  ihnen  oiohrorö  ^5i»hnftstell©r  ^   C/Obrcrfl  ^   ^)up8i^c ^   l^c    01  r*  ^  olind 
Waldeck  u.  a.  ein  sehr  hohes  Alter  zugeschrieben,  welches  sie  selbst  auf 
einige  Jahrtausende  vor  die  christliche  Zeitrechnung  setzen,  und  sie  hal- 
ten dieselben  für  ebenso  alt  wie  die  ältesten  Bauwerke  Aegyptens,  Syriens 


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Stephens  und  Catherwood:   Ueber  Central-Amerika.  itl 


■od  Indiens.    So  sagt  Le  Noir  (Antiquito  Mcxicaines  T.  2  p.  73):  „Lei 

ter  comme  les  plus  aociennes  du  monde  a  (rois  mille  ans.  Ceci  o'est 
point  mon  opinioo  seule ;  c'est  celle  de  tous  les  voyageurs ,  qui  ont  vu 
les  ruines  dont  il  s'agit ,  de  tous  les  arcbeologues  qui  ont  examine  les 
dessins,  ou  In  les  descriptions;  enfio  des  historiens,  qui  ont  fait  des  re- 
cherches.  et  qui  n'ont  rien  trouve  dans  les  annales  du  monde,  qui  fasse 
soupconner  Fepoque  de  la  fondalion  des  tels  monumens,  dont  Torigioe 
se  perd  dans  la  nnit  des  temps."  Der  durch  den  Anblick  der  alten  Bau- 
werke begeisterte  Obrist  Galindo  (Transactions  of  the  American  Antiquary 
Society  Vol.  2)  hat  selbst  kein  Bedenken  gelragen,  in  den  Ländern  Cen- 
tral -  Amerkas  die  Heimath  und  Wiege  der  ersten  Cultur  zu  suchen.  Dies« 
habe  sich  von  hier  aus  nach  dem  östlichen  Asien,  nach  China,  und  von 
da  durch  Indien  nach  Aegypten,  und  endlich  nach  Europa  verbreitet. 

Herr  von  Humboldt  dagegen,  der  die  Ruinen  für  Ueberreste  von 
Werken  der  Tolteken  und  Asteken  hält ,  meint ,  es  sei  kuum  wahrschein- 
lich, dass  sie  über  das  dreizehnte  oder  vierzehnte  Jahrhundert  hinausrci- 
eben.  Dieser  Ansicht  ist  im  Wesentlichen  auch  Stepbens  gefolgt,  der 
gegen  das  hohe  Alter,  welches  ihnen  Le  Noir,  Dnpaix  n.  a.  beigelegt 
haben,  den  Einwurf  macht,  dass  die  Gebäude  bei  den  tropischen  Regen« 
güssen  und  bei  dem  üppigen  Baumwuchs  in  jenen  Landern  nickt  so  lange 

p_"    _  _     nnvM.AifAll.oria     Rawaiia    \jnn     Knlrui'lilllrliorn     Allan  Man     call  Ddim« 

nuineu  uuiwciiciuuiic  dcyycisc   tum  uciruwiiiiiciiciii  ailui.     mmi  sun  Damno 

auf  ihnen  gewachsen,  wie  Waldeck  bemerkt,  die  einen  Durchmesser  von 
8  bis  9  Fuss  hallen ,  und  welche  auf  ein  Alter  von  vielen  Jahrhunderten 
schliessen  Hessen,  daher  er  ihr  Aller  auf  2—3000  Jahre  schätzt.  Sehr 
za  beachten  ist ,  dass  die  Bauwerke  unverkennbar  aus  ganz  verschiedenen 
Zeiten  sind.  Die  ältesten  Gebäude  in  Yocatan  sind  die,  welche  aus  gros* 
sen  rohen  Steinpflöcken  bestehen,  die  ohne  Hörtel  zusammengefügt  sind, 
und  an  denen  keine  oder  nur  sehr  rohe  Scolpturen  vorkommen,  wie  zu 
AU  und  Mayapan  und  einige  andere.  Sie  scheinen  älter  zu  sein,  alz 
irgend  ein  Gebäude  in  Mexico  aus  den  Zeiten  der  Tolteken  und  Azteken. 
Neueren  Ursprungs  dagegen  sind  offenbar  die  Gebäude,  an  denen  sich 
reiche  ornamentale  Scolpturen,  Reliefs  menschlicher  Figuren  und  Tafeln 
mit  Hieroglyphen  finden,  wie  an  den  Bauwerken  zu  Copan,  Palenque, 
Qairoga,  Ca  mal,  Kabah,  Labnab,  Cbicben-Itza  u.  a.  Doch  hält  Refer. 
aoeo  diese  für  alter  als  die  Bauwerke  aus  den  Zeilen  der  Tolteken  und 
Azteken.  Eine  aodere  Frage  ist,  wer  waren  die  Erbauer  der  alten  Denk- 
»iler?  Waren  es  aus  anderen  Welttbeilen  gekommene  Einwanderer,  oder 


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122  Stephens  und  Catherwood:   Ucber  Central- Amerika. 

worden  sie  von  amerikanischen  Völkern ,  von  L rbewohnern  oder  Aulock- 
tooeo  des  neuen  Continenls  aufgeführt?  Diese  wichtige  Frage  kann  un- 
seres Bedanken»  nur  durch  eine  Vergleichnng  der  amerikanischen  Bauwerke 
mit  denen  der  Volker  der  alten  Welt  der  Lösung  zugeführt  werden. 
Manche  Altert humsforseher ,  wie  Iluet,  glanbten  eine  grosse  Aefanlicbkeit 
derselben  mit  den  alten  Bauwerken  Aegyptens  gefunden  zu  haben,  wo- 
gegen sich  aber  schon  Clavigero  erklärt  hat.  Auch  Stephens  verwirf! 
eine  solche  Aehnlichkeit  auf  das  bestimmteste,  und  wir  dürfen  seiner  Aas- 
sage um  so  mehr  vertrauen,  da  er  Aegypten  bereist  hat  und  mit  dessen 
Altertümern  sehr  wohl  bekannt  ist.  Die  grossen  pyramidalen  Geblade 
Amerikas  sind  nicht  wie  die  aegyplischen  Pyramiden  Grab  -  Denkmaler, 
sondern  sie  stellen  erhöhte  Orte  dar,  deren  Gipfel  abgestumpft  ist  und 
eine  Plattform  hat,  zu  der  breite  Treppen  sich  erbeben.  Auf  dieser  sind 
kleinere  Gebäude,  Kapellen,  Teocallis  oder  Cues  aufgeführt,  in  denen  die 
Bilder  der  Gottheiten  oder  Götzen  standen,  welchen  die  Pyramiden  ge- 
weiht waren.  Hier  waren  auch  die  Altare  aufgerichtet,  auf  denen  Rauch- 
werk brannte,  oder  blutige  Opfer  gebracht  wurden.  Sie  stellten  also  die 
Orte  dar,  wo  die  Priester  die  religiösen  Cercmonien  vornahmen,  welche 
das  versammelte  Volk  anschaute.  Auf  den  Pyramiden  wurden  auch  die 
astronomischen  Beobachtungen  gemacht,  und  von  hier  aus  riefen  die  Prie- 
ster die  Stunden  ab.  An  und  in  den  ägyptischen  Tempeln  und  Paliusten 
finden  sich  viele  grosse  und  reich  verzierte  Säulen  mit  schönen  CapitÖlera, 
Solohe  sind  an  den  amerikanischen  Bauwerken  nicht  vorhanden,  und  kom- 
men sie  vor,  was  sehr  selten  der  Fall  ist,  so  sind  es  nur  plumpe  vier- 
seitige Pfeiler ,  ohne  Fussgestelle  und  Capitäler.  Die  Bildhauereien  an  den 
Gebäuden  zu  Copan,  Palenquö,  Uxmal,  Chichen-Itza  u.  a.  unterscheiden 
sich  ferner  dadurch  von  den  ägyptischen,  dass  sie  halb  erhaben  Sind, 
während  letztere  meistens  vertieft  sind.  In  der  Darstellung  menschlicher 
Figuren  waren  auch  die  alten  amerikanischen  Bildhauer  viel  glücklicher 
als  die  ägyptischen.  Das  Antlitz  der  Figuren  ist  zwar  gewöhnlich  wie 
an  den  ägyptischen  Figuren  von  der  Seite  dargestellt,  aber  die  Köpfe 
haben  fiel  mehr  Ausdruck  und  sind  mit  grösserer  Genauigkeit  und  An- 
mut h  als  jene  ausgeführt.  Niemals  sieht  man  wie  an  letzteren  das  volle 
Auge  an  der  Seite  des  Kopfes.  In  den  ornamentalen  Sculpluren  endlich, 
in  den  Arabesken,  Mäandern  u.  s.  w.  der  breiten  und  reichen  Karniesse 
und  Gesimse  übertreffen  die  amerikanischen  Bauwerke  bei  weitem  die 
ägyptischen,  und  zeigen  einen  ganz  eigenthümlicheu  Charakter. 

Den  amerikanischeu  Pyramiden  ähnliche,   in  Absätzen  aufgeführte 
grosse  Gebäude  kommen  in  mehreren  Lindern  des  westlichen  Asiens  vor, 


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Stephens  und  Catherwood:    Ueber  Central- Amerika.  123 


wohin  die  Buddha  -  Tempel  gehören.  Der  Tempel  Sambhunalh,  den  man 
fflr  den  ältesten  io  Nepaul  hält,  ist  nach  den  von  Kircpatrick  (Panoramie 
View  of  the  Valley  of  Nepaol  p.  153)  und  F.  Hamilton  (Account  of  tbe 
Kiogdom  of  Nepaul)  gegebenen  Nachrichten  ein  isolirter  Hügel  mit  meh- 
reren aufsteigenden  Terrassen ,  auf  deren  höchster  ein  grosser  allarartiger 
Aufsatz  ruht  Die  grosse  Pagode  Shoe  Dagon ,  das  goldene  Haus  ztr 
Rangun  am  Iriwadi  in  Birma,  das  älteste  Denkmol  im  Lande,  vor  mehr 
als  2000  Jahren  errichtet,  ist  nach  Crawfurd  (Embassy)  aus  solidem 
Mauerwerk  bis  zu  einer  Höhe  von  178  Fuss  aufgeführt,  und  hat  an  der 
Grundfläche  einen  Umfang  von  1 358  Fuss.  An  jeder  Seite  Anden  sich 
80  Stufen,  die  zum  Gipfel  fahren.  Auch  der  pyramidenförmige  Tempel 
Shoe  roeodou  io  Pegu  ist  nach  Symea  (Relation  p.  340)  im  Styl  dea 
Shoe  Dagon  erbaut.  Die  grosse,  auf  zwei  Absätzen  rohende  Pyramide 
ist  361  Fuss  hoch.  Auf  Ceylon  finden  sich  gleichfalls  Pyramiden  als 
Ueberrestc  Buddhistischer  Tempel,  welche  L.  Fagan  (Antiquities  of  To- 
pary  naar  Miuery :  io  Asiatique  Journal  1634  N«  Ser.  Vol.  13  p.  169) 
beschrieben  hat.  Viele  religiöse  Denkmäler  und  grossartige  Ueberreste 
solcher  Tempel  siod  ferner  auf  Java  vorhanden,  welche  in  Terrassen  auf- 
geführt, Pyramiden  gleichen  (Transactions  of  the  literary  Society  of  Born-2 
bay  Vol.  2  p.  154).  Dahin  gehören  namentlich  die  von  Brambanon  im 
Districte  van  Mataran,  die  von  Büro  Bado  ins  Dittricte  von  Kadu  und 
die  voo  Siogasari  im  Districte  Matang.  Unter  den  vielen  Denkmalern  zu 
Brambanan  zeichnen  ?ich  besonders  die  Nuinen  des  Haupttempel6  aus,  an 
denen  Bildsäulen  vorkommen,  die  dem  Ganesa,  Scbiwa  und  anderen  in- 
dischen Gottheiten  ähnlich  Bind»  Auch  die  Costüme  der  Figuren  an  dea 
Basreliefs  gleichen  den  Hiadu  -  Tempeln.  Ao  deo  daselbst  befindlichen 
Ruinen  des  Kobuda  erblickt  man  zwei  umgestürzte  und  zum  Theil  zer- 
brochene Statoen,  welche  die  Hüter  des  Tempels  darstellten.  Alfa  die 
grossen  Bauwerke  zu  Brambaoan  sind  aus  beim  neuen  Bruchstücken  und 
ohoe  Härtel  oder  Kitt  aufgeführt.  Der  Haopttempel  von  Boro  Bodo  ist 
eine  grandiose  pyramidalo  Anlage,  weiche  sich  in  sechs  Absätzen  erhebt 
und  reich  mit  Nischen  verziert  ist,  io  deuen  buddhistische  Figuren  sitzen. 
Ao  einem  Tempel  zu  Siogasari  erblickt  man  über  dem  Haupteingang  au 
4er  Westseite  ein  ungeheures  Gorgoncnhanpt ,  und  es  sind  viele  andere 
Scalpluren  vorhanden.  In  einem  Walde  in  der  Nähe  liegen  viele  mit 
Bildwerke  bedeckte  Trümmer,  onter  deoeo  man  Brahma  und  Wischnu, 
deo  heiligen  Stier,  eine  mit  Blumen  bekränzte  Iudra  und  andere  indische 
Figuren  erkannte.  Alle  jene  javanische  Denkmaler  zeichnen  sich  durch 
einen  grossen  Heichthum  schön  gearbeiteter  Bildwerke  uus,  die  aber  alle 


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124  Stephen«  und  Catherwood:   Ueber  Centrai-Amerika. 


theils  dem  Kreise  der  buddhistischen  oder  brahmanischen  Religion  ange- 
hören, Iheils  als  eigentümliche  phantastische  Formen  erscheinen,  wie  an 
den  schönen  Abbildungen  von  Raflles  wahrzunehmen  ist.  Sehr  merkwür- 
dige Rainen  liegen  noch  in  der  Nähe  des  Dorfs  Suka  auf  einem  Hügel 
beim  Berge  Lawu.  Eins  der  Hauptgebäude  besteht  aus  einer  abgestumpf- 
ten Pyramide,  die  sich  auf  dem  Gipfel  von  drei  einander  überragenden 
Terrassen  erhebt.  Die  an  denselben  befindlichen  Scnlpluren  und  Basreliefs 
haben  eine  merkwürdige  Aehnlichkeit  mit  denen,  welche  an  ägyptischen 
Bauwerken  vorkommen.  Hier  frisst  ein  Ungeheuer  ein  Kind  auf  und  er- 
innert au  den  Typhon,  dort  erinnert  ein  Hund  an  den  Ann  bis.  ein  Kra- 
nich an  den  Ibis.  Ferner  sieht  man  das  Bild  der  Palme,  der  Taube,  des 
Sperbers,  der  Schlange,  lauter  im  alten  Aegypten  bekannte  Symbole. 
Diese  Ruinen  gehören  einer  Epoche  an,  von  der  sich  auf  Java  keine 
Tradition  erhatten  hat.  In  Terrassen  aufgeführte  pyramidenförmige  Ge- 
bäude endlich  sollen  nach  Du  Halde  (Voyage  en  Chine  T.  2  p.  250) 
noch  in  der  Mongolei  vorkommen,  namentlich  in  der  alten  Stadt  Para 
Hotun,  die  von  den  Nachfolgern  Kublai  Khans  erbaut  wurde. 

Die  nicht  so  verkennende  Aehnlichkeit  der  Bauwerke  Mittel -Ame- 
rikas mit  Buddha  -  Tempeln  hat  mehrere  Archäologen  bestimmt,  die  Ver- 
mutung auszusprechen ,  dass  die  Erbaoer  jener  aus  einem  Lande  des  öst- 
lichen Asiens  nach  dem  neuen  Continente  gelangt  seien.  Herr  von  Hum- 
boldt namentlich  hat  es  in  seinem  Werke  über  die  Monumente  amerika- 
nischer Urvölker  (Vues  des  Cordilieres  et  Monumens  des  peuples  indigenes 
de  TAmörique),  durch  Yergleicbung  des  mexikanischen  und  tibetanisch- 
japanischen  Calenderwesens ,  der  wohl  orientirten  Treppen-Pyramiden  und 
der  uralten  Mythen  von  den  vier  Zeitaltern  oder  Welt  Zerstörungen,  wahr- 
scheinlich gemacht,  dass  die  westlichen  Völker  des  neuen  Continents  lange 
vor  Ankunft  der  Spanier  im  Verkehr  mit  Ost -Asien  gestanden  haben. 
Ein  solcher  Verkehr  lasst  sich  allerdings  bei  der  Nähe  der  Küsten  beider 
Welitheile  an  der  Behrings  -  Strasse  und  den  vielen  zwischen  denselben 
befindlichen  Inseln  nicht  in  Zweifel  ziehen,  und  dafür  spricht  die  grosse 
Aehnlichkeit,  ja  vollkommene  Uebereinstimmung  so  vieler  Sitleo  und  Ge- 
bräuche bei  asiatischen  und  west- amerikanischen  Völkerschaften.  Zur 
Bestätigung  fuhrt  Refer.  uur  einige  Thatsachen  an.  So  ist  das  Tätowieren 
sowohl  bei  den  Indianern  Nord- Amerikas,  als  bei  den  nord  -  asiatischen 
Völkern,  den  Tsucktschen,  Ainos,  Tungüsen,  Kirghisen  und  Ostiaken  ein 
alter  Gebrauch.  Die  Indianer  bemalen  das  Antlitz  mit  verschiedenen  Far- 
ben gleich  dem  chinesischen  Gebirgsvolk  der  Sifans.  Selbst  das  bei  den 
nord-amerikanischen  Völkern  übliche  Skalpieren  war  nach  Herodot  bei 


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Stephens  und  Catherwood  •    lTi»h»r  rVntm1.Am*«>i*l*  4oc 

F  •••"^  vt  wu  •       lj  v  vvl    v villi p  1  v/mm v|  lt\«i  |4  j 


den  Scylheo  im  Gebrauch  und  sie  trugen  den  Skalp  gleich  jenen  als  Sie- 
geiieichen.  Der  Kahne  ans  Birkenrinde  bedienen  sich  Eingeborne  Nord- 
Amerikas  gleich  den  Tungusen  und  Samojeden.  Die  Indianer  der  Dörf- 
lichen Länder  des  neuen  Contineats  pflegen  beim  Wechsel  der  Jahreszeiten 
ihre  Wohnplütze  zu  ändern,  wobei  sie,  wie  viele  ost-osiatische  Volker, 
ihre  Zellen  und  Hausgeräth  auf  den  Rücken  von  Hunden  laden.  Die 
Wiegen  der  Indianer  Nord-Amerikas  gleichen  denen  der  Tungusen,  und 
werden  von  den  Weibern  auf  dem  Rücken  getragen ,  oder  an  einen  Baum 
gehängt.  Der  in  vielen  Ländern  Nord-  und  Süd  -  Amerikas  üblich  ge- 
wesene Gebrauch  der  Quippos  oder  der  Knotenschrift  fand  sieh  nach  A. 
Remussat  (Recnerches  snr  les  langues  tartares.  Paris  1820  p.  66)  auch 
bei  den  Sifans  und  selbst  bei  den  Chinesen  in  aller  Zeil.  Die  Indianer 
Nord-Amerikas  verehren  gleich  den  Barnten  die  Sonne,  richten  Gebete 
an  sie  und  bringen  ihr  Opfer.  Die  scheusslichen  Götzen  der  Asteken 
hatten  unverkennbar  viele  Aehnlicbkeiten  mit  den  Gölten  des  Scbamani- 
scben  Heidenthums,  und  deren  Antlitz  wurde  mit  Blut  beschmiert,  wie 
es  noch  bei  den  Calmucken  Gebrauch  ist  Auch  in  der  Todten-Bestattung 
Gaden  zwischen  nord  -  amerikanischen  und  ost  -  asiatischen  Völkern  Aehn- 
licbkeiten statt.  Bei  den  Assiniboins  und  Krihs  oder  Knistenanx  am  obe- 
ren Missouri  herrscht  der  Gebrauch,  die  Todten  in  Slrgen  an  abgelegenen 
Orten  auf  Blume  zu  setzen.  Derselbe  Gebranch  findet  sich  nach  Pallas 
bei  den  Baltiren  und  Teleuten  von  Kuznezk.  Die  Sioux  oder  Dacotaa, 
sowie  die  Crows  am  Yellow  Stone  River  und  die  M  önnitarris  legen  die 
Verstorbenen  bemalt,  in  ihrem  -ganzen  Anzüge,  mit  ihren  Waffen  und 
Ge rathschaften,  in  Fellen  eingeschnürt,  auf  ein  hohes,  aus  vier  Pfählen 
ruhendes  Gerüst  Anf  dieselbe  Weise  pflegen  nach  Schangin  die  Berg- 
Kalmucken  ihre  Todten  in  voller  Kleidung  auf  Stangen  -  Gerüste  nieder- 
zulegen. 

Der  Aehalichkeit  in  vielen  Sitten  und  Gebrauchen  ohnerachtet,  steht 
der  von  manchen  Ethnographen  ausgesprochenen  Behauptung,  dass  Ame- 
rika selbst  vom  östlichen  Asien  aus  bevölkert  worden  sei ,  entgegen,  dass 
die  amerikanischen  Völker,  wie  Morton  gezeigt  hat,  sich  durch  eigen- 
tümliche Kennzeichen  in  der  Farbe  der  Haut,  in  der  Form  des  Schädels 
und  in  den  Gesichtszügen  von  den  Völkern  der  mongolischen  Rasse  we- 
sentlich unterscheiden.    Um  sich  bievon  zu  aberzeugen,  braucht  man  nur 

dlf»  tr(l^n«n  A  kkiMnnnan  an  Ua»_„ „L nralnliA  Pri„»  Movimilinn  w  Wiad 
^mm    iVUUUCU    SlUUllUUllgCIl    ZU    UCliaCDlCU  ,    WCIl/llö    iriUi    OidA  IIIllllUU   V.  »T  ICU 

«ad  der  Haler  Caüin  von  Indianern  Nord  -  Amerikas  aus  fast  allen  Sttfm- 
»eB  gegeben  haben. 


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136  Sleühens  und  Catherwood-    lTol>pr  f%>ntrnl-4m#>rikfl 


Obgleich  nach  obigen  Blittneilungen  nicht  bezweifelt  werden  kann, 
dass  schon  io  früher  Zeil  eid  Verkehr  iwischcn  den  Ost -Asiaten  und 
West - Amerikanern  statt  halle,  ao  halt  ea  Herr  von  Humboldt  doch  fttr 
unentschieden,  auf  welchen  Wegen  und  mit  welchen  asiatischen  Völker- 
schaften die  Verbindung  stattgefunden  bat.  Er  meint,  eine  geringe 
Zahl  von  Individuen  ans  der  gebildeten  Priestercasio  hiltte  viel- 
leicht hingereicht,  groise  Veränderungen  des  bürgerlichen  Znstandes 
im  westlichen  Amerika  hervoranbringen.  Was  man  aber  ehemals  von 
chinesischen  Expeditionen  nach  dem  neaen  Continentc  gefabelt,  beziehe 
sich  bloss  auf  Schiflfabrten  nach  Fosang  oder  Japan.  Dagegen  könn- 
ten Japaner  oder  Sian-Pi  ana  Korea,  von  Stürmen  verschlagen,  an 
der  amerikanischen  Küste  gelandet  sein.  Man  wisse  historisch,  dass  Bon- 
aen  und  andere  Abenteurer  das  östliche  chinesische  Aleer  bescliiflft  haben, 
um  ein  Heilmittel  zu  suchen,  welches  den  Menschen  unsterblich  mache. 
So  wurde  unter  Tscu'u-sihi~huang-ti  eine  Schaar  von  $00  Paaren  langet* 
Männer  und  Weiher,  200  Jahre  vor  unserer  Zeitrechnung,  nach  Japan 
gesandt;  statt  nach  China  zurückzukehren,  latafM  sie  sich  auf  Ninon  nie- 
der (Kleproth  Tableaux  historio,ues  de  TAsie  1824  p.  79;  Noureau  Jour- 
nal asiatique  T.  10  1832  p.  335.  Humboldt  Examen  critiqUö  T.  2  p. 
62 — 67}.  Sollte  der  Zufall  nicht  ähnliche  Expeditionen  nach  den  Fuchs- 
inseln,  nach  Alaachka  oder  nach  Neu  -  filiformen  geführt  heben?  Da 
aber  die  westlichen  Küsten  des  amerikanischen  Conti  neu  t<  von  NW  gegen 
SO,  die  westlichen  Küsten  Asiens  dagegen  von  NO  gegen  SW  gerichtet 
sind,  ao  scheine  die  Entfernung  beider  Continentc  in  der  milderen,  gei- 
stiger Entwicklung  EulrügJu her en  Zone  von  45  0  Breite  allzu  beträcht- 
lich, um  in  dieser  eine  zufällige  asiatische  Übersiedlung  zu  gestatten. 
Man  müsse  daher  annehmen,  die  erste  I^nnduug  geschah  in  deaa  unwirth 
baren  Klima  von  53°  und  65°,  und  die  Bildung  sei  schrittweise  m  Sta- 
tionen, Wie  der  allgemeine  Völkeraug  in  Amerika,  von  Norden  gegen 
Süden  (Relal.  bist.  T.  3  p»  153}  gegangen.        .    i  . 

Andere  Autoren  haben  sich  Uber  eine  ehemalige  Verbindung  zwi- 
schen den  Völkern  das  östliche»  Asiens  and  ilea  neuen  Continents  mit 
weniger  Um>icht  ausgesprochen.  So  meinte  der  ältere  Deguignes  durch 
seine  UnteraHeauUgen  der  chinesisch  en  Jahrbücher  bewiesen  zu  haben,  dass 
die  Chinesen  bereits  seit  dem  fünften  Jahrhundert  der  christlichen  Zeit- 
rechnung Amerika  gekannt  hüllen ,  und  dass  ihre  Schiffe  des  Handels  wegen 
nach  dem  Lande  Füging  geaegel*  ee*eur  worunter  das  neue  Coutinent  tet»- 
standen  werden  müsse.  Klaproth  (Recherches  sur  le  pej*  Fusaog,  in  Nouv. 
Annales  des  Yoyagea  T.  21  sec.  ser.)  dagegen,  welcher  die  von  einem 


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Stephens  und  Catherwood  ■    Ueber  Central-Amerikc,  127 

X 

buddhistischen  Mönche  Über  Fasan?  gegebene  Nachricht  kritisch  beleuch- 
tete, hat  nachgewiesen ,  dass  darunter  nur  Japan  au  verstehen  sei.  Rein- 
hold  Forster  bat  die  Vcrmttthung  aufgestellt ,  dass  Tataren  von  der  Flotte, 
welche  Khublai  Khan  im  Jahr  1281  ausgerüstet  hatte,  uro  Japan  zu  er- 
obern, an  den  Kasten  Amerikas  gelandet  seien,  welche  unhaltbare  Hy- 
pothese John  Ranking  (Hntoricai  Researches  on  the  cooquest  of  Peru, 
Mexico  and  Bogota  in  the  thirteenth  Century  by  the  Mongols.  London 
1827)  sieb  bemüht  bat  weiter  durchzuführen.  Neuerlichst  haben  Neu- 
mann und  Eichthal  ebenfalls  wieder  die  Behauptung  ausgesprochen,  Buddha- 
Priester  hätten  Mexico  besucht  und  die  Cultur  daselbst  eingeführt. 

Ohneracbtet  der  oben  angegebenen  Aebnlicbkeit ,  welche  die  allen 
amerikanischen  Bauwerke  mit  Buddha -Tempeln  haben,  muss  sich  Refar. 
doch  ganz  entschieden  gegen  die  Meinung  aussprechen,  dass  die  Erbauer 
derselben  Buddha  -  Priester  waren,  denn  die  an  denselben  vorkommenden 
Symbole  und  die  ornamentalen  Sculpturen  sind  gänzlich  von  denen  budd- 
histischer Bauwerke  verschieden.  Es  lasst  sich  ferner  gegen  die  Vor- 
motbung,  dass  jene  Monumente  von  einem  aus  dorn  ostlichen  Asien  ein* 
gewanderten  Volk«  aufgeführt  worden  sind ,  der  Einwurf  machen ,  dass 
die  an  den  Bauwerken  Cenlrnl-Amenkas  dargestallten  menschlichen  Figu- 
ren sowohl  in  der  Bildung  des  Kopfes  uud  des  Antlitzes,  als  in  den 
Kleidungen,  Zierrathen  und  Wallen  auch  nicht  die  entfernteste  Aehnlich- 
keift  mit  einem  Volke  des  mongolischen  Menschen  -  Stammes  haben.  Refer. 
hall  es  daher  für  gana  unwahrscheinlich,  dass  die  alta,  einst  in  den  Län- 
dern Mittel -Amerikas  verbreitet  gewesene  Gultur,  für  welche  die  pracht- 
vollen Bauwerke  ein  so  lautes  Zeugniss  ablegen ,  durch  die  rohen,  an  der 
Nordost- Küste  Asiens  wohnenden  Nomaden-  und  Fischer- Völker  einge- 
führt worden  sei.  Zu  beachten  ist  ausserdem,  dasB  sich  die  schönen 
dien  Bauwerke  nicht  in  den  westlichen  Liindern  des  neue»  Continents 
befinden ,  sondern  in-  den  Ländern  an  der  Ostküste  Amerikas,  und  nament- 
lich besonders  auf  der  soweit  in  den  Golf  von  Mexico  vorspringende« 
Halbinsel  Yocatan.  Und  endlich  vergesse  man  nicht ,  dass  die  mongoli- 
schen Völker  bei  ihren  Wanderungen  und  HeeresnUgen  der  Verbreitung 
der  Cuitur  und  der  Künste  nicht  förderlich  waren.  Seit  den  ersten  Um- 
fallen der  Hannen  haben  sie  sowohl  in  Asien  als  in  Europa  die  Cultur 
vernichtet  und  die  vorgefundenen  Kunstwerke  zerstört.        «     •  >« 

Es  ist  ferner  zu  untersuchen,  ob  die  amerikanischen  Bau  -  Denkmä- 
ler Aehnuehkeii  mit  den  alten  assyrischen  Bauwerken  haben.  Zöega 
(üe  obeliscia  p-  3£0)  war  es,  der  zuerst  auf  die  Aehnliehkeii  der  ame- 
rikanischen Pyramiden  mit  dem  Tempel  des  Beins  in  Babylon ,  wie  ihn 
Herodot  (Lib.  1  Cap.  181)  und  Diodor  von  SioilieH  beschrieben  haben, 
aufmerksam  gemacht  bat.  Und  Herr  von  Humboldt  ( a.  a.  0.)  sagt:  II 
est  impossible  de  lire  les  descriptions  qu1  Herodot«  ei  Diodore  de  Sicile 
nons  ont  laissces  du  temple  de  Jupiter  Belus,  saus  elre  frappe  de  traits 
de  ressemblance,  quoITrent  ce  monument  bnbylonien  avec  les  teocallia 
d'Aaahuac.  Auch  in  den  neuerlichst  von  Layard  (Niniveh  and  its  re- 
mains)  gegebenen  Beschreibungen  der  Buinen  zu  Nimrud,  Khorsabad  und 


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126  Stephens  und  Cather woo d:    Ueber  Central-Amerika. 


Kalah  Schergat  gegebenen  Beschreibungen  sind  grosse  Ärmlichkeiten 
x wischen  den  alten  assyrischen  und  amerikanischen  Bauwerken  nicht  zu 
verkennen.  So  besteht  die  Hauptruine  in  Schergat  aus  einer  sehr  gros- 
sen Erhöhung ,  auf  der  eine  Pyramide  aufgeführt  war,  welche  von  Er- 
höhungen umgeben  wird,  auf  denen,  nach  dem  darüber  zerstreut  liegen- 
den Schutt  xu  schliessen,  kleinere  Gebäude  in  einem  Viereck  standen. 
Nach  den  früheren  von  Ainsworth  gemachten  Ausmessungen  hatte  die 
Haupt -Erhöhung  einen  Umfang  von  14,000  Fuss.  Ein  Theil  derselben 
acheint  natürlich  zu  sein,  und  auf  die  natürliche  Erhebung  sind  Lagen 
von  an  der  Sonne  getrockneten  Lehmsteinen,  dem  gewöhnlichen  Bauma- 
terial dieser  Gegenden,  gebracht  worden,  um  eine  grössere  Erhöhung  zu 
{stände  zu  bringen ,  welche  dann  die  Grundlage  für  die  darauf  errichteten 
Gebäude,  die  Pyramide,  die  Tempel  und  Pallaste  bildete.  Nach  Layard's 
Untersuchungen  scheinen  die  alten  Assyrer  stets  bei  der  Anlage  eines 
grossen  Gebäudes  zuerst  als  Fundament  eine  erhöhte  Flache  geschaffen  zu 
haben,  die  sich  oft  40 — 50  Fuss  Uber  den  Boden  erhob,  und  auf  die- 
ser erst  wurden  die  Gebäude  aufgeführt.4)  Darin  kommen  offenbar  die 
alten  Bauwerke  der  Länder  Central  -  Amerikas ,  namentlich  zu  Palenque*, 
Copan ,  Uxmal  u.  a.,  mit  den  assyrischen  Bauwerken  überein.  Noch  in 
vielen  anderen  Punkten  xeigen  sich  zwischen  beiden  grosse  Aehnlichkeiten. 
Die  alten  amerikanischen  Pallüste  bestehen  wie  die  assyrischen  meistens 
nur  aus  einem  Stockwerk ,  vor  dem  sich  ein  Corridor  befindet ,  von  dem 
aus  die  Thür- Oeffnungen  gleich  in  die  Gemächer  führen.  Jene  haben 
ferner  ebenso  wenig  wie  die  alten  assyrischen  Gebäude  Fenster -Oeffnun- 
gen, Luft  und  Licht  halte  daher  in  beiden  nur  durch  die  grossen  Thü- 
ren  Zugang.  Die  Decken  der  Gemacher  sind  nicht  aus  bogenförmig  ge- 
sprengten Gewölben  gebildet,  sondern  sie  bestehen  aus  auf  einander  ge- 
legten vortretenden  Steinplatten.  Sowohl  in  den  alten  amerikanischen,  ala 
assyrischen  Gebäuden  kommen  höchst  selten  Säulen  vor,  und  diese  haben 
meistens  weder  Sockel  noch  Capitäler,  und  gleichen  nur  rohen  Pfeilern. 
Ausserdem  sind  sich  die  Bauwerke  auch  darin  ähnlich,  dasa  sie  sowohl 
ausserlich,  als  die  Wände  der  Gemächer  selbst  mit  senkrecht  aufgerichteten 
grossen  Steinplatten,  oder  mit  Stucco  verkleidet  waren ,  auf  denen  mensch- 
liche und  Thier  -  Figuren  abgebildet  sind.  Die  menschlichen  Figuren  an  den 
amerikanischen  und  assyrischen  Bauwerken  Übertreffen  in  der  Correctheit  der 
Zeichnung  und  in  der  Genauigkeit  der  Verbältnisse  bei  weitem  die  ägyp- 
tischen. Sehr  beachtungswerth  ist  endlich,  dass  die  alten  Geblude  Cen- 
tral-Amerikas,  ausserlich,  wie  Stephens  wahrgenommen  bat,  mit  ver- 
schiedenen Farben  bemalt  waren ,  und  Spuren  von  Farben  hat  auch  Layard 
an  den  assyrischen  Gebäuden  deutlich  erkannt. 

• '       •)  Vergl.  diese  Jahrb.  1850  Nr.  6  p.  Si. 

v    ,  »   •  T  •••>'! 

(Fortnlmng  foty  in  Ar.  iL) 


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k.  9.  HEIDELBERGER  MSI. 

JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR. 


Bandbuch  der  römischen  Epigraphik  ron  Karl  Zell,  Professor  an  der 
Universität  zu  Heidelberg.  Erster  Theil:  Auswahl  römischer  /n- 
schriflen.  Heidelberg.  Initersitatsbuchhandlung  ron  Karl  Winter. 
1850.  8.  480  S.  Mit  dem  besondern  Titel:  Delectus  inscriptionum 
romanarum  cum  monumentis  legalibus  fere  Omnibus.  Edidit  Ca- 
rolus  Zell.  Heideiber gae.    Sumtibus  Caroli  Winter.  1850. 

Die  Taesende  von  römischen  Inschriften,  welche  noch  vorhanden 
sind  und  deren  Zahl  fortwährend  durch  neu  aufgefundene  vermehrt  wird, 
führen  nns  so  recht  unmittelbar  in  das  antike  Leben  ein  nach  fast  alten 
seioen  Richtungen;  sie  bilden  den  treuesten  Codex  diplomaticus  zur  rö- 
mischen Geschichte  und  Alterthumskunde  und  zugleich  eine  reichhaltige 
Ergänzung  zur  römischen  Literatur.    Ungeachtet  dessen  ist  die  Kenntniss 
dieser  Denkmäler  und  d8s  Interesse  dafür  nicht  so  verbreitet,  als  man 
glauben  sollte.    Wahrend  kleine  Bruchstücke  von  Grammatikern  oder  von 
untergeordneten  Schriftstellern,  die  man  in  Handschriften  fand,  oft  grosse 
Theilnabme  erregen  und  eine  sorgfaltige  Behandlung  gefunden  haben,  ist 
manche?  epigraphische  Denkmal  von  grosser  Wichtigkeit  von  unsern  deut- 
schen Philologen  ganz  vernachlässigt  worden.    Um  nur  ein  paar  Belege 
dazu  anzuführen,  erinnern  wir  an  das  Monumentum  Ancyranum,  welches 
erst  vor  einigen  Jahren  eine  sorgfältigere  Bearbeitung  durch  Franz  und 
A.  W.  Zum  pt  gefunden  hat  und  an  das  wichtige  Edict  Diocletians  De 
pretiis  rernm,  welches  einer  solchen  bis  jetzt  ermangelt.    Die  Anregung, 
welche  F.  A.  Wolf  durch  seine  Schrift:  Ueber  eine  milde  Stiftung  Tra- 
jans  (1608}  dem  epigraphischen  Studium  in  Deutschland  geben  wollte, 
blieb  bis  zn  dem  Erscheinen  der  Sammlung  von  Orelli  (1828)  ohne 
besondern  Erfolg.    Ans  jenen  beiden  Jahrzehnten  ist  unter  den  deutschen 
Philologen  fast  nur  Osann  zu  nennen.    Die  Anregung,  welche  Hugo 
durch  seine  Arbeiten  Ober  die  Lex  De  Gallia  Cisalpina  und  Uber  die  Ta- 
bula Heracleensis   für   die   Beachtung  der  monumenta  legalia  gegeben 
hatte,  trug  in   demselben  Zeitraum   in   den   Arbeiten  von  Dirks  en, 
Kleoze,  Marezoll,  sowie  in  den  Sammlungen  von  Haubold  und 
Spangenberg  ihre  Früchte.    In  den  letzten  beiden  Jahrzehnten,  ganz 
besonders  aber  in  der  neuesten  Zeit  bat  nnter  den  deutschen  Philologen 
und  Juristen  das  Interesse  für  diesen  Zweig  der  Alterthumskunde  und  die 

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130  Zeil:  Handbuch  der  röiniscfcen  Epfgraphik:  \ 

.  *  • 

Thütigkeit  dafür  beträchtlich  zugenommen ,  und  zwer  von  verschiedenen 
Veranlassungen  aus  und  in  verschiedenen  Richtungen.    Ohne  aUe  Namen 
nennen  zu  wollen,  erinnern  wir  an  jene  ausgezeichneten  Arbeilen  deut- 
scher nnd  nordischer  Gelehrten,  welche  in  Italien  selbst,  wo  die  Epi- 
graphik  immer  eine  fleissige  Pflege  Tand,  mit  den  ausgezeichnetsten  ein- 
heimischen Kennern  des  Faches  so  glücklich  wetteifern  (Kellermann, 
Jahn,  Henzen,  Mommsen,  Brunn),  oder  die  wichtigsten  epigra- 
phischen Urkunden  mit  kritischer  Schärfe  neu  verglichen  (Gö  Illing); 
ferner  Jene,  welche  in  Deutschland  Inschriften  erläuterten  oder  antiqua- 
riscbe  Forschungen  Uber  einzelne   Fragen  vorzugsweise  aus  Inschriften 
durchführten  (Grotefend,  Göttling,  Tb.  Zumpt,  A.  W.  Zumpt, 
Lieberkühn);  dann  Jene,  welche  die  römischen  Denkmäler  einzelner 
deutschen  Länder  bearbeiteten  (Lehrsch,  Hefner);   endlich  die  Be- 
arbeiter solcher  epigraphischer  Urkunden ,  welche  zu  den  Quellen  des  rö- 
mischen Rechts  gehören  (Rudorff).    Ungeachtet  dieser  zahlreichen  und 
grossentheils  trefflichen  Arbeiten  fehlte  doch  bisher  ein  Werk,  welches 
in  das  Gebiet  der  römischen  EpigraphUc  im  Allgemeinen  einführte  und 
die  Kenntniss  desselben  unter  den  jungen  Philologen  und  unter  den  Freun- 
den des  dänischen  Alter  Um  ms  in  der  Weise  populärer  machte,  als  es 
ausführbar  und  wünschenswerth  ist    Dazu  gehörte  eine  epigrapnische 
Chrestomathie  und  eine  theoretische  Anleitung.    Die  Sammlung  von  Orelli, 
für  so  wichtig  und  nützlich  sie  auch  sonst  gelten  muss,  ist  zu  dem  er- 
stem Zwecke  nicht  ganz  geeignet.    Einerseits  ist  daza  ihr  Umfang  zu 
gross,  und  andererseits  vermisst  man  darin  manche  der  wichtigsten  und 
interessantesten  Denkmäler.    Sie  enthält  z.  B.  nicht  die  beiden  oben  an- 
geführten Urkunden  (das  monumentum  Ancyranum  und  Edictum  Diode- 
tiani),  sie  hat  überhaupt  wenige  monumenta  legalia,  abgesehen  davon, 
das«  seit  dem  Erscheinen  jener  Sammlung  eine  Menge  der  interessantesten 
Denkmäler  erst  aufgefunden  worden  ist.    Der  oben  angegebene  Delectus 
inscriptionum ,  welchen  der  Herausgeber  nach  der  bestehenden  Uebung 
unsrer  Jahrbücher  hier  selbst  anzuzeigen  unternimmt,  soll  nun  dem  Be- 
dürfnisse  einer  solchen   epigraphischen  Chrestomathie  entgegenkommen. 
Ohne  über  seine  eigene  Arbeit  urtheilen  zu  wollen,  glaubt  der  Heraus- 
geber zur  nähern  Charakterisirung  dieses  Delectus,   auf  folgende  drei 
Eigenschaften  desselben  hinweisen  zu  dürfen:  1)  er  enthält  Proben  aus 
allen  Gattungen  von  Inschriften  und  dabei  fast  alle  monumenta  legalia, 
welche  letztere  man  nirgends  so  vollständig  beisammen  ündet  als  hier;  2)  die 
Auswahl  ist  mit  vorzugsweiser  Beachtung  der  interessantesten  Stucke  uud 
mit  Benützung  der  besten  und  neuesten  Hilfsmittel  und  3)  Bich  einer 


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Zell:  Handbuch  der  römischen  Epigraphik.  131 

systematischen,  das  ganze  epigraphiscbe  Gebiet  umfassenden  Anordnung 
ausgeführt  Wenn  diese  Sammlnn *  daher  euch  nicht  neue  Ergebnisse  für 
die  Wissenschaft  bieten  kann,  so  wird  sie  doch  den  Vom.*  eine,  ge- 
wissen Heichhaltigkeit ,  sowie  der  angestrebten  Zweckmässigkeit  in  4er 
Auswali!  und  Anordnung  ohne  Uobescbeidenbeit  ansprechen  dürfen.  Jene 
Reichhaltigkeit  wäre  innerhalb  der  Grenzen  eines  massigen  Octavbandes 
■icfat  zu  erreichen  gewesen,  wenn  fttr  den  Druck  die  bei  epigraphischen 
Denkmälern  sonst  wenn  anch  nicht  ausschliesslich  doch  bei  weitem  vor- 
wiegend gebrauchte  Capitalschrift  angewendet  worden  wäre.  Diess  ist 
aber  von  dem  Herausgeber  aus  guten  Gründen  nicht  geschehen;  sondern 
die  allen  Inschriften  werdea  hier  dem  Leser  in  derselben  äussern  Form 
geboten ,  in  w elcher  er  die  alten  Schriftsteller  10  lesen  gewohnt  ist.  Ich 
habe  mich  darüber  in  der  Vorrede  erklärt.  Diese  Einrichtung  des  Druckes 
mag  allerdings  bei  dem  ersten  Anblick  manchem  Leser  zum  Anstoas  wer- 
den, sowie  denn  vor  Kurzem  ein  gelehrter  holländischer  Jurist,  ein  ver- 
dienter Kenner  und  tbätiger  Schriftsteller  auf  diesem  epigraphischen  Ge- 
biet, Professor  De  Wal  von  Utrecht,  bei  einem  Besuche,  wobei  er  sich  sonst 
Ober  das  Unternehmen  beifällig  aussprach ,  mir  darüber  Bedenken  äusserte. 
Aber  ein  genaueres  und  unbefangenes  Ueborlegen  der  Sache  wird  allen 
Zweifel  entfernen.  Denn  zu  welchem  Zwecke ,  in  welcher  Absicht  ist  bei 
■oflumeotis  literatis  aller  Art  ein  Wiedergeben  der  Schriftzüge  des  Ori- 
ginals notbwendig  oder  wünschenswert»!?  Offenbar  nur  zum  Gebrauche 
dar  Kritik,  ^^ie  muss  aber  dann  das  Wiedergeben  der  Schriftzilgo  des 
Originals  beschatten  sein?  Offenbar  gaaz  treu  und  diplomatisch  genau, 
weil  die  Nachbildung  sonst  für  die  Kritik  nicht  als  zuverlässiges  Hilfsmit- 
tel diesen  kann.    Wird  nun  aber  diese  genaue,  treue  Nachbildung  der 

Inschriften  einfach  durch  dif»  Anwendung   Hm*  Drtirklpltarn  nnftprar  Knni— 

lUJl'U  '  iUwU      vllliOV.il      Ulli  VH     Vi  v     /»  H  Tf  VN  U  "tl^       \i  C  l       mJ  I  Utnlvlvvl  II      UiiSVl  vi      »mCI  J/I 

talschrifl  erreicht?  Keineswegs.  Wer  aar  wenige  römische  Steine 
gesehen  bat,  um  von  den  Bronzetafela  nicht  zu  sprechen,  kann  sieh 
davon  überzeugen.  Durch  den  Abdruck  aller  Inschriften,  ihre  Schrift- 
läge  mögen  noch  so  verschieden  sein,  in  gewöhnlicher  Kapitalschrift  ge- 
nügt man  den  Anforderungen  der  Kritik  nicht,  für  welche  nur  em  treues 
Fac  simile  von  Werth  ist,  und  geräth  andrerseits  in  den  grossen  Nach- 
tuet!,  dnss  man  ein  viel  grosseres  Volumen  für  epigraphische  Publikatio- 
nen nölhig  hat,  und  dass  man  die  Augen  dos  Lesers  bei  der  Leetüre 
unnöthig  aufhält.  Diese  Süssere  Form  des  Drucks  der  epigraphischen 
Urkunden  hat  ihrer  Popularisirung  mehr  als  man  vielleicht  glaubt  im  Weg 
gesunden.  Kurz,  nach  demselben  Prinzip  mttsste  man  auch  die  alten 
Schriftsteller,   deren  älteste  Handschriften  Kapital-   oder  Uncialschrift 

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132  Zell:  Lehrbuch  der  römischen  Epigraphik. 

zeigen ,  in  der  gleichen  Form  durch  den  Druck  vervielfältigen.  Uebrigeoi 
ist  das  in  dem  Delectus  eingeschlagene  Verfahren  nicht  eiomai  neu,  — 
(es  wäre  dieses ,  wenn  es  der  Fall  wäre ,  ein  Verdienst)  —  sondern  bei 
einzelnen  grösseren  epigraphischen  Urkunden,  wie  bei  Gesetzen,  Senats- 
consulten  u.  dgl.  schon  anderwärts  nicht  selten  angewendet,  und  ebenso 
im  Ganten  bei  derjenigen  altern  epigraphischen  Chrestomathie,  welche 
Fried.  Aug.  Wolf  in  der  Vorrede  seiner  Schrift :  ..Von  einer  milden  Stif- 
tung Trojans'"  ausdrücklich  als  Vorbild  für  ein  neu  zu  veranstaltendes 
Unternehmen  der  Art  bezeichnet:  wir  meinen  Fleetwood  Sylloge  inscrip- 
tionum.  Londini  1661.  8.  Die  Betrachtung  der  Schriftzüge  der  alten 
Ioschriften  ist  allerdings  von  der  grössten  Wichtigkeit;  sie  gehört  cur 
Doclrin  der  Epigraphik  und  soll  in  dem  aweiten  Theile  unsers  Hand- 
buches, wo  wir  in  lithographischen  Tafeln  eine  Reibe  epigraphischer 
Schriftproben  geben  werden,  die  gebührende  Beachtung  finden.  Dieser 
zweite  Theil  soll  im  Laufe  dieses  Jahres  erscheinen  und  ist  nach  den 
Grundzügen,  welche  der  von  mir  verfasste  Artikel  Inscriptiones  latinae 
in  Pauly's  Roalencyclopädie  vorzeieboet,  ausgearbeitet  worden.  Zum 
Schlüsse  benütze  ich  diese  Gelegenheit,  um  die  Addenda  et  Corrigenda, 
welche  durch  und  ohne  meine  Verschuldung  sich  wohl  noch  vermehren 
lassen  werden,  in  Bezug  auf  zwei  Inschriften  zu  ergänzen.  Ich  verdanke 
diese  Verbesserungen  dem  gütigen  Wohlwollen  des  Herrn  Dr.  Heinrich 
Meyer  zu  Zürich ,  welcher  in  einem  an  mich  gerichteten ,  für  mich  sehr 
angenehmen  Schreiben  Uber  dieses  mein  Unternehmen,  mir  folgendes  mit- 
theilt. In  der  helvetischen  Inschrift  aus  Wettingen  n.  166  p.  19  des 
Delectus  ist  nicht  zu  lesen,  wie  auch  Orelli  liest  (n.  457):  Deae  Isidi 
tempium  a  solo  L.  Annusius  Magianus  de  suo  posnit  vir  Aqnens.  B. 
(oder  VI  vir  d.  i.  sex  vir  Aquensis  bis);  sondern  wie  Herr  Dr.  Keller 
zu  Zürich  bei  einer  wiederholten  Untersuchung  des  Steins  gefunden  hat: 
VII  Aquensib.  d.  i.  Septemaquensibus  d.  i.  den  Einwohnern  von  Septem 
Aquae.  Ferner  n.  6  p.  1  des  Delectus  in  der  zu  Wilferdingen  bei  Pfora- 
liciin  \ or  einigen  Jiilirt^D  suf^efundenoD  Inschrift  ciocr  3Iduer  ^mflcerifl^^ 
welch©  6io  Juveoslis  Mscrioos  dein  Jupiter  widmete  y  womit  sr  slso  wohl 
den  Platz  um  einen  Tempel  einschloss ,  ist  nach  Herrn  Dr.  Meyers  Ansicht 
Vica.  Senot.  nicht  zu  lesen  vicanus  Senotensis  als  Apposition  zu  Juvenalif 
Macrinus,  sondern  im  Dativ  vicanu  Senotensibus. 


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Karze  Anzeigen.  133 

Karze  Anzeigen. 


Pm  C ot e  iba's  Handbuch  der  Gcschichle.  Aus  den  Handschriften  der  k.  k.  Hof" 
bibliothek  zu  Wien,  der  herzoglichen  Bibliothek  tu  Gotha  und  der  Univer- 
sitätsbibliothek zu  Leyden,  herausgegeben  von  Ferd.  Wüsten f eld.  Göl- 
tingen ,  Vandenhoek  u.  Ruprecht.  1850.  VIII  u.  366  S.  8. 

Der  Verfasser  dieses  Werkes,  dessen  vollständiger  Name  Abo  Mohammed 
Abdallah  Ibo  Moslin  Ibn  Kutciba  lautet,  ist  im  Jahre  213  geboren,  lebte  einige 
Zeit  als  Cadbi  in  Deine wr ,  bei  Kirmesin,  (nicht  Dinawar  bei  Carmisiu,  wie  der 
Heraasgeber  achreibt)  weshalb  er  auch  Aldeinewri  genannt  ward ,  hielt  sich 
viele  Jahre  in  Bagdad  als  Lehrer  der  Tradilionsknndc  auf  nnd  starb  im  Jahre 
270  oder  276.  Das  vorliegende  Buch  Ibn  Kuteiba's,  der  auch  noch  andere 
Werke  literarhistorischen,  philologischen  und  theologischen  Inhalts  hinterliess, 
ist  in  Europa  längst  durch  Reiske,  Eichhorn  und  Rasmussen  bekannt,  es  ist  von 
Ersterem  ins  Lateinische  übersetzt .  aber  nur  einzelne  Theile  dieser  Uebersetzuuir 
sind  später  herausgegeben  worden.  Auch  Ref.  wollte  es  schon  zum  ersten 
Bande  seiner  Chalifengeschtchte  benutzen ,  erhielt  aber  den  Codex  der  herzogl. 
Bibliothek  zu  Gotha  so  spät ,  dass  er  nur  noch  in  der  Vorrede  Einiges  nach« 
Irdj^cD  IiöqdI©  entlehnt©  dcHisdl^cn  jedoch  nisocho  schiitxbiirc  IN' ot izen  zum  zw  li 
ten  Bande.  Dass  Ibn  Kuteiba,  als  einer  der  ältesten  arabischen  Historiker,  längst 
verdient  hätte  herausgegeben  zu  werden,  und  sich  Herr  Wüstcnfeld  durch  diese 
Arbeit  aufs  Neue  den  Dank  der  Orientalisten  erworben  hat,  wird  gewiss  Nie* 
mand  läugnen,  doch  geht  der  gelehrte  Herausgeber  zu  weit,*  wenn  er  in  der 
Yorrede  schreibt:  Ibn  Kuteiba  „scheint  bei  der  ftluhammedanischcn  Geschichte 
kaum  ein  geschriebenes  Buch  benutzt  zu  haben,  wenigstens  erwähnt  er  kein 
solches,  nennt  aber  öfters  seine  Gewährsmänner  und  die  Reihe  der  Ueb  er  lieferer 
bis  zu  einem  Zeitgenossen  der  erwähnten  Begebenheiten."  Ref.  scheint  es  viel- 
mehr,  dass  Ibn  Kuteiba  nur  frühere  Werke  excerpirt  hat  und  darum  anch,  wo 

iL»    -I .  n  r  <.  Cli^Ujk    |alaan       Ana     kniaet      in     Amr     l1  or'mAa       ii)olr<lio   Ihm    nnknr    1  a  _ 

um  aiese  im  bmciio  jumcm,  um  ihism  in  ucr  i  euuue,  wciiiiü  luni  iiioer  mg 
und  noch  a^€40©Ä  (i©Äch ic h lÄchrci b©r  ^^^funden  listic  ^  00  flrro  iinti  cinsy ILm^  ist« 
So  findet  man  vom  Regierungsantritte  Alwatbik's  bis  zu  dem  des  Almutamid 
(227—256  fast  nichts  aia  die  Data  der  Thronbesteigung,  der  Geburt  und  des 
Todes  der  Chalifen.  Dass  übrigens  Ibn  Kuteiba  Werke  seiner  Vorgänger  benutzt 
hat,  geht  ans  vielen  Stellen  desselben  hervor.  Er  citirt  (S.  59)  bei  dem  Tode 
des  Abd  Allah  Ibn  Abbas  den  Historiker  Alwakidi,  welcher  schon  im  Jahre 
206  starb  und  bekanntlich  ein  Werk  Ober  die  älteste  Geschichte  des  Islams, 
besonders  über  die  Kriegszüge  der  Araber  hinterliess.  S.  75  werden  einige 
Verse  angeführt,  welche  bei  Gelegenheit  der  Auswanderung  Mohammeds  nach 
HediM  gedichtet  wurden  und  dazu  bemerkt,  dass  Abu-I-Jakzan  diese  Vene 
dem  Dichter  Hasan  Ibn  Thabit  zuschreibt,  während  Mahommcd  1.  Isbak  den 
Dichter  Sinn  ah  Ibn  Abi  Una  Alanssari  für  deren  Verfasser  hält.  Abu-I-Jakxau 
starb  im  Jahre  170  und  hinterliess  verschiedene  historische  und  genealogische 
Werke,  aus  denen  vielleicht  Ibn  Kuteiba  das  Meiste,  was  er  über  die  arabi- 
schen Stämme  berichtet,  geschöpft  hat  und  Mohammed  Ibn  Ishak,  der  Schöpfer 


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arabischer  Historiographie,  lebte  bekanntlich  am  Höre  Manssurs,  verfasstc  ein 
Leben  Mohammeds,  das  allen  spätem  Biographen  Mohammeds  zur  Grundlage  diente 
und  ein  Buch  über  die  Kriegszüge  der  Araber,  das  Tabari  fast  auf  jeder  Seite 
citirt.  S.  91  führt  der  Verfasser  über  das  Alter  Omars  die  Ansicht  Ihn  Ishaks, 
Abu-l-Jakzan's  und  Alwakidi's  an.  S.  109  fuhrt  er  über  die  verschiedenen 
Ehen,  welche  Sukeinah,  die  Gattin  Hiueins,  geschlossen,  ausser  Abu-I-Jak- 
zan  noch  Ihn  Alkelbi  und  Albeithaiu  lbn  Aladi  an.  Erstem  nennt  er  selbst 
(p.  266)  den  gelehrtesten  und  Letztem  ebenfalls  als  berühmten  Genealo- 
gen und  Traditionskundigen.  Auch  Almada  ini  war  einer  der  Vorgänger 
lbn  Kuteihn's,  welcher  sowohl  über  Mohammed  als  über  die  Omejjaden  ond  die 
ersten  Abbasiden  schrieb  und  im  Jahre  225,  oder  nach  Andern  im  J.  228  der 
Hidjrah  starb.  Der  Verfasser  selbst  macht  übrigens  gar  keine  Ansprüche  aof 
Origninlit.it  und  hat  sein  Werk  mehr  für  das  grössere  gebildete,  als  das  gelehrte 
Publikum  geschrieben.  Kr  sagt  in  seiner  Vorrede  (S.  1):  ..Ich  habe  in  diesem 
Buche  gesammelt,  was  jeder,  durch  hoben  Rang,  Bildung  und  Kenntnisse  aus 
der  Masse  hervorragende  Mensch  wissen  sollte,  denn  er  kann  es  nicht  entbeh- 
ren im  Umgange  mit  Fürsten,  Edlen  und  Gelehrten,  denn  in  jeder  guten  Ge- 
sellschaft wird  auf  das  Eine  oder  das  Andern  von  dem  hier  milgefhcfttcn  die 
Hede  kommen,  das  Gespräch  wird  bald  auf  den  Propheten  führen,  bald  auf 
einen  König  oder  einen  Gelehrten,  oder  einen  Stamm  oder  einen  ScMachtag  der 
Araber,  der  Anwesende  sollte  daher  mit  der  Geschichte  bekannt  sein,  den 
Aufenthaltsort  des  Stammes  kennen,  die  Zeit,  in  welcher  der  Fürst,  von  dem 
die  Rede  ist,  gelebt  hat  und  den  Zustand  dor  Person,  über  welche  gesprochen 
wird  u.  s.  w.M  Dann  S.  3:  „Ich  habe  mich  bemüht,  nur  das  Berühmtere  und 
Gellufigere  auf  eine  kurze  und  leicht  fassliche  Weise  darzustellen ,  ohne  mich 
in  das  Ausführliche  zu  vertiefen,  sonst  wäre  das  Buch  so  gross  geworden, 
dass  ea  nicht  leicht  abgeschrieben  und  noch  weniger  auswendig  gelernt  werden 
könnte  u.  i.  w.u 

Wir  werden  bei  einer  andern  Gelegenheit,  da  hier  nur  eine  kurze  An- 
zeige des  vorliegenden  Buches  gegeben  werden  soll,  einzelne  Stellen  desselben 
einer  nähern  Prüfung  unterwerfe« ,  haben  übrigens  auch  schon  im  zweiten  Bande 
■nserer  Geschichte  der  Chalifen  mehrfach  nachgewiesen,  dass  Ihn  Huteiba's  An- 
gaben keineswegs  einen  unbedingten  Glauben  verdienen.  Wir  begnügen  uns 
daher  nur  noch  damit ,  ein  kurzes  Inhaltsverzeichnis  des  Kitab  Almaarif  mitzu- 
teilen, das  mancher  Leser  nngern  vermissen  wird,  obgleich  es  einigermnssen 
durch  das  vom  Herausgeber  beigefügte  Namenregister  ersetzt  wird. 

S.  6,  mit  welcher  die  Vorrede  endet,  beginnt  mit  der  Schöpfung  und 
der  Geschichte  Adams,  nach  dem  alten  Testamente  und  talmudischer  und  mn- 
aeimlnnischer  Sage,  an  welche  dann  die  der  übrigen  Propheten  fn  folgender 
Ordnung  sich  anreiht:  Sehet h.  Idris,  Nah,  Harn,  Jafeth ,  Scham,  Hud,  Snlib, 
Ibrahim,  Ismail,  Ishak,  Issu,  Jaktib,  Jusuf,  Schueth ,  Balam,  Alchidhr,  Ejjub, 
Musa  und  Harun,  Isehmawil,  Talut,  (Samuel  und  Sauf)  Dawud  und  Sulciman, 
Lreir  (Esdras)  und  Danrai,  Schaja,  Hizkil,  Alias,  Elisa,  Isa  (Jesus),  die  Be- 
wohner der  Höhle  (Siebenschläfer),  Iskander ,  Lokman  nnd  Dsu-I-KiR  lein 
Unbekannter).  S.  27  und  28  enthalten  die  Gesammtzahl  der  Propheten  und  der 
geofTenbarton  Bücher,  S.  29  und  30  (nach  dem  Sirat  Arrasul)  die  Namen  der- 
jenigen Araber ,  welche  vor  Mehanimed  schon  an  Gott  glaubten.  Die  folgenden 


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Seiten  bandeln  von  der  Genealogie  der  Araber,  an  die  sich  (S.  56)  die 
Xotammeds  und  seines  Geschlechts  reiht,  auf  welche  dann  das  ganze  Leben 
dieses  Propheten  folgt.    S.  83  beginnt  das  Leben  Abu  Bekr's  und  der  folgenden 
Chatten-.  Omar,  Othman,  Ali,  Hasan  und  Husein,  wobei  jedesmal  auch  eine 
Um  Biographie  ihrer  hervorragenden  Sprösslinge  raitgetheilt  wird.    Mit  Zobeir 
wird  die  Lebensbeschreibung  der  Gefährten  Mohammeds  eröffnet,  welche  (S.  173) 
mit  der  des  Abu- 1- Tu  feil  endet.    S.  174  enthält  die  Namen  derjenigen,  welche 
Mohammed  zu  gewinnen  suchte  und  die  Namen  der  Heuchler.    Nun  beginnt 
(S.  175)  die  Geschichte  der  Chalifen  mit  Muawia  und  endet  (S.  200)  mit  Altnu- 
tsmid.    Das  folgende  Kapitel,  das  sich  bis  S.  215  erstreckt,  mit  Abd  Allah  Ibn 
Muli  beginnt  und  mit  Abu  Muslim  endet,  ist  überschrieben :   „Die  Berühmten 
anter  den  Vornehmen  und  Macbthabern,  sowie  unter  den  Empörern."    Die  fol- 
genden 32  Seiten  (216 — 218)  handeln  von  den  berühmten  Männern,  welche  auf 
die  Gefährten  Mohammeds  folgten  (Tabiin).    Dann  folgt  die  Biographie  der  be- 
rühmten Gesetzgelehrten  (248—51),  Traditionskundigen  (251 — 262),  Koranleser 
(262—265),  Genealogen  (265—268),  Dichter  und  Grammatiker  (268—271)  und 
Lehrer  (271—272).    Nun  folgen  bis  S.  304  kurze  Notizen  über  die  sich  Be- 
feindenden, über  den  Ursprung  verschiedener  Gebräuche  und  Gesetze,  über  die 
Moscheen,  über  die  arabische  Halbinsel,  über  die  Eroberungen,  Stalthalter,  be- 
rühmte Handwerker,  berühmte  Männer  mit  Leibesgebrechen,  Schlachttage  der 
Araber,  sprüchwOrtlich  gewordene  Stämme  und  Personen  und  über  Religions- 
seklen.    Den  Schluss  des  Buches  bildet  die  Geschichte  der  Könige  von  Jemen 
(S.  304—313),  von  Syrien  (S.  313-316),  von  Hira  (S.  316-320)  und  von 
Persien  (S.  320-330). 

Well. 


Die  Naturwissenschaft  und  die  Geistesbildung  von  Hans  Christian  Oersled. 
Deutsch  von  K.  L.  Kannegiesser.  Leipzig.  Verlag  von  Carl  B.  Lorch. 
1850.  XVI  S.  u.  169  S.  8. 

Obiges  Buch  ist  ein  Nachtrag  zu  den  von  uns  in  diesen  Blättern  ange- 
zeigten, naturphilosophischen  Schriften  des  berühmten  dänischen  Gelehrten.  Es 
enthält  acht  verschiedene  Abhandlungen  unter  folgenden  Aufschriften:  1)  Der 
allgemeinen  Naturlehre  Geist  und  Wesen  (S.  1—24),  2)  Über  die  bildende  Wir- 
kung, weiche  die  Anwendung  der  Naturwissenschaft  ausüben  muss  (S.25 — 43), 
3)  Rede  bei  der  ersten  Zusammenkunft  der  skandinavischen  Naturforscher  zu 
Kopenhagen,  3.  Juli  1840  (S.  47—59),  4)  Eröffnungsrede  der  fünften  skandi- 
navischen Naturforscherversammlung  (S.  60—72),  5)  das  Verhältniss  zwischen 
den  Jongen  und  Alten,  mit  besonderer  Hinsicht  auf  den  in  die  Welt  eintreten- 
den JüngKng  (S.  73—93),  6)  alte  und  neue  Zeiten  (S.  95—112),  7)  der  Na- 
turwissenschaft Verhältniss  zu  Zeitaltern  und  deren  Philosophie  (S.  113—154), 
8)  das  Christenthura  und  die  Geistesbildung  unterstützen  einander  (S.  155— 169). 
Die  erste  Abhandlung  ist  ein  Bruchstück  aus  der  Einleitung  zu  der  „allgemeinen 
Naturlehre"  des  Verfassers  nnd  ganz  in  dem  Tone  und  Charakter  semer  früher 
angezeigten  Abhandlungen  geschrieben.  Die  Wilsenschaft,  welche  den  Zweck 
hat,  mit  der  Vernunft  die  ganze  Natur  zu  umfassen  und  zu  durchdringen  und 
sie  in  ihrem  ganzen  Zusammenhange  darzustellen,  ist  nach  unserem  Verf.  die 


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Naturwissenschaft  oder  Physik  in  dieses  Worte«  ausgedehntester  Bedeu- 
tung (S.  1).  Die  Physik  ist  also  in  diesem  Sinne,  in  welchem  sie  gewöhnlich 
nicht  genommen  wird,  mit  der  Naturphilosophie  gleichbedeutend.  Wir  können 
diese  Anschauung  von  der  Aufgabe  der  Physik  nicht  unterschreiben.  Allerdings 
bat  es  die  Physik  mit  den  Wirkungen  der  Natur,  mit  den  Naturkräflen  nnd 
Naturkörpern  zu  thun;  aber  sie  liefert  erst  in  Verbindung  mit  Chemie  und  allen 
übrigen  Naturwissenschaften,  vorzüglich  in  Verbindung  mit  Astronomie,  Geo- 
gnosie,  Miuernlogie ,  Botanik  den  Stoff  für  die  Naturphilosophie,  welche  erst 
auf  dem  Boden  der  einzelnen  Naturwissenschaften  im  Stande  ist,  ihrer  Aufgabe 
—  der  „Durchdringung  der  ganzen  Natur  in  ihrem  Zusammenhange"  Genüge  zu 
leisten.  Die  Naturphilosophie  soll  zuletzt  alle  Naturwissenschaften  umfassen, 
und  ihre  Aufgabe  ist  diejenige,  welche  der  Herr  Verf.  als  die  der  Physik  im 
weitesten  Sinne  des  Wortes  bezeichnet.  Wenn  man  die  Physik  als  mit  der  Na« 
turphilosophie  gleichbedeutend  betrachtet,  so  könnte  diese  Anschauung  leicht 
dem  gründlichen  Studium  der  Physik  schaden,  welche  nur  von  der  gründlichen 
Erforschung  des  Einzelnen  ohne  Ueberspringung  eines  Mittelgliedes  zu  allgemei- 
nen Sätzen  aufsteigen  darf.  Ferner  sinkt  auch  die  Physik,  die  sich  in  allge- 
meinen Sätzen  ohne  Beobachtungen  und  Versuche  bewegt,  zu  einer  gehaltlosen 
oder  unbegründeten  Hypothcsenmacherei  herunter.  Es  sind  übrigens  ganz  die- 
selben Wahrheiten,  welche  der  Verf.  in  dieser  Abhandlung  entwickelt,  die  er 
schon  in  seinen  frühern  entwickelt  hat.  Man  kann  diese  auf  folgende  zurück- 
führen: 1)  Jede  wohlgefuhrte  Untersuchung  eines  beschränkten  Gegenstandes 
entfaltet  uns  einen  Theil  der  ewigen  Gesetze  des  unendlichen  Ganzen;  2)  die 
Keuntniss  der  Naturgesetze  ist  die  Kenntniss  von  dem  Wesen  der  Dinge;  3)  alle 
Naturgesetze  bilden  eine  Einheit,  die  das  ganze  Wesen  der  Welt  ausmacht; 
4)  die  Natur-  und  Vernunftgcsetzc  sind  Eines.  Sie  sind  der  Ausdruck  einer  Idee, 
welche  mit  der  in  Allem  lebenden  und  wirkenden  Vernunft  Eines  ist;  5)  wenn 
die  Vernunft  die  Naturgesetze  erkennt,  erkennt  sie  daher  die  iu  ihr  selbst  wir- 
kenden Gesetze,  erkennt  sie  sich  selbst  in  der  Natur.  So  richtig  diese  Haupt- 
grundsätze des  Herrn  Verf.  sind,  so  wenig  können  wir  dem  Princip  des  ein- 
seitigen Idealismus  beistimmen,  das  er  auch  hier,  wie  in  seinen  andern  natur- 
philosophischen Schriften,  zur  Geltung  bringen  will.  Der  „Stoff"  ist  ihm  nämlich 
auch  in  dieser  Abhandlung  „nichts  Andores ,  als  der  vermittelst  der  Grundkräfte 
der  Natur  erfüllte  Raum"  (S.  7).  Anch  hier  wird  also  wieder  die  Ansicht  von 
dem  Verf.  aufgestellt  .,  dass  die  Körper  „Krafterfullte  Räume"  seien.  Dieses  heisst 
aber  die  Materie  in  der  That  so  vergeistigen,  dass  zuletzt  nichts  Reelles  mehr 
von  ihr  übrig  bleibt.  Der  Stoff  ist  etwas  Anderes,  als  die  Kraft  oder  der  Raum, 
und  man  wird  die  Materie  weder  mit  der  Kraft,  noch  mit  dem  Ranme  ver- 
wechseln dürfen.  Kraft  ist  ein  Wirkendes  in  der  Materie;  aber  die  von  dein 
Verf.  ganz  richtig  als  etwas  Geistiges  oder  Ideales  bezeichnete  Kraft  wird  ohne 
wirklichen  Stoff  keine  Materie,  auch  kann  blosse  Kraft  als  Möglichkeit  oder 
Können  ebenso  wenig  zur  Wirklichkeit  werden,  als  sie  den  Raum  zu  erfüllen 
im  Stande  ist.  Wenn  auch  Raum  ein  Verhältniss  ist,  ohne  welches  man  die 
Körper  nicht  denken  kann,  so  ist  desshalb  der  Raum  noch  immer  kein  Körper; 
ja  er  kann  nur  ahstrnet  für  sich  gedacht  werden;  ist  aber  in  der  Natur  nie  von 
dem  Körper  getrennt,  ungeachtet  er  selbst  nichts  Stoffartiges,  sondern  nur  ein 
Verhältniss  ist,  unter  welchem  das  Stoffartige  existirt.    Dass  die  Materie  „in 


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Kurze  Anzeigen.  137 

•IJeo  Dingen" ,  wie  der  Verf.  will,  „überall  dieselbe"  ist,  wird  er  schwerlich 
auf  dem  Boden  der  Naturwissenschaft  nachweisen  können,  welche  die  Materie 
sof  gewisse  einfache,  an  und  für  sich  verschiedene  Stoffe  zurückführt ,  die  nicht 
io  einander  übergehen.  Freilich,  wenn  er  alle  Kräfte  der  Natur  auf  eine  Grund- 
krau znrüchführt  und  sich  unter  allen  Körpern  nur  Krafterfüllte  Räume  vorstellt, 
dann  moss  zuletzt  die  Materie  dieselbe  sein,  weil  sie  nach  dem  Verf.  nichts,  als 
eine  und  dieselbe  Grundkraft  ist,  inwiefern  sie  den  Kaum  erfüllt.  Wir  Habe« 
aber  bereu  nachgewiesen,  dass  diese  Anschauungsweise  den  Begriff  der  Ma- 
terie selbst  aufhobt. 

Vortrefflich  ist  io  der  zweiten  Abhandlung  die  bildende  Wirkung  ausein- 
ander gesetzt,  welche  die  Anwendung  der  Naturwissenschaft  ausüben  muss 
[&  25-43).  Mit  Ausnahme  der  beiden  ersten  Abhandlungen  haben  alle  andern 
mehr  eine  lokale  Beziehung  und  daher  auch  ein  weniger  allgemeines  Interesse. 

Nr.  3  und  4  sind  Reden,  welche  in  den  skandinavischen  Naturfbrscber- 
vertauimlungen  zu  Kopenhagen  von  dem  Verf.  gehalten  wurden.  Nr.  5  ist  eine 
Gelegenheit. <r ed t* ,  welche  am  Sliftungstage  „der  Schule  für  die  Nachwelt1*  (einer 
dareb  Privatmittel  fundirten  höheren  Bürgerschule  in  Kopenhagen)  am  4.  Mirz 
im  vorgetragen  wurde.  Nr.  8  ist  ebenfalls  eine  Festrede  zur  tausendjährigen 
Feier  der  Einführung  des  Christentums  in  Dänemark.    Auch  die  beiden  andern 

Ktlmmini    l.  L.„„    mina    innlir    auf    InLila    Varlinllni'i-ta    „„U.J.    Raiiaklinff      Hin  A  Ii  _ 

nummern  nnoen  eine  inciir  aui  joKaie  vcrnaiinisse  genenne  ne^ienung.  uic aü" 
handlang  Nr.  6  ist  für  den  „dänischen  Kalender"  geschrieben,  Nr.  7  ist  eine 
Becension  von  Steffens  polemischen  Blättern  zur  Beförderung  der  speculati- 
ven  Physik  (erstes  Heft,  Breslau,  1829).  Doch  haben  die  letzten  beiden  Ab- 
bandluugen  auch  allgemeine  Gesichtspunkte,  welche  für  ein  weiteres  Publikum 
>on  Interesse  aind.  In  der  Abhandlung  „die  alten  und  die  neuen  Zeiten"  sucht 
der  Verfasser  nachzuweisen,  dass  die  Klage  über  die  Verschlimmerung  der 
Zeiten  unbegründet  sei,  und  dass  ein  Fortschreiten  des  Menschengeistes  in  der 
Zeit  angenommen  werden  müsse.  Er  läugnet  ebenso  sehr  eine  Verschlechterung 
der  Menschheit  in  körperlicher,  wie  in  intelleclucller  und  sittlicher  Hinsicht.  Er 
bat  seine  Betrachtungen  unter  folgende  Ueberachriften  zusammengefasst :  1)  Die 
Wirme  der  Luft  bat  sich  nicht  verändert  (S.  98- 100) ;  2)  die  Menschen  wur- 
den nicht  grösser  oder  kraftvoller  in  der  Urzeit  (S.  100-102);  3)  die  Lebens- 
zeit hat  nicht  abgenommen,  man  lebt  jetzt  gesünder  (S.  102-105);  4)  das 
Menschengeschlecht  ist  in  sittlicher  Hinsicht  nicht  zurück,  sondern  vorwärts  ge- 
gangen (S.  105-112). 

In  den  skandinavischen  Naturforscherversammlungen  zu  Kopenhagen  war 
«er  Verf.  vorzugsweise  bemüht,  durch  solche  Vereine  auf  die  Einheit  der  skan- 
dinavischen Bruderstfimme  hinzuwirken.,,  Nur  durch  „Gemeinschaft"  kann  von 
den  „geistigen  Bestrebungen  des  Nordens  ein  recht  grosses  und  unseres  Norden* 
würdiges  Ansehen  ausserhalb  unserer  eigenen  Grenzen"  gewonnen  werden 
(S.  61).  Der  Verf.  meint,  die  Skandinavier  sollten  sich  die  Deutschen  zum 
Master  nehmen  ;  sie  wären  in  der  Literatur  und  Sprache  keine  Brandenburger, 
Hessen,  Sachsen,  WArtemberger  u.  s.  w.,  sondern  Deutsche ;  sie  schrieben  nicht 
-Hessisch,  Sächsisch,  Würlembergisch"  u.  s.  w. ,  sondern  „deutsch."  Die  Ein- 
bot  in  der  politischen  Gesinnung  konnte  er  freilich  nicht  als  Moster  aufstellen ; 
aber  aach  die  Einheit  in  der  Sprache  und  Literatur  der  Deutseben  kann  nicht 
wr  Parallele  für  skandinavische  Zustünde  dienen,    da  die  schwedische  und 


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dänische  Sprache  trotz  ihrer  Stamraverwandtscbaft  wirklich  zwei  verschiedene 
Sprachen  sind,  und  eine  ganz  verschiedene  Literatur  haben.'  In  Deutschland 
kann  nur  ven  verschiedenen  Mundarten,  aber  nicht  von  verschiedenen  Sprachen 
die  Rede  sein. 

In  der  Recension  über  seines  Freundes  Steffens  „polemische  Blätter" 
theilt  der  Verf.  aus  den  lettlern  S.  137  folgende  Stelle  mit,  welche  die  An- 
sicht'jenes  Philosophen  Uber  den  Einfluss  der  Naturwissenschaft  anf  die  Stellung 
der  Kirche  in  merkwürdiger  Weise  ausspricht  (Steffens,  polemische  Blätter, 
Heft  1,  S.  64):  „Aber  am  tiefsten  musste  die  frühere  Kirche,  wo  sie  noch  mäch- 
tig war,  fühlen,  wie  erschütternd  diese  Ansicht"  (die  Entdeckung  des  Welt- 
systems durch  Copernicus)  „war.  Wenn  sie  sich  auf  jene  bekannte  Bibelstelle" 
(von  dem  Stillesteben  der  Sonne)  „berief,  so  verbarg  sie  ihre  wahre  Furcht. 
Dir  unerschütterliche,  unwandelbare,  sichtbare  Herrschaft  der  Kirche  konnte 
auf  einem  bewegten  Planeten ,  der  mit  andern  um  einen  gemeinschaftlichen, 
entfernten  Mittelpunkt  kreiste,  keine  sichere  Heimath  finden.  Die  Axt  war  an 
die  Wurzel  aller  bestehenden  NatUransicbt  gelegt,  das  tiefste  Fundament  alles 
bisherigen  Wissens  war  untergraben."  lind  doch  wollte  Steffens  an  die  Stelle 
der  von  ihm  bekämpften,  römisch-katholischen  Weltanschauung  die  Offenba- 
rungsphilosofrfiie  Schöllings  setzen!  Mit  Recht  tadelt  unser  Yerf.  das  Mystisch- 
dunkle  in  der  Entwicklung  der  philosophischen  Begriffe  durch  Steffens,  und 
nimmt  ab  fremder  Gelehrter  ein  Aergetniss  an  dieser  Eigen thümliehkeit  der 
Philosophenspracbe  in  Deutschland.  S.  144  sagt  er:  „Es  ist  merkwürdig,  dass 
Deutschlands  Philosophen  sich  sehr  häufig  so  grosse  Gleichgültigkeit  hinsichtlich 
des  Vortrags  erlaubt  haben.  Schon  die  Verwicklung  der  Perioden  erschwer! 
die  Lesung  ihrer  Schriften  sehr;  denn  wohl  ist  es  leicht,  sich  eine  verwickelte 
Periode  zu  construiren,  wenn  sie  richtig  gebaut  ist,  was  nicht  immer  der  Fall 
ist-,  aber  eine  unaufhörlich  wiederkehrende  Schwierigkeit  ermüdet  aufs  Aeus- 
serste.  Diese  Schwierigkeit  wird  durch  die  grosse  Häufung  von  Kunstwörtern 
noch  vermehrt.  Aber  nicht  bloss  im  Styl  linde t  man  sich  gehindert,  onch  in 
der  ganzen  Anordnung  des  Vortrags  (ludet  man  allzu  wenig  Sorgfalt,  um  die 
schwierige  Sache  so  deutlich  zu  machen,  wie  es  die  Beschaffe  aheil  der  Dinge 
zulasst."  Nachdem  der  Verf.  sieb  über  Pascal,  E iiier  und  Fichte  ansge- 
geaprochen  hat,  fährt  er  S.  145  fort:  „Bei  den  meisten  andern  deutschen  Phi- 
losophen findet  man  eine  ähnliche  Geringachlung  derer,  welche  nicht  auf  dem- 
selben Standpunkte  stehen ,  wie  sie  selber.  Sie  äussert  sich  bald  in  einer  vor- 
nehmen Zurückhaltung,  bald  in  einem  übermütbigen  Tone,  der  jetzt  so  oft  von 
geistigen  Don  Ranudo's  nachgeäfft  wird,  dass  diejenigen,  welche  durch  cm 
gewisses  Gefühl  von  eigener  Kraft  sich  haben  dazu  verleiten  lassen,  jetzt  da- 
durch abgeschreckt  werden  sollten ,  indem  sie  ihre  Fehler  in  einem  so  schrcek- 
Uch  vergrößernden  Spiegel  erblicken."  Sehr  wahr  ist,  was  der  Verf.  dieser 
Rüge  S.  146  beifugt:  „Ohne  Zweifel  hat  die  speculative  Philosophie  durch  ein 
Dunkel  im  Vortrage,  das  zu  ihrer  Natur  nicht  gehört,  und  nicht  gehören  kann, 
manche  WahrbeiUfreunde  davon  versebeucht  und  manche  Nachbeter  angelockt* 
Möge  die  Philosophie  immer  mehr  nicht  durch  ein  dialektisches  Spiel  mit  neu- 
erfundenen Kunstwörtern  und  Kunstformeln ,  sondern  durch  das  Zurückgehen  auf 
den  Boden  der  Erfahrung  und  der  Naturwissenschaft  nach  der  Lösung  ihrer 
Aufgabe,   „in  das  Wesen  der  Dinge  einzudringen",  auf  eine  würdige  Weise 


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Hreoen ,  möge  sie  cDen  oirin  inren  ^»anren  praKiiscnen  i>erui  mr  alle  anoern 

\Vinr»aj-haftnn    nrUnncn        Ann     Pnril.kar     im     f  \.hi  ,>»o     m*nmm     ;„,|„n     \V  I 4. .. r. c 1. •>  f» 

n  ia>rio«.iiRittn  uuinitii,  aen  rorsener  im  ueoieie  einer  jeucn  tt  isstnsi  naii 
zu»  Richtigdenken  über  das  Weaen,  den  Ursprung  und  die  Verhältnisse  jede* 
uingc*  anzuleiten,  uie  rmiosopnie  Kann  nur  dann  sien  inrem  vorgcsiecKten 
Ziele  nähern,  wenn  sie  eine  Philosophie  der  Natur  wird,  und  diese  kann  sie 
nie  ohne  die  ISalur Wissenschaft  werden. 


Unter  suchungen  über  die  physikalische  Geographie  der  Alpen  in 
ihren  Beziehungen  zu  den  Phänomenen  der  Gletscher,  zur  Geologie,  Jfc- 
teorologie  und  Pflanzengeographie,  von  Hermann  Sehl  ag  int  tc  eil  und 
Adolph  Schlagintueit.  —  Mit  11  Tafeln  und  2  Karten.  Leipzig, 
Verlag  ton  Johann  Amhrosius  Barth.    1850.  S.  XIV  u.  600. 

Wie  die  Schweizer  Alpen  einst  m  Sau  saure  einen  getreuen,  unüber- 
troffenen Schilderer  landen,  so  blieb  ea  den  Brüdern  Sch  I  agintweit  vorbe- 
baitea,  das  gründlichste  und  umfassende  Werk  zu  schaffen,  welches  wir  bis 
jetzt  ui>er  nie  pn^sikajistne  iieogrnprue  ner  östlichen  Alpen  besitzen.  Wir  sma 
aberzeogt,  dnst  unter  den  vielen  Bürhern,  welche  dem  greisen  Nestor  der  Na- 
larwiss enschaflen  zugeeignet  wurden ,  wenige  ihn  so  erfrent  haben  werden,  wie 
das  vorliegende. 

Die  Untersuchungen  der  beiden  Brüder  sind  nicht  allein  auf  dre  östlichen 
Alpen  (Kirnthen,  T3rol  u.  a.  w.)  ausgedehnt;  fie  waren  bemüht,  auch  die 
anderen  Alpen- Gruppen  mit  in  das  Bereich  ihrer  Betrachtungen  zw  ziehen. 
Das  Werk  ist  ein  so  gehaltvolles,  das  Feld  ein  so  ausgedehntes,  die  Fülle  der 
Beobachtungen  so  bedeutend,  das*  es  ein  vergeblicher  Versuch  sein  würde, 
auch  nur  einen  gedrängten  Auszug  aus  demselben  zu  geben.  Wir  bcschrSnkeit 
ans  dessbalb  darauf,  nachdem  wir  den  Haupt-Inhalt  angeführt,  aus  einigen  der 
wichtigsten  Abschnitten  das  Anziehendste  hervorzuheben. 

Das  Ganze  zerfallt  in  vier  Abtheitongen;  die  erste  handelt  von  den  Un- 
tersuchungen über  die  Gletscher;  die  physikalischen  Eigenschaften  dea  Eises, 
die  Firaregiooen ,  Topographie  der  Gletscher,  ihre  Stractur,  Bewegung,  Oacü^ 
Utionen  und  Sobstanzvcrlust  werden  ausführlich  geschildert  (S.  1—163).  Die 
zweite  Abtbeilung  urafnsst  die  geologischen  Untersuchungen,  nämlich:  1)  Hyp- 
sometrische Bestimmungen ;  2)  über  die  Thalbildung  und  Formen  der  Gebirgs- 
züge ra  den  Alpen;  3)  Beobachtungen  über  die  geognostische  Zusammensetzung 
der  Oetzthater  Gruppe  und  der  Tawern;  4)  über  die  Bildung  und  Temperatur 
der  Quellen  und  die  Isogeolhermen  der  Alpen;  5)  die  Veränderung  der  Ober- 
fläche durch  Erosion  und  Verwitterung  (S.  163-319).  -  Dritte  Abtheilung: 
meteorologische  Lnicrsucnungen.  i)  verincnung  oer  lemperaior;  &)  uoer  aen 
Mraosphirischen  Druck  und  die  Winde;  3)  atmosphärische  Feuchtigkeit;  4)  op- 
tische Erscheinungen  und  5)  Kohlensäure-Gehalt  der  Atmosphäre  (S.  319—409). 
Vierte  Abtheilung:  Pflanzengeographie.  Die  Grenzen  der  Vegetation  nach  der 
Hohe;  die  periodische»  Erscheinungen  der  Vegetation;  Einfluss  der  Höhe  auf 
die  Dicke  der  Jahrearingc  bei  den  Coniferen;  über  die  Vegetalions-Verhältnisse 
de,  oberen  üüJ»*ebictes. 


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Wir  wollen  zunächst  Einiges  aus  den  Untersuchungen  Über  Gletscher  her- 
vorheben.   Die  Gletscher-Manie,  von  welcher  gewisse  Naturforscher  ergriffen 
waren,  ist  vorüber;    der  mit  grosser  Erbitterung  geführte  wissenschaftliche 
Kampf  hat  längst  ausgetobt;  aber  das  Interesse,  welches  der  Gletscher- Welt 
und  ihren  denkwürdigen  Phänomenen  eigentümlich ,  ist  ein  ungeschwächtes. 
Um  so  dankbarer  sind  die  Forschungen  der  Brüder  Schlagintweit  anzuer- 
kennen, da  sie  in  einige  bisher  wenig  bekannte  Regionen  gelangten  und  Er- 
scheinungen zu  beobachten  Gelegenheit  fanden,  über  deren  Entstehung  wir  bis 
jetzt  im  Dunkel  schwebten.    Die  Firnmeere  haben  schon  seit  geraumer  Zeit  die 
Aufmerksamkeit  der  Geologen  und  Physiker  auf  sich  gezogen.  Bekanntlich  besteht 
ein  jeder  Gletscher  aus  zwei  l  heilen  ;  der  eine,  untere  ist  festes  Eis,  der  eigentliche 
Gletscher;  der  andere  ist  die  Anhäufung  von  körnigem  Schnee,  das  Firnmeer,  in 
dem  höheren- Thale.  Die  Dimensionen  der  Firnmeere  sind  grösser,  als  jene  des 
eigentlichen  Gletschers,  oft  das  drei-  oder  vierfache;  ihre  Tiefe  sehr  bedeutend. 
Die  Structur  der  Firnmassen  ist  auch  merkwürdig;  sie  wurden  ursprünglich  als 
Schnee  abgesetzt,  haben  aber  ihre  Form  geändert.  Regen  und  eigenes  Schmelz- 
wasser bedingen  eine  eigentümliche  Körner- Bildung,  wie  wir  sie  auch  in  den 
Ebenen  noch  im  Frühjahr  als  letzte  Spur  des  Winters  wahrnehmen.   Firn  und 
Schnee  unterscheiden  sich  ferner  dadurch,  dass  ersterer  schwerer  schmilzt;  es 
kann  Schnee  auf  den  Firn  fallen,  und  gleich  wegschmelzen;  es  geht  daraus  das 
Gesetz  hervor,  dass  der  Schnee  immer  körniger  und  schwerer  schmelzbar  wird, 
je  älter  er  ist.    Als  bezeichnend  für  die  Firnmeere  gilt  deren  Monotonie,  die 
den  Wanderer  in  hohem  Grad  ermüdet.    „Wahrend  am  Gletscher  bei  jedem 
Sohrilt  ein  veränderter  Anblick  unsere  Aufmerksamkeit  fesselt  —  so  bemerken 
die  Verfasser  —  zeichnet  sich  das  Firnmeer  durch  seine  Oede  und  Einförmig- 
keit vor  allen  Alpenlandscbaften  aus.    Die  Neigung  ist  so  gering,  die  Dimen- 
sionen der  Firnfeldcr  sind  so  gross,  dass  wir  lange  Zeit  wandern  müssen,  ehe 
sich  neue  Gegenstände  unseren  Augen  bieten.    Nichts  erinnert  uns  dann  an  die 
Höbe,  in  der  wir  uns  beGnden.  als  das  tief  blaue  Firmament  über  uns,  oder 
einige  beeiste  Alpengipfel,  deren  weisse  Contouren  bei  der  Durchsichtigkeit  der 
Atmosphäre  und  der  Dunkelheit  des  Hintergrundes  in  wunderbarer  Klarheit,  aber 
auch  nicht  ohne  grellen  Contrast  hervortreten.    Das  Uehrige  gleicht  fast  einer 
winterlichen  Haide. u    Die  Spalten  des  Firn)  haben  bei  weitem  nicht  die  Regel- 
mässigkeit, wie  jene  des  Gletschers,  und  zeichnen  sich  durch  ihre  Grösse  und 
locale  Verbreitung  aus.    Der  Firn  zeigt  sich  allenthalben  geschichtet;  im  Allge- 
meinen hat  eine  Jahreslage  0,75  bis  1  Meter  Höhe.    Als  ein  fast  überall  gülti- 
ges Gesetz  fanden  die  Verfasser,  daas  auf  Kalkstein  es  selten  Gletscher  gibt; 
weit©  Mulden,  wasserdichte  Unterlage  sind  Hauptbedingungen  zur  Gletscher- 
Bildung. 

Ueber  die  Structur  der  Gletscher  werden  interessante  Beobachtungen  mit- 
getbeiit;  die  wichtigsten  Resultate  derselben  sind  folgende.  Der  Gletscher  ist 
lamellenlörmig  aus  Lagen  von  weissem  (blasenrcicbem)  und  blauem  (blasen- 
freien) Eis  zusammengesetzt.  Es  entstehen  durch  die  ungleiche  Schroelzbnrkeit 
dieses  verschiedenen  Eises  an  der  Oberfläche  des  Gletschers  eigentümliche  Gur- 
ken, die  sogenannten  Ogiven,  die  besten  Criterien  für  das  Streichen  der  blaoen 
Bänder  an  der  Oberfläche.  Die  Bänder  sind  unabhäugig  von  der  Schichtung  des 
Firns;  sie  entstehen  erat  im  festen  Eise  und  zwar  durch  kleine  Spaltungen  im 


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Folge  der  Spannung ,  welche  das  sich  nach  nnten  bewegende  Eis  hervorruft.  — 
Wenn  locale  Hindernisse  der  Bewegung  sich  entgegenstellen ,  entstehen  Spalten 
und  Risse,  oft  von  bedeutender  Breite;  sie  schlicssen  sich,  sobald  sie  den  Ort 
ihrer  Bildung  verlassen. 

Die  Bewegung  der  Gletscher  war  bekanntlich  eine  Streitfrage,  ein  wah- 
res Problem  unter  den  Naturforschern.    Die  Verfasser  theilen  umfassende  Be- 
merkungen über  die  Methode  ihrer  Beobachtung,  äber  die  Instrumente,  deren 
sie  sich  bedienten,  mit,  sowie  zahlreiche  Tabellen,  als  Resultate  der  Untersu- 
rhongen.    Ueber  die  Ursache  der  Gletscher  -  Bewegung  hallen  wir  hier  vor  we- 
nigen Jahren  zwei  Haupt -Hypothesen.    Saussure  und  Gruner  behaupteten 
der  Gletscher  bewege  sich  als  ein  starrer,  in  seinen  Theilen  unbeweglicher  Kör- 
per, den  Gesetzen  tler  Schwere  gemSss,  abwärts  (Rutsch -Theorie).  Charpen- 
tier  und  Agassi  i  nahmen  an:  der  Gletscher  ist  voll  Haarspalten,  welche  sich 
durch  Schmelzen  des  Eises  mit  Wasser  füllen,  und  durch  die  Yolumen- Ver- 
größerung des  eingeschlossenen  Wassers  bei  seinem  Uebergang  in  den  festen 
Zustand  wird  der  Gletscher  tbalabwärts  bewegt  (Dilatations-  Theorie).  Neuere 
Beobachtungen  legten  die  Mängel  und  Schwachen  beider  Hypothesen  dar.  Kor- 
bes, der  Edinburger  Physiker,  wies  in  seinen  „Travels  trough  the  Alps"  im 
Jahr  1844  nach,  dnss  der  Gang  des  Gletschers  sich  der  Bewegung  einer  halb- 
flüssigen Masse  vergleichen  lasse.    Vieles  spricht  für  diese  Theorie,  nur  darf 
man  im  wahren  Sinn  des  Wortes  das  Eis  nicht  als  einen  halbflüssigen,  plasti- 
schen Körper  annehmen.    „Jedoch  dürften  die  Erscheinungen  der  Bewegung 
ihre  Erklärung,  wohl  ähnlich   den  Formen -Veränderungen  einer  plastischen 
Masse ,  durch  eine  Verschiebbarkeit  der  Theile  finden,  wobei  jedoch  vor  Allem 
die  Mächtigkeit  des  aufgehäuften  Materials  und  die  feine  Zersplitterung  in  Folge 
der  grossen  Sprödigkeit  von  Bedeutung  ist."  —  Die  Bewegung  der  Gletscher 
ist  bekanntlich  im  Sommer  stärker,  wie  im  Winter,  aber  nicht  der  unmittelbare 
Einfluss  der  Wirme  scheint  —  nach  Ansicht  der  Verfasser  —  die  Hauptrolle 
dabei  so  spielen,  sondern  die  Menge  des  erzeugten  Waasers.    Die  grösste 
Schnelligkeit  der  Bewegung  fällt  in  die  ersten  Sommermonate;  eine  Bewegung 
von  30  bia  40  Centimetern  in  24  Stunden  kommt  an  einzelnen  Stellen  aller 
grösseren  Gletscher  vor. 

Die  Oberfläche  der  Gletscher  bietet  für  den  Beobachter  ein  reiches  Feld 
—  eine  ganze  Welt  denkwürdiger  Erscheinungen.  Veränderung  ist  hier  die  Lo- 
sung; ein  ewiges  Erneuen  und  Zerstören.  In  den  Sommermonaten  verliert  der 
Gletscher  durch  Schmelzen  einen  grossen  Theil  seiner  Masse;  die  auf  seiner 
Oberfläche  dahin  eilenden  Bäche  sind  die  Folge  davon.  Indess  erreichen  sie 
seilen  das  Gletscher -Ende ;  gewöhnlich  verlieren  sie  sich  in  Spalten.  —  Die  an 
dem  Ende  eines  jeden  Gletschers  hervorkommenden  Wasser  haben  eine  Tempe- 
ratur etwas  über  0°;  über  jedem  Bache  entsteht  am  Ende  eine  Wölbung,  deren 
Dimensionen  sehr  ungleich,  nur  selten  jedoch  so  bedeutend  sind,  dass  soge- 
nannte Gletscher  -  Thore  sich  bilden.  Die  Verfasser  theilen  die  Abbildung  eines 
solchen  am  Marceil  -  Gletscher  mit,  dessen  Höhe  am  Eingang  20  Meter  beträgt; 
»e  vermochten  210  Meter  weit  in  das  Innere  vorzudringen.  Die  Luftströmun- 
gen an  den  Austritts  -  Stellen  befördern  besonders  die  Erweiterung  der  Glet- 
scher-Thore.  Zu  den  bekanntern  Phänomenen,  bei  denen  wir  nicht  verweilen 
wollen,  gehören  die  Gletscher -Tische,  die  Schutt -Kegel  u.  s.w.  —  Nach  den 


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I  * 

Beobachtungen  der  Verfasser  betragt  die  jährliche  Abtragung  durchschnittlich 

zwischen  3  bis  3,5  Meter;  sie  wird  grosseutbeils  durch  die  Bewegung  der  Glet- 
scher, verbunden  mil  der  speeifiseben  Neigung  derselben ,  ersetzt. 

Die  geologische  Abtheilung  beginnt  mit  den  hypsometrischen  Bestimmun- 
gen, die  sich  indess,  ihrer  tabellarischen  Form  wegen,  hier  nicht  oüttheilen 
lassen.  Alsdann  werden  verschiedene  Ansichten  über  Thalbildung  entwickelt, 
die  Quer-  und  Längenlhuler  geschildert.  Zu  jenen  gehören  das  Oetz-  und 
Müll -Thal,  das  Fusch-  Gasteiucr  Thal,  zu  diesen  das  Drau  -  und  Kietz  -  Thal. 
Im  Allgemeinen  ist  in  den  Langenthalern  dio  Neigung  weit  kleiner,  wie  in  den 
anderen;  sie  umscbÜesseo  die  einzelnen  Gruppen  der  Alpen  und  liegen  tiefer 
als  die  Querthäler.  Ausser  den  grosseren  TbäJern  gibt  es  noch  eine  grosse  Reihe 
kleiner  Thal  er,  welche  die  Verlas.«- er  als  secundäre  Thäler  bezeichnen.  Je  mehr 
sich  die  Kelten  den  oberen  Enden  der  Thäler  nahem,  desto  schmaler  werden 
sie;  sie  bilden  dort  einfache  Kamme,  in  denen  auch  gewöhnlich  die  hervorra- 
genden Bergspilzen  liegen. 

Die  geognostische  Beschaffenheit  der  Gruppe  des  Oeti- Thaies  und  der 
Tauern  ist  eine  ziemlich  einförmige;  Glimmerschiefer,  Gneias  und  Hornblendege- 
slein  sind  die  vorherrschenden  Gebirgsarten;  ausserdem  erscheinen  einige  schmale 
Züge  von  Grauwarke- ähnlichen  Bildungen,  von  Thonschiefer  und  rolhem Sand- 
stein. Mehr  Verschiedenheit  zeigt  die  unter  dem  Namen  Tauern  bekannte  Ge- 
birgsgruppc.  Gneiss  und  Glimmerschiefer  sind  die  aai  meisten  verbreiteten  Ge- 
steine, sie  umschliesscn  grössere  Massen  von  Chloritscbiefer,  von  Hornblende- 
geslcin,  von  kalkigem  Schiefer;  auch  Granite  und  Serpentine  erscheinen. 

Besondere  Aufmerksamkeit  haben  die  Verfasser  der  Bildung  und 
ratur  der  Quellen  in  den  Alpen  geschenkt;  sie  zeigen,  wie  der  Ursprung  der- 
selben mit  der  SchicbtcuJage  und  mit  dem  allgemeinen  geognostischea  Charakter 
des  Gebirges  auf's  lanigstc  zusammenhängt.  So  bewirkt  z.  B.  beim  Kalke  die 
Porosität  und  Zerklüftung  einen  bedeutenden  Unterschied  von  den  krysUliiniscnen 
Schiefer -Gebilden,  die  Quellen  siud  seltener,  reicher  und  kc 
aus  grösseren  Höben  mit  etwas  niedrigerer  Temperatur  zu  Tage.  Im  Allg« 
nen  sind  die  Quellen  in  gleicher  Höhe  wärmer,  als  jene  auf  Abhängen 
Gipfeln  ;  nach  den  Beobachtungen  der  Verfasser  scheint  0,8°  C.  das  Minimum  an 
sein  für  die  Temperatur  der  höchsten  Quellen  in  den  Alpen.  Von  vielem  In- 
teresse sind  die  Mitlheiluugen  über  die  Hydrographie  der  Hochalpen,  über  die 
Temperatur  det  Alpenseen,  Flüsse,,  über  die  Geschwindigkeit  des  fliessenden 
Wassers  (bekanntlich  ist  die  Schnelligkeit  der  Alpcubäcbe  eine  bedeutende)  u.a.  w. 
Zu  den  oft  unheilvollen  Erscheinungen  gehören  die  plöUlichen 
grösserer  Wassermassen.  Ueberschweraruungen  werden  nicht  allein  durch 
gen,  starken  ftegen  oder  durch  Schmelzen  des  Schnees  hervorgerufen,  soa 
auch  durch  Entleerung  von  GleUcherseen,  wie  dies  namentlich  im  Oeta- Thüle 
o*er  Fall  war. 

Aus  dun  Bemerkungen  über  Vertheilung  der  Temperatur  lassen  sich,  da 
sie  meisleus  in  tabellarischer  Form,  nur  enige  Resultate  hervorhoben.  Die 
mittlere  Jahrestemperatur  scheint  für  die  höchsten  Gipfel  -  13  bis  —  15°  C 
Im  Sommer  beträgt  die  Abnahme  der  Temperatur  auf  440  Fuss  1*  C  (im  Juli), 
im  Winter  (Januar)  auf  710  Fuss  1°  C.  Der  Punkt  der  raschesten  Abnahme 
der  Temperatur  ist  ein  unveränderlicher;  in  den  Monaten  DectmUr  und  ' 


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ist  er  am  höchsten ,  von  März  bis  September  liegt  er  in  der  Nahe  4er  Schnee- 
Kreuze  ,  im  October  und  November  aber  etwas  tiefer.  Als  einer  eigentümlichen 
Erscheinung  muss  des  Gletscher» Windes  gedacht  werden;  über  ausgedehnten 
Gletschern  und  grossen  Schneemassen  nimmt  msn  zumal  an  wärmeren  Tagen 
einen  kalten  Luftstrom  wahr,  der  auf  die  Erniedrigung  der  Temperatur  in  der 
Kähe  der  Schneegrenze  einen  bedeutenden  Einfluss  ausübt.  Mit  den  Tempera- 
turen in  höheren  Breiten  verglichen,  entsprechen  die  Alpen -Gipfel  beinahe 
70»  n.  Br. 

Es  folgen  nun  die  Untersuchungen  über  atmosphärische  Feuchtigkeit,  über 
Thau-  und  Wolkenbildung,  sowie  über  die  Begen  -  Verhältnisse.    Daran  reihen 
sich  die  interessanten  Bemerkungen  über  optische  Erscheinungen  in  der  Atmo- 
sphäre. (Auf  Taf.  X  sind  die ,  zum  Theil  neuen  oder  wenigstens  verbesserten 
Instrumente  abgebildet,  deren  sich  die  Verf.  bedienten,  nämlich  das Cyanometcr, 
Diaphanometer ,  Pyrheliometer.  Prismenporrhometer ,  Eudiometer,  Anthrakose^ 
ter  n.  s.  w.)    Bekanntlich  hegte  man  in  früherer  Zeit  irrthümlicbe  Ansichten 
über  den  Kohlensäure- Gehalt  der  Luft  in  höheren  Regionen ,  indem  man  glaubte, 
dass  die  grössere  speeißsche  Schwere  der  Kohlensäure  ihr  Vorhandensein  in  den 
niedrigen  Luftschichten  bedinge.    Schon  Saussure  klärte  die  Physiker  durch  seine 
Versuche  auf  dem  Montblanc  auf.    Die  Verfasser  fanden  bis  zu  einer  Höhe  von 
10,200  Fuss  eine  progressive  Zunahme,  glauben  indess,  dass  die  Grenze  eines 
constanten  Maximums  nun  nicht  mehr  fern  liege.    Die  Höhe  hat  durchaus  kei- 
nen absoluten  Einfluss.    Merkwürdig  ist,  dass  die  unmittelbare  Gletscher  -  At- 
mosphäre sich  ärmer  an  Kohlensäure  zeigt,  als  ihre  Umgebung. 

Die  letzte  Ahtheilung  des  Werkes  bilden  pflanzeugeograpbische  Untersu- 
chungen ,  welche  namentlich  viele  lehrreiche  Tabellen  enthalten,  so  besonders 
eine  grössere,  die  eine  Uebersicht  der  vorzüglichsten  Vegetations  -  Grenzen  in 
verschiedenen  Alpen  -  Gegenden  gibt.  Auch  über  die  höchsten  Grenzen  der 
Thiere  theilen  die  Verfasser  wichtige  Beobachtungen  mit;  Spuren  von  Gemsen 
fanden  sie  bis  zu  10,500  Fuss,  Füchse  bis  zu  10,000,  Vögel  bis  zu  11,000 Fuss. 
Am  höchsten  unter  allen  Tbieren  scheinen  Insekten  wahrend  des  ganzen  Jähret 
zu  leben;  sie  finden  sieb  noch  12—14,000  Fuss.  Es  sind  meist  Spinnen  und 
Käfer.  Infusorien  des  Luflstaubes  und  des  rothen  Schnees  finden  nach  der  Höhe 
wohl  keine  Grenze.  —  Was  die  Grenze  der  Vegetation  betrifft ,  so  gibt  es  Pflan- 
zen, welche  noch  über  die  Schneelinie  hinausreichen ;  die  Verlasser  zählen  eine 
Menge  auf,  es  sind  pbanerogamische  Pflanzen,  Moose  und  Flechten.  Die  Dauer 
der  Vegetationszeit  wird  natürlich  mit  der  Höhe  immer  geringer  und  betrag! 
zwischen  7000  und  8000  Fuss  nur  95  Tage,  an  der  äusserten  Phanerogamen- 
Grenze  über  1000  Fuss  beschränkt  sie  sieh  auf  etwa  einen  Monat;  in  ungün- 
stigen Jahren  bleiben  diese  höchsten  Pflanzen  während  des  ganzen  Sommers  mit 
Schnee  bedeckt. 

Die  gedrängte  Uebersicht,  welche  wir  von  dem  Inhalte  des  Werkes  der 
Brüder  Schlagint  weit  gegeben  haben,  wird  beweisen,  dass  derselbe  ein 
reichhaltiger  und  gediegener  ist,  gegründet  auf  zahllose,  mühsame  Beobachtun- 
gen und  Forschungen  in  den  verschiedensten  Alpen -Regionen  und  auf  eine  ge- 
naue Kennlniss  der  Literatur  des  In  -  und  Auslandes.  Die  Ausstattung  des  Wer- 
kes kann  eine  prachtvolle  genannt  werden;  neben  vielen  (über  70)  Holzschnitten 
find  noch  10  Tafeln  beigefügt;  sie  enthalten  folgende  Gegenstände:  Vergleicheode 


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Uebersicht  charakteristischer  Formen  an  Gletscher-  und  Wawerns;  Abbildung 
des  Pasterzengletschers ;  der  Stock-  und  Marcellgletscher;  das  Ende  des  Hinter- 
eisgleUchers ;  Uebersicht  des  Venterthales;  der  Kamm  des  Grosaglockners :  die 
Isogeothermen  der  Alpen;  die  Höhenisolliermen  der  Alpen;  monatliche  Verän- 
derungen der  Höhenisotherinen ;  Instrumente;  Zusammenstellung  verschiedener 
Curven.  Die  zwei  grossen  Karten  stellen  den  Pasterzgletscher  und  die  Glelscher- 
Gruppe  des  Oetzlhales  dar.  Siimmtliche  Abbildungen  sind  von  den  Verfassern 
mit  kunstgeübter  Hand  entworfen. 

Wie  es  heisst,  stehen  A.  und  II.  Sch  I  ag  int  weit  im  Begriff,  die  a  ra- 
demische Laufbahn  in  München  zu  betreten.  Wir  wünschen  der  ersten  baierischen 
Hochschule  zu  dem  Besitz  der  beiden  talentvollen  Brüder  alles  Glück. 

G.  Jheoiirmrd. 

Historische  Lehrstücke  für  Religion*-  und  Staatslhutnskundc  Von  Karl  Adolf 
Mein ely  hönigl.  preuss.  Consisforial-  und  Schulrath.  Erster  Theil.  Bres- 
lau 1851.  A.  Gosohorthj  BucUhandl.  (L.  F.  Maske).  VI  M.  399  S.  in  gr.  8. 

Wenn  es  uns  auch  nicht  fehlt  an  geschichtlichen  Lesebüchern,  Tür  die 
lugend  nach  ihren  verschiedenen  Altersstufen  bestimmt  und  darnach  auch  ein- 
gerichtet, so  werden  doch  diese  historischen  Lehrstücke  schon  im  Hinblick  auf 
den  Namen  dessen,  der  als  Herausgeber  hier  auf  dem  Titel  genannt  ist,  unsere 
Aufmerksamkeit  anzusprechen  ein  Recht  haben.   Diese  verdienen  sie  aber  gewiss 
auch  dadurch,  dass  dieses  Werk,  nach  seiner  ganzen  Anlage,  nach  Inhalt,  nach 
Zweck  und  Bestimmung ,  wesentlich  von  den  gewöhnlichen  historischen  Lese- 
büchern abweicht  und  einen  ganz  andern  Standpunkt  genommen  hat,  durch  den 
es  zu  einer  höheren  Stufe  sich  erhebt  und  jedem  Gebildeten  ,  nicht  blos  dem 
reiferen  Jüngting  sich  zur  Leetüre  empfiehlt.    Allerdings  setzen  diese  Lehrstücke, 
wie  uns  auch  ausdrücklich  bemerkt  wird,  das  Elementarische  der  geschichtli- 
ehen Kunde  voraus;  sie  setzen  eine  gewisse  Bildung  und  selbst  eine  gewisse 
Reife  voraus;  sie  sind  ja  auch  keineswegs  blos  für  die  Schule  bestimmt,  sie 
«ollen  vielmehr  „auch  höheren  Kreisen  Gegenstände,  auf  welche  dieselben  ge- 
wöhnlich als  auf  schulmässige  herabsehen ,  in  ihrer  gewichtvollen  Bedeutung  für 
das  Leben  herausstellen**  und  zum  Verständnis*  dessen,  was  der  Kirche  und  dem 
Staat  innerlich  Noth  ist,  den  Weg  anbahnen.    Wir  haben  also  hier  keine 
Lesestücke  zu  erwarten,  wie  sie  in  den  gewöhnlichen  Schriften  derart  enthalten 
sind,  d.  h.  Erzählungen  einzelner,  etwa  besonders  wichtiger  Ereignisse  oder 
Schilderungen  bedeutender  Persönlichkeiten  in  grösserer  Breite  und  in  einer 
mehr  unterhaltenden  Weise  vorgetragen:    in  dem,  was  in  diesen  Lehrstücken 
geboten  wird,  soll  vielmehr  unser  Blick  mehr  auf  die  innere  Seite,  die  der 
äusseren  Erscheinung  und  den  äusseren  Ereignissen  zu  Grunde  liegt,  gefuhrt  und 
vielmehr  das,  was  sich  in  dem  staatlichen  oder  politischen  Leben  der  Völker, 
wie  in  ihren  religiösen  Ansichten  nnd  Anschauungen  kund  gibt,  dargestellt  wer- 
den, um  anf  diesem  Wege  zu  einer  richtigen  Auffassung  und  Würdigung  der 
Vergangenheit  zu  führen,  uns  wahrhaft  zu  belehren  und  damit  die  höchste  Auf- 
gabe der  Geschichte  zu  ermitteln,  „aus  der  Vergangenheit  die  Gegenwart  zu 
verstehen ,  in  dem  Vorübergehenden  das  Bleibende  zu  finden  und  unter  schein- 
baren Verwickelungen  die  unwandelbaren  Leitsterne  und  Zeugen  der  göttlichen 
Ordnung  festhalten  zu  lehren."  (Schluss  folgt.) 


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Hr.  10.  HEIDELBERGER  -  1851. 

JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR. 


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* 

i 

(Schluss.) 

In  welcher  Art  und  Weise  diese  Aufgabe  in  diesem  Werke  erreicht  wer- 
den soll,  mag  aas  einer  kurzen  Angabe  des  Inhalts  erhellen.  Der  erste,  gleich- 
sam einleitende  und  vorbereitende  Abschnitt  verbreitet  sich  über:  „Maass  und 
Ziel  des  Geschichtsunterrichts" ;  er  wird  besonders  von  Allen  denen  wohl  zu  be- 
achten sein,  welche  vermöge  ihres  Berufs  oder  ihrer  amtlichen  Stellung  zur 
Ertheiiung  des  geschichtlichen  Unterrichts  berufen  sind;  insbesondere  wird  hier 
auf  das  bei  diesem  Unterricht  nie  ausser  Acht  zu  lassende  Ziel  desselben  hin- 
gewiesen, das  in  der  Mitlbcilung  der  äusseren  Ereignisse,  also  dessen,  was  man 
den  geschichtlichen  SlofT  nennt ,  sich  nicht  begnügen ,  sondern  darin  nur  ein 
Jittel  zur  Erkenntniss  und  Erweckung  höherer  Ideen  erkennen  soll.  Die  Auf- 
gabe (so  sebliesst  der  bemerkenswerthe  Abschnitt)  besteht  eben  darin,  durch 
die  Mitlheiiung  des  Thatsachlichen  zuerst  auf  das  Verständniss  des  Sachinhalts, 
dann  auf  die  zu  Grunde  liegenden  Ideen  hinzuleiten.  Durch  dieses  auf  die  be- 
zeichneten Stufte  angewendete  Verfahren  würde  der  höhere  Geschichtsunterricht 
dem  Nachtheile  begegnen,  dass  die  deutsche  Jugend,  wahrend  sie  mit  Notizen 
von  staatlichen ,  kirchlichen  und  literarhistorischen  Ereignissen  reichlich  gespeist 
wird,  über  die  Grundverhallnisse  des  staatlichen,  kirchlichen  und  wissenschaft- 
lichen Lebens  im  Unklaren  bleibt,  und  aus  Besorgniss,  dass  ihr  das  Verständniss 
derselben  zu  schwer  fallen  und  zum  Gegenlheil  umschlagen  möchte,  den  poli- 
tischen und  religiösen  Wirren  Treis  gegeben  wird,  in  welche  Unverständige 
oder  Böswillige  sie  zu  stürzen  beflissen  sind.  Der  Geschichtsunterricht  halbier 
viele  Versäumnisse  gut  zu  machen  und  im  Kreise  der  Schule  eine  Lücke  auszu- 
füllen, welche  im  öffentlichen  Leben  der  Gegenwart  sich  schon  zu  einem  ver- 
derblichen Abgrunde  erweitert  hatte,  als  ihr  glücklicher  Weise  noch  Einhalt 
geschah.  (Es  wird  dann  aber  auch  mehr,  als  bisher  geschehen,  auf  die  Bil- 
dung solcher  Lehrer  zu  sehen  sein,  die  es  wirklich  versieben,  diese  Lücke  aus- 
loiallen  und  der  schwierigen,  aber  lohnenden  Aufgabe  gewachsen  sind.) 

Der  zweite  Abschnitt  bringt  die  mosaische  Schöpfungsgeschichte,  d.  h. 
Bichl  etwa  blos  die  biblische  Erzählung  aus  der  Genesis,  sondern  eine  von  dem 
höheren  Standpunkt  des  Cbristenthums  wie  der  Philosophie  aus  gehende  Be- 
trachtung über  dieselbe,  wobei  ebensowohl  auf  die  Verschiedenheit  der  Ansich- 
ten Plato's  und  Aristoteles,  wie  auf  Cicero  und  auf  Kant  s  Lehre  hingewiesen 
wird;  daran  schlicsst  sich  der  dritte,  welcher  in  ähnlicher  Weise  die  babylo- 
nische, persische  und  indische  Lehre  von  der  Weltscböpfoog  mittheilt  und  wür- 
digt, wihrend  der  vierte  die  griechische  Religionssage  und  Dichtung  über  den 
Anfang  der  Welt  und  des  Menschengeschlechts  bringt,  und  hier  neben  Hesiod, 
den  gefesselten  Prometheus  des  Aeschyloa,  gewiss  das  tiefsinnigste  Drama  der 
alten  Welt ,  näher  nach  den  darin  enthaltenen  tieferen  religiösen  Beziehungen 
XUV.  Jahrg.  1.  Doppelheft.  10 


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charakterisirt.  Im  fünften  Abschnitt,  welcher  die  philosophische  Speculation 
der  Griechen  über  den  Ursprung  der  Dinge  uns  vorfuhrt,  ist  es  besonders  die 
Lehre  des  Anaxagoras,  die  hier  berücksichtigt  und  mit  den  Systemen  neuerer 
Philosophen  und  Geologen  zusammengestellt  wird ,  wesshalb  daran  auch  ein  wei- 
terer Abschnitt,  der  sechste:  „historische  Beziehungen  der  modernen  Geologie 
und  Petrefactenkunde"  sich  anreiht.  „Die  Weltalter  nach  dichterischer  Dar- 
stellung und  philosophischer  Deutung11  bilden  den  Inhalt  des  siebenten  Ab- 
Schnitts,  wobei  natürlich  Hesiods  Schilderung  den  Ausgangspunkt  giebt,  an  den 
aber  dann  auch  die  Erörterungen  und  Auffassungen  Plato's  sich  anreihen ;  während 
unter  den  Neuern,  die  Ansichten  Rousseau 's  und  Voltaire'*  sowie  selbst  Kaut's 
des  Näheren  hier  besprochen  werden.  Die  schwierige  Frage  nach  der  Slamm- 
einheit  oder  StammverschiedenhoK  des  Menschengeschlechts  wird  im  folgenden 
Abschnitte  (dem  achten)  verhandelt,  hier  auf  die  verschiedenen  Rassen  and 
deren  Beziehungen  zu  einander  Rücksicht  genommen,  jede  in  ihren  Hauptmerk- 
malen geschildert  und  zuletzt  noch  über  Sprache  und  Schrift,  sowie  über  die 
Erfindung  des  Geldes  gehandelt.  Die  Behauptung  S.  93  von  einem  möglichen 
Zusammenhang  der  amerikanischen  Rasse  mit  der  mongolischen  wird  freilich 
nur  bedingt  ausgesprochen;  wir  verweisen  auf  das  in  diesen  Jahrbüchern  S.  124  ff. 
darüber  bemerkte.  Der  neunte  Abschnitt  enthält  die  Ursprünge  und  Grundver- 
hältnisse des  staatlichen  Lebens,  also  Ehe,  Familie,  deren  Erweiterung  zu 
Stämmen  u.  s.  w. ,  woran  sich  dann  passend  im  zehnten  Abschnitt  eine  Erör- 
terung über  das  Entstehen  und  die  Zustände  der  Knechtschaft,  mit  besonderer 
Rücksicht  auf  das  Griechische  Altertlium  und  die  Ansichten  der  griechischen 
Denker,  namentlich  des  Aristoteles  und  Plato,  anknüpft;  der  eilfte  Abschnitt 
setzt  diese  Erörterung  in  einer  Betrachtung  und  Würdigung  des  Sklavenwesens 
bei  den  Römern  fort  und  wirft  dabei  einen  Blick  auf  die  heutigen  Zustände  der 
arbeitenden  und  dienenden  Volksklassen ,  auf  den  Standpunkt  der  christlichen 
Kirche,  wie  auf  die  Irrlehren  der  Humanilatsphilosophie  neuer  nnd  neuester  Zeit. 
Die  Anfänge  des  Königthums  schildert  der  zwölfte  Abschnitt,  der  dreizehnte 
bringt  eine  Darstellung  des  Königthums  nach  Plato's  Auffassung;  dessen  Ver- 
nunftstaat wird  im  folgenden  ausführlich  entwickelt,  und  dann  im  fünfzehnten 
Abschnitt  das  Königthum  nach  des  Aristoteles  Auffassung  geschildert.  Die  drei 
folgenden  Abschnitte  (16,  17,  18)  geben  eine  Darstellung  der  assyriseb-babylo • 
nischen  Monarchien,  der  arischen  oder  iranischen  Völker  und  der  Perser;  hin- 
sichtlich der  Abkunft  des  Cyrus  wird,  und  mit  Recht,  des  Ctesias  Erzählung 
vorgezogen;  die  nähere  Ausführung,  die  wir  jetzt  über  die  Herkunft  und  das 
Emporkommen  des  Cyrus  in  den  unlängst  bekannt  gewordenen  Excerpten  aus 
Nicolaus  Damascenus  erhalten  haben,  scheint  noch  nicht  benutzt,  ebenso  wenig 
die  für  die  erste  Periode  der  persischen  Monarchie  so  wichtige  Aufklä- 
rungen bietende  Inschrift  von  Bisulun.  Fünf  nun  folgendo  Abschnitte  (19,  20, 
21,  22,  23)  sind  dem  alten  Wunderland  Aegypten  gewidmet,  und  erörtern  die 
geschichtlichen  Verhältnisse  von  der  ältesten  Zeit  an  bis  hl  die  persische  Herr- 
schaft herab,  dann  die  Religiouslehre  und  den  Cultns,  sowie  das  Staatswesen ; 
die  übrigen  sechs  Abschnitte  (24  ,  25  ,  26,  27  ,  28  ,  29)  enthalten  die  Anfange 
der  hebräischen  Religions-  nnd  Familiengeschichte,  schildern  dann  die  Auswan- 
derung aus  Aegypten,  die  mosaische  Verfassung,  insbesondere  das  darin  herr- 


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sehende  Priesterthum,  den  Zustand  des  Volkes  in  der  Wüste,  die  Zeit  Josua's 
und  der  Richter,  im  leUten  Abschnitt  Samuel  und  Saal. 

Hiernach  mag  der  Inhalt  des  Ganzen  bemessen  worden;  die  Darstellung, 
klar  und  gedrängt,  ist  nicht  ohne  mehrfache  Hinblicke  auf  unsere  Zeit  und  die 
Verirr ungen  derselben:  möge  sie  zur  Beseitigung  derselben  insbesondere  dadurch 
beitragen,  dass  sie  die  jüngere  Generation,  der  die  Geschicke  der  Zukunft  der- 
einst anvertraut  sind,  auf  den  rechten  Grund  und  Boden  zurückführe,  auf  dem 
allein  eine  erspriessliche  Wirksamkeit  zu  erwarten  ist. 


Joannii  Sin  ha  ei  Kclogarum  physicamm  et  ethicanm  libri  duo.  Accedit  Hie- 
roclis  Com  mental  ins  in  aurta  carmina  Pythagoreorum.  Ad  MSS.  Codd. 
recensuit  Thomas  Gaisford,  S.  T.  P.  aedis  Christi  Decanus  neenon  linguae 
Graecae  Prof.  Reg.  Oxonii:  c  tyjtographeo  Academico  MDCCCL  2  Tomi  in 
gr.  8.  XVI  91$  und  WS  S. 

Nachdem  Herr  Gaisford  vor  bald  zwanzig  Jahren  das  Florilegium  des 
Stobäus  edirt  hatte,   folgt  jetzt  die  Ausgabe  der  Eklogen,   die  wir  dankbar 
begrüssen,  wenn  auch  gleich  die  Wünsche  sowie  die  Anforderungen,  die  man 
an  eine  nene  Ausgabe  der  Eklogen  zu  stellen  berechtigt  ist,  nicht  in  dem  Grade 
in  Erfüllung  gegangen  sind,  als  sich  diess  wohl  hätte  erwarten  lassen.  Zu  den 
von  Heeren  benutzten  handschriftlichen  Hilfsmitteln  ist  kaum  Etwas  Neues  hin- 
zugekommen: der  Augsburger,  jetzt  Münchner  Codex  ist  zwar  genauer  ver- 
glichen worden,  als  diess  von  Heeren  geschehen  war;  ebenso  ward  eine  Hand- 
schrift des  Brittischen  Museums  (Cod.  Harieianus  nr.  6318)  eingesehen,  aber 
bald  ohne  Werth  und  Nutzen  für  die  Gestaltung  des  Textes  gefunden,  was  auch 
die  in  der  Prnefatio  daraus  mitgetheilten  Varianten  bestätigen:  indessen  die  im 
Escurial  befindliche  Handschrift  (angeblich)  des  eilften  Jahrhunderts  blieb  un- 
benutzt, oder  ward  vielmehr  dem  Herausgeber  zu  spät  bekannt,  um  von  ihm 
benutzt  zu  werden:  was  wir,  eben  weil  die  bisher  bekannten  Handschriften  des 
Stobäua  meist  von  jüngerem  Datum  und  dabei  lückenhaft  und  entstellt  sind,  um 
so  mehr  an  beklagen  haben,  als  dadurch  auch  dem  hier  gelieferten  Texte  die- 
jenige urkundliche  Begründung  abgebt,  die  wenigstens  jeder  Heransgeber  einer 
solchen  Schrift  sich  vor  Allem  zu  verschallen  bemuht  sein  sollte.    Bei  Slobaus, 
einem  Autor,  der  so  viele  Bruchstücke  anderer  meist  verlorenen  Schriftsteller 
enthält,  der  überdem  kaum  sobald  wieder  auf  eine  neue  Ausgabe  rechnen  kann, 
wird  diess  um  so  nothwendiger  erscheinen,  wenn  man  die  Bedürfnisse  der 
Wissenschaft  und  nur  diese  ins  Auge  fasst.    Ueber  das,  was  in  dieser  neuen 
Ausgabe  geleistet  worden  ist,  spricht  sich  das  Vorwort  in  folgender  Weise  ans: 
„lgitur  diligentfore  collatidne  (der  erwähnten  Münchner  Handschrift)  institnta  ad 
nuvara  editionein  paraudarn  ine  accinxi,  in  qua  animus  est  non  ex  incertis  con- 
jecturis  and  quoad  ejus  ficri  polest  Excerptorum  verba  ad  MSS  exeru  planum 
Man  exaet«  emendare  nec  non  beud  pauca  ab  Heerenio  inconsulto  omissa  m 
snua  quaeque  locum  reponere.    Quodsi  aliquoties  ex  editione  Heereniana  huc 
irrepsertnt,  id  qnod  factum  esse  nunc  serius  vereor,  quae  et  ipse  minus  probo 
et  quae  peritioribus  displicitura  sunt,  ea  omnia  corriget  ut  poterit  aeqous  et 
eroditior  lector."    Dastf  diese  Worte,  näher  betrachtet,  manches  Bedenken  er- 

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regen  und  Manches  tu  wünschen  übrig  lassen,  was,  nach  unserem  Ermessen, 
dem  „acquus  et  eroditior  lector**  nicht  überlassen  bleiben  sollte ,  bedarf  kaum 
einer  weiteren  Bemerkung ;  wer  naher  und  im  Einzelnen  sich  umsieht ,  wird 
neben  mancher  Verbesserung  des  Textes  doch  dasjenige  feste  und  conseqnente 
Verfahren  in  der  Bildung  des  Textes  vermissen ,  das  von  einem  Herausgeber  einer 
solchen  Schrift  wohl  gefordert  werden  konnte.  Wir  können  hier  nicht  in  das 
Detail  eingehen,  um  Beweise  au  liefern,  die  Jeder  bei  eigener  Prüfung  leicht 
und  bald  fast  auf  jedem  Blatte  wird  finden  können ,  wir  wollen  hier  blos  einen 
einfachen  Bericht  abstatten  über  das,  was  man  von  dieser  neuen,  Manchen  er- 
wünschten, weil  in  der  Thüt  notwendigen  Ausgabe  der  Eklogen  des  Stobäus 
au  erwarten,  was  man  in  ihr  zu  suchen  und  zu  finden  hat.  Das  ganze  Ver- 
fahren des  Herausgebers  ist  ohnehin  aus  manchen  andern  Ausgaben  auch  unter 
uns  in  Deutschland  bekannt  genug,  um  eine  weitere  Verhandlung  darüber  nicht 
nöthig  zu  machen,  und  darum  haben  wir  auch  wohl  kaum  nölhig,  noch  aus- 
drücklich hier  zu  erwähnen ,  dass  derselbe  auch  hier  sich  blos  auf  die  Kritik 
des  Textes  beschränkt  und  alles  Andere,  was  wohl  noch  gewünscht  und  er- 
wartet werden  mochte,  bei  Seite  gelassen  hat.  Gut  war  es  wenigstens, 
dasa  die  Anmerkungen  der  Heercn'uchen  Ausgabe  hier  gleichfalls  in  den  Noten 
anter  dem  Text,  welche  die  Abweichung  der  Lesarten  enthalten,  wieder  ab- 
gedruckt sind,  während  im  Texte  selbst  da,  wo  Stellen  oder  Verse  aus  noch 
vorhandenen  Autoren  angeführt  werden,  die  betreffende  Nachweisung  des  Citata 
kl  eckigen  Klammern  beigefügt  ist,  und  am  Rande  links  und  rechts  die  Seilen- 
zahlen der  Heeren  sehen  und  Canter'schen  Ausgabe  bemerkt  sind.  Uebrigens 
laufen  die  Seitenzahlen  dieser  neuen  Ausgabe  durch  beide  Bande  fort  bis  dahin, 
wo  der  Commentar  des  Hicrocles  im  zweiten  Bande  mit  neuer  Seitenzahl  be- 
ginnt. Als  eine  Art  von  Anhang  unmittelbar  nach  dem  Schluss  der  ethischen 
Eklogen  folgt  zuerst:  Appendix  ex  cod.  Ms.  Florentino  Parallelorum  Sacrornm 
Joannis  Damasceni,  nach  der  in  Leyden  befindlichen,  dem  Herausgeber  durch 
die  Güte  von  J.  Geel  mitgelhcilten  Abschrift,  welche  der  Canonicos  Sarti  im 
Jahre  1781  gemacht  hatte,  und  welche  der  Herausgeber  vergeblich  zu  erhalten 
bemüht  gewesen  war:  die  Wichtigkeit  dieses  Apographums  für  die  Verbesserung, 
wie  selbst  die  Erweiterung  und  Vervollständigung  des  Florilegiums  rechtfertigt 
diesen  Abdruck,  dem  einige  Roten  von  Sarti,  Mai  u.  A.  beigefügt  sind.  Darauf 
folgen  (S.  777  IT.)  acht  Indices,  ein  Index  tilulorum  s.  capitum,  ein  Index  Icm- 
matum,  ein  Index  exhibens  initia  senlcntiarum  alpbabctiec  disposita,  ein  Index 
Graecilalis,  voces  tum  rariores  tum  philosophico  maxime  sermoni  proprias  ex* 
hibens;  ein  Index  nomtnum  et  reruin  plcnissimus,  ein  Index  titulorum  s.  capi- 
tum in  excerptis  Joannis  Damasceni,  ein  Index  iemmatuni  in  excerptia  Joannis 
Damasceni ,  und  ein  Index  exhibens  initia  sententiaram  in  excerptis  Joannis  Da- 
masceni. Man  sieht ,  von  dieser  Seile  ist  in  dieser  Ausgabe  ganz  gut  gesorgt. 
Mit  S.  838  beginnen  die  Addenda  zu  der  im  Jahr  1822  erschienenen  Auagabe 
von  des  Stobäus  Florilegium:  es  sind  meist  kurze  kritische  Bemerkungen,  An- 
gaben von  Varianten  oder  Verbesserungen ,  wie  sie  tbeils  von  älteren  Gelehrten 
gemacht,  dem  Herausgeber  aber  bei  seiner  Ausgabe  entgangen  waren,  theils, 
und  insbesondere  von  neueren  Gelehrten,  seit  dem  Erscheinen  der  erwähnten 
Ausgabe,  namentlich  auch  in  einzelnen,  dem  Stobäus  eigens  gewidmeten  Schrif- 
ten (von  Halm,  Boving,  Huschig,  wie  er  Bd,  I,  p,  XU.  richtig  heisst ,  wäh- 


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read  in  den  Abdruck  der  Noten  S.  835  ff.  He  rachig  steht)  versucht  worden 
waren.  Diese  in  doppelten  Columnen  auf  jeder  Seite  gedruckten  Addenda  rei- 
chen bis  S.  860,  wo  die  Mittheilun?  der  Varianten  der  alten  Wiener  Handschrift 
beginnt,  welche  die  Grundlage  derjenigen  Handschriften  bildet,  auf  welchen 
der  Text  der  Editio  prineeps  des  Florilegiums  (der  ru  Venedig  1536  von  Victor 
Trinra velli  besorgten)  beruht.  Diese  Varianten ,  ebenfalls  in  doppelten  Columnen 
anf  jeder  Seite,  reichen  bis  S.  915  und  bilden  mit  den  vorhergehenden  Mitthei- 
longen  allerdings  eine  nothwendige  Ergänzung  der  1822  erschienenen  Ausgabe  des 
Florilegiums,  welche  mithin  ohne  diese  Ausgabe  der  Ektogen  kaum  mehr  zu 
gebrauchen  ist.  Den  Rest  des  zweiten  Bandes  füllen,  und  zwar  eigens  pagi- 
sirt:  Pythagoreorum  aurea  carmina  cum  commentario  Hieroclis  ad  codicemVin- 
dobonensem  exacla     Aeeedunt  annotnliones  variorum.    Da  die  meisten  Frap- 

w  vi/ v/uv  ib^v  saa    i-  m  v  i  n«vv  u  ts  aiiiimcmwni.j      tob  ivi  um  •  *\     maiv>     nibioivii     1  log 

mente  der  Schriften  des  Hierocles  bei  Stobäus  vorkommen  ,  so  hielt  es  der 
Herausgeber  für  passend ,  auch  diesen  Rest  seiner  Schriften  beizufügen ,  zumal 
da  ihm  zur  Verbesserung  des  Textes  nicht  blos  die  mit  grosser  Sorgfalt  ge- 
machte Collation  einer  Wiener  Handschrift  zu  Gebot  stand,  sondern  auch  die 
an  den  Rand  eines  Exemplars  der  Ausgabe  von  Curter  geschriebenen  Bemer- 
kungen von  Lucas  Holsten  ins,  welcher  Vaticanische  und  Floren  linische  Hand- 
schriften dabei  benutzt  hatte.  Der  Herausgeber  hat  für  den  Abdruck  des  Tex- 
tes die  Londner  Ausgabe  von  1742,  als  deren  wahrer  Herausgeber  nicht  sowohl 
Richard  Warren,  sondern  Carl  As h ton  anzusehen  ist,  zu  Grunde  gelegt,  dann 
unter  dem  Texte  die  Noten  von  Ashton,  die  in  sachlicher  Hinsicht  manches  Gute 
enthalten,  abdrucken  lassen  und  hier  und  dort  kurze,  meist  kritische  Bemer- 
kungen oder  Kachweisungen  beigefügt.  Die  Seitenzahlen  der  Ausgaben  von 
Curter  und  Keedham  sind  am  Rande  links  und  rechts  ebenfalls  angegeben,  und 
an  Schlnss  fehlt  der  Index  rernm  nicht.  In  der  Gestaltung  des  Textes  hat  der 
Herausgeber  Einzelnes,  wie  bei  Stobäus,  gleichfalls  berichtigt:  im  Uebrigen 
aber  denselben  Weg  der  Behandlung  eingeschlagen.  Eben  desshalb  unterlassen 
wir  es  auch  hier,  in  das  Einzelne  der  Kritik  einzugehen:  denn  wir  können 
»ach  hier  nur,  was  wir  schon  oben  ausgesprochen,  wiederholen,  dass  es  un- 
sere Absicht  ist,  dem  deutschen  Publikum,  das  sich  für  diese  Erscheinungen 
•  essirt,  dasjenige  zu  bezeichnen,  was  es  davon  zu  erwarten  hat,  was  es 
darin  wirklieb  findet,  und  was  es  darin  nicht  findet  und  nicht  erwarten  darf. 
Dahin  rechnen  wir  aber,  selbst  abgesehen  von  dem,  was  wir  in  kritischer 
Hinsicht  vermissen,  auch  den  gänzlichen  Ausfall  jeder  den  Text  selbst,  dessen 
Yerständniss  und  richtige  Auffassung  wie  Erklärung,  also  die  Sache  selbst  be- 
treffenden Anootatio  ,  der  sich  kein  Herausgeber  in  unsern  Tagen  mehr  wird 
ratschlagen  können,  wo  sich,  mit  wenig  Ausnahmen,  die  Ueberzeugung  immer 
mehr  befestigt ,  dass  die  Philologie  noch  in  etwas  An  denn  bestehe,  als  in  blos- 
ser Kritik  and  Variantenkram,  und  dass  bei  aller  Anerkennung  der  Bedeutung, 
welche  die  Texteskritik  anzusprechen  hat,  doch  noch  etwas  Höheres  in  der 
riulologie  zu  erstreben  ist,  wenn  sie  anders  sich  selbst  erhalten  und  ihre  Stel- 
lung als  Grundlage  aller  höheren  wissenschaftlichen  Bildung  bewahren  will. 


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Kurie  Auzdgen. 


Palastina.    Von  Karl  ton  Raumer,   Professor  in  Erlangen.    DriHf.  ©er- 
F.  ,4.  BrocAA™  /850.  JfK/  «.  4S6*  S.  in  ^r.  8. 

Bei  diesem  Werke,  das  jetzt  in  seiner  dritten  Auflage  vorliegt,  nach- 
dem es  in  den  beiden  früheren  diejenige  Verbreitung  gefunden,  die  es  durch 
die  sorgfältige  Beachtung  aller  Zeugnisse  der  alten  Welt  und  aller  Berichte 
neuerer  Reisenden  in  der  daraus  gebildeton  Zusammenstellung  alles  dessen, 
was  das  heilige  Land  im  Ganzen  wie  im  Einzelnen  betrifft,  mit  allem 
Recht  verdient  hat,  wird  es  nicht  mehr  nüthig  sein,  Anlage  und  Charakter,  In- 
halt und  Gang  der  Darstellung  näher  zu  besprechen,  wohl  aber  wird  der  auch 
nach  dem  ersten  Erscheinen  fortgesetzten  Bemühungen  des  Verf.  zu  gedenke« 
•ein ,  die  dem  ursprünglichen  Werke ,  ohne  Veränderung  des  Plans  und  der 
ganzen  Einrichtung ,  manche  Erweiterung  und  Berichtigung  im  Einzelnen  haben 
•■gedeihen  lassen  (die  erste  Auflage  hat  346  Seiten ,  also  mehr  als  hundert  we- 
niger wie  die  vorliegende  dritte).  Dnzu  dienten  nun  hauptsächlich  die  in  neue- 
stes Zeit  verschiedentlich  nach  dem  heiligen  Land  und  der  heiligen  Stadt  unter- 
nommenen Reisen  und  die  Ergebnisse  mancher,  an  Ort  und  Stelle  angestellten 
Vorsehungen,  von  denen  der  Verfasser  für  sein  Werk  erspriesslirhen  Gebrauch 
durchweg  gemacht  hat:  selbst  während  seiner  Arbeit  und  während  des  Druckes 
derselbeu  ist  Mehrere s  erschienen,  was  für  die  Folge  nicht  ohne  Einfluss  auf 
manche  Parthien  dieses  Werkes  und  einzelne  Schilderungen  desselben  wird 
bleiben  können.  Dahin  rechnen  wir  z.  R.  die  Schrift  über  Bethlehem  von 
Tobler  (s.  diese  Jahrb.  XL1II.  Jahrg.  S.  622),  der  jetzt  auch  einen  Plan  und 
eine  Beschreibung  Jerusalems  hat  folgen  lassen,  oder  das,  jetzt  auch  in  einer 
deutschen  Uebersetzung  von  Meissner  (Leipzig  1850)  unter  uns  bekennt  gewor- 
dene Werk  des  Amerikaners  Lynch  über  den  Lauf  des  Jordan  und  das  todte 
Meer,  wovon  der  Verfasser  nur  eine  verhältnismässig  kurze  Nachricht  (nach 
Hilter )  S.  449  ff.  geben  konnte.  Denn  diese  Schrift  giebt  uns  jetzt  die  sichersten 
und  verlässigsten  Aufschlüsse  über  den  ganzen  Lauf  dieses  Flusses  von  seiner  Quelle 
•n,  und  über  das  ihn  einschließende  Thal,  sowie  über  das  todte  Meer  und  dessen 
Umgebungen.  Auch  die,  in  neuester  Zeit  so  viel  bestrittene  Frage  über  die 
wahre  Lage  des  heiligen  Grabes,  worüber  selbst  unser  Verfasser  noch  in  so 
weit  schwankt,  dass  er  in  einem  Zusatz  S.  396  erklärt,  bei  der  Meinung  ver- 
bleiben zu  müssen,  dass  das  heilige  Grab  und  der  Ort  der  Kreuzigung  zu  den 
zweideutigen  Punkten  gehören,  indem  kein  Kritiker  mit  entschiedener  Gewiss- 
heit  die  Unächtheit  des  Grabes  bewiesen,  Keiner  aber  auch  vermocht,  die 
Aechtheit  desselben  unwidersprechlich  darzuthun ,  dürfte  durch  die  neueste  Un- 
tersuchung von  A.  Scbaffler  (die  ächte  Lage  des  heiligen  Grabes,  Bern  1850.  8.) 
doch  eine  andere  Gestalt  gewonnen  nnd  selbst  in  unsorm  Verfasser  der  Ueber- 
Keugung  das  Uebergewicht  verschafft  haben,  dass,  soweit  nur  immerjmi  jetzt 
sich  die  Sache  erforschen  und  ermitteln  lässt ,  der  alten  TraditiofTihr  Recht  zu- 
zuweisen und  demnach  mit  aller  Sicherheit  anzunehmen  ist:  „dass  die  gegen- 
wärtige Lage  der  Kirche  des  Ii.  Grabes  dio  Stätte  bezeichnet,  wo  Christus  ge- 
kreuzigt und  in  das  Grab  gelegt  worden  ist"  (Schaffter  S.  94).  Bei  der  Angabe 
der  Quellen  würden  wir  S.  5  da,  wo  die  Itinerarien  angeführt  werden,  zur 
Vermeidung  von  Mißverständnissen ,    bemerkt  haben,  dass  das  Itinerarium 


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15t 


Hierosolymitanum  s.  Burdigalense  nicht  sowohl  eine  kurze  Beschreibung  einer  im 
Jahr  333  p.  Chr.  von  Bordeaux  nach  Jerusalem  gemachten  Reise,  sondern  viel« 
mehr  eine  Reiseroute ,  d.  h.  die  Angahe  der  einzelnen  Stationen  und  deren  Ent- 
fernungen von  einander,  also  eine  Art  von  Wegweiser  enthalt,  welcher  an  die 
Angabc  der  Stationen  im  b.  Lande  einzelne  Bemerkungen  der  Sehenswürdig- 
keiten u.  dgl.  knüpft;  das  Ganze  scheint  von  einem  Wallfahrer  herzurühren, 
der  einen  Wegweiser  für  seine  Landsleute,  die  eine  ähnliche  Pilgerreise  zu 
unternehmen  gedächten,  liefern  wollte.  Bei  dem  Yerzeichniss  der  Charten  von 
Palästina  S.  14  ff.  haben  wir  die  Angabe  derjenigen  Charte  nicht  gefunden, 
welche  durch  den  grösseren  Umfang,  sowie  durch  die  Sorgfall  und  Genauigkeit 
der  Behandlung,  den  trefflichen  Stich  und  die  herrliche  Zeichnung  dar  Gebirgs- 
zuge, gewiss  eine  der  ersten  Stellen  verdient:  Palaestina  ex  veteris  aevi  moou- 
mentis  ac  recenliorum  observationibus  illustravit  Marin  us  Didericus  de 
Bruyn.  Amstelodami,  sumlibus  de  S.  de  Grcbber  1844.  Sculpsit  Georgius 
Mayr.  —  Noch  andere  Aufschlüsse ,  namentlich  für  die  Geographie  und  Topo- 
graphie auch  dieser  Landstriche ,  erwarten  wir  von  der  Lesung  der  neu  gewon- 
nenen Assyrischen  und  Babylonischen  Keilschriften,  welche  über  tausend,  bisher 
meist  ganz  unbekannte  Ortsnamen,  wie  wenigstens  versichert  wird,  uns  brin- 
gen sollen.  Bei  dem  Zusammenhang  der  Länder  und  Monarchien  Assyriens  wie 
Babylons  mit  Palästina  und  dessen  Geschichte  durfte  jedenfalls  manches  Neue 
mit  allem  Recht  aus  dieser  Quelle  erwartet  werden ;  dass  wir  aber  selbst  auf 
andern  schriftlichen  Quellen  noch  Einzelnes  gewinnen  können,  und  dass  wir 
auch  hier  die  Hoffnung  nicht  ganz  aufgeben  dürfen ,  zeigen  die  unlängst  be- 
kannt gewordenen,  den  Herodes  und  seine  Verhältnisse  betreffenden  Excerpte 
in  den  aus  einer  Handschrift  des  Escurial  von  Feder  und  Müller  (in  den 
Fragm.  llist.  Graecc.)  edirten  Stücken  des  Nicolaus.  Wir  haben  diese  we- 
nigen Bemerkungen  nicht  unterlassen  wollen,  um  damit  dem  Verfasser  einen 
Beweis  der  Theilnabme  zu  geben,  die  wir  seinem  Werke  und  seinen  fortge- 
setzten Bemühungen  schuldig  zu  sein  glaubten. 


Mi  ekel  Chevalier,  Studien  über  die  nordamet  titanische  Verfassung.  Nach 
dem  Französischen  bearbeitet  ton  Dr.  M.  Engel.  Wien  1849.  VI.  und 
15%  S.  gr.  8 

Vorliegende  deutsche  Bearbeitung  der  neuesten  Schrift  des  bekannten 
staatswirtbscbaltlicben  Schriftstellers  Mich.  Chevalier  verdient  eine  kurze  Be- 
sprechung in  diesen  Blättern  schon  darum,  weil  ihr  Yerf.  nebst  Beaumont 
und  Tocqueville  zu  jenen  Franzosen  gehört,  denen  wir  die  unbefangensten, 
während  längeren  Aufenthalts  angestellten  Beobachtungen  und  treuesten  Berichte 
über  Nordamerikas  Zustände  verdanken.  Zudem  erhalten  wir  hier  eine  fortlau- 
fende, zunächst  auf  Förderung  der  Selbstkennlniss  der  Franzosen  —  denen 
Wahrheit  vor  Allem  Noth  thue  —  abzielende  Vergleichung  mit  französischen 
Zustanden,  die  in  Verbindung  mit  der  im  vorigen  Jahrgang  der  Jahrb.  ange- 
zeigten Schrift  von  Raudot  uns  einen  tiefen  Blick  in  die  ganz  trostlose  Lage 
oaseres  Nachbarlandes  thun  lässt ,  das  der  Verf.  in  das  letzte  (?)  Stadium  seiner 
ttngestaltong  getreten  glaubt,  weil  er  eine  neue  Phase  nicht  einmal  für  denk« 


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bar  hält.  Die  Zuthaten  des  deutschen  Bearbeiters  beschränken  sich  auf  einigo 
Hinweisungen  auf  Ocstreichs,  seiner  Heimath,  Verhältnisse  und  ein  kurzes  Vor- 
wort, worin  in  den  stärksten  Ausdrücken  das  dortige  vormärzliche  Wallen  als 
ein  solches  gebrandmarkt  wird,  wobei  man  sich  des  Zwietrfcchtsäens  und 
Unterhalten*  geistiger  Nacht  als  der  sichersten  Mittel  zum  Zweck  der  Erhal- 
tung der  Unumschränktheit  bedient  hohe.  Im  ersten  der  12  Hauptstücke  des 
Buchs  wird  die,  in  Vergleich  mit  Frankreich,  ungleich  grössere  G o tt innig- 
keit,  Sittlichkeit  und  staatliche  Bildung  der  Bürger  Nordame- 
rika^ hervorgehoben.  Besonders  merkwürdig  ist,  dass  hier  ein  Katholik  be- 
hauptet: es  müsse  sich  erst  noch  zeigen,  ob  der  Katholizismus,  der  wesentlich 
monarchisch  und  der  Zentralisation  förderlich  sei,  sich  mit  einer  demokratischen 
Republik  vertrage,  also  mit  dem  vieljährigen  Streben  Frankreichs,  Das  zu  er- 
reichen ,  was  in  Amerikas  Grundgesetz  und  Sitte  längst  felsenfest  stehe :  „völlige 
Gleichheit  Aller  in  bürgerlichen  uud  politischen  Verhaltnissen."  Bis  heute  habe 
nur  die  akathnlische  Geistesbildung  Früchte  des  Fortschritts  und  der  politischen 
Grösse  gebracht,  die  katholische  Rückschritt!  Dass  der  Verf.  dem  Protestantis- 
mus hier  plötzlich  den  Akatbolizismus  unterschiebt  und  besonders  den  Fortschritt 
Russlands  dabei  betont,  ist  freilich  eine  ungeheure  Verirrung!  Uniäugbar 
wurzele  gerade  im  überseeischen  Protestantismus  hie  Lehre  der  Selbstherrschaft 
(selfgovernmeut),  denn  er  erziehe  mehr  als  Alles  zur  Selbstbestimmung  und 
habe  sich  frei  geholten  von  der  Hierarchie  der  anglikanischen  Kirche,  die  dem 
Katholizismus  am  Nächsten  stehe  und  dort  nur  wenig  Bekenner  zihle  •).  Ge- 
wallig steche  die  französische  Lauheit  ab  gegen  die  Wärme  des  nordamerikani- 
schen Religionseirers ,  dieses  Hauptquells  aller  Sittenstrenge  und  thatkräftigen 
Begeisterung,  ohne  welche  eine  demokratische  Republik  nimmer  bestehen  könne, 
also,  ohne  eine  religiöse  und  sittliche  Umwälzung,  euch  nicht  die  französische. 
Selbst  die  amerikanische  Uebertreibung  der  Sonnlagsfcier  sei  das  weit  kleinere 
Uebel.  Frankreich  sei  überhaupt  jetzt  ganz  überze  ugungs  los  und  eben- 
darum ohne  Willenskraft;  es  habe  nur  Verneinungen,  nicht  einen  schaffenden 
Gedanken,  wie  ihn  die  Nordamerikaner  besässen  io  dem  festen  Glauben  an  die 
Unübertrelflichkcit  ihrer  Staatseinrichtungeu  und  an  die  Bestimmung  der  neuen 
Welt  für  sie.  Den  Beweis  ihrer  grösseren  Sitlenreinhcit  gebe  schon  ihre  weit 
höhere  Achtung  des  weiblichen  Geschlechts,  das  z.  B.  dort  ganz  sicher  reisen 
könne,  des  Eides,  ja  des  einfachen  gegebenen  Worts,  das  z.  B.  bei  Vermögen- 
Steuern  dort  ganz  genüge.  Nicht  minder  stark  hebt  das  2.  Hauptstück  (S.  13  ff.) 
die  hohe  angelsächsische  Achtung  vor  dem  Gesetz  hervor,  die  schon  zur 
Zeit  der  nothgedrungenen  Losrcissung  vom  Mutterlande ,  anfangs  durch  blosses 
Enthalten  von  ungerecht  besteuerten  englischen  Waaren ,  sich  bewahrt  habe  und 
seitdem  stets,  trotz  vereinzelter  Versuche  der  Ungesetzlichkeit,  z.  B.  des 
Aar on  Burr,  der  Lynchjustiz  in  den  Gränzlanden  und  einiger  Volksgunstbuhler. 


*)  Dass  und  warum  der  Calvinismus  mehr  als  das  Lulherthum  zu  staat- 
licher Wirksamkeit  überhaupt  veranlasse  und  mehr  mit  der  republikanischen 
Form  stimme,  hat  Hundeshagen  in  der  Schrift:  »Der  deutsche  Protestantis- 
mus" gut  gezeigt.  Dass  er  aber  dem  wissenschaftlichen  Geist  weniger  Vorschub 
thue,  scheint  der  Umstand  darzuthun,  dass  in  Nordamerika  sehr  hohe  und  sehr 
niedere  Bildung  gleich  selten  sind. 


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153 


Dort  sei  man  dem  Fluch  entgangen ,  der  auf  dem  ersten  Schritt  tut  Miss- 
achüing  des  Gesellet  laste,  wonach  Gewalt  stets  Gewalt  hervorruft  und  die 
französische  Umwälzung  ihre  eignen  Söhne  verschlang.  Volk  nenne  man  dort 
sieht  jede  Menge,  die  ihren  Eigenwillen  durchsetzen  möchte  oder  vielmehr 
du  hinter  ihr  stehende  Häuflein  Ehrgeiziger,  das  i hr  d.  h.  s  ic h  das  Recht  zu- 
icbreibe,  unter  dem  Vorwand  der  unbeschränkbaren  Selbstherrschaft  des  Volks 
jederzeit  beliebig  die  Verfassung  zu  ändern  (S.  48),  sondern  nur  die  Ge- 
lammtheit,  die  in  gesetzlicher  Weise  selbst  oder  durch  ihre  Vertreter  sich 
ausspricht.  Auf  anderem  Wege  erwirkte  Gesetze  und  Verfassungsänderungen 
würden  einen  Sturm  im  ganzen  Lande  heran fbeschwören  und ,  verworfen  vom 
höchsten  Gericht,  unhaltbar  sein,  wie  Dorr's  Fehlversuch  (1842)  gegen  die 
Verlassung  von  Rhode -Island  gezeigt  habe.  Der  Kongress  und  Präsident  be- 
dürfe darum  kein-r  Wache;  aber  die  Amerikaner  würden  1814,  1830  und  1848 
aacb  anders  gehandelt  haben ,  als  die  Franzosen.  Das  3.  Hauptstöck  (S.  26  ff.) 
zeichnet  ans  in  treffenden  Zögen  aus  Washington'*  Leben  das  wahre  Urbild 
amerikanischer  Bürgertugend  und  strengsten  Gehorsams  gegen  das  Gesetz,  auch 
wenn  es  seiner  Ansicht  nach  nicht  gut  war;  demgemäss  er  an  der  Spitze  des 
Heers  nie  geduldet  habe,  dass  dieses  sein  eignes  Dasein  als  leitenden  Gedanken 
obenan  stelle.  Dicss  wird  erläutert  an  seinem  kraft  -  und  muthvollen  Benehmen 
fe|en  die  empörten  pennsylvanischen  Soldaten  und  jene  Unzufriedenen  über  die 
auf  geistige  Getränke  gelegte  s.  g.  Federaltaze,  die  unter  seiner  Präsidentschaft, 
aufgehetzt  oWch  Clubs  nach  jakobinischem  Muster,  1793  bis  zu  bewaffnetem 
Widerstand  (Whiskey- Aufstand)  gingen,  aber  zauberisch  schnell  durch  Aufge- 
bot der  gesetzlichen  Macht,  ohne  Schuss,  zur  Pflicht  zurückgeführt  wurden; 
endlich  an  der  Selbstüberwindung,  womit  er  in  der  bekannten  Sache  des  Major 
Andre  die  volle  Strenge  des  Gesetzes  habe  walten  lassen.  Wo  seien  und  Was 
seien,  fragt  der  Verf ,  solchen  Gestalten  gegenüber,  die  Republikaner  Frank- 
reichs, die  Leute,  die  dieses  zur  Republik  gemacht  hätten  und,  Bewunderung 
und  Hingebung  für  das  Volk  im  Munde,  ohne  Ehrfurcht  vor  dem  Gesetze  im 
Herzen,  ihren  haltlosen  Ansichten  zu  Liebe  sich  nicht  scheuten,  Alle  ins  Elend 
tu  stürzen,  wie  L.  Blanc,  L.  Rollin  und  Proudhon.  Der  Verf.  zeigt  wei- 
ter im  4.  HauptstBck  (S.  38—49),  mit  wie  richtigem  Blick,  im  Interesse  der 
Sicherung  aller  Unternehmungen,  z.  B.  im  Eisenbahnbau  und  aller  Stiftungen, 
wwie  der  Stetigkeit  des  Gangs  der  Regierung  die  berühmten  Verf.  des  Federa- 
Ibl  den  Vorschlag  gemacht  hätten,  deasen  nachmalige  Erhebung  zum  Verfaa- 
suogssatz  der  frühern  Selbstherrlichkeit  der  Einzelstaaten  die  nöthige  Schranke 
gezogen  habe:  dass  kein  Staat,  auch  nicht  durch  spätere  (rückwirkende)  Ge- 
setze die  Verträge  brechen  dürfe  —  selbst  nicht  wegen  Erschleichung  —  die 
von  ihm  mit  andern  Staaten  oder  mit  Einzelen  oder  von  Einzelen  unter  sich 
aaf  Grund  früherer  Gesetze  geschlossen  worden  seien;  und  dass  die  Ueber- 
wachnng  und  Auslegung  der  gesammten  Verfassung,  also  auch  dieser  Bestim- 
mung, dem  ganz  unparteiischen  und  unabhängigen  höchsten  Gericht  der  ver- 
rieten Staaten  obliegen  soll,  welches  entgegenlaufende  Versuche,  z.  B.  in  Geor- 
fien  und  New  -  Hampshire,  sofort  Tür  nichtig  erklärt  hat,  namentlich  auch  die 
Weigerung  des  Zahlens  von  Staatsschulden,  wie  sie  unter  Jackson  1837  vorge- 
kommen. Im  5.  Hanptslück  (S.  50-63)  über  die  Clubs  schickt  der  Verf.  die 
Bemerkung  voraus,  das*  in  Amerika  die  Freiheit  und  ihr  verantwortlicher  Ge- 


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* 

154 


brauch  streng  Hand  in  Hand  gehe,  dass  Missbrauch  derselben  selten  und  s.  B. 
beim  WafTenrccbl  fast  nur  in  den  noeh  ungeordneten  Zuständen  neu  erworbener 
Gebiete  ( lerritories)  vorkomme,  nicht  etwa  in  der  Art  wie  in  den  Pariser 
Schreckensscbauspielen  der  leisten  Jahre.  So  oft  auch  Zusammenkünfte  su  Be- 
sprechung öffentlicher  Angelegenheiten  (Meetings)  stattfinden,  so  kenne  man  doch 
dort  wie  in  England  keine  organUirten  politischen  Gesellschaften,  die  sammt 
ihren  Tochtervereinen  die  öffentliche  Meinung  meistern  wollen.  Nicht  das  Ge- 
setz ächte  solche  Clubs,  sondern  die  Sitte,  erwachsen  aus  den  bitteren  Erfah- 
rungen des  Jahres  1794,  wo  mit  verderblichem  Erfolge  der  französische  Ge- 
sandte Gen  et  dergleichen  nach  dem  Muster  der  Jakobiner  ins  Leben  gerufen, 
die  aller wim ts  gewühlt  und  die  Regierung  verleumdet  haben,  deren  Dasein  und 
Anmassong  daher  Washington  und  alle  grossen  Staatsmänner  Amerikas  als 
unvereinbar  mit  dem  Bestehen  einer  gesetzlichen  Regierung  in  den  schärfsten 
Ausdrücken  verdammen.  Man  habe  sich  dort  überzeugt,  dass  mittelst  des  Werk- 
zeugs solcher  Clubs  (deren  Name  nur,  nicht  die  Sache  aus  England  stamme) 
eioe  Handvoll  grundsats-  und  gewissenloser  Leute  von  Catilina's  Schlage  sich 
leicht  su  Herrn  aufwerfen  könnten ;  in  Frankreich  wolle  man  Diess  aber  immer 
noch  nicht  einsehen.  Das  6.  Hauptstück  (S.  64— 77)  stellt ,  zumal  nach  Adams 
und  den  Urhebern  der  nordamerikanischen  Verfassung,  die  Hauptgründe  für  das 
Zweikammersystem  zusammen,  das  seiner  inneren  Vorzüge  halber  nach 
und  nach  alle  Einzelslaaten  eingeführt  hätten,  nicht  etwa,  nach  Franklins, 
Türgot's  und  selbst  noch  Cormenin's  Meinung,  aus  Nachahmung  Englands, 
Sobald  der  amerikanische  Kongress  nicht  mehr  bloss  ein  Kongress  völlig  sou- 
veräner Staaten  bleiben  sollte,  habe  man  sich  einstimmig  entschieden  für  zwei 
Kammern,  und  zwar  für  einen  Senat  von  längerer  Dauer,  schon  um  der  uner- 
lässlichen  Stetigkeit  der  Gesetzgebung  und  Regierung  und  der  stärkeren  Ver- 
antwortlichkeit willen,  von  weniger  (heute  58)  und  wo  möglich  noch  fähigeren 
Gliedern.  Dadurch  sei,  sagt  der  Federalist,  die  Freiheit  gesicherter  gegen  Ver- 
rath  und  übereilte  leidenschaftliche  Beschlüsse,  wozu  eine  zahlreiche  Versamm- 
lung leicht  hingerissen  werde;  nur  zu  leicht  fehle  einer,  auf  die  gewöhnliche 
Art  zusammengesetzten  Kammer  genügende  Sachkenntniss.  Namentlich  auch  bei 
der  französischen  Nationalversammlung,  wie  in  ganz  Frankreich,  vennigst  diese 
und  das  politische  Wissen  überhaupt  der  Verf.  im  höchsten  Grade,  und  der 
Bearbeiter  bemerkt  dazu :  „Hatte  nicht  der  alte  östreichisebo  Tolizeistaat  auf  un- 
verantwortliche Weise  jede  Bildung  dem  Volke  fern  gehalten,  so  hätten  die 
Oktoberszenen  nie  in  den  Mauern  der  Residenz  Statt  linden  können."  In  allen 
amerikanischen  Städten  über  15,000  Einw.  habe  man  darum  neben  dem  Mavor 
ganz  ähnlich  2  städtische  Körper,  das  common  Council  und  das  board  of  alder- 
men  (Senat)  eingeführt.  Mit  einer  Kammer  müsse  die  Vollzuggewalt  ia  stetem 
Kampf  um  die  Oberhand  liegen,  Bestechung  oder  Einschüchterung  anwenden, 
an  Spielraum  für  besonnene  vielseitige  Erörterung  fehle  es  dabei  ganz.  Der 
Verf.  thetlt  nun  (Cap.  VII.  S.  78—92)  die  Hauplzüge  aus  der  Geschichte 
der  Entstehung  der  norda in erikani sehen  Verfassung  mit,  schildert 
das  lockere  Band  des  ersten  Kongresses,  der  bei  allen  papiernen  Rechten 
z.  B.  der  Verträge,  Anlehen ,  Gesandtschaften,  des  Kriegs  u.  s.  w.  doch  ohne 
alle  selbsteigne  Vollzugmittel,  also  mittellos  und  lahm  gewesen,  da  die  Einzel- 
staaten sich  die  Selbstbesteurung  vorbehalten  und  ein  Haupt  der  Vollziehung  der 


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155 


kongressgeselze  iu  ernennen  Bedenken  getragen,  überhaupt  ängstlich  im  Geist 
des  Oslracissnus  jeder  Gefährdung  ihrer  Unabhängigkeit  vorzubeugen  gesucht 
hätten,  bis  endlich,  als  der  Geist  der  Empörung  der  Gliederstaaten  1785,  ohne 
Washingtons  unbeschränktes  Anaehen,  fast  zur  Auflösung  geführt  hatt«,  das 
Bedürfnis*  nach  wirklicher  Einheit  durch  eine  Rcichsgewalt  überwogen  und  die 
Ktcdersetxung  jenes  unvergleichlichen  Ausschusses  herbeigeführt  habe,  dessen 
preiswürdiges  Werk  —  der  erste  Versuch  einer  Verfassung  für  eine  grosse  Bun- 
desrepublik —  1787  die  Genehmigung  des  nGesammtvoIksu  erhielt.  Die  Bedin- 
gung des  Lebens  und  Gedeihens  dieser  Verfassung  liege  nur  in  der  hoben  staatlichen 
und  sittlichen  Bildung  dieses  Volks,  durch  welche,  wie  iu  England,  auch  dem 
weniger  guten  Gesetz  in  der  Ausführung  nachgeholfen  und  auch  den  Irreligiösen 
und  Unsittlichen  ein  wohltaätiger  Zwang  aufgelegt  werde,  während  a.  B.  in 
Frankreich  Jeder  seinen  Unglauben  zur  Schau  tragen  dürfe.    Fast  dieaelbe  Ver- 
fassung sei  daher  in  Mexico  kläglich  gescheitert.    Mit  allem  Recht  sei  der  Um- 
bog der  Grundrechte  darin  nur  nach  Dem  bemessen,  was  damals  die  Amerikaner 
vertragen  konnten  und  ihre  Fortentwicklung  der  Zeit  Überlassen.    Das  Aus- 
geben von  Papiergeld  (8.  ilauptst.  S.  93  ff.)  habe  jene  Verfassung  mit  Recht 
verboten,  da  mnn  in  jenem  nach  der  traurigen  Erfahrung  der  gänalichen  Ent- 
wert hunjj  der  1781  ausgegebenen  2  Milliarden  ein  sicheres  Mittel  erblickt  habe,  um 
allgemeines  Misstrauen  und  Missachtung  der  Regierungen  zu  säen,  ja  eine  wahre 
Pest,  so  dass  dortige  Ultradcmokraten,  wie  Jackson,  sogar  die  Ausgabe  von 
Banknoten  durch  Einzelbanken  irrlhümlich  für  unvereinbar  mit  jenem  Verbot 
and  drm  Gemeinbesten  hielten;  denn  hier  ist,  sobald  nur  ein  bestimmte!  Ver- 
haltniss  zum  Baarvorralh  nicht  überschritten  werden  darf,  nicht  nur  Einlösung 
jederzeit  möglich,  sondern  obendrein   die  Annahme  nicht  erzwingbar.  Die 
Ledru-Rollin's  sähen  umgekehrt,  anstatt  der  Quelle  des  Mangels  an  Ver- 
trauen und  Arbeit,  mithin  des  Elendes,  vielmehr  den  Stein  der  Weisen  in  As- 
signaten ,  natürlich  samml  dem  Maximum  und  der  Schreckensherrschaft ,  die  sich 
daran  knüpfen,  wie  in  dem  Convent  mit  seinem  Robespierre,  St.  Jüit  und 
Nara  l  die  Vorbilder  für  das  heutige  Frankreich,  nicht  etwa  in  den  grossen  Männern 
Kordamerika's.    Aber  freilich,  dort  sehe  man  das  Mittel  des  Volksglüeks  in  der 
Selbstthätigkeit  der  Bürger,  nicht  in  gebratenen  Tauben,  die  der  Staat 
beseheeren  solle.    Im  9.  Capitel  erläutert  der  Verf.  (S.  108—120)  die  den  eng- 
lischen nahe  verwandten  amerikanischen  Begriffe  von  Freiheit,  im  Gegensatze 
za  den  französischen  von  1793,  dahin,  dass  sie  die  unbeschränkteste  Verfügung 
eise*  Jeden  über  seine  Kräfte  enthalte  zum  eignen  und  gemeinen  Besten.  Beson- 
ders hervor  hebt  er  ihre  Habeascorpus  akte,  deren  Suspension  in  Noth  Hillen  zwar 
vorgesehen,  aber  noch  nicht  vorgekommen  sei.    Schwere  Geldbnsse  stehe  auf 
«leren  Verletzung,  die  ein  Richter  auch  hier  dadurch  begehe,  dass  er  auf  die 
Nachricht  von  einer  mutmasslich  gesetzwidrigen  Haft  hin  nicht  sogleich  ein 
wrtt  d.  h.  einen  Vorfuhmngsbefehl  gegen  den  Beschuldigten  erlasse.  Eine  solche 
Geklbusse  sei  z.  B.  gegen  Jaekson  gleich  nach  seinem  Siege  bei  Neu-Orleans 
erkannt  worden!  —  Die  Scbuldhaft  sei,  ausser  bei  betrüg  lieh  ein  Bankbruch,  kl 
den  meisten  der  Vereinten  Staaten  schon  abgeschafft,  Einquartierung  im  Frie- 
den sei  unstatthaft.    Die  französischen  Verletzungen  des  Hausrechts,  wie  sie 
wegen  Verdachts  geschwärzter  Waaren  unter  Begleitung  eines  Polizeimanna  ver- 
ebt werden  und  die  schützenden  Sätze  des  Code  verspotten ,  seien  dort  ebenso 


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156  '  Kurie  Anxeigen. 

unbekannt  als  die,  unter  gleichem  Vorwand,  in  Frankreich  üblichen  schändlichen 
körperlichen  Untersuchungen  (S.  115  f.).    Der  Verf.  bespricht  nun  im  Cap.  X. 
und  XI.  (S.  121 — 145)  weniger  klar  und  geordnet,  als  es  sonst  seine  und  über- 
haupt französische  Art  ist,  die  nordamerikanische  Präsidentenwahl  nach  den 
Verfassungssälzen  wie  nach  ihrer  Gestaltung  im  Leben,  nachdem  er  vorausge- 
schickt, welche  Zweifel  man  anfangs  darüber  gehabt,  ob  man  ein  Haupt  der 
Vollziehung,  auf  wielange,  wie  und  mit  welchen  Rechten  wählen  solle,  so  das« 
*.  B.  Beigebung  eines  Regentschaftrathes,  Lebenslänglichkeil  und  (von  Jeff er- 
•  on)  siebenjährige  Dauer  ohne  Wiederwiililbarkeit  vorgeschlagen  ge  we?  en.  Dies« 
Lei  ziere  würde,  wie  Ref.  mit  Tocqueville  überzeugt  ist,  das  Bessere  sein, 
wofür  es  auch  fasst  allen  aufgeklärten  Amerikanern  heute  gilt.    Der  Verf.  be- 
tont es,  dass  die  Rechte  des  französischen  Präsidenten,  ausser  bei  der  Beam- 
tenernennung ,  geringer  seien  und  fuhrt  aus,  dass  man  es  in  Amerika  bedenk- 
lich gerunden  habe,  einer  (schon  vor  der  Wahl  vorhandenen)  gesetzgebenden 
Versammlung  die  Wahl  zu  überlassen,  da  dann  Ränke,  Bestechungen,  auswär- 
tiger Einfluas  und  Binden  der  Hände  des  zu  Wählenden  zum  Voraus  zu  furchten 
gewesen  wären;  daher  habe  der  Kongress  nur  bei  gleicher  Stimmenzahl  der  Be- 
werber (wie  1801),  oder  wenn  Keiner  Derselben  eine  unbedingte  Mehrheit  er- 
hallen könne  (wie  1825),  den  Ausschlag  zu  geben,  und  zwar  dorch  Abstim- 
mung nach  der  Staatenzahl.   Es  habe  vielmehr  die  Wahl  des  Präsidenten,  und 
ebenso  des  Vicepräsidenten,  von  Wahlmännern  zu  geschehen,  die  verfassungs- 
mässig nach  Gutdünken  jedes  Einzelslaats  zu  wählen  seien,  jetzt  aber,  ausser 
in  Südkarolina,  überall  geradezu  vom  Volk  gewählt  würden,  und  zwar  bloaa 
hierzu.    Sie  handelten  dabei  aber  nicht  mehr,  nach  der  Absicht  der  Verfas- 
sung, selbstständig,  sondern  seien  bloss  die  blinden  Werkzeuge  ihrer  Auf- 
traggeber, dienten  also  nur  gleichsam  zur  Vermittlung  und  Vereinfachung  der 
Abstimmung,  deren  gleichzeitige  Vornahme  in  allen  Staaten  den  Zweck 
habe,  Umtriebe  abzuschneiden.    Ebendarum  dürften  die  Wahlmännerauch  weder 
Kongressmitgliedcr  noch  Beamte,  noch  in  irgend  einer  Beziehung  (!)  zum  Be- 
werber stehen  und  würden  von  jedem  Staat  (also  zum  Vorlheil  der  kleinen)  in 
derselben  Zahl  erwählt,  in  der  er  Abgeordnete  und  Senatoren  zum  Congreae 
wähle.    Der  angelsächsische  Geist  der  Einigung  und  der  Volksvertretung  habe 
bald  jeden  Einzelstaat  gelehrt,  seine  Stimme  auf  einen  Bewerber  zu  vereini- 
gen, und  ebenso  würden  seit  zwanzig  Jahren  die  Bewerber  selbst  (deren  jetzt 
nur  drei  sein  können)  durch  musterhaft  eingerichtete  Ausschüsse  vorgeschlagen, 
die,  aus  Abgeordneten  aller  Staaten  gebildet,  irgendwo  zusammenkommen  und 
sich  verständigen.    Der  Verf.  empfiehlt  Dicss  dringend  zum  Vorbild  für  Frank- 
reich, wo  nur  der  Zufall  den  Ausschlag  gehe  und  wo  der  überwiegende  Scharf- 
sinn, mit  dem  man  alle  möglichen  Falle  in  der  Wahlfrage  vorgesehen  habe 
(Was  in  Nordamerika  nicht  der  Fall  sei),  wegen  der  unbegreiflichen  Charakter- 
losigkeit der  Franzosen  Nichts  fruchte,  da  dieselbe  Yerfassungs-  und  Regierungs- 
änderuagen  durch  Ränke  und  Flintenschüsse  möglich  mache.  Zum  ScbJuss  (Cap.  XIL 
SL  146-154)  sucht  der  Verf.  noch  die  merkwürdige  Bevorzugung  der  Soldaten  bei 
der  Präsidentenwahl  (wodurch  z.  B.  der  treffliche  Clay  zu  kurz  gekommen  sei) 
zu  erklären,  theils  aus  der  Ueberschätzung  der  Kriegsthalen  durch  alles  Volk, 
das  Neuengiands  ausgenommen,  das  an  Bildung  weit  voranstehe,  theils  aus  dem 
Umstand,  dass  sie  weniger  Eifersucht,  Neid  und  Verleumdung  hervorriefen ;  er 


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157 


warol  endlich  die  Amerikaner  ernstlich  vor  den,  itimal  durch  die  (irischen  und 
deutschen)  Einwanderer  und  den  Pöbel  der  grossen  Städte  (wogegen  die 
Pariser  Wahleinricbtung  ihm  am  Meisten  Schult  zu  geben  scheint)  überhand- 
nehmenden Wahlumtrieben  und  Missbräurhen ;  noch  mehr  aber  seine  Landsleute, 
nid  aUc  gealterten  Völker,  die,  kindischen  Greisen  gleich,  geneigt  seien,  in- 
dem sie  ihr  StaaUschiff  den  Stürmen  der  Volksregierung  anvertrauten,  sich 
nicht  weniger  zuzutrauen  als  dem  jugendkrä  fügen  Volk  Amerikas.  Wir  zwei- 
feln nicht,  dass  die  Schrift  auch  in  Deutschland  manchem  Träumer  über  die 
wahren  Bedingungen  dieser  Regierungsart  die  Augen  öffnen  werde,  die  sosehr 
Vielen  erst  in  Amerika  aufgehen. 


Bauerkeller'g  Handallas  der  allgemeinen  Erdkunde,  der  Länder-  und  Staa- 
tenkunde,  ium  Gebrauch  beim  methodischen  Vnterricht  und  Selbststudium, 
sorte  für  Freunde  der  anschaulichen  und  vergleichenden  Erdkunde  über- 
haupt, in  achtzig  Karten  nebst  einem  Abrisse  der  allgemeinen  Erdkunde 
und  der  physischen  Beschreibung  der  Erdoberfläche,  mit  statistischen  Ueber- 
sichten  und  topographischem  Register.  Bearbeitet  von  L.  Ewald.  Hefte 
il  ms  20.  Darmstadt,  18*8,  18i9  und  1850.  Druck  und  Verlag  von 
Bauerkell et s  Präganstalt,  Jonghaus  und  Venator. 

Ueber  fünf  Jahre  liefen  ab,  seit  die  ersten  Lieferungen  dieses  schönen 
Unternehmens  von  uns  besprochen  wurden  (Nr. 39  des  XXXIX  Jahrg.  die- 
ser Jahrbücher).  Die  uns  jetzt  vorliegenden  Hefte  enthalten:  von  Karten  Nr. 33. 
Vergleichende  Profile  von  Deutschland  und  den  übrigen  europäischen 
Ländern;  Nr.  56.  Niederlande  und  Belgien;  Nr.  57.  Europäisch  es 
Bu>sland:  Nr.  59.  Schweden  und  Norwegen,  nördliche  Hälfte;  Nr.  29. 
Asien,  Uebersicht  der  Gebirgs-  und  Tiefländer;  Nr.  36.  Asien,  Uebersicht 
der  Meer-  und  Stromgebiete;  Nr.  42.  Asien,  Uebersicht  der  asiatischen  Staa- 
ten; Nr.  65.  Türkei,  Griechenland  und  jonische  Inseln;  Nr.  45.  Austra- 
lien, Neu-Holland,  Australland;  Nr.  46.  Oceanien  (in  Mercators  Projec- 
boo) ;  Nr.  49.  M ittel -Europa,  westlicher  Theil  der  Oesterreichischen  Mo- 
narchie ohne  Tirol  und  Lombardie- Venedig;  Nr.  52.  Mittel- Europa  IV. 
(nordöstliches  Deutschland);  Nr.  30.  Afrika,  Uebersicht  der  Gebirgs-  und  Tief« 
linder;  Nr.  43.  Afrika,  Uebersicht  der  Afrikanischen  Staaten  und  europaischen 
Besitzungen  :  Nr.  48.  M  ittel- Eu  ropa  II.,  östlicher  Theil  der  österreichischen 
Monarchie;  Nr.  61.  Mittel-Europa  VI.  (Dänemark);  Nr.  70.  Nordost- 
Afrika  und  Vorder-Asien;  Nr.  71.  Nordwest- Afrika ;  Nr.  72.  Süd- 
Afrika.  Ferner  von  Städte-Planen:  Nr.  79.  (Wien,  Berlin,  München, 
Amsterdam,  Brüssel,  Stockholm,  Kopenhagen,  Rom,  Neapel  und  Florens.) 

Zum  Lobe  des  Unternehmers  ist  hier  nichts  beizufügen;  wir  haben  uns 
iirüber  bereits  in  unserer  früheren  Anzeige  ausgesprochen.  Nur  darf  nicht  un- 
bemerkt bleiben,  dass,  was  die  Ausführung  der  Karten  angeht,  Anschaulichkeit 
und  Schirfe  mehr  and  mehr  vervollkommnet  wurden;  jede  neue  Lieferung 
iberbietet  in  solcher  Hinsicht  ihre  Vorgänger. 


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I 

Kurie  Anzeigen. 


Ewald  steht  nun  in  der  Milte  einer  Arbeit,  deren  wahrhaft  colosselen 
Umfang  Niemand  verkennen  wird.  Von  den  vollendeten  vierzig  Karten  ge- 
hören zwei  der  mathematisch-geographischen  Section  an,  drei  der 
pbysicali sehen  und  sechsundzwanzig  der  statistisch-topogra- 
phischen Abtheilung  Es  ist  nur  sehr  zu  billigen,  dass  bei  der  Wahl,  ent- 
weder mit  Bearbeitung  der  Karten  langsamer  vorzuschreiten ,  oder  die  gleich- 
zeitige Herausgabe  des  zugehörigen  Teiles  periodisch  auszusetzen,  der  letztere 
Weg  eingeschlagen  wurde. 

Wiederholt  empfehlen  wir  diesen  Handatlas  allen  Lehrern,  denen  es 
Ernst  ist  mit  der  Erdkunde,  welche  ihre  hohe  Bedeutung  für 
Geistes- Ausbildu  ng  nicht  verkennen.  Es  gebührt  Ewalds  Atlas 
die  ebrenwertheste  Stelle  unter  den  brauchbaren  Hülfsmitteln. 

Ehe  wir  schliessen,  theilen  wir  den  Lesern  unserer  Jahrbücher  eine 
Nachricht  mit,  die,  wir  sind  dessen  gewiss,  für  viele  nur  als  höchst  willkom- 
mene zu  erachten.  Wer  spricht  nicht  von  der  grossen  „Weitmesse"?  In  den 
meisten  deutschen  Landen  rüstet  man  sich  ebenfalls  eifrig,  auf  der  Londoner 
Industrie- Ausstellung  in  würdiger  Fassung  zu  erscheinen,  ßauerkeller's 
Präg -Anstalt  wird  nicht  zurückbleiben.  Um  nicht  schon  früher  Gebotenes  und 
vielfach  Nachgeahmtes  zu  liefern,  unternahmen  dieselben,  auf  Ewalds  sehr 
verständigen  Rath,  zwei  geognostisrh  colorirte  Relief-Karten,  eine 
Hessen,  Nassau  u.  s.  w. ,  die  andere  Baden,  Württemberg  u.  s.  w.  darstellend. 
Beide  Karten  wanderten  bereits  zur  „Weltiuesse".  Wir  hatten  den  Genuss,  sie 
vor  ihrer  Abreise  zu  sehen.  Von  der  Ueberzeugung  ausgehend,  dass  —  wie 
wir  in  diesen  Blättern  mehr  als  einmal  geäussert  —  alle  geologisch  colorirte 
Karten  nnr  im  Stande  sind,  der  Wahrheit  möglichst  nahe  zu  kommen,  ihrem 
ganzen  Wesen  nach  nicht  mehr  sein  können,  fügen  wir,  was  die  Relief- Karten 
betrifft,  wovon  die  Rede,  die  Bemerkung  bei,  wie  solche,  nach  der  bescheide- 
nen Ueberzeugung  der  Herausgeber,  auf  strenge  Durchfuhrung  eines  wissen- 
schaftlichen Systems  keine  grosse  Ansprüche  machen.  Sic  sollen  zeigen,  wie) 
sich  das  Relief  -  die  topische  Gestalt  -  mit  der  geologischen  Beschaffenheit 
eines  Landstriches  verbinden  lasst.  Dem  sei  wie  ihm  wolle,  Relief- Karten  der 
Art  werden  beim  Studium  der  Geologie  ein  höchst  erwünschtes,  in  vielseitiger 
Hinsicht  erleichterndes  Hüifsmittel  darbieten;  Lehrern  namentlich  können  sie  nur 
sehr  gut  zu  statten  kommen.  Wir  zweifeln  nicht,  dass  jene  beiden  Karten  bei 
den  Fachmännern  Englands  eine  freundliche  Aufnahme  finden  dürften  und  sehen 
ihrer  demnächstigea  Veröffentlichung  mit  ganz  besonderem  Vergnügen,  mit  wah- 
rem Verlangen  entgegen.  Ist  uns  ein  Wunsch  gestattet,  so  sei  es  der,  dass  die 
Colorirnug  einfacher,  weniger  bunt  gewählt  werde, 

Leonhard. 


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159 


i)  Grundriss  der  Geschichte  der  poetischen  Literatur  der  Deutschen  ton  Karl 
Gustav  Heibig,  Oberlehrer  an  der  Kreuuchule  %u  Dresden.  Vierte 
vermehrte  und  verbesserte  Auflage.  Leipzig,  Ar  neidische  Buchhandl.  1850. 
XVI  n.  46  S.  in  8. 

t)  Wittenstein  und  Arnim  1632—1634.  Ein  Beitrag  %ur  Geschichte  des 
dreissigjdhrigen  Krieges  nach  handschriftlichen  Quellen  des  k.  sächsischen 
Hauptstaats-Archivs  von  Karl  Gustav  Heibig,  Oberlehrer  etc.  Dres- 
den, Verlag  von  Adler  u.  Dietse.    Vlll  u.  37  8.  in  gr.  8. 

Nr.  1  ist  in  seinen  früheren  Auflagen  bereits  besprochen  worden  (s.  diese 
Jahrb.  1843  p.  625.  1845  p.  14t.  1848  p.  315);  die  vierte  vorliegende  hat 
im  Einseinen  manche  Vermehrungen  und  Nachbesserungen  erhalten,  ohne  dasa 
jedoch  Plan  und  Anlage  des  Ganzen  (was  man  nur  billigen  kann)  einer  Aen- 
derung  unterlegen  wäre.  Man  wird  daher  dieser  neuen  Auflage,  die  sich  mit 
allem  Recht  eine  vermehrte  und  verbesserte  nennt,  die  gleichgültige  Aufnahme 
nnd  Verbreitung,  welche  der  Grundriss  in  den  drei  früheren  Auflagen  gefun- 
den hat,  nnr  wünschen  können.  Das  in  dieser  Auflage  hinzugekommene  Re- 
gister der  Namen  erlcichert  den  Gebrauch. 

Nr.  2  bildet  einen  neuen  recht  dankenswerten  Beitrag  sur  Auf- 
klärung eines  Verhältnisses,  das  zwar  in  neuester  Zeit  Gegenstand  viel- 
facher Forschung,  wie  es  die  Wichtigkeit  der  Sache  allerdings  mit  sich 
bringt,  geworden  ist,  kaum  aber  noch  bis  zu  dem  Punkt  gelangt  ist,  wo 
ein  fester  Abschluss  erfolgen  und  ein  sicheres  Endergebniss  ausgesprochen 
werden  kann.  Der  Yerfassar  hat  bei  der  Frage  über  die  Schuld  Wallen* 
stein 's  und  über  das  Vcrhältniss  desselben  zum  Kaiser  sich  in  der  Vor- 
rede mehr  zu  Gunsten  Wallenstein's  ausgesprochen,  und  nachdem  er  die  ver- 
schiedenen Auffassungen  der  neuesten  Gelehrten  über  diesen  Punkt  hervorge- 
hoben, sein  eignes  Unheil  dabin  abgegeben  (S.  VI):  „Will  man  sich  aaf  den 
hier  allein  zulässigen  Standpunkt  eines  unparteiischen  Richters  erheben,  so  wird 
min  nach  genauer  Abwägung  der  bis  jetzt  beigebrachten  urkundlichen  Zeug- 
nisse von  einem  juridischen  Beweise  eines  planmissig  vorbereiteten  Verratha 
des  Feldherrn  an  seinem  Kaiser  abstehen,  aber  dennoch  die  Eutwtckelung  der 
Tragödie,  sowie  sie  vor  sich  gieng,  nach  der  gegenseitigen  Stellung  beider 
Tbcile  ganz  begreiflich  Gnden  müssen." 

Was  nun  in  dieser  Schrift  selbst  aus  den  bisher  nicht  benutzten  Quellen 
des  k.  sächsischen  Haupt-Staatsarchivs  bekannt  gemacht  wird,  betrifft  zunächst 
du  Vcrhältniss  Wallenstein's  zu  Sachsen  in  den  mit  Sachsen  gepflogenen  Ver- 
handlungen der  Jahre  1632  ff.  und  be3tchl  in  verschiedenen  Briefen  Wallen- 
steins,  Arnims  u.  s.  w. ,  wobei  aber  der  Verf.  sich  keineswegs  darauf  be- 
schränkt, blos  einen  wortgetreuen  Abdruck  dieser  Briefe  zu  geben,  sondern 
indem  er  jedem  Schreiben  die  nöthige  historische  Einleitung  vorausschickt  und 
•o  uns  dasselbe  in  seinem  inneren  Zusammenhang  mit  dem  Gang  der  Ereignisse 
selber  vorführt,  hat  er  ein  zusammenhängendes  Bild  gegeben,  welches  uns 
jetzt  möglich  macht,  einen  klaren  Blick  in  das  Ganze  dieser  Verhandlungen  zu 
werfen.  Allerdings  ist  es  dabei  des  Verfassers  Streben,  „als  Entlastungszeuge" 
für  Wallenstein  und  sein  in  diesen  Unterhandlungen  eingehaltenes  Verfahren 
aufzutreten  (S.  VI) ;  nachdem  er  daher  die  darauf  bezüglichen  Briefe  mitgetheilt 


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160 


hat,  gelangter  S.  24  ff.  xu  dem  aus  diesen  Urkunden  sich  ergebenden  Resultat, 
dass  Wallenstein,  wenn  er  es  vorzog,  mit  Arnim  Unterhandlungen  anzuknüpfen, 
statt  die  schwächeren  und  uneinigen  Feinde  sofort  aus  Schlesien  zu  treiben,  eine 
Ausgleichung  mit  Sachsen  und  Brandenburg  wünschte,  um,  gestützt  auf  diese 
beiden  protestantischen  Mächte,  theils  den  Schweden,  thcils  der  kriegseifrigen 
aber  ohnmächtigen  katholischen  Partei  gegenüber,  einen  baldigen  Frieden  her- 
beizuführen, der  ihm  wenigstens  einen  Ersatz  der  Yortheile  gewährte,  welche 
ihm  zwar  der  Kaiser  zugestanden  hatte,  aber,  wenn  es  zur  Entscheidung  kam, 
schwerlich  einräumen  konnte  und  wollte.  Der  Verfasser  zeigt  dann  weiter, 
wie  es  nicht  Armins,  wohl  aber  der  sächsischen  Regierung  Schuld  ge- 
wesen, dass  die  Fricdensunterhandlungen  damals  sich  zerschlugen  und  die 
Feindseligkeiten  wieder  begannen.  Wallenstcin  aber,  so  meint  der  Verf.,  er- 
scheine vollkommen  gerechtfertigt,  da  er  vom  Kaiser  mit  unbedingter  Vollmacht 
zum  Frieden  mit  Sachsen  versehen  gewesen  und  auch  von  seinen  Friedensab- 
sichten durch  Gallas  dem  Kurfurston  von  Raiern  habe  Nachricht  geben  lassen. 
Die  dann  folgenden  Ereignisse,  der  nach  Beendigung  des  Waffenstillstandes 
wieder  aufgenommene  Kampf,  und  die  kurz  vor  YYallenstein's  Tod  wieder  mit 
den  Sachsen  angeknüpften  Unterhandlungen  bilden  den  weiteren  Inhalt  dieser 
Schrift,  die  auf  manche  Einzelheiten  ein  neues  Licht  wirft,  namentlich  auf  die 
sächsischen  Verhältnisse.  Arnim,  der  kursächsischc  General,  erscheint  nach 
diesen  urkundlichen  Mittheilungen  in  einem  günstigen  Lichte;  die  Art  und 
Weise,  wie  er  über  die  Ermordung  Wallenslein's  in  dein  letzten  der  hier  mit- 
getheilten  Briefe  nrtheilt,  ist  interessant  genug,  um  auch  jetzt  noch  beachtet  zu 
werden.  Charakteristisch  für  die  Person  des  alten  Kriegers  ist  der  Wunsch,  oder 
vielmehr  die  unlcrthänige  Bitte,  die  er  am  Schluss  dieses  an  den  Kurfürsten 
gerichteten  Schreibens  vom  21.  Februar  1634  ausspricht,  ihn  künftighin  mit 
Friedenshandlungen  zu  verschonen  und  nur  zu  dem  zu  gebrauchen,  was  seiner 
Profession  gemäss  sei;  wenn  der  Kurfürst  ihm  eine  mit  Allem  wohl  versehene, 
zuverlässige  Armee  untergeben  wolle,  oder  wie  er  sich  ausdruckt:  „Wen  E. 
Cubrfl.  Durchll.  mir  eine  armee,  die  Kegen  (gegen)  des  Feindes  macht  bastant 
vnd  deren  Ich  versichert  sein  Kan  vnd  andere  nothdurftge  mittel  vnter  geben, 
Wil  Ich  mich  lieber  alle  Stunden  mitt  dem  Feinde  schmeissen,  alss  noch  ein 
eintsiges  mahl  tractiren  vnd  hoffen  dadurch  E.  Churf.  Durchll.  mit  göttlicher 
Hülfe  nützlichere  Dienste  zu  leisten." 


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Nr.  11.  HEIDELBERGER  1851. 

JAHRBOGHER  DER  LITERATUR. 


John  Stephens  Incidents  of  Travel  in  Central  -  America ,  Chiapas  and 
Yucatan,  illuslrated  by  numerous  Engraxings.  London,  1841. 
2  Voll,  in  8. 

John  Stephens  Incidents  of  Travel  in  Yucatan,  illuslrated  by  120  En- 
graxings.   London,  1843.    2  Voll. 

Catherwood  Views  of  ancient  Monumenls  in  Central- America,  Chiapas 
and  Yucatan.    New -York,  1844.  in  Fol. 

(Fortsetzung  yon  Hr.  8.) 

Bei  der  nicht  zu  verkennenden  Aehnliohkeit,  die  zwischen  den  al- 
ten amerikanischen  und  assyrischen  Bauwerken  obwaltet,  gewinnt  die 
ichoo  yon  Emanuel  de  Moraez,  Robert  le  Comte,  A.  Rhode,  Cabrera 
o.  a.  aasgesprochene  Behauptung  von  Neuem  an  Wahrscheinlichkeit,  das9 
die  Phönizier,  Tyricr  und  Sidonier  bereits  an  den  östlichen  Küsten  Ame- 
rikas gelegene  Länder  besucht  haben.  Bei  ihren  Fahrten  durch  die  Strasse 
von  Gibraltar  nord-  und  südwärts,  und  bei  ihrem  ausgebreiteten  Handel, 
durch  den  sie  die  Produkte  femer  Länder  in  ihre  Heimath  brachten, 
konnten  sie  auch  den  neuen  Continent  erreicht,  und  dort  Niederlassungen 
gegründet  haben.  Vielleicht  lag  auch  das  räthselbafte  Goldland  Ophir  in 
jenem  Welttheil,  von  wo  das  Gold  kam,  das  Hiram  aus  Tyrus  dem  Kö- 
nig SaJomon  in  so  reichem  Maass  zum  Ausschmücken  des  Tempels  sen- 
dete. Von  den  Fahrten  der  Phönizier  nach  jenen  Ländern  mögen  sich 
auch  die  alten  Sagen  der  Griechen  von  der  Atlantis  herschreiben.  Bei 
weitem  ausgebreiteter  noch  als  bei  jenem  Volke  war  die  SchifTTahrt  und 
der  Handel  der  unternehmenden  mächtigen  Cartliager. 

Gegen  die  Annahme,  dass  an  der  Ostküste  Amerikas  liegende  Län- 
der bereits  von  den  Phöniziern  und  Cartbagern  besucht  worden  sind,  haben 
iwar  Gosselin,  Mannert,  Heeren  u.  a.  Zweifel  erhoben.  Da  es  aber  er- 
wiesen ist,  dass  jene  kühnen  Seefahrer  sich  ausser  der  Ruder  auch  der 
Segel  bedienten,  und  die  hohe  See  befuhren,  so  konnten  sie  bei  ihren 
Fahrten  an  den  afrikanischen  Küsten ,  in  die  Region  der  Passatwinde  ge- 
langend, leicht  durch  einen  frischen  Nordostwind  nach  den  Küsten  des 
oeoe«  Continents  getrieben  worden  sein.  Und  diese  Meinung  gewinnt  an 
Wahrscheinlichkeit  durch  das,  was  Herr  v.  Humboldt  (Ansichten  derNa- 
tar  B.  L  S.  253)  Uber  die  Fahrt  nuf  dem  Atlantischen  Ocean  sagt: 
XLIV.  Jahrg.  2.  Doppelheft.  i  1 


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162  Stephcni  und  Catherwood:  lieber  Cenlral-Amerika. 

„Westliche  Strömung  und  tropische  Winde  begünstigen  die  Fahrt  durch 
den  friedlichen  Meeresarm,  der  dai  weite  Thal  i  wischen  dem  neuen  Con- 
tinent  und  dem  westlichen  Afrika  erfüllt.u  Ferner  äussert  er:  ..der  At- 
lantische Ocean  hat  zwischen  dem  23.  Grad  südlicher  und  dem  70.  Grad 
nördlicher  Breite  die  Form  eines  eingefurchten  Langenthals,  in  dem  die 
vor-  und  einspringenden  Winkel  sich  gegenüber  stehen.  Von  den  cana- 
rischen  Inseln,  besonders  vom  21.  Grad  nördlicher  Breite  und  dem 
25.  Grad  westlicher  Länge,  bis  tu  der  Nordost  -  Küste  von  Südamerika 
ist  die  Meeresflache  so  ruhig  nnd  von  so  niedrigem  Wellenschläge,  dass 
ein  u Heues  Boot  sie  sicher  beschiflen  konnte.-  Bei  den  unter  den  Phö- 
niziern und  Carthagern  sehr  früh  verbreiteten  astronomischco  Kenntnissen 
lernten  sie  wahrscheinlich  auch  bald,  der  Leitung  der  Gestirne  folgend, 
den  Rückweg  in  die  Heimath  finden.  Und  so  bieten  die  physikalischen 
Verhältnisse  keine  erheblichen  Schwierigkeiten  dar  für  die  Annahme  der 
Fahrt  der  Phönizier  nnd  Carthager  nach  der  neuen  Welt. 

Abgesehen  von  einer  in  dem  Buche  de  Mirabil.  anscultat.  (ed. 
Bekk.  Cap.  84  p.  836)  enthaltenen  Stelle,  welche  Schrift  fälschlich  Ari- 
stoteles zugeschrieben  worden  ist,  und  einer  Stelle  bei  Diodor  von  Si- 
cilien  (Lib.  V.  Cap.  19  und  20),  die  es  wahrscheinlich  machen,  dass 
Amerika  den  Carthaginensern  bereits  bekannt  war,  lassen  sich  noch  an- 
dere Gründe  anführen.  Die  Religion  der  Carthager,  wie  die  der  Phö- 
nizier, Tyrier  und  Sidonier,  war  nach  Mttnter's  Untersuchungen  Sternen- 
Dienst.  Die  vorzüglichste  Verehrung  wurde  dem  Gestirn  des  Tages,  der 
Sonne,  dargebracht,  welche  sie  als  das  oberste  Princip  der  Natur,  als 
die  zeugende,  schalende  und  erhaltende  Kraft  unter  verschiedenen  Idolen 
anbeteten.  Sonne,  Mond  und  Gestirne  wurden  auch  von  den  Völkern 
Amerikas  bei  dessen  Entdeckung  durch  die  Europäer,  sowohl  in  Mexico 
und  in  allen  Ländern  Mittel- Amerikas,  als  in  Bogota,  Quito  und  Peru 
verehrt,  und  ihnen  wurden  Rauch -Opfer  dargebracht  Dieser  Cultns 
stammte  vielleicht  von  den  Colonisten  phönizischer  Völker  her.  Beach- 
tungswertb  ist  es  ferner,  dass  mehrere  ältere  nnd  neuere  Autoren,  Go- 
mara,  Jean  de  Lery,  Tbevet,  Adair,  und  neuerlichst  wieder  Lord  Kiogs- 
borough,  Catlin  u.  a.,  in  den  Gesichtszügen  verschiedener  Indianer- 
Stämme  Nord-  und  Süd -Amerikas  manche  Aehnlichkeiten  mit  denen  der 
Israeliten  gefunden  haben  wollen ,  und  daher  selbst  eine  Abstammung  der 
Bewohner  Amerikas  von  diesen  angenommen  haben.  Da  die  Phönizier 
und  Carthaginienser  gleich  den  Israeliten  zu  dem  Semitischen  Volksstarom 
gehörten,  so  durfte  jene  Aehnlichkeit  wohl  ebenfalls  auf  einen  früheren 
Verkehr  derselben  mit  Eingebomen  Amerikas  hinweisen.  Die  angeführten 


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Stephens  nnd  Ca  t  her  wo  od:    Utber  Centrai-Amerika.  163 

Grinde  macheu  es  wahrscheinlich,  dass  an  den  östlichen  Küsten  Amerikas 
gelegene  Länder  bereits  von  den  Phöniziern  und  Carthagern  besucht  wur- 
den, welche  hier  Niederlassungen  gegründet  und  einen  Einfloss  auf  die 
Cultur  der  Eingebornen  ausgeübt  haben  ntögeo.    Durch  sie  wurde  viel* 
leicht  der  Sternen  -  Dienst  und  der  mit  demselben  verbundene  religiöse 
Caltus  eingeführt,  sowie  astronomische  und  andere  Kenntnisse,  nament- 
lich die  Bau-  und  Bildhauerkunst  und  mancherlei  Sitten  und  Gebräuche 
verbreitet    Dennoch  ist  Refer.  weit  entfernt  anzunehmen,  dass  die  Be- 
wohner des  neuen  Conlinents  von  einem  Volke  der  alten  Welt  abstam- 
men und  aus  irgend  einem  Lande  derselben  eingewandert  sind.    Er  hält 
sie  vielmehr  mit  Isaak  Peyrere ,  BuITon ,  Blumenbacb ,  Georg  Forster,  Mor- 
ton ond  Priehard  für  Ureinwohner,  Aulochtonen,  welche  gleich  der  Flora 
und  Fauna  dieses  Welttbeiis  in  Amerika  selbst  erschaffen   worden  sind. 
Die  Bewohner  Amerikas  stellen  einen  besonderen  Menschenstamm,  eine 
eigene  Rasse  dar,  die  sich,  wie  besonders  Morton  gezeigt  hat,  von  allen 
anderen  Menschenstämmen  durch  Eigentümlichkeiten  in  der  Körperbe- 
sebaffenheit ,  in  der  Farbe  der  Haut,  der  Bildung  des  Schädels  und  der 
Gesichtszüge  unterscheidet.    Von  Völkern  des  neuen  Continents ,  die  eine 
höhere  Stufe  der  Cultur  erreicht  hatten,  mögen  sie  diese  non  von  ein- 
gewanderten Völkern  angenommen  haben,  oder  mag  sie  aus  ihrer  eige- 
neo  Entwicklung  hervorgegangen  sein,  wurden  die  in  den  Ländern  Cen- 
trat-Amerikas aufgefundenen  grossarligeo  alten  Bauwerke  aufgeführt.  Für 
diese  Behauptung,  die  Stepbens  zuerst  aufgestellt  bat,  lassen  sich  Uber- 
zeugende Gründe  angeben.    Zunächst  spricht  dafür ,  dass  die  an  den  Bau- 
werken zu  Palenque,  Copan,  Uxmal,  Chicben -Itza  u.  a.  abgebildeten 
menschlichen  Figuren,  sowie  die  auf  den  grossen  Monolithen  zu  Copan 
und   Qniruga  dargestellten  colossalen  Bilder  von  Männern  und  Frauen, 
ganz  unverkennbar  alle  die  Eigentümlichkeiten  in  der  Form  des  Kopfs 
und  den  Gesichtszügen  darbieten,  welche  Morton  als  Kennzeichen  der 
amerikanischen  Rasse  aufgestellt  bat,  und  die  noch  jetzt  an  un vermischten 
Indianer- Stämmen  so  deutlich  hervortreten.    Dabin  gehören  die  niedere, 
stark  zurückweichende  Stirue,  die  nicht  schräg  geschlitzten  Augenlider, 
die  vorspringenden  Jochbeine,  eine  grosse  stark  vortretende  und  meistens 
gebogene  Nase,  künstlich  verlängerte  Ohren,  dicke  Wangen,  volle  Lip- 
pen und  stark  ausgewirkte  Kiefergegenden.    An  den  meisten  männlichen 
Figuren  nimmt  man  ferner  keinen  Bart  wahr.    Bei  einigen  jedoch  erblickt 
man  Kinn  -  und  Schnurrbarte,  welche  auch  D'Orbigny  bei  verschiedenen 
Indianer- Stämmen  des  südlichen  Amerikas  wahrgenommen  hat. 

Ii* 


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164  Stephens  und  Catherwood:    Ueber  Centrai-Amerika. 

Sehr  beachtungswerth ,  und  einen  wichtigen  Beweis  für  obige  Be- 
hauptung gebend,  ist  ferner,  dass  selbst  die  ehemals  bei  10  vielen  Völ- 
kern Amerikas  üblich  gewesene,  und  hin  und  wieder  bei  manchen  In- 
dianern noch  gebräuchliche  künstliche  Verunstaltung  des  Schädels  an 
den  meisten  Figuren  der  alten  Bauwerke  deutlich  zu  bemerken  ist, 
welche  den  Völkern  des  alten  Continents  fast  ganz  unbekannt  war. 
Der  Schädel  ist  nach  oben  und  hinten  thurmartig  verlängert  an  den  Fi- 
guren zu  Paleuque,  ganz  so  wie  ihn  Pentland  an  den  Köpfen  der  alten 
Peruaner  in  den  Gräbern  (Huacas  oder  Chulpas)  am  See  Titicacca  fand, 
und  wie  ihn  D'Orbigny  von  den  Mumien  der  Aymaras  beschrieben  and 
abgebildet  bat.  Auch  die  künstliche  Abplattung  des  Schädels,  wie  sie 
noch  jetzt  bei  den  Flachkopf-  Indianern  am  Columbia  River  und  bei  vielen 
Stämmen  an  dem  westlichen  Abhang  des  Felsengebirgs  gebräuchlich  ist, 
wird  deutlich  an  den  Figuren  in  sitzender  Stellung  erkannt,  welche  Ste- 
phens von  den  colossalen  Stein  -  Reliefs  in  dem  Hauplhofe  zu  Palenque, 
sowie  zu  Santa  Cruz  del  Quichä  hat  abbilden  lassen. 

Auch  die  an  den  menschlichen  Figuren  der  Monumente  dargestellte 
Kleidung ,  die  Waffen  und  Zierrathen ,  die  Ohrgehänge,  der  Halsschmuck, 
die  Brustplatten,  die  Armbänder,  die  Gürtel,  die  Kniebänder  und  die 
Fussbekleidung  sind  nicht  nur  von  denen  mongolischer  Völker,  sondern 
von  denen  aller  Völker  des  alten  Continents  ganz  und  gar  verschieden. 
Sie  gleichen  vielmehr  vollkommen  denen,  welche  man  bei  den  Völker- 
schaften Amerikas  zur  Zeit  der  Entdeckung  wahrnahm,  und  zum  Theil 
auch  denen,  die  noch  jetzt  bei  den  in  Unabhängigkeit  lebenden  Indianern 
gefunden  werden.    An  den  männlichen  Figuren  erblickt  man  ein  Stück 
Zeug,  welches  zwischen  den  Schenkeln  durchgezogen  ist,  und  unter  dem 
Gürtel  geschoben  vorn   und  hinten   herabhängt.    Dieses  Kleidungsstück 
findet  sich  noch  jetzt  bei  alten  Indianer  -  Stämmen  Nordamerikas  und  heisst 
Breechloth  oder  Nukkä.    An  den  offenbar  künstlich  verlängerten  Ohren 
siebt  man  Einschnitte,  in  die  grosse  Ohrgehänge,  Holzblöcke  oder  Steine 
eingebracht  sind,  ganz  so  wie  es  ebenfalls  noch  bei  den  meisten  India- 
nern Nord  -  und  Südamerikas  Gebrauch  ist.    An  einigen  Figuren  sind  auch 
Zierralhen  in  der  durchbohrten  Nasen  -  Scheidewand  aufgehängt.  Die 
langen  Gürtel  vieler  Statuen  gleichen  den  Wampum  -  Gürteln ,  welche  die 
Chefs  der  nord-amerikanischen  Indianer  bis  auf  den  beutigen  Tag  tragen. 
Die  Füsse  der  Figuren  sind  mit  schön  verzierten  Mokasins  bekleidet,  wie 
sie  aus  gegerbtem  Hirschleder  verfertigt  noch  jetzt  bei  den  meisten  In- 
dianern vorkommen.    Auch  in  den  Kopfbedeckungen,  den  PerlscbnUreo, 
den  Brustplatten,  den  Arm-  uud  Kniebändern  der  alten  Bewohner  zeigen 


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Stephens  und  Catherwood:   Ueber  Central- Amerika.  165 

sich  viele  Aehnlickeiten  mit  denen  der  Indianer -Stämme.  Obige  That- 
sachen  unterstützen  also  die  Ansicht,  dass  die  Erbauer  der  alten  Bau- 
werke nicht  aus  einem  Lande  des  alten  Continents  gekommen  sind,  und 
folglich  keine  Phönizier  oder  Carthager,  keine  Mongolen  oder  Tataren, 
keine  Normünner  und  Walliser  waren,  für  welche  sie  manche  Autoren 
ansgegeben  haben.  Es  waren  die  Eingebornen  des  neuen  Continents 
selbst,  und  die  Vorfahren  derselben  Völkerschaften,  die  noch  gegenwär- 
tig diesen  Welttheil  bewohnen,  welche  jene  grossartigen  Bauwerke  auf- 
geführt haben ,  die  damals  aber  auf  einer  höheren  Stufe  der  Cultur  standen. 

Als  einen  weiteren  Beleg  für  obige  Behauptung  muss  Refer.  noch 
beifQgen,  dass  die  Bauwerke  Central  -  Amerikas  in  den  Verzierungen  der 
Facaden,  in  den  breiten,  ungemein  reichen  und  geschmackrollen  Gurten, 
Karniessen,  Gesimsen  und  Kranzleisten ,  sowie  in  den  schönen  und  höchst 
mannigfaltigen  a  la  Greques,  Arabesken,  Labyrinthen  und  Mäandern  einen 
ganz  eigentümlichen  Charakter  zeigen,  wodurch  sie  sich  wesentlich  von 
allen  Bauwerken  des  alten  Conttnents  unterscheiden.  Dieser  besteht  darin, 
dass  die  Ornamente  aus  vielen  kleinen,  verschiedenartig  geformten  ecki- 
gen ,  Würfel  -  und  rautenförmigen  oder  anders  gestalteten  farbigen  Stei- 
nen gebildet,  in  eine  Thon-  oder  Mörtel -Müsse  eingesetzt  sind.  Durch 
ihre  verschiedene  Verbindung  ist  eine  schöne  Art  von  Mosaik,  in  den 
mannigfaltigsten  und  reizendsten  Formen  und  Zeichnungen  hervorgebracht.  ' 
Wegen  dieser  Eigentümlichkeit  der  Verzierungen  der  alten  Bauwerke 
kann  man  den  Styl,  in  dem  sie  aufgeführt  sind,  den  Mosaik-Baustyl  nennen. 

Zu  Gunsten  der  ausgesprochenen  Behauptung,  dass  jene  Bauwerke 
von  eingebornen  Völkern  errichtet  wurden,  lassen  sich  ferner  die  an  so 
vielen  Monumenten  vorkommenden,  eigentbümlichen  Bilderschriften  oder 
Hieroglyphen  aufrühren.  Viele  hieroglyphische  Figuren  erblickt  map  an 
den  grossen  viereckigen  Monolithen  zu  Copan  und  Quiruga ,  auf  denen 
die  Figuren  von  Königen  oder  Helden  in  erhabener  Arbeit  dargestellt 
sind,  sowie  ebenfalls  an  den  Opfer  -  Allären.  Auch  fand  man  solche  ein- 
gegraben auf  den  Steinplatten  neben  den  menschlichen  Figuren  zu  Pa- 
Ienqur.  (Jxmal,  Kabah,  Chichen-Itza  und  anderen  Orten.  In  den  Ge- 
mächern der  auf  den  Pyramiden  zu  Palenque  aufgeführten  Teocallis  sind 
an  den  Wanden  selbst  sehr  grosse  steinerne  Tafeln  mit  zahlreichen  und 
langen  Reihen  wohl  erhaltener  Hieroglyphen  eingesetzt.  Die  symbolischen 
Figuren  sind  gänzlich  verschieden  von  den  ägyptischen  und  allen  sonsti- 
gen Schriftbildern  an  Monumenten  des  alten  Continents.  In  ihrer  Gestalt 
bieten  die  Zeichen  eine  sehr  grosse  Mannigfaltigkeit  dar.  Häufig  erblickt 
man  Köpfe  von  Menschen  und  Thieren  mit  verschiedenem  Ausdruck.  Das 


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166  Stephen*  und  Catherwood:   üeber  Cenlral-Amerika. 


Antlitz  ist  meistens  nach  der  rechten  Seite  gekehrt.  Bei  weitem  die 
meisten  Figuren  haben  gar  keine  Aehntichkeit  mit  bekannten  Gegenständ 
den.  Oefters  nur  kommt  das  Zeichen  des  Kreuzes  vor.  Die  Hierogly- 
phen sind  in  horizontalen  oder  senkrechten  Linien  oder  Reihen  geordnet 
und  scheinen  von  links  nach  rechts  gelesen  werden  zn  müssen.  Sehr 
beachtungswerth  ist  ferner,  dass  die  Hieroglyphen  zu  Palenquc,  Copan, 
Quiruga,  Kahah,  Chichen-Itza  eine  sehr  grosse  Aehnlicbkeit ,  ja  selbst 
Uebereinstimmung  zeigen.  Dicss  deutet  darauf  hin,  dass  alle  jene  Bau- 
werke von  einem  und  demselben  Volke  aufgeführt  wordeo  sind.  Ob  es 
jemals  gelingen  wird ,  den  geheimnissvollen  Inhalt  der  Bilderschrift  zu 
entziffern,  ist  sehr  zu  bezweifeln.  Ganz  und  gar  unwahrscheinlich  ist  es, 
dass  die  Bilderschrift  der  alten  amerikanischen  Volker  durch  Einwanderer 
aus  der  allen  Welt  eingeführt  worden  ist:  denn  viele  Völker  dei  nörd- 
lichen und  südlichen  Amerika  bedienten  sich  schon  io  der  ältesten  Zeit 
symbolischer  Bilder,  wenn  gleich  oft  der  rohesteo  Art.  Diess  beweisen 
die  in  Felsen  eingegrabeneu  Figuren ,  welche  man  in  vielen,  und  oft  weit 
entlegenen  Ländern  im  Inneren  Amerikas  aufgefunden  hat.  Der  Pater 
Marquette  sah  solche  bereits  bei  seiner  im  Jahr  1673  unternommeneu 
Reise  an  den  Felsenwänden  der  Flüsse  Illinois  und  Mississippi.  Hortsmann 
erwähnt  ihrer  zuerst  im  Jahr  1750  in  Guiana  an  den  felsigen  Ufern  des 
Rupunuri.  Herr  von  Humboldt  sah  verschiedene,  in  Granit  und  Syenit 
eingegrabene  symbolische  Bilder  am  Orenoko  und  Cassiquiare.  Spix  und 
Martius  gedenken  solcher  an  den  Felsen  am  Rio  Yapura,  Cupate  und 
Arara-Coara;  und  die  Gebrüder  Schomburgk  im  Inneren  Guianas  an  den 
felsigen  Ufern  des  Essequibo,  Corentyn  und  Cuyuwini.  Hieroglyphische 
Figuren  endlich  hat  neuerlichst  auch  der  Obrist  Acosta  in  Bogota  an  Fel- 
sen der  Ufer  des  Nagdalenen- Stroms  eingegraben  gefunden.  Im  Besitz 
einer  ausgebildeten  Bilderschrift  waren  auch  die  Tolteken  und  Azteken, 
und  Hieroglyphen  sind  an  der  alten  Pyramide  zu  Xochicalco  eingegraben. 
Vor  allen  aber  verdienen  Beachtung  die  auf  Hirscbheuten ,  baumwollenen 
Tüchern  und  Agave- Papier  gemalten  symbolischen  Manuscripte ,  welche 
die  Geschichte  jener  Völker  enthielten ,  und  in  denen  alte  Urkunden,  ab- 
geschlossene Verträge,  gerichtliche  Verhandlungen,  ja  selbst  ihre  politi- 
schen Annalen  aufbewahrt  wurden.  Von  dieser  Kunst,  wie  sie  einst  zu 
Tezcuco  geübt  wurde,  hat  Don  Ferdinando  de  Alva  Ixtilxochitt  ausführ- 
liche Nachricht  gegeben.  Was  von  den  alten  mexicanischen  Bilderschrif- 
ten der  Zerstörungswuth  des  ersten  Bischoffs  von  Mexico,  Don  Juan  de 
Zumarrsga,  und  der  fanalischen  spanischen  Mönche  entgangen  ist,  und  in 
den  Bibliotheken  zu  Oxford,  Rom,  Bologna,  Wien,  Dresden  u.  a.  auf- 


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Stephens  and  Catherwood:  Ueber  Centrtl-Amerika.  167 

bewahrt  wird,  babeo  Herr  von  Humboldt  ond  Lord  Kingsborough  abbil- 
den lassen.  Im  Besitz  einer  Bilderschrift  endlich  waren  seit  alter  Zeit 
bis  auf  den  heutigen  Tag  die  meisten  Indianer -Stämme  Nordamerikas, 
wie  sowohl  frühere,  als  nenero  Reisende,  Hecke  weider,  I  Dun  Hunter, 
Maximilian  Prinz  zu  Wied,  Major  Long  u.  a.  bezeugen.  Was  zum  blei- 
benden Gedlcbtniss  aufbewahrt  werden  soll,  wird  in  Bildern  mit  Griffeln 
vod  Holz,  Stein  oder  Metall  auf  die  innere  glatte  Kinde  der  weissen 
Birken  eingegraben,  oder  mit  Pinseln  von  Haaren  oder  Federn  in  ver- 
schiedenen Farben  auf  eigens  zubereitete  Häute  von  Thieren  gemalt.  So 
siebt  man  die  aus  Büflelhäuten  verfertigten  Mäntel  der  Indianer  am  Missouri 
oft  mit  hieroglyphischen  Malereien  verziert.  Auch  sieht  man  Hirschhäute 
bei  ihnen ,  auf  denen  die  Kriegs-  und  JagdzUge  in  Bildern  dargestellt  sind. 

Von  Bildhauer- Arbeilen  muss  Refer.  noch  der  steinernen  Figuren 
gedenken ,  welche  zwei  im  Körper  verbundene  doppelköpGge  katzenartige 
Tbiere  darstellen,  die  Leoparden  oder  Panthern  ähnlich  sind,  und  die 
Stephens  zu  Copan  und  Uxmal  aufgefunden  hat.  Wahrscheinlich  sind  es 
Sitze  oder  Throne;  denn  auf  zwei  Steinplatten  zu  Palenque  sind  solche 
abgebildet,  auf  denen  eine  menschliche  Figur  mit  einem  unterschlagenen 
Beine  ruht.  Da  solche  zu  Copan,  Uxmal  und  Palenque  entdeckt  wurden, 
so  erbellet  auch  daraus,  dass  die  Erbauer  jener  Denkmäler  ein  und  das- 
selbe Volk  waren. 

Die  grossartigen  und  prachtvollen  Bauwerke  obiger  Länder  Centrai- 
Amerikas  mit  ihren  reichen  und  geschmackvollen  ornamentalen  Sculpturen, 
den  Abbildungen  menschlicher  Figuren  und  den  vielen  eingegrabenen  Hie- 
roglyphen liefern  unleugbar  den  überzeugenden  Beweis,  dass  die  Erbauer 
in  der  Architektur  und  Mechanik,  sowie  in  der  Zeichnungs-  und  Bild- 
bauerkunst sehr  erfahren  waren.    Ausser  der  Kenntoiss  des  Bearbeitens 
und  Legens  der  Steine  und  der  Bereitung  verschiedenartiger  Mörtel  und 
Cemente,  wussten  »ie  die  Gebäude  auch  nach  den  Himmels-Gegenden  in 
rechten  Winkeln  aufzuführen.    Die  schönen  ornamentalen  Sculpturen  geben 
Zeugniss  für  ihren  guten  Geschmack  und  ihre  grosse  Kunstfertigkeit.  Ein 
Umstand,  den  man  wohl  beachten  muss,  wenn  man  die  Fortschritte  der 
alten  amerikanischen  Bevölkerung  in  der  Baukunst  gehörig  würdigen  will, 
besteht  darin,  dass  ihnen  der  Gebrauch  eiserner  Werkzeuge  und  Gerät- 
schaften unbekannt  war,  indem  man  nirgends  Ueberreste  derselben  auf- 
gefunden hat.    Sie  bedienten  sich  nur  kupferner  Handwerkszeuge,  denen 
Zinn  oder  Silber  zugesetzt  war.    Wahrscheinlich  benutzten  sie  ferner  ein 
kieselartiges  Pulver,  mit  dem  sie  durch  Reiben  die  Politur  und  die  feine- 
ren Verzierungen  zu  Stande  brachten. 


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168  Stephens  and  Catherwood:  Ucber  Central- Amerika. 


Die  Malerkunst  wurde  ebenfalls  bereits  von  den  alten  Bewohnern 
Central- Amerikas  geübt.  Abgesehen,  dass  die  Gebäude  äusserten  mit 
verschiedenen  Farben  bemalt  waren,  unter  denen  besonders  die  rothe 
Farbe,  wie  an  den  alten  assyrischen  und  aegyptiseben  Bauten,  die  vor- 
herrschende war,  sah  Stephens  auch  oft  die  Wände  der  Gemächer  mit 
Gemälden  verziert,  namentlich  in  den  Ruinen  zu  Ocozingo,  Zibilnacac  und 
Cnichen- Ilza.  An  letzterem  Orte  waren  die  Wände  der  Gemächer  in 
der  Casa  Colorada  mit  menschlichen  Figuren  und  den  Bildern  verschie- 
dener Gegenstände  bedeckt.  Unter  jenen  erblickte  man  Krieger  mit  reich 
geschmückten  Helmen,  Schilden  und  Spiessen,  sowie  Männer  und  Frauen 
in  eigentümlichen  Trachten ,  die  von  denen  der  Indianer  ganz  abweichen. 
Auch  ist  hier  ein  grosses  Schiß  abgebildet.  Beziehen  sich  diese  Bilder 
etwa  auf  die  Ankunft  von  Fremden,  die  aus  einem  anderen  Lande  ge- 
kommen waren?  In  den  Gemächern  zu  Palenque',  Uxmal,  Chichen-Itza 
sah  man  häufig  die  Figur  einer  aufgerichteten  rothen  Hand  mit  ausge- 
spreizten Fingern.  Das  Bild  einer  solchen  rothen  Hand  kommt  noch  jetzt 
bei  den  Indianern  Nordamerikas  vor.  Schoolcraft  und  (  allin  sahen  es  auf 
den  aus  BUffelhüuten  gefertigten  Zelten  und  Mänteln  der  Chefs  und  der 
Zauberer  oder  Medecine  -  Men  der  Sioux ,  Winnebagos  und  anderer  nörd- 
lichen Indianer -Stämme.  Nach  jenem  ist  es  das  Symbol  einer  von  gros- 
sem Geiste  verliehenen  Macht  und  Würde. 

Aus  obigeu  überzeugenden  Gründen  hält  Refer.  dio  allen  Denkmäler 
für  Werke  eines  eiugeborneu  amerikanischen  Volks.  Welchem  Volke  sie 
aber  zugeschrieben  werden  müssen ,  ist  eine  Streitfrage.  Die  meisten 
spanischen  Geschichtsforscher,  und  so  auch  Herr  von  Humboldt  und  Ste- 
phens, haben  sich  für  die  Tolleken  und  Axleken  entschieden,  welche  als 
die  ältesten  Völker  Amerikas  angesehen  werden ,  die  einen  gewissen  Grad 
der  Cultur  erlangt  hatten.  Nach  den  von  Gallatin  angestellten,  vorzüg- 
lich auf  Sprach  -  Forschungen  sich  stützenden  Uotersuchungen  (Essay  on 
the  semi-eivilised  nations  of  America;  in  Transactions  of  the  Americao 
Ethnological  Sociely  T.  1  p.  148)  kann  nicht  in  Zweifel  gezogen  wer- 
den, dass  in  Anahuac  schon  vor  Ankunft  der  Tolteken,  gegen  die  Mitte 
des  siebenten  Jahrhunderts,  Völker  gewohnt  haben,  die  in  der  Cultur 
bereits  Fortschritte  gemacht  hallen.  Zu  diesen  Völkern  gehörten  die 
Ulmecas  oder  Olmecas,  die  Tarascas,  Totonacos,  Tlascalas,  Zapotecas, 
Mixtecas  u.  a.,  welche  nach  Hervas,  Valer  und  Gallatin  verschiedene 
Sprachen  geredet  haben;  während  die  Tolteken,  und  die  spater  einge- 
wanderten Chichimeken,  Nahualteken  und  Azteken  eine  und  dieselbe 
Sprache  geredet  zu  haben,   und  von  gleicher  Abkunft  gewesen  zu  sein 


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Stephens  und  Catherwood :   üeber  Centrai-Amerika.  169 

scheinen.  Bradford  (American  Antiquities)  ferner  hat  es  wahrscheinlich 
gemacht,  dass  viele,  ja  die  meisten  der  in  den  Ländern  Central -Ame- 
rikas entdeckten  alten  Bauwerke  von  Nationen  herrühren,  die  nicht  zum 
Yölkerstamm  der  Tolteken  und  Asteken  gehört  haben.  Die  Ruinen  von 
Mitisn,  Palenque,  Copan  u.  a.,  obgleich  sie  in  vieler  Hinsicht  denen  im 
eigentlichen  Mexico  befindlichen  ähnlich  sind,  seien  doch  offenbar  älter, 
und  mttssten  für  Werko  eines  nicht  toltekischen  Volks  gehalten  werden. 
Zar  Zeit,  da  sich  die  Tolteken  in  Anahuac  niederlicssen ,  war  es  schon 
von  den  Olmecas  bewohnt,  und  diese  waren  nach  dem  Zeugnisse  von 
Don  Ferdinando  de  Alva  Ixtlilxochitl ,  einem  Nachkommen  der  Könige  von 
Tezcnco,  (Histoire  des  Chichimeques ,  ou  Anciens  Rois  de  Tezcuco;  her- 
aasgegebeo  von  Ternaux  Compans.  Paris  1840)  von  Osten  her  in  Schif- 
fen oder  Canots  eingewandert.  Kamen  sie  etwa  aus  einem  Lande  Nord- 
Amerikas  ,  vielleicht  aus  dem  Thale  des  Mississippi ,  von  wo  sie  vertrieben 
waren  nnd  wo  unläugbar  lange  vor  Einwanderung  der  Tolteken  in  Ana- 
baac  eine  alte  Cultur  verbreitet  war.  Die  Olmecas  sollen  die  grosse 
Pyramide  in  Cbolula  erbaut  haben,  Signenza  hat  ihnen  auch  die  Erbauung 
der  Pyramiden  zu  Teotihuacan  zugeschrieben. 

Die  im  alten  Königreiche  Mechoacan  wohnenden  Tarasken,  welche 
eine  von  der  aztekischen  verschiedene,  sehr  wohlklingende  Sprache  rede- 
ten, waren  von  den  Azteken  ebenfalls  unabhängig  und  standen  ihnen  in 
der  Cultur  nicht  nach.  In  ihrer  alten  Hauptstadt  Tzintzöntzon  befinden 
fich  noch  jetzt  die  üeberresle  eines  grossen  Tempels  und  Pallastes.  Die 
Totonacos  ferner,  welche  die  östlichen  Abhänge  der  Cordilleren  gegen 
den  Golf  von  Mexico  inne  hatten,  bildeten  ebenfalls  ein  besonderes  Reich, 
ood  redeten  eine  eigene  Spreche.  In  ihrem  Lande  liegen  die  präch- 
tigen, mit  Hieroglyphen  bedeckten  Rainen  von  Papantla  und  Mapilca. 
Iii  südlich  von  Mexico  gelegenen  Ländern  lebten  gleichfalls  Völker  mit 
besonderen  Sprachen,  deren  Civilisation  älter  als  die  der  Tolteken  und 
Alteken  war.  So  war  einst  das  südwestliche  gebirgige  Land  Oaxaca  mit 
seinen  fruchtbaren  Thalern  der  Wohnsitz  zweier  mächtigen  cultivirten 
Völker,  der  Zopotekas  nnd  Mixtekas,  welche  die  Herrschaft  der  Tolteken 
and  Azteken  nicht  anerkannt  hatten.  Die  Hauptstadt  des  alten  Reichs 
Zapotccapän  und  die  Residenz  der  Könige  von  Tiozapothan,  in  dessen 
Nähe  San  Pablo  -  Mitlan  mit  seinen  prachtvollen  Ueberresten  von  Tem- 
peln ond  Pallästen  liegt,  welche  Dupaix  (Exped.  PI.  30)  beschrieben  und 
abgebildet  hat.  Hier  war  einst  der  Sitz  einer  mürhtigen  Priesterschaft 
ond  der  Begrabnissort  der  Könige.  Auch  das  Land  Chiapa,  das  alle 
Teochispan ,  in  dem  die  Ruinen  von  Palenque  liegen ,  scheint  den  Beherr- 


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170  Stephens  und  Catherwood:  Ueber  Centrai-Amerika. 


schere  Nexicos  niemals  unterthan  gewesen  ru  sein.  Nach  den  Nachrichten 
des  Bischoffs  Francisco  Nunez  de  la  Vega  (Preambulo  de  las  constitucio- 
nes  de  las  Chiapas)  wurde  das  Land  vorzüglich  von  Indianern  des  Stamms 
der  Centales  bewohnt,  welche  eine  besondere  Sprache  reden.  Sie  zeich- 
neten sich  ehemals  durch  schöne  Manufaktur  -  Arbeiten  aus  und  hatten 
grosse  Fortschritte  in  der  Cultur  gemacht.  Die  ehemalige  Hauptstadt  der 
Centales  soll  Ocozingo  gewesen  sein.  Obgleich  auch  hier  eine  der  aztekischen 
ähnliche  Zeitrechnung  vorkam ,  so  waren  die  Figuren  zur  Bezeichnung  der 
Tage,  Monate  und  Jahre  von  denen  der  Azteken  doch  ganz  verschieden. 

Zu  den  südlichen  Landern  Mittel-Amerikas  endlich,  welche  der 
Herrschaft  der  Tolleken  und  Azteken  niemals  unterworfen  waren,  gehört 
die  grosse  Halbinsel  Yucatan,  das  alte  Land  Maya,  dessen  Geschichte  ao 
sehr  in  Dunkel  gehallt  ist.  Die  spanischen  Seefahrer,  welche  jenes  Land 
zuerst  besucht  haben,  stimmen  darin  Uberein,  dass  Yucatan  sehr  bevöl- 
kert war,  und  dass  das  tapfere  Volk,  welches  dasselbe  bewohnte,  eine 
hohe  Stufe  der  Civilisalion  erreicht  hatte,  worüber  sie  vielfältig  ihr  Er- 
staunen ausgesprochen  haben.  Columbus  scheint  bei  seiner  letzten  -Reise, 
im  Jahr  1502,  zuerst  mit  Eingeborneo,  auf  der  in  der  Bai  von  Hondu- 
ras gelegenen  Insel  Guanaja  oder  Bonaca ,  zusammengetroffen  zu  sein.  Es 
landete  daselbst  ein  grosses  von  Westen  kommendes  Boot  mit  Indianern, 
welche  dem  Admiral  als  civilisirte  Leute  erschienen,  die  in  nützlichen 
Kenntnissen  grössere  Fortschritte  gemacht  halten,  als  er  bisher  auf  seinen 
Reisen  bei  Indianern  auf  den  von  ihm  besuchten  Inseln  wahrgenommen 
hatte.  Da  sie  goldenen  Schmuck  trugen,  erkundigte  er  sich  nach  dem 
Lande,  von  wo  sie  das  Gold  erhielten,  worauf  sie  nach  Westen  zeigten. 
Hätte  Columbus  in  dieser  Richtung  seine  Fahrt  eingeschlagen,  so  würde 
er  in  kurzer  Zeit  das  Festland  der  neuen  Welt  erreicht  haben. 

Erst  im  Jahre  1506  entdeckte  Diez  de  Solis  mit  Vincent  Yanez 
Pinzon,  einem  ehemaligen  Geführten  des  Columbus,  die  Ostküste  Yuca- 
tans,  und  im  Jahre  1517  erreichte  Fraucisco  Hernandez  Cordova  mit 
seiner  in  St.  Jago  de  Cuba  ausgerüsteten  Flotille  das  Vorgebirge  Catoche. 
Da  er  sich  der  Küste  näherte,  kamen  ihm  mehrere  Kähne  mit  Indianern 
entgegen,  welche  aus  baumwollenen  Zeugen  gefertigte  Kleider  und  Gold- 
schmuck trugen.  Ihr  Aublick  setzte  die  Spanier,  welche  bisher  die  Inseln 
Westindiens  nur  von  nackten  Wilden  bewohnt  gefunden  halten,  in  grosses 
Erstaunen.  Die  Indianer  empfiengen  Cordova  und  seine  Mannschaft  sehr 
freundlich  und  luden  sie  ein  ans  Land  zu  kommen,  wo  sie  aus  Steinen 
und  Kalk  aufgeführte  Hüuser  und  woblbebauto  Gärten  sahen.  Dem  Ein- 
dringen Cordovaa  ins  Innere  widersetzte  sich  jedoch  das  zahlreiche  and 


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Stephen«  und  Catberwood :  Ueber  Centrai-Amerika.  17t 

wohl  bewaffnete  tapfere  Volk,  und  er  ward  genölhigt,  nachdem  er  Le- 
bensmittel erhalten,  zu  den  SchiDen  zurückzukehren.  Hierauf  segelte  er 
in  die  Campeche  -  Bai ,  wo  er  ebenfalls  eine  gule  Aufnahme  fand.  Bald 
traten  aber  Misshelligkeiten  ein,  und  die  Spanier  wurden  von  grossen 
Haufen  Indianern  in  die  Schiffe  zurückgetrieben,  wobei  sehr  viele  ver- 
wundet und  getödtet  worden.  Cordova  kehrte  nach  Cuba  zurück,  wo  er 
ao  seinen  Wunden  starb. 

Im  Jahr  1518  sendete  Diego  Velasquez,  der  Gouverneur  von  Cuba, 
seinen  Neffen  Juan  de  Grijalva  mit  mehreren  Schiffen  nach  Yucatau,  der 
zuerst  auf  der  in  der  Nähe  der  Küste  gelegenen  Insel  Cozumel  und  dann 
zu  Potoncban  landete.  Sowohl  auf  jener  Insel,  als  längs  der  ganzen 
Klbte  sahen  die  Spanier  volkreiche  Städte  und  Dörfer  mit  aus  Stein  auf- 
geführten Gebäuden  nnd  Thürmen,  die  denen  ihres  Vaterlandes  ähnlich 
waren,  daher  sie  dem  Lande  den  Namen  Neuspanien  beilegten.  Des  flo- 
hen Grades  der  Civilisation  jenes  Landes  haben  ferner  Bemal  Diaz  de 
Castillo  (Hist.  de  la  Conquista  Cap.  2.  6)  und  Gryaiva's  Haus-Caplan 
(Ilinerario.  Menusc.  1518,  von  Ternaux  Compans  im  Jahr  1838  über- 
setzt) mit  Bewunderung  gedacht.  Letzterer  sagt:  ..  A  en  juger  par  les 
edißces  et  les  maisons,  ces  Indiens  paraissent  e*lre  (res  ingenieux,  et  si 
Ton  n'avuit  vu  plusieurs  constructions  recentes,  on  ourait  pense  que  ces 
batimens  etaient  Pouvrage  des  Espagools."  Ferner  erwähnen  sie  der  in 
den  Tempeln  gesehenen  Idole  und  mancherlei  Geräthschaften ,  sowie  vie- 
ler schön  gearbeiteten  goldenen  Figuren,  Masken,  Schmucksachen  und 
verscbiedeufarbiger  Edelsteine ,  die  sie  von  den  Eingebornen  zum  Geschenk 
erhalten  halten.  Auch  Peter  Martyr  (De  insulis  nuper  inventis  p.  334— 
340)  bat  jener  Gebäude  mit  Ausdrücken  der  Bewunderung  gedacht.  Co- 
golludo,  der  Geschichtscbreiber  Yucatans  (Hist.  Mb.  4  Cap.  2)  führt 
folgende  Bemerkung  von  Las  Casas  Uber  dieses  Land  bei:  „Cicrtamente 
la  tierra  de  Yucatan  da  a  enlender  cosas  mi  especiales  y  de  major  nnti- 
quedad ,  por  las  graudes ,  admirabiles ,  y  excessivas  maueras  de  edeficios ,  y 
lettreros  de  ciertos  caracteres,  que  en  otra  ninguna  parte  se  hallan." 
Dann  fügt  er  noch  bei,  dass  die  Spanier,  da  sie  keine  Nachrichten  über 
die  Erbauer  der  allen  Bauwerke  einziehen  konnten,  dieselben  den  Phö- 
niziern oder  Cartbaginiensern  zugeschrieben  hätten. 

Die  zahlreiche  und  tapfere  Bevölkerung  Yucatans  widersetzte  sich, 
wie  bekannt,  mehrere  Jahre  lang  mit  glücklichem  Erfolge  der  spanischen 
Eroberung.  Erst  nach  vielen  blutigen  Schlachten  und  mehrmalige!!  Nie- 
derlagen gelang  es  dem  Adelantado  Montejo  und  dem  Capitön  Davilla, 
onter  Mitwirkung  der  Franciscaner- Mönche,  das  Land  dem  spanischen 
Scepter  zo  unterwerfen. 


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173 


Stephen!  und  Catherwood :   üeber  Centrai-Amerika. 


Vom  Jahre  1534  an  befand  sich  der  Paler  Lorenzo  de  Bienvenida 
in  Yucatnn,  welcher  im  Jahr  1548  einen  Bericht  Ober  die  Zustände  des 
unter  grossen  Grausamkeiten  eroberten  und  verheerten  Landes  an  den  dama- 
ligen Kronprinzen  Philipp  erstattete  (Lettre  a  Philipp  II  alors  prince  he- 
riditaire  le  10.  Fevr.  1548;  in  Ternaux  Compans  Recueil.  Paris  1838). 
Die  Stadt  Merida,  sagt  er,  wurde  im  Jahr  1541  in  der  Nu  he  der  alten 
Stadt  Tihoo  von  Montejo  erbaut,  wo  sich  viele  alte,  aus  behau enen  Stei- 
nen aufgerührte  prächtige  Gebäude  befinden,  wie  sie  in  ganz  Indien  nicht 
vorkommen.  Da  sie  zum  Theil  mit  sehr  grossen  Blumen  bewachsen  wa- 
ren, so  meinte  der  Padre,  sie  ■Otiten  schon  vor  Christi  Geburt  erbaut 
worden  sein.  Achnliche  Gebäude  seien  ferner  im  ganzen  Lande  vorhan- 
den. Zu  Merida  hätten  die  Franziskaner  in  einem  solchen  Gebäude  ihr 
Kloster  errichtet.  Der  in  Yucatan  befindlichen  alten  Pyramiden  und  Pnl- 
läste  hat  auch  Herrera  (Hist.  general  Dec.  4),  der  glaubwürdigste  spa- 
nische  Historiker,  als  der  Werke  vollendeter  Baumeister  mit  Bewunderung 
gedacht.  Dass  die  zu  Palenque,  Copan,  Quiruga,  L'xmnl,  Chichen-Itza 
und  anderen  Orten  aufgefundenen  Monumente  von  den  Bewohnern  des 
Landes  Maya,  welche  in  früherer  Zeit  ihre  Herrschaft  auch  über  die  be- 
nachbarten Länder  Chiapa,  Honduras  und  Guatemala  ausgebreitet  hatten, 
aufgeführt  worden  sind,  erhellet  aus  der  Aehnlichkeit  der  an  den  alten 
Bauwerken  dargestellten  menschlichen  Figuren,  und  den  an  den  grossen 
Monolithen  zu  Copan  und  Quiruga  eingehauenen  Königen  und  Helden,  mit 
den  Eingebomen  Yucatans,  wie  sie  Herrera  beschrieben  hat.  Er  sagt 
von  diesen:  sie  haben  ein  wohl  geformtes  Antlitz,  sie  platten  aber  den 
Vorderkopf  ab.  In  den  Ohren  tragen  sie  Ringe.  Ihr  langes  Haar  ist  in 
Flechten  geschlungen.  Die  Anführer  zieren  den  Kopf  mit  schönen  Federn. 
Sie  haben  grosse  um  die  Schultern  hängende  Mantel,  und  um  die  Lenden 
ist  ein  Tuch  geschlagen.  Sie  tragen  aus  Thierhäuten  gefertigte  Sandalen. 

Die  Bewohner  Yucatans  stammen  nicht,  wie  Einige  angenommen 
haben,  von  den  Tolteken  und  Azteken  ab,  sondern  sie  sind  ein  von  den- 
selben ganz  verschiedenes  Volk,  das  wahrscheinlich  lange  vor  Abkunft 
jener  Völker  in  Anahuac  das  Land  Maya  inne  hatte  Zu  dieser  Annahme 
berechtigt,  dass  sie  eine  besondere  Sprache  reden,  welche  von  der  mexi- 
canUchen  ganz  verschieden  ist.  Solches  ergiebt  sieb  aus  den  zahlreichen 
Wörterbüchern  der  Maya  -  Sprache,  welche  Pedro  Beltram,  Andres  de 
Avendana,  Fray  Antonio  de  Ciudad  Real,  Luis  de  Villapando,  Bonaven- 
tura und  Hervas  verfasst  haben,  nnd  ferner  aus  den  schätzbaren  von 
Vater,  Wilhelm  von  Humboldt  und  Gallatin  über  die  Sprache  der  ameri- 
kanischen Völker  angestellten  Untersuchungen.    Die  Maya  -  Sprache  wurde 


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Stephens  und  Citherwood :   Ueber  Central-Araerika.  17S 

zur  Zeit  der  Eroberung  Mexico'*  aach  in  Tabasco  geredet,  und  mittelst 
derselben  verkehrte  Cortei  durch  seine  Dolmetscher,  Jerome  de  Aguilar 
und  Malin  Iii  o  oder  Donna  Marina,  mit  den  Mexicanern.  Jener,  ein  spa- 
nischer Geistlicher,  der  Schiffbruch  gelitten  und  acht  Jahre  lang  in  Yu- 
catan gefangen  war,  hatte  die  Maya -Sprache  erlernt.  Die  Donna  Ma- 
rina hingegen,  eine  geborne  Mexicanerin,  war  von  ihrer  Mutter,  der  Frau 
eines  Caziken,  nach  Tabasco  verkauft  worden,  wo  sie  gleichfalls  die 
Maya -Sprache  angenommen  hatte.  Auf  solche  Weise  konnte  Aguilar  die 
spanischen  Wörter  in  das  Maya,  und  die  Donna  Marina  das  Maya  in  das 
Mexicanische  Ubersetzen.  Aus  einem  kleinen  Vocabular  der  Centales- In- 
dianer, welches  Stephens  in  der  Naho  Palenques  verfasst  bat,  ergiebt 
sich,  dass  das  in  dieser  Gegend  übliche  Idiom  gleichfalls  ein  Dialekt  der 
Maya -Sprache  ist.  Gallatins  Forschungen  haben  ferner  dargethan,  dass 
das  Pocomi  oder  Poeoman,  welches  die  Muttersprache  ist,  von  der  die 
verschiedenen  Dialekte  in  Guatemala  abstammen,  der  Maya -Sprache  eben- 
falls nahe  verwandt  ist.  Eine  grosse  Uebereinstimmnng  zwischen  Wör- 
tern jener  Sprachen  hat  auch  Vater  bereits  bei  einer  Vergleichung  der 
Vocabularien  aufgefunden.  Beachtungswerth  ist  endlich,  dass  dieser  Sprach- 
forscher eine  Verwandtschaft  des  Mayas  mit  der  Sprache  der  Huastecas 
erkannt  hat,  welche  ein  von  Yucatan  weit  entferntes,  nördlich  von  Mexico 
gelegenes  Land  bewohnten.  Die  Aehnlichkeit  beider  Sprachen  und  deren 
Verschiedenheit  von  der  mexicanischen  Sprache  wurde  auch  von  Prichard 
(Naturgeschichte  des  Menschen  -  Geschlechts  B.  2  S.  362)  nachgewiesen. 
Demnach  ist  es  wahrscheinlich,  dass  daa  Volk  der  Mayas  lange  vor  der 
Einwanderung  der  Tolteken  und  Azteken  in  Anahuac  die  Länder  Mittel- 
Amerikas  inne  hatte,  und  erst  durch  diese  von  Norden  kommende  Völ- 
kerschaften in  südlich  gelegene  Lander  gedrängt  wurde. 

Das  von  den  Tolteken  und  Azteken  ganz  verschiedene  Volk  der 
Mayas,  welches  zur  Zeit  der  spanischen  Eroberung  die  Halbinsel  Yucatan 
bewohnte,  und  in  früherer  Zeit  seine  Herrschaft  über  Chiapa,  Guatemala 
und  Honduras  ausgedehnt  hatte,  ist  unläugbar  das  einst  auf  einer  hohen 
Stufe  der  Cultnr  stehende  Volk ,  welches  die  grossartigen  alten  Bauwerke 
in  jenen  LSndern  aufgeführt  hat ,  die  selbst  in  ihren  Trümmern  noch  Stau- 
nen erregen.  Da  sie  im  Baustyl,  in  den  ornamentalen  Sculptureu,  in 
den  dargestellten  menschlichen  Figuren  und  iu  den  eingegrabenen  Hiero- 
glyphen unverkennbar  eine  grosse  Aehnlichkeit  zeigen ,  so  können  sie  nur 
einem  und  demselben  Volke  zugeschrieben  werden.  Nach  Bradford's 
(American  Antiqoities)  und  Gallalin^s  Bemerkungen  übertreffen  die  Monu- 
mente zu  Palen q iiii,  Mitlan,  Copan,  UxmaJ,  Chicheu -Itza  n.  a.  in  der 


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174  Stephens  and  Catherwood:   üeber  Cenlral-Amerika. 


Grossartigkeit  der  Architektur,  in  dem  Reichthum  und  der  Schönheit  der 
Sculpturen  bei  weitem  alle  alten  Bauwerke  Mexicos.  Auch  die  Hiero- 
glyphen sind  viel  besser  und  sorgsamer  ausgeführt,  als  an  irgend  einem 
alten  mexicanischen  Gebäude.  Demnach  mUssen  sie  als  die  Werke  eines 
älteren  und  nicht  toltekischen  Volks  angesehen  werden.  Die  Toltekeo, 
welche  in  Folge  von  wiederholtem  Miss  wachs ,  Seuchen ,  Aufruhr  und  un- 
glücklich geführten  Kriegen  Anahuac  gegen  die  Mitte  des  sehnten  Jahr* 
hunderts  verliessen ,  und  in  Guatemala  und  Nicaragua  eindrangen,  wo  sie 
neue  Reiche  gründeten,  scheinen  nie  nach  Yucatan  gekommen  in  sein, 
denn  die  Maya  -  Sprache ,  welche  jetzt  noch  auf  der  Halbinsel  die  herr- 
schende ist,  enthält  keine  mexicanischen  Worte.  An  die  Stelle  der  Toi- 
teken  rückten  in  Anahuac  rohe,  von  der  Jagd  lebende  Völker,  die  Cul- 
huas ,  Chichimeken ,  Acolhuas  und  Azteken.  Die  Herrschaft  der  letzteren, 
welche  in  Jahr  1324  die  Stadt  Mexico  gründeten,  erstreckte  sich  aber 
nicht  nach  Yueatan. 

Zwischen  den  schon  früh  zu  einem  gewissen  Grade  der  Civilisation 
gelangten  alten  Völkern  Mittel- Amerikas,  den  Toltekeo  und  Mayas,  ob- 
gleich sie  nach  den  Sprachen  zu  schliessen  eine  ganz  verschiedene  Ab- 
stammung ballen,  scheint  lange  vor  Ankunft  der  Spanier  ein  Verkehr 
u^cslflodöQ  IioIjgh  ^  und  810  m o ^ c n  w c c 1 1 s t* [ s 1 1 1 ^  von  t^itioncicr  Sitten 
und  Gebrauche  angenommen  haben.  Dafür  läset  sich  die  Aehnlichkeit 
anführen ,  welche  zwischen  den  Mayas  und  Tolteken  nach  Herrera  (Histor. 
gener.  Dec  4  Lib.  10  Cap.  14}  und  Cogolludo  (Hist.  de  Yucatan  Lib.  4 
Cep.  5)  in  der  Zeitrechnung,  den  religiösen  Gebräuchen,  den  Künsten 
und  sonstigen  Einrichtungen  obwaltete.  Nach  einem  von  Stephens  mit- 
geteilten alten  Manuscript  über  die  Zeitrechnung  in  Yucatan  war  der 
Maya  - Calender  dem  der  Mexicaner  ähnlich,  und  wich  von  diesem  nur 
in  einigen  Binzeinheiten  ab.  Das  Jahr  wurde  in  18  Monate  von  20  Ta- 
gen ein  get  heilt,  und  hatte  5  Einscbsltungs  -  Tage ,  welche  auf  den  13. 
bis  17.  Juli  fielen  und  als  eine  unglückliche  Zeit  angesehen  wurden. 
Einige  astronomische  Symbole  und  vier  bieroglyphische  Zeichen  der  Tage 
waren  mit  denen  der  Mexicaner  identisch.  Der  Tag  scheint  in  8  Zeit- 
räume getheilt  gewesen  zu  sein.  Ausserdem  hatte  man  Cyklen  von  20 
und  52  Jahren.  Die  Religion  der  Mayas  war ,  wie  auch  ursprünglich  bei 
den  Tolteken ,  Sternen  -  Dienst ,  vorzüglich  wurde  die  Sonne  verehrt  Der 
€i* ö  C  £6  o  d  i  c  o  s  cJ  ©r  i  fcc  l(  c  fl  h  i  u  |B  © fl^ cd  wo  1  c h  er  ^J^sr  iS ci>i fl  DO I D (SC  h ^j^j  d I^^l  8 
verwandt  ist,  scheint  in  Yucatan  niemals  Eingang  gefunden  zu  haben, 
denn  man  hat  bisher  nirgends,  weder  in  den  Tempeln,  noch  in  ihrer 
Nahe,  solche  scheussliche  steinerne  Götzenbilder  wie  in  Mexico  entdeckt 


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Stephens  und  Cathcrwood:   Ueber  Central -Amerika.  175 

Die  Regierungsform  im  Lande  Hayn  war  wie  in  Mexico  eine  theo- 
kratisch- aristokratische,  und  für  die  Macht  der  Priester  und  Grossen 
legen  die  Tempel  -  Pyramiden  und  die  in  ihrer  Nahe  befindlichen  vielen 
Gebinde  und  schönen  Pallaste  Zeugniss  ab.  Eine  zahlreiche  Priestercaste 
scheint  in  Maya  nnd  Mexico,  wie  im  alten  Aegypten,  im  Besitze  aller 
Kenntnisse  und  Künste  gewesen  zu  sein.  Aas  der  Priesterschaft  giengen 
wahrscheinlich  die  Baumeister,  Bildhauer,  Maler,  Feldmesser  und  Astro- 
nomen hervor.  Das  Volk  der  Mayas  hatte  auch  auf  Rinde  oder  Pergament 
gemalte  Bilderschriften ,  die  in  Form  von  Büchern  zusammengefallet  wur- 
den, welche  Amalthes  hiessen. 

Bei  der  Aehnlicbkeit  in  den  Einrichtungen,  Sitten  und  Gebräuchen 
der  Mayas,  und  der  ihnen  verwandten  Völker  in  Guatemala  und  Hondu- 
ras mit  denen  der  Tolteken  und  Azteken,  welche  auf  einen  frühen  Ver- 
kehr derselben  scbliessen  lassen,  wäre  noch  die  Frage  zu  erörtern,  von 
welchem  jener  Völker  die  alte  Civilisation  der  Linder  Central -Ame- 
rikas ursprünglich  ausgegangen  ist.  Diese  Frage  lasst  sich  aber  beim 
Mangel  sicherer  historischen  Quellen  nicht  beantworten,  doch  glaubt  sich 
Refer.  für  die  Mayas  entscheiden  zu  müssen.  Dieses  Volk,  welches  eine 
eigene  Sprache  redet,  hatte  unläugbar  lange  vor  Ankunft  der  Tolteken 
in  Mittel  -  Amerika  festen  Fuss  gefasst.  Auch  stand  es,  nach  der  Schön- 
heit der  alten  Bauwerke  zu  scbliessen,  auf  einer  viel  höheren  Stufe  der 
Cultur.  Tucatan,  welches  die  ersteu  spanischen  Seefahrer  für  eine  Insel 
gehalten  haben,  ist  wahrscheinlich  die  Insel  Antilia,  welche  die  Garthe- 
ginienser  bereits  besucht  haben  sollen.  Bine  Insel  dieses  Namens  ist  be- 
reits auf  mehreren  alten  Karten  vor  Entdeckung  Amerikas  verzeichnet, 
namentlich  auf  der  fünften  Karte  des  venetianiscben  Atlas  des  Andrea 
Bianco  vom  Jahr  1436,  sowie  auf  der  Welttafel  des  Beclario  oder  Be- 
drnzio  von  Parma.  Aach  findet  sie  sich  auf  dem  von  Martin  Beheimb  im 
Jahr  1 492  gefertigten  und  in  Nürnberg  befindlichen  Globus.  Ferner  hat 
dieser  folgende  alte  Sage  mitgetheilt:  bei  der  Eroberung  der  Iberischen 
Halbinsel  durch  die  Araber  hatten  der  ErabischolT  von  Porto  und  sechs 
andere  Bischöffe  mit  vielen  Einwohnern  das  Land  in  Schiffen  verlassen 
und  seien  auf  einer  Insel  im  Westen  gelandet.  Beheimb  setzt  die  Aus- 
wanderung in  das  Jahr  734  der  christlichen  Zeitrechnung,  wlhrend  Fer- 
dinand Columbus  das  Jabr  714  -engiebt,  in  welchem  bekanntlich  die 
Niederlage  der  Westgotben  am  Guadalade  statt  hatte,  und  der  König 
Roderich  umkam. 

Zu  Gunsten  der  Vermutbnng,  dass  lange  vor  Entdeckung  Amerikas 
dnrch  Columbus  Europäer  nach  dem  neuen  Continent  gelangt  sein  mögen, 


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176  Stephens  und  Cather  wood :    Ueber  Ccn tral-A merikn . 

lassen  sich  auch  die  rathselhaften  Männer  Quetzalcoatl,  Zamna,  Bochica, 
Cuculcan  und  Votan  anführen ,  welche  nach  den  von  spanischen  Schriftstel- 
lern gesammelten  alten  Sagen  alle  von  Osten  her  gekommen  waren,  und 
die  zur  Einführung  und  Verbreitung  der  Cultur  in  den  Ländern  Mittel- 
Amerikas  vieles  beigetragen  haben  sollen.  Wahrscheinlich  waren  es 
christliche  Missionire,  die  entweder  aus  der  iberischen  Halbinsel  zur  Zeit 
der  Eroberung  durch  die  Araber  dahin  gelangt,  oder  die  aus  Island  und 
Grönland  eingewandert  waren.  Dass  Normänner  von  Island  aus  bereits 
in  zehnten  Jahrhundert  Grönland  nnd  das  an  der  Ostkttste  Amerikas  ge- 
legene Yinland  besucht  und  daselbst  Niederlassungen  gegründet  haben,  ist 
durch  Rafn's  Herausgabe  alter  Islandischer  Handschriften  ausser  allem 
Zweifel  gesetzt.  Zu  Anfang  des  eilften  Jahrhunderts  nahmen  die  Nor- 
manner  in  Grönland  das  Christenthum  an,  und  ea  wurden  nach  und  nach 
•n  der  Ostküste  mehrere  Kirchen  und  zwei  Klöster,  sowie  an  der  West- 
küste vier  Kirchen  erbaut  In  Grönland  befand  sich  ferner  viele  Jahre 
hindurch  der  Sitz  eines  Bischoffs. 

Von  obigen  Mannern  verdient  vorzüglich  Quetzalcoatl  beachtet  zu 
werden,  den  Bernardino  de  Sahagun,  Lopez  de  Gomara,  Garcia,  Tor- 
quemada  u.  a.  als  einen  Mann  von  hohem  Wuchs  und  würdiger  Haltung, 
mit  weisser  Haut  und  langem  wallenden  Bart,  in  ein  Priester -Gewand 
gekleidet,  geschildert  haben.  Einige  hielten  ihn  für  den  Apostel  St. 
Thomas.  Nach  den  Nachrichten ,  welche  der  glaubwürdigste  mexicanische 
Schriftsteller,  Don  Ferdinando  d'Alva  Ixtlilxochitl  (Hist.  des  Chichimeques, 
traduil  sur  le  manuscrü  espagnol  par  Ternaux  -  Compans.  Paris  1840  T.  1 
p.  3)  von  diesem  Manne  gegeben  hat,  kam  er  von  der  Küste  des  mexi- 
canischen  Meerbusens,  wo  er  gelandet  war,  zu  den  Olmeken,  welche  zu 
Cholula  wohnten.  Er  sagt  von  ihm :  II  enseigna  par  ces  paroles  et  par 
ces  oeuvres  le  chemin  de  la  vertu ,  les  exhorta  ä  fuir  le  vice  et  le  peche, 
leur  donna  des  lois  pour  mettre  un  frein  a  leurs  debauches  et  ä  leurs 
turpitudes,  etablit  Tusage  de  jeune,  et  fut  le  premier  qui  plante  et  adora 
Ja  croix,  que  Ton  nomine  Quauboehuitzitotl,  ce  qui  veut  dire  Dien  des 
pluies  et  de  la  sante,  et  arbre  de  la  nourriture  ou  de  la  vie.  Apres 
jvoir  enseigne  tout  ce  que  je  viens  de  dire  dans  les  villes  des  Ulmeques 
et  Xicalanques,  et  particulierement  dans  eelle  de  Cbolulan,  oü  il  resida  le 
plus  long  temps,  voyaut  que  sa  doctrine  fructifiait  peu,  U  s'en  alla  de 
cote  ou  il  etait  venu,  cest  a  dire  de  TOrient,  et  disparut  vers  la  cöte 
de  Coatzacoalco.  Die  Mexicaner  erwarteten  die  Rückkehr  dieses  Mannes, 
wie  von  der  von  Cortez  mitgetheilten  Unterredung  mit  Montezuma  erhellet. 

{Schlust  fotot) 

{  %  m     |  ^'J  '  J 


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Kr.  12.  HEIDELBERGER  1851. 

JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR 

1  1 

Stephens  und  Ctetherwoodt  l  eher  Central- Amerika. 


(Schluß.) 

• 

Sehr  beacbtungswerth  ist,  dass  Peter  Martyr,  Lopez  de  Gomara, 
Herrera,  Garcilasso  de  la  Vega  u.  a.  auch  steinerner  Kreuze  gedenken, 
die  in  Mexico,  Yucatan,  Peru  und  anderen  Ländern  gefunden  waren. 
Refer.  erinnert  ferner  an  die  Figur  eines  Kreuzes  auf  einer  grossen  Slcin- 
tafel  2u  Paleoque,  sowie  an  ein  grosses  steinernes  Kreuz,  welches  Paln- 
cios  zu  Copan  aufgerichtet  sah.  Spanische  Geistliche  haben  daraus  ge- 
folgert ,  daas  der  christliche  Cultus  schon  vor  Entdeckung  Amerikas  durch 
Colonbus  Eingang  gefunden  habe.  Spuren  christlicher  Religions  -  Ge- 
brauche sind  allerdings,  wie  auch  Prescott  bemerkt  hat,  in  dem  Cnltas 
der  Azteken  nicht  zu  verkennen.  So  war  eine  Art  Taufe  üblich,  wenn 
einem  neugebornen  Kinde  der  Name  gegeben  wurde,  wobei  der  Kopf 
und  die  Lippen  des  Kinds  mit  Wasser  befeuchtet  wurden ,  wie  Bernardino 
de  Sanagan  als  Augenzeuge  berichtet.  Gleiches  fand  nach  Herrera  bei 
den  Bewohnern  Yucatana  statt.  Ferner  herrschte  ein  religiöser  Gebrauch, 
der  an  daa  christliche  Abendmahl  erinnert,  es  wurde  nämlich  die  Figur 
einer  ScfautzgoUheit  aus  Maismehl  mit  Blut  vermischt  gebildet,  welche  von 
den  Frieslern  geweiht  und  unter  das  Volk  vertheilt  wurde,  welches  beim 
Geouss  desselben  Zeichen  von  Demuth  und  Zerknirschung  gab,  wie  Acosta 
und  Veyüa  angeben.  Ferner  waren  Fasten ,  Büssungen  und  eine  Art  von 
Beicht  und  Absolution  eingeführt.  Alles  diess  unterstutzt  die  ausgespro- 
chene Meinung,  dass  christliche  Missionare  lange  vor  Columbus  Amerika 
besacht  haben  müssen. 

L  eber  die  Geschichte  Yucatans  kurz  vor  und  nach  der  spanischen 
Eroberung  fugt  Refer.  folgendes  bei.  Das  Land  war  im  Besitz  vieler 
Bdclen  oder  Caziken,  welche  ihre  Wohnsitze  in  eigenen  Studien  hatten. 
Sie  standeu  unter  einem  gemeinsamen  Uberherrn  oder  König,  der  gegen 
zwei  Jahrhunderte  seinen  Sitz  in  der  sehr  bevölkerten  Hauptstadt  Maya- 
paa  halte.  Die  Caziken  waren  als  Vasallen  verpflichtet,  an  den  König 
and  die  Priesterschaft  Abgaben  lu  entrichten,  welche  in  Land  es -Erzeug- 
nissen, Mais,  Caeeo,  Gewürzen,  wohlriechenden  Harzen,  Wild  und  Ge- 
flagel ,  sowie  in  bäum  woll  enen  Zeugen  bestanden.  Sie  waren  ferner  ver- 
XUY.  Jahrg.  3.  Doppelheft.  12 


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178  Stephen*  und  Cttherwood:   Ueber  Central- Amerika. 

banden,  bei  grossen  Festen  in  den  Tempeln  zu  erscheinen,  and  musslen 
bei  Kriegen  mit  benachbarten  Völkern  Hülfe  leisten.  In  achten  Ajan  des 
Yucatesischen  Kalenders,  um  das  Jahr  1402  der  christlichen  Zeitrechnung, 
empörten  sich  aus  unbekannten  Ursachen  die  Vasallen  gegen  den  König 
und  es  brach  ein  blutiger  Krieg  aus,  in  dem  die  Hauptstadt  »layapan 
erobert  und  zerstört  wurde.  Die  königliche  Familie  floh  nach  der  Stadl 
Mani,  in  deren  Besitz  sie  bis  *zur  Ankunft  der  Spanier  blieb.  Der  letzte 
König,  Tutul  Xiu ,  unterwarf  sich  mit  seinem  Heere  zu  Tiboo  bei  Merida 
dem  spanischen  Anführer  Francisco  Montejo.  Er  liesa  sich  taufen  und 
nahm  den  Namen  seines  Taufpathen  an,  als  Don  Francisco  Montejo  Xiu. 
Nach  längere  Zeit  geleisteten  tapferen  Widersland  unterlagen  auch  die 
unabhängig  gewordenen  Caziken  den  wiederholten  Angriffen  der  Spanier. 
Sie  liesseu  sich  ebenfalls  taufen ,  und  führten  als  Goberuadores  den  Namen 
der  spanischen  Taufpathen.  Im  Jahr  1556  vertheilte  Don  Felipe  Mauri- 
ques  Ländereien  unter  dieselben,  mit  der  Verbindlichkeit,  in  ihren  Be- 
zirken unter  der  Leitung  von  Franziskaner  -  Mönchen  pruchtige  Kirchen  zu 
erbauen,  welche  noch  bestehen. 

Am  längsten  frei  vom  spanischen  Joch  blieben  die  Bewohner  der 
in  einem  Landsee  (unter  dem  18.  Grade  nördl.  Breite)  liegenden  Insel 
Peten  grande.  Peteu  ist  ein  Kaya -Wort,  welches  Insel  bedeutet.  Die- 
scr  I o s 1 1  h 3 1 1 c  s 1 1_ ti  der  (/flfiiks  O/ÄU^ia*  ^v^hrcod  dos  sBüe^^^crkno^^j  uod 
nach  der  Zerstörung  der  Hauptstadt  »layapan  bemächtigt,  wo  er  eine 
Stadt  gründete,  deren  Juarros  (T.  1  p.  33  T.  2  p.  142)  gedacht  bat. 
Cortez  besuchte  Peten  bei  seinein  Zage  nach  Honduras,  wie  Berns!  Diai 
de  Castillo  (Hist.  de  la  Conquista  Cap.  18)  beriehlet.  Die  Stadt  mit 
ihren  hoben  Tempeln  glänzte  weit  in  der  Sonne ,  so  dass  man  sie  in  einer 
Entfernung  von  zwei  Leguas  sehen  konnte.  Die  Einwohner  nannten  sich 
Itzaeken.  Im  Jahr  1608  und  1619  machten  Franciscaner- Mönche  den 
Versuch,  die  Bewohner  zum  Christen ihum  zu  bekehre»,  der  aber  otise- 
lang.  Erst  im  Jahr  1697  eroberte  Don  Martin  Ursua,  der  damalige  Gou- 
verneur von  Yucalan,  die  Insel  und  zerstörte  die  daselbst  befindlichen 
grossen  Tempel,  wie  Villagutierre  (Hist.  de  la  Conquista  de  la  Propecia 
de  el  Itza.  Madrid  1701)  erzahlt.  Die  Bewohner  Cohen  in  die  Gebirge, 
und  was  aus  ihnen  geworden,  ist  nicht  bekannt. 

Am  Schlüsse  dos  Berichts  bleibt  endlich  noch  zu  untersuchen,  wo- 
durch die  einst  in  Yucataa  verbreitete  Civilisation  ihrem  Untergang  zuge- 
führt worden  ist.  Nach  Stephens  ist  bei  den  Indianern  das  Andenken 
an  die  frühere  Cullur  an  ehemals  reUhia  Künste  und  so  die  einstige 
Macht  und  Herrschaft  gänzlich  erloschen,  und  es  haben  aich  nur  dunkle 


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Stephens  und  Catherwood:    l'ober  Cenlral-Amerika.  17« 


Sagen  Ober  die  alten  Bauwerke  der  Vorzeit  erhalten.  Dies  ist  einesteils 
eine  Folge  langjähriger  Börgerkriege ,  welche  vor  Ankunft  der  Spanier 
das  Land  verheert  haben.  Anderntheils  wurde  der  jetzige  Zustand  durch 
die  spanische  Eroberung  herbeigeführt.  Die  hochfahrenden ,  fanatischen 
und  von  einer  unersättlichen  Goldgier  beherrschten  Spanier  machten  Yuca- 
tan,  wie  alle  eroberten  schönen  Länder  Central- Amerikas ,  zum  Schau- 
platz unerhörter  Grausamkeiten  und  Schandthaten ,  die  nicht  so  sehr  der 
Verderblheit  der  menschlichen  Natur,  als  der  hierarchischen  Anmassung 
and  Herrschsucht  jener  Zeit  zugeschrieben  werden  müssen.  Pabst  Alexan- 
der VI.  hatte  bekanntlich  alle  Inseln  und  Länder,  welche  spanische  See- 
fahrer in  der  neuen  Welt  entdecken  würden,  der  spanischen  Krone  zum 
Geschenk  gemacht.  Dem  gemüss  wurde  den  Capitänen,  welche  Schiffe 
zur  Entdeckung  und  Eroberung  neuer  Lander  ausrüsteten,  eine  Vorschrift 
znr  Besitznahme  ertheilt,  der  an  Seltsamkeit,  Anmassung  und  Grausam- 
keit in  der  Geschichte  nichts  gleichkommt,  nnd  gegen  deren  Erlass  man 
versucht  sein  könute  Zweifel  zu  erheben,  wenn  sie  nicht  ein  glaubwür- 
diger spanischer  Schriftsteller,  Herrera  (Decades  de  las  Iudias  Dec  1 
Lib.  7  Gap.  15)  aufbewahrt  hatte.  Die  von  der  hohen  Geistlichkeit  and 
den  Rechtsgelehrten  Spaniens  entworfene  Vorschrift  bestimmte:  die  Capi- 
tä'ne  sollten  den  Bewohnern  der  entdeckten  Länder  die  Hauptartikel  des 
christlichen  Glaubens  bekannt  machen,  ihnen  die  Oberherrschaft  des  Pab- 
stes  über  alle  Reiche  der  Welt  verkündigen,  and  ihnen  anzeigen,  das« 
der  beilige  Vater  ihr  Land  dem  Könige  von  Spanien  geschenkt  habe. 
Zugleich  sollten  sie  eine  Aufforderung  erlassen,  die  ihnen  verkündigte 
Religion  anzunehmen,  und  sich  dem  Könige  von  Spanien  und  seiner  Bot- 
mässigkeit  zu  unterwerfen.  Falls  sie  sich  weigerten,  seien  die  Capitäne 
ermächtigt,  die  Widerspenstigen  mit  Feuer  und  Schwert  anzugreifen,  sich 
ihrer  Besitzungen  zu  bemächtigen,  sie  sammt  ihren  Frauen  und  Kindern 
zu  Sclaven  zu  machen,  and  sie  mit  Gewalt  zu  zwingen,  sich  der  römi- 
schen Kirche  and  dar  spanischen  Oberherrschaft  zu  unterwerfen. 

Obiger  Vorschrift  sind  die  spanischen  Eroberer  in  Yucatao,  wie  in 
allen  entdeckten  Landern  treu  nachgekommen,  und  dabei  wurden  uner- 
hörte Gräuelthaten  verübt,  welche  der  entrüstete  edle  Bischoff  de  las 
Caans  ab  Augenzeuge  geschildert  hat.  Die  gefangenen  Caziken,  die  sich 
nickt  gleich  unterworfen  hatten,  Warden  erwürgt,  gehängt  oder  ver- 
brannt Die  Indianer  wurden  mit  ihren  Frauen  nnd  Kindern  zu  Sclaven 
fernseht  und  ihrer  Güter  beraubt,  in  welche  sich  die  Eroberer  thetlten. 
Die  Tempel  nnd  PaUnsto  worden  geplündert  und  zerstört,  and  die  Steine 
werden  zum  Aufbau  von  Kirchen  and  Klöstern  verwendet.    Vor  allen 

12* 


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180  Stephen!  und  Catherwood:   Uener  Central-Amerikn. 

waren  es  die  fanatischen  Franciskaoer-  Mönche,  und  an  ihrer  Spitze  Lande, 
der  erste  BischotT  in  Merido,  welche  die  Bilderschriften,  als  heidnische 
Werke  den  Flammen  Ubergaben,  und  damit  die  Geschichts  -  Werke  des 
in  Boden  getretenen  alten  Yolks  der  Mayas  vernichteten.  Im  Jahr  1571, 
da  die  Bevölkerung  einen  Versuch  machte,  das  spanische  Joch  abzuwer- 
fen,  veranstaltete  der  Doctor  Don  Pedro  Sanchez  de  Agufiar  eine  aber- 
malige Nachsuchung  übrig  gebliebener  hieroglyphischen  Schriften,  die  zer- 
stört wurden.  So  haben  denn  die  spanischen  Eroberer  in  Yucatan,  wie 
in  allen  Ländern  der  neuen  Welt,  welche  in  ihre  Gewalt  gekommen  sind, 
unter  dem  Vorwande  die  Seelen  der  Eingebornen  zu  retten,  sie  ihres 
Lands,  ihrer  Freiheit  und  ihrer  früheren  Cultur  beraubt.  Die  unglück- 
lichen Indianer,  zu  Sclaven  und  Lasttbieren  gemacht,  wurden  gezwungen, 
im  Dienste  habsüchtiger  Edelleute  und  roher  Abenteurer,  sowie  einer 
Reichthum  und  Prunk  liebenden  Geistlichkeit  zu  arbeiten.  Die  jetzige  in- 
dianische Bevölkerung  ist  nach  dem  Zeugnisse  von  Stephens  und  aller 
glaubwürdigen  neueren  Reisenden,  in  Yucatan,  wie  in  Guatemala,  Hon- 
duras, Mexico  und  Peru,  in  Robheit  versunken,  verdummt,  höchst  trage, 
dem  Trünke,  dem  Spiele  und  allen  Lastern  ergeben.  Von  der  christ- 
lichen Religion  haben  die  Indianer  nur  die  äusseren  Ceremonieo ,  die  An- 
betung der  Crucifuce,  Madonnen-  und  Heiligen -Bilder,  die  Prozessionen, 
die  Beichte  und  Amulete  angenommen,  der  innere  Kern  der  Religion  der 
Liebe  ist  ihnen  unbekannt  geblieben.  Unter  aolchen  Verhältnissen  wird 
sich  wobl  Niemand  wundern ,  wenu  bei  den  Indianern  Yucatans  jede  Spur 
einer  früheren  Cultur  verwischt  und  selbst  das  Andenken  an  dieaelbe  in 
Sagen  erloschen  ist. 


•» 


V 

Lehrbuch  des  französischen  Strafprozesses  ron  D.  Höchster,  Dr.  jur. 
Adtokaten  am  rhein.  Appellationshofe  zu  Köln  und  Docenten  des 
französischen  Rechts  an  der  Hochschule  zu  Bern.    Bern.  1850. 


Der  französische  Strafprozess  bat  seit  dem  Jahr  1848  in 
eine  neue  allgemeine  Bedeutung  erhalten,  nachdem  er 
in  den  rheinischen  Provinzen,  die  zu  Preussen,  Baiern  und 
hörten,  eine  praktische  Geltung  hatte.  Schon  seit  Jahren  hatten  alle 
Manner  in  Deutschland,  welche  Fortschritte  verlangten  und  wossten,  dass 
zu  den  notwendigen  Grundlagen  der  bürgerlichen  Freiheit  und  zum 


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nucnswr.  iiCiirDucn  aes  iraniüsiscnen  airaiprozesses*  lol 

Schotte  der  Rechtssicherheit  ein  gut  geordnetes,  Vertreuen  erweckendes 
Strafverfahren  gehöre,  den  englischen  und  französischen  Strafprozess  zum 
Gegenstand  ihres  Studiums  gemacht  und  als  Förderung  die  Einführung 
eines  selchen  Verfahrens  auch  in  Deutschland  aufgestellt.  Das  Gefühl  der 
Notwendigkeit  der  Verwirklichung  dieser  Forderung  war  auch  in  das 
deutsche  Volk  Obergegangen;  es  war  daher  begreiflich,  dass  1848, 
als  die  Erbebung  des  Volkes  auch  in  Deutschland  allgemein  wurde,  und 
neue  Grundlagen  eingeführt  werden  sollten ,  die  öffentliche  Stimme  münd- 
liches und  öffentliches  Strafverfahren  und  Schwurgerichte  verlangte.  Mehr 
oder  minder  klar  war  dieses  BedUrfniss  vom  Volke  gefühlt.  Wer  aus 
den  deutschen  Landern,  in  denen  der  deutsche  Prozess  galt,  nach  Köln, 
Mainz,  Zweibrücken  kam,  und  dort  Assisen  beiwohnte,  kehrte  mit  der 
Ueberzeugung  zurück,  dass  auch  den  übrigen  deutschen  Staaten  ein  sol- 
ches Verfahren  nicht  vorenthalten  werden  könne.  Die  deutschen  Regie- 
rungen versprachen  1848  die  Einführung  der  Mündlichkeit  und  Oeffent- 
tichkeit  und  der  Schwurgerichte,  und  non  musste  rasch  Hand  an  das 
Werk  gelegt  werden.  Die  in  den  deutschen  Ministerien  mit  Bearbeitung 
der  neuen  Gesetzbücher  beauftragten  Männer  wallfabrleten  jetzt  nach  den 
Rheiojregendeii,  um  au  Ort  und  Stelle  das  Verfahren  kennen  zu  lernen, 
dessen  Einzelnheiten  durch  das  blosse  Studium  des  Gesetzbuchs  nicht  klar 
werden  konnten.  Der  französische  Strafprozess  wurde  von  jetzt  an  oll- 
gemein der  Gegenstand  der  Forschungen,  und  alle  neuen  Strafgesetzbü- 
cher Deutschlunds  sind  im  Wesentlichen  nur  dem  französischen  Code  dio- 
stroction  nachgebildet.  Der  Verfasser  dieser  Anzeige  hat  seit  mehr  als 
40  Jahren  das  Studium  des  französischen ,  aber  auch  des  englischen  Straf- 
verfahrens, weit  dies  das  seit  Jahrhunderten  in  Uebung  erhaltene  und 
fortgebildete  Verfahren  ist,  das  die  Franzosen  nur  nachbildeten,  zu  einem 
Hsaptgegenstande  seiner  Forschungen  gemacht,  er  hat  es  in  seiner  Wirk- 
samkeit selbst  durch  lebendige  Anschauung  in  verschiedenen  Theilen  Frank- 
reichs, in  den  Rheinprovinzen  ,  in  Belgien  and  Holland,  aber  auch  in 
Italien,  wo  diess  Verfahren  ohne  Schwurgerichte  in  Wirksamkeit  ist,  be- 
obachtet- aber  er  hat  es  zugleich  für  Pflicht  gehalten,  zur  Urquelle  und 

Tnm    ttntt^ml*w*A*     j;«.a.     Vu»f*k»ana       Aar*-,     aiuvlionkan    nnA    cr<linKic,-knii  Prr» 

*«u  nuiicriuOQc  uicsls    vcnaiiiciis,  uem  cngiisiiieii  unu  sliiuiusuicu  r  ru" 

zesse,  aufzusteigen;  Br  hat  vor  einigen  Monaten  in  England  durch  The il- 
aahme  an  Gerichtssitzungen  und  vielfache  Erkundigungen  bei  Praktikern 
das  englische  Strafverfahren  wiederholt  geprüft  Die  Ueberzeugung  des 
Verfassers  steht  fest,  dass  jeder  Gesetzgeber  weise  handelt,  wenn  er  vor- 
erst den  französischen  Strafprozess  zum  Hauptgegenstande  seiner  Studien 
macht,  aber  auch  sorgfältig  das  englische  Verfahren  prüft,  um  durch  die 


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182  Höchster :  Lehrbuch  des  französischen  Strafprozesses. 


Vergleich«*  beider  und  durch  die  Benutzung  der  Erfahrungen  beider 
Und  er  su  einem  festen  Urlheile  zu  gelungen,  auf  welchen  Grundlagen 
das  ganze  Strafverfahren  beruhen  soll,  welches  am  besten  geeignet  ist, 
die  bürgerliche  Gesellschaft   dUdurcb  zu  schützen ,   dnss  der  wahrhaft 
Schuldige  sicher  überwiesen  wird,  während  zugleich  dem  Unschuldigen 
Bürgschafleu  gegen  ungerechte  Verurteilung  gegeben  werden  und  dass  das 
ganze  Verfahren  so  geordnet  wird,  dass  es  auf  einem  Kamele  mit  glei- 
chen Waffen  und  dem  ausgedehntesten  Vertheidigungsrecbte  in  der  Arl 
beruht,  dass  die  auf  den  Grund  desselben  ergangenen  Urlheile  auf  volles 
Vertrauen  rechnen  können.    Jede  Gesetzgebung  über  das  Verfahren  ist 
zum  grossen  Theil  ein  Werk  der  Erfahrung,  die  daher  der  weise  Ge- 
setzgeber sammelt.    Der  englische,  schottische  und  nordamerikanische 
Strafprozess  (jeder  von  diesen  ist  wieder,  obwohl  auf  gleichen  Grund- 
lagen gebaut,  in  den  Einzelnheilen  vielfach  verschieden)   bildet  eine 
Grundform ,  wahrend  der  französische  Strafprozess  als  eine  zweite  Grund- 
form erscheint.    Das   nach  dem   französischen   Gesetzbuch  stattfindende 
Strafverfahren  hat  vor  dem  englischen  wesentlich  den  Vorzug,  dass  es 
einer  Gerichtsverfassung  angepasst  ist,  bei  welcher  ein  Ineinandergreifen 
verschiedener  gut  organbirter  Behörden  die  Vereinigung  der  beiderseiti- 
gen Interessen  möglich  macht,  indem  der  Untersuchungsrichter  in  einer 
energischen  Tbatigkeit  zur  Verfolgung  des  Verbrechers  nicht  gehindert 
ist,  zugleich  aber  unter  der  Controle  der  Rathskämmer  des  Bezirksge- 
richts, bei  dem  er  angestellt  ist,  steht,  wo  durch  die  ordoaaoces  de 
non  heu  wohlthatig  viele  gruudlose  Prozesse  im  Keime  abgeschnitten 
werden  und  der  Staatsanwalt  wie  der  Angeschuldigte  gegen  die  Verfü- 
gungen des  Untersuchungsrichters  Einspruch  einlegen  kann ,  wo  zugleich 
im  ganzen  Lande  die  innerlich  zusammenhängende  gleichförmige  Gerichts- 
verfassung auch  ein  gleichförmiges  Verfahren  möglich  macht,  wahrend  in 
England  die  Gerichtsverfassung  auf  der  alten  Einrichtung  beruht,  und  nur  in 
London  die  eigentlichen  Collegialgerichte  sich  beßeden,  wo  nur  zweimal 
im  Jahre  zu  den  Assisen  in  den  Grafschaften  Richter  abgeordnet  werden, 
wahrend  das  Verfahren  in  der  Voruntersuchung  aber  höchst  verschieden, 
und  insbesondere  in  den  Grafschaften  auf  dem  Land  nach  4er  Beschaffen- 
heit der  Friedensrichter  nicht  immer  genügend  geführt  wird,  aber  mich 
in  London ,  wo  die  trefflichen  Polizeigerichte  mit  sehr  ehrenwerthen  tüch- 
tigen  Richtern  besetzt  sind,   das  Schicksal  des  Angeschuldigten  nur  von 
einem  unter  keiner  Controle  stehenden  Einzelnriebter  abhängt;    Ein  wei- 
terer Vorzug  des  französischen  Strafverfahrens  liegt  in  der  Staatsanwalt- 
schuft,  durch  welche  das  öffentliche  Interesse,  dass  rasch  und  Bieber  mit 


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Höchster:  lehrbuch  de«  französischen  Strafprozesses.  183 

ausgedehnten  Mitteln  die  Spuren  begangener  Verbrechen  verfolgt  werden, 
am  meisten  gesichert  ist  und  die  Verfolgung  der  Verbrecher  nicht  von 
der  Laune,  oder  Indolenz,  oder  Furchtsamkeit,  oder  der  Scheu  vor  den 
Kosten  von  Privatpersonen,  welche  durch  Verbrechen  beschädigt  sind, 
abhingt,  wogegen  in  England  der  Anklageprozess  gilt  und  nicht  selten 
bewirkt ,  dass  Schuldige  nicht  verfolgt  werden.  Als  Vorzug  des  franzö- 
sischen Strafverfahrens  erkennen  wir,  dass  die  Einzelnheiten  des  Verfahrens, 
die  wechselseitigen  Befugnisse  des  Anklägers  und  Verteidigers  gesetzlich 
so  genau  geordnet  sind ,  dass  dadurch  einer  leicht  gefährlichen  Willkür  des 
Präsidenten  vorgebeugt  wird,  und  ein  weiterer  Vorzug  liegt  in  den  gnt 
geordneten  Verhältnissen  des  Cassationshofs,  an  welchen  sich  auch  der 
Angeklagte  wenden  kann,  so  dass  Gesetzesverletzungen  vermieden  und 
die  Beobachtung  der  gesetzlichen  Vorschriften  gesichert  werden ,  während 
zugleich  eine  Gleichförmigkeit  des  Verfahreos  in  allen  Gerichten  durch 
die  Rechtssprüche  des  Cassationshofs  verbürgt  wird.  Dagegen  finden  wir 
nach  einer  langen  Beobachtung  des  französischen  und  englischen  Verfah- 
rens Vorzüge  des  letzten  in  der  Oeffentlichkeit ,  die  schon  in  der  Vor- 
untersuchung herrscht,  welche  die  trefflichste  Controle  des  Richters,  so- 
wie der  auftretenden  Zeugen  begründet,  nicbt  selten  zur  Auffindung 
wichtiger  Beweise  führt,  die  Geschwornen  vorbereitet  und  wesentlich 
dazu  beiträgt,  dass  ein  so  grosses  Vertrauen  im  englischen  Volke  zu  den 
Entscheidungen  liegt,  weil  Jeder  weiss,  dass  von  der  ersten  Ergreifung 
des  Verdächtigen  an  dieser  unter  dem  Schutze  der  OefTeutuefakeit  steht 
und  jede  Besorgniss  unziemlicher  Mittel  beseitigt  wird.  Wir  betrachten 
dies  nla  einen  Vorzog  (von  dessen  Dasein  sich  jeder  ausländische  Jurist, 
wenn  er  auch  mit  Vorurtheilen  nach  England  kommt,  bald  überzeugt), 
dass  schon  in  der  Voruntersuchung  der  Angesobuldigte  das  Recht  auf  die 
ausgedehnteste  Verteidigung  hat,  das  er  des  Raths  eines  Rechtsgelehrten 
Beistands  sich  bedienen,  dass  er  bei  jeder  Zeugenvernehmung  gegenwär- 
tig sein  und  schon  hier  durch  Fragen  seine  Rechte  geltend  machen  und 
zur  Entdeckung  der  Wahrheit  wirken  kann.  In  jenem  stolzen  Gefühle, 
mit  welchem  der  Engländer  sagt,  dass  jeder  Angeschuldigte  sein  fair 
trial  bat,  liegt  der  Grund  des  allgemeinen  Vertrauens  und  der  grossen 
Zshl  von  Verurteilungen.  Wir  erkennen  als  einen  Vorzug  des  englischen 
Prozesses ,  dass  der  Präsident  in  einer  so  unparteiischen  Stellung  sich  be- 
ladet, keine  Vernehmung  des  Angeklagten  und  der  Zeugen  vornimmt, 
und  an  die  letzten  nur  in  seltenen  Ausnahmen  Fragen  stellt,  dadurch 
aber  den  Vortbeil  gewinnt*  dass  er  die  Geschwornen  belehren  kann, 
woran  wesentlich  die  gute  Wirksamkeit  des  englischen  Geschwornenge- 


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184  Höchster:  Lehrbuch  des  französischen  Strafprozesses. 


nchts  hängt.  Ein  Vorzug  endlich  ist  die  ausserordentliche  Einfachheit, 
mil  welcher  die  Materialien  den  Geschwornen  vorgelegt  werden,  die  Be- 
seitigung aller  überflüssigen  Verhandlungen,  das  schöne  Verhaltniss  zwi- 
schen dem  Anwalt  der  Anklage  und  dem  Verlheidiger,  die  Vermeidung 
von  Deklamationen  und  die  Einfachheit,  mit  welcher  die  Geschwornen, 
ohne  dass  besondere  Fragen  an  sie  gestellt  werden,  nur  darüber  ihren 
Wnhrspruch  geben,  ob  der  Angeklagte  des  Verbrechens  schuldig  ist, 
worauf  der  Anklageakt  gerichtet  war. 

Wenn  wir  dennoch  die  Ueberzeugung  aussprechen ,  dass  der  Gesetz- 
geber eines  jeden  Landes  weise  bandelt,  wenn  er  das  französische  Gesetzbuch 
zunächst  als  Vorbild  nimmt  und  nur  prüft,  was  daran  in  Einzelnhciten 
zu  verbessern  ist,  so  Hegt  der  Grund  darin,  dass  das  französische  Ver- 
fahren mehr  auf  die  gewöhnlichen  Voraussetzungen  und  Verhiltnisse  be- 
rechnet iit,  während  die  treiTliche  Wirksamkeit  des  englischen  Verfahrens, 
das  auf  keinem  vollständigen  Gesetzbuch  beruht,  nur  von  ausserordent- 
lichen Zustünden  und  davoo  abhängt,  doss  dies  Verfahren  durch  Kämpfe 
seit  Jahrhunderten  in  das  Volk  übergegangen  und  fortgebildet  ist,  dass 
der  politische  Charakter  der  Engländer,  der  entschiedene  Nuth  dersel- 
ben, die  lebhafte  Tbeilnahme  des  Volkes  an  allen  öffentlichen  Ange- 
legenheiten Bürgschaften  gibt,  dass  Verbrechen  verfolgt  werden,  dass  die 
alles  durchdringende  Oeffentlichkeit  und  Pressfreiheit  eine  Controle  aus- 
üben, vor  welcher,  als  der  ungeheuersten  Macht,  jeder  Beamte  und  jeder 
Bürger  zittert,  dass  die  bürgerliche  Gesellschart  Englands  selbst  nicht  to 
durchwühlt  und  durch  wechselseitiges  Misstruuen  erschüttert  ist,  und  data 
die  Richter  Englands  eine  Stellung  einnehmen,  bei  welcher  vielleicht  in 
diesem  Lande  ohne  Gefahr  ihnen  der  Einfluss  auf  die  Geschwornen  gegeben 
werden  kann,  welchen  man  schwerlich  in  einem  andern  Lande  geben 
dürfte.  Uebrigens  kann  man  aber  bei  der  Vergleichung  des  französischen 
Strafverfahrens  mit  dem  englischen  nicht  verkennen,  dass  in  dem  ersten 
die,  aus  der  Zeit  des  Entstehens  des  jetzigen  Code  erklärbar  schlaue  Be- 
rechnung der  Vorschriften  auf  Verfolgung  politischer  Verbrechen  manche 
Bestimmung  begreiflich  macht ,  während  in  England ,  dem  Lande,  in  wel- 
chem politische  Untersuchungen  grosse  Seltenheiten  sind,  weil  man  in 
England  am  Satze  festhält,  dass  Niemand  wegen  politischer  Meinung  ver- 
folgt werden  soll,  das  Verfahren  nur  in  seiner  Bedeutung  bei  Verfolgeog 
gemeiner  Verbrecher  betrachtet  wird.  Es  ist  nioht  schwierig  zu  zeigen, 
dass  auch  in  unseren  neuen  deutschen  Gesetzgebungen,  besonders  in  neuester 
Zeit,  die  Angst  vor  politischen  Verbrechen  den  Gesetzgeber  zu  viel  be- 
herrscht, j 


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Höclisltü"  •      f i t*l) u c  1 1  (Jcs  frs t) z oß t s c Ii c t\  Sirtif^ioxcs^cs»  165 

Wir  sind  uberzeugt ,  dass  man  den  französischen  Strafprozess  bei 
jeder  oeuen  Gesetzgebung  als  Grundlage  benülzen,  aber  auch  mit  dem 
grusslen  Vortheil  für  dos  öffentliche  Interesse  einzelne  Einrichtungen  des 
englischen  Verfahrens  darin  aufnehmen  kann. 

Der  französische  Strafprozess  ist  es  auch,  welcher  sich  einer  wis- 
senschaftlich praktischen  Ausbildung  rühmen  kann,  welcher  sich  kein  an- 
deres Land  erfreut.  Die  Werke  von  Carnot,  Legraverend  n.  A.  werden 
von  den  Juristen  eines  jeden  Landes  benutzt  werden  können.  Prank- 
reich besitzt  aber  auch  in  neuerer  Zeit  Schriftsteller  im  Fache  des 
Slrafrechts,  die  als  Zierde  glänzen:  Faustin  Helie's  Werk:  traite  de 
Piastmctioo  criminelle  ist  durch  die  gründlichen  historischen  Forschungen, 
durch  die  klare  Auffassung  der  leitenden  Grundsätze  in  jeder  Lehre,  durch 
die  Fülle  des  Materials  und'  die  in  allen  Einzelheiten  jeder  Lehre  einge- 
bende Entwicklung  höchst  werthvoll.  Morin  bat  durch  sein  Dictionaire, 
durch  die  vielen^ leitenden  Abhandlungen  im  „Journal  du  droit  criminell 
neuerlich  durch  sein  Repertoire  sich  ein  grosses  Verdienst  erworben ,  da  man 
in  seinen  Darstellungen  eine  feine  Zergliederung  praktischer  Fragen  und  kri— 
tische  Bemerkungen  über  die  wichtigsten  Standpunkte  findet.  Die  Werke 
von  Lacuisine,  z.  B.  über  pouvoir  judiciaire  dacs  la  direction  des  debats 
sind  eine  treffliche  praktische  Anleitung  zur  Führung  der  Strafprozesse. 
Das  Werk  von  Rauter  hat  den  Vorzog,  wie  ein  deutsches  Lehrbuch,  klar 
aod  systematisch  den  französischen  Strafprozess  darzustellen.  .«  m 

Was  für  denjenigen ,  der  mit  dem  französischen  Strafverfahren  sich 
befreuoden  will,  aber  nicht  so  leicht  die  grossen  bttndereichen  WerkO 
der  Franzosen  durchgehen  kann,  nnd  selbst  bei  Benützung  dieser  Werke 
sm  schwierigsten  wird,  ist  die  Gewinnung  einer  klaren  Vorstellung  von 
dstn  Gange  des  französischen  Strafverfahrens,  von  dem  Verhältnisse  der 
verschiedeneu  darin  t  bat  igen  Gerichte  und  Besmten ,  von  dem  Kreise  ihrer 
Befugnisse ,  von  allen  Einzelheiten  der  Behandlung  und  der  Führung  eines 
Strafprozesses  zu  erlangen.  Nur  eine  lange  Beobachtung  des  französi- 
schen Prozessgaogs,  nur  eigene  Thätigkeit  und  Th  eil  nähme,  die  es  mög- 
lich macht,  in  das  innere  Treiben  zu  Micken,  nur  ein  genaues  Studium 
der  Entscheidung  de»  französischen  Cassationshöfs ,  um  zu  erkennen,  wie, 
io  uer  ntcniBiioung  uie  einzelnen  vorsennuen  «ngewenuei  wernen  unu 
die  verschiedenen  Handlungen  auf  einander  folgen,  setzen  in  den  Stand, 
eine  befriedigende  Darstellung  des  französischen  Prozesses  zu  gewahren. 
In  den  deutschen  Rheinprovinzen,  in  welchen  sich  das  französische  Ver- 
fahren erhalten  hatte,  bildete  sich  der  Prozess  auf  eine  sehr  beacutungs- 
würdige  Weise  aus.    Man  schloss  sich  begreiflich  ganz  an  das  frantö* 


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166  Höchster:  Lehrbuch  des  französischen  Strafprozesses. 

tisch«  Vorbild  ir>,  befolgte  die  Aussprüche  des  Cessationshofes ;  allein 
man  hatte  den  Vortheil,  dass  die  Regierungen  der  Staaten ,  zu  welchen 
die  Rbeinprovinzen  gehörten ,  strenge  darauf  hielten ,  dass  nur  wissen- 
schaftlich auf  Universitäten  gebildete  Männer  die  Stellen  der  Friedens- 
richter erhielten,  da  überhaupt  auf  deutschen  Universitäten  der  Strafpro- 
zess  mehr  wissenschaftlich  betrieben  wurde;  da  auch  in  Deutschland  über- 
all in  jedem  Kanton  tüchtige  Gericutsärzte  vom  Staate  angestellt  sind,  so 
erhielt  man  den  Vortheil ,  dass  die  Voruntersuchungen  nauBg  weit  gründ- 
licher geführt  wurden,  als  diel  oft  in  Frankreich  der  Fall  ist,  besonders 
an  Orten,  die  fern  von  grossen  Städten  sind.  Auch  hatte  das  wissen- 
schaftlich praktische  Studium  des  Strafverfahrens  io  den  deutschen  Rhein- 
provinzen eine  selbständige  Richtung  und  die  Hechtssprüche  der  Hevi- 
sionshofe,  s.  B.  des  Hofes  in  Berlin  verdienen  Beachtung. 

Als  seit  1848  für  ganz  Deutschland  der  französische  Strafprozess 
ein  allgemeines  Interesse  gewann ,  rief  das  Bedürfnis*  in  Deutschland 
die  Erscheinung  neuer  Schriften  über  den  französischen  Strafprozess  her- 
vor. In  allen  deutschen  Staaten  bedurften  die  Männer,  die  zuvor,  ohne 
die  grossen  politischen  Ereignisse,  nicht  an  Einführung  des  öffentlichen 
mündlichen  Verfahrens  gedacht  bitten ,  und  nun  rasch  mit  demselben  sich 
befreunden  musaten ,  um  in  ihren  Ländern  für  die  Einführung  zu  wirken, 
wissenschaftlicher  Hülfsmittel,  um  schnell  das  französische  Verfahren,  du 
man  nachahmen  wollte,  kennen  zu  lernen.  Zu  diesen  Anleitungen  gehörten 
Li  P  P  er  t  s  Anweisung  zur  Einführung  und  Anwendung  des  öffentlichen  münd- 
lichen Strafverfahrens.  Mainz  1848;  die  Schrift  von  Daniels  Grundsätze  des 
rheinischen  und  französischen  Strafverfahrens.  Berlin  1848;  und  die  von 
Höchster,  deren  Titel  wir  oben  angezeigt  haben.  Wir  werden  davon 
einzeln  sprechen  und  an  der  Darstellung  derselben  die  Anzeige  der- 
jenigen Schriften  anreinen,  die  in  einzelnen  deutschen  Staaten  erschienen 
sind,  in  denen  seit  1848  der  mündliche  PrOzess  und  Schwurgericht  ein- 
geführt wurde,  z.  B.  die  Arbeiten  von  Scheuerl,  Pixis  für  den 
Baierischen,  Hollinger  für  den  Wttrtenbergischen ,  Kletke  für  den 
Prenssischen  und  besonders  v.  Warth  für  den  Oesterreichischen  Strsf- 
prozess.  Die  Arbeit  von  Daniels  ist  besonders  eine  wissenschaftlich  gute, 
auch  tüchtige  historische  Erörterungen  .enthaltende  Darstelleng.  Wegen 
ihrer  entschieden  praktischen  Richtung  verweilen  wir  zunächst  bei  der 
neuesten  Arbeit,  der  von  Höchster,  deren  Titel  wir  oben  angegeben  haben. 
-  - ■>  f  Dem  Verfasser  kommt  der  Umstand  zu  Statten ,  dass  er  als  lang- 
jähriger Anwalt  am  Appellationshofe  zu  Köln  und  als  Verlheidiger  Gele- 
genheit hatte,  den  Gang  des  französischen  Strafverfahrens  mit  seinen  Ein- 


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Höchster:  Lehrbuch  des  französischen  Strafprozesses.  187 


xeinnenen  una  mic  seinen  vieitacnen  lomDinationen  genau  praKiiscn  Kennen 
sä  lernen.    Man  bemerkt  aber  auch  leicht,  dass  der  Verfasser  an  ein« 
tüchtige  wissenschaftliche  Auffassung  des  Strafprozesses  sich  gewöhnte 
and  mit  den  leitenden  Grundsätzen  desselben  sich  vertrau!  machte.  Als 
besondere  Vorzüge  der  Schrift  erscheinen  uns  eine  grosse  Klarheit  der 
Darstellung,  eine  gute  systematische  Anordnung  der  einzelnen  Lebren  und 
eine  feine  Zergliederung  der  gesetzlioheu  Bestimmungen,  und  der  durch 
die  Recbtsfibuog  eingeführten  Einrichtungen.    Da  der  Verf.  aherat»  auch 
die  ergangenen  Rechtssprüche  des  Pariser,  sowie  des  Berliner  Cassations-* 
hofs  angibt,  so  wird  der  Werth  seiner  Darstellung  noch  erhöbt.  Der 
Zweck  der  Schrift  ist  darauf  gerichtet,  ebenso  dem  angehenden  Juristen 
eine  sichere  Anleitung  für  das  praktische  Verfahren  zu  gewahren ,  als 
dem  Praktiker  eine  schnelle  Lei  reicht  der  verschiedenen  Streitfragen  zu 
geben.     Man  snuss  gestehen ,  dass  der  Verfasser  seiner  Aufgabe  treu  ge- 
blieben  ist  und  seinen  Zweck  erreichen  wird.    Zweckmässig  linden  wir 
es,  dass  der  Verf.  in  jeder  Lehre  die  leitenden  Grundsätze  an  die  Spitze 
»teilt,   so  x.  B.  schildert  der  Verf.  S.  7   das  Wesen  des  Vorverfahrens 
ia  den  drei  Grundsätzen,  die  er  kurz  entwickelt:  1)  es  findet  Inquisi- 
uonsprozoss  statt,  2)  das  Vorverfahren  ist  geheim,  3)  es  ist  schriftlich; 
darüber  freilieh,  ob  man  in  der  Allgemeinheit,  wie  der  Verf.  es  thut, 
den  Satz  aufstellen  kann,  dass  der  Inquisttionsprozesa  im  Vorverfahren 
stattfinde,  bat  Rezens.  grosse  Bedenken;  denn  uns  seheint,  dass  der  fran- 
zösische Prozess  zwar  das  Aaklageprinzip  (wie  etwa  das  englisehe  Vor- 
verfahren) consequent  durchrührt,  jedoch  viele  inquisitorische  Element« 
darin  aufgenommen  hat;  das  Wesen  des  Anklageprinzips  muss  aber  auch 
in  der  französischen  Voruntersuchung  entscheiden;    denn  das  Wesen  dea 
Anklageprozesses  ist  eben,  dass  dieser  eine  erhobene  Klage  voraussetzt; 
ob  diese  nun  von  einem  Privatmann  ausgeht,  wie  in  Engtand,  oder  wie 
im  öffentlichen  Interesse  von  einem  öffentlichen  Ankläger,  z.  B.  in  Schott- 
land uod  Frankreich,  ändert  nichts;  der  französische  Untersuchungsrichter 
ksea  doch  nicht  wie  der  deutsche  von  Amtswegen  die  Untersuchung  ein« 
leiten  (mil  scheinbarer  Ausnahme  bei  dem  delit  flagrant),  der  Staatsanwalt 
macht  den  Antrag.    Nimmt  man  den  Inquisitionsproiess  an,  so  müssle  der 
französische  Untersuchungsrichter  auch  wie  der  deutsche  Riohter  Verhöre  mit 
den  Angeschuldigten  vornehmen ,  und  würde  zu  Zwangsmitteln  kommen, 
wenn  der  Angeschuldigte  jede  Antwort  verweigert.    Sehr  ausführlich  ist 
im  ersten  Buche  (8.  13—36)  die  französische  Strafgeriehtsverfasiung  mit 
allen  Sireitfragen  Uber  Zuständigkeit  erörtert.    In  det  Lehre  von  der 
Competee*  slnWt  «r  ($.  40)  den  Grundsatz  an  die  Spitze,  dass  die  Com- 


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tS8  Höchster:  Lehrbuch  des  französischen  Strafprozesses. 


petenz  in  Strafsachen  inner  Sache  der  öffentlichen  Ordnung-  und  der  Pri- 
vat Willkür  entzogen  ist.  In  der  Darstellung  der  Lehre  von  den  Prhju- 
dizialeinredcn  (S.  57)  dürfte  manche  Behauptung  des  Verf.  durch  Be- 
nützung der  trefflichen  Darstellung  in  Hetie  traite  de  Unstruct.  crim- 
vol.  III.  p.  186.  eine  Modifikation  fordern.  Eine  kurze,  aber  klare  Ue- 
bersicht  gibt  der  Verf.  S.  57—63  von  den  Beweisen  im  französischen 
Prozesse.  In  dem  zweiten  Buche  von  dem  Untersuchungsverfahren  schei- 
det der  Verf.  S.  71  die  Vorbereitungsuntersuchung  von  der  Vorunter- 
suchung) und  nimmt  als  Zweck  der  ersten  an,  den  Tb ot bestand  einer 
strafbaren  Handlung  derart  aufzunehmen,  dass  sich  übersehen  lässt,  ob 
eine  Verfolgung  überhaupt  notb wendig  ist,  ob  ein  zu  verfolgender  Ur- 
heber einer  Polizei  oder  correkt.  Gerichte  zu  überweisen  ist,  oder  ob  der 

Til'lih  »«tonst     n/lnli    rüUp    ffl<.  i  „ 1 „  1 1  i    f       «m    ,niun|,l     ALm    V.,|„-    Aar  llanA 

auBiueaiano  noen  naner  festzustellen  ist,  um  sowohl  oje  naiur  oer  nana- 
lung,  wenh  sie  den  Charakter  eines  Verbrechens  an  sich  zu  tragen 
scheint,  als  auch  ihren  Urheber  zo  erforschen.  Die  Voruntersuchung  bat 
den  Zweck,  die  Natur  der  strafbaren  Handlang  und  deren  vermeintlichen 
Urheber  daraus  festzustellen,  dass  eine  zu  diesem  Zweck  bestimmte  Be- 
hörde (Rathskammer  und  Anklagekammer)  zu  erkennen  im  Stande  ist, 
welcke  Art  der  strafbaren  Handlung  vorliege,  und  ob  gegen  den 
vermeintlichen  Urheber  der  Verdacht  der  Schuldbarkeit  vorbanden  sei. 
Die  Vorbereilungsuntersuchung  wird  (nach  der  Ansicht  des  Verfassers) 
von  den  Beamten  der  gerichtrieben  Polizei  geleitet,  die  Voruntersuchung 
ausscnitessiicn  vom  uniersuciinugsncnier.  nezens.  Kann  sien  mit  dieser 
Durstellung  nicht  befreunden.  Die  ganze  Untersuchung  von  dem  ersten 
Schritte  an,  welcher  entweder  von  der  Aufnahme  einer  piainte  oder  de- 
nonciatioo ,  oder  von  den  ersten  Erkundigungen  des  Staatsanwalts  an  ge- 
führt wird,  bis  zur  Entscheidung  der  Anklagekammer  bei  Verbrechen, 
ist  die  Instruction  preliminaire  im  französischen  Sinne.  Die  Darstellung 
des  Verf.  könnte  leiebi  irre  fuhren,  und  den  Glauben  veranlassen,  daaa 
die  Handlungen  der  Vbrbereitungsuntersuchnng  nicht  Thcile  der  Vorunter- 
suchung seien.  Auch  ist  damit  nichts  gewonnen,  wenn  der  Verf.  sagt: 
dass  die  Vorbereitungsuntersuchung  den  Zweck  hat,  den  Tbatbestand 
aufzunehmen,  während  doch  die  ganze  Voruntersuchung  diesen  Zweck 
hat,  und  z.  B.  in  Fällen,  in  denen  es  schwierig  ist,  zu  erkennen,  ob 

i__    V»r*l/»rW.»nA    Hnrnli    ^iölhcf  mnrrt        «J.«     rlupph     frnmrta     f  «watfttiat  um 

oer  TcriiorDBDv  uiircn  öctusinioro ,  ouer  uuren  ireiHQC  Uvwiwiuii  um 
das  Leben  kam,  oder  in  Fallen,  wo  die  Frage  Über  Dasein  der  Vergif- 
tung schwierig  ist,  die  Untersuchung  des  Thatbestandes  die  ganze  Vor- 
untersuchung hindurchläuft.  Will  man  eine  Abtheilung  in  der  französi- 
schen Voruntersuchung  (oder  wie  sie  Mangin  in  seinem  von  Helie  her- 


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nucuNcr .  Mnruuvn  uc»  irauzusisiucu  Diruiprfizcssis.  IcV 

ausgegebenen  Werke  nennt:   instruction  eorile)    aufstellen,  so  ist  die 
Ansicht  von  Hetie  in  seiner  Einleiten?  zu  den  Werke  von  Mangin  die 
richtigste,   wenn  er  iwei  Abtbeilnngen  macbt.    Die  erste:  qni  recueille 
les  trares  da  fait  et  qni  rassemble  les  elemens  de  la  preuve,  ond  die 
iweite:  qni  apprecie  ces  elemens  et  determine  le  cours,  qui  doit  suivre 
la  procedore.    Die  erste  ist  Werk  des  Untersuchungsrichters ,  die  rweite 
geht  von  der  Rathskammer  und  Anklagekammer  aus.  —  Herr  Höchster 
stein  nnn  in  der  Vorbereitunguntersuchung  (S.  77)  das  Wirken  der  gericht- 
liehen  Polizei  dar  und  dabei  von  dem  flagrant  delit,  von  derAnzeige  und 
Klage.    (Die  Benützung  des  trefflichen  Aufsatzes  von  Helie  über  Orga- 
nisation de  la  police  judiciaire  in  der  Revue  de  legislation.  1850.  Tom.  IH. 
p.  28.  wird  dem  Verf.  für  die  Ergänzung  seiner  Darstellung  sehr  wich- 
tig werden).    Die  Entwicklung  der  Yoruntersuchnngsbandlungen  ist  sehr 
klar  (von  S.  91  an)  und  gibt  bei  jeder  einzelnen  Instruktionshandlung 
die  gesetzlichen  Vorschriften  und  'die  von  der  Praxis  aufgestellten  Rück- 
sichten so ,   z.  B.  Über  Haussuchung,  Uber  Verhöre,  die  verschiedenen 
Befehle,  insbesondere  über  Verhaftung.    Ueber  manche  wichtige  Fragen 
wünschte  man  freilich  eine  nähere  Erörterung,  z.  B.  Recht  des  Untersu- 
chungsrichters, Briefe  an  den  Angeschuldigten  auf  der  Post  mit  Beschlag 
zi  belegen.    Mao  weiss,  wie  die  Ansichten  der  französischen  Praktiker 
selbst  schwanken  (z.  B.  Hangin  de  Instruction  ecrite  Nr.  95.  Duverger 
manuel  IL  p.  116.  und  Helie  theorie  du  Code  penal  II.  p.  212).  So 
hätte  such  Uber  das  Wesen  des  mit  dem  Angeschuldigten  abzuhaltenden 
Verhöre  mehr  gesagt  werden  sollen  (Mangin  de  Instruction  ecrite  Nr. 
127).    Mit  besonders  klarer  Uebersicht  ist  die  Lehre  von  der  Verhaf- 
tung ond  Freilassung  gegen  Caution  dargestellt   (S.  107 — 126).  Im 
dritten  Buche  handelt  der  Verf.  von  «dem  Uebergangs  verfahren  (S.  132) 
nach  zwei  Abtheilungen:  1)  Verfahren  vor  der  Rathskammer,  2)  vorder 
Anklagekammer.    Man  könnte  leicht  versucht  werden,  zu  glauben,  das» 
diess  Verfahren  erst  nach  der  geschlossenen  Voruntersuchung  vorkomme, 
was  nicht  der  Fall  ist,  da  ja  der  Untersuchungsrichter  wahrend  seiner  Un- 
tersuchung (Code  ort.  127)  Bericht  erstattet  und  häufig  erst  von  ihr  die 
Richtung  seiner  weiteren  Untersuchung  bekommt.  Hier  hätte  eine  Erörterung 
Aber  das  Verhältnis  des  Untersuchungsrichters  und  der  Ratbskammer  nicht 
fehle«  sollen  (Mangin  du  Reglement  et  de  la  competence  Kr.  5—23).  Sehr 
gut  ist  Üe  Entwicklung  (S.  149 — 176)  über  das  Verfahren  vor  der  An- 
klagekammer, und  wohl  zn  beachten  sind  die  Bemerkungen  des  Verl 
S.  161  über  die  Rücksichten,  welche  die  Kammer  leiten  soll*.  Den 
Senkst  der  ersten  AbtheUong  macht  im  vierten  Buche  voo  den  Slrafge- 


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190  Höchster:  Löhrbach  de«  französischen  Strafprozesses. 

richten  und  dem  Verfahren  vor  denselben  (ßt  17  7)  die  Darstellung  des 
Verfahrens  vor  den  Polizeigerichten  und  S.  2  2 1—29  1  des  Prozesses  vor 
den  correclionellen  Gerichten.  Iii  der  dritten  Abiheiiung  folgt  die  Ent- 
wicklung des  Verfahrens  vor  den  Assisen.  Hier  handelt  der  Verf.  S.  343 
gut  Yon  den  Geschwornengerichten ,  betrachtet  diess  als  ein  Gewissens- 
geriebt ,  insofern  die  Jury  das  Gewissee  des  Angeklagten  vertreten  soll. 
(Wir  zweifeln  sehr,  dags  durch  eine  solohe  ersi  neuerlich  in  Deutschland 
vertheidigte  Auöossnug,  gegen  welche  die  englischen  Juristen  höchlich 
Verwahrung  einlegen,  eine  Klarheit  Uber  die  wahre  Stellung  nnd  den 
Umfang  der  Pflichten  der  Geschwornen  begründet  wird.)  Kgeothümlicb, 
aber  geistreich  durchgeführt  ist  die  Ansicht  des  Verf.  (_S.  344),  dass 
die  /Jury  als  Gewissensgericht  den  Thalrichter,  als  Volksgericht  den 
Schul  Jnrhter  darstelle  ■  in  der  letzten  Hinsicht  sollen  (S.  315)  die  Ge- 
schwornen sich  darüber  aussprechen ,  ob  die  Rechte  der  Gesasnmtbeit  ver- 
letzt sind  und  ob  dor  Angeklagte  sie  verletzen  konnte.  Die  Jury  soll 
die  objective  und  subjec*ire  Schuld  prüfen.  Wir  geben  dem  Verf.  seine 
Ansicht  völlig  zu  (_S.  316),  nach  welcher  die  Geschwornen  nicht  so  zu 
betrachten  sind,  als  weun  sie  nur  die  Frage,  ob  der  Angeklagte  con- 
vaineu  ist,  zu  entscheiden  kitten,  sondern  dass  sie  die  ganze  Schuld- 
frage  beurtheilen  müssen;  wir  halten  die  scharfe  Trennung  der  Thal  und 
Rechtsfrage  für  nachteilig;  allein  deas wegen  ist  es  nicht  nothig,  die 
Ansicht  des  Verf.  zu  billigen,  der  in  der  Jury  aus  den  zwei  Elementen 
des  Gewissensgerichts  und  des  Volksgerichts  ihre  Stellung  ableiten  will. 
Gehe  man  in  das  Mutterland  des  Geichworuengerichts,  nach  England,  wo 
«s  Mae  Fragestellung  durch  den  Präsidenten  gibt,  verfolge  man  die 
Geschichte  der  Jery  seit  1670,  wo  eigentlich  erst  die  wahre  Ansicht 
über  die  Stellung  der  Geschwornen*  sich  feststellte,  und  man  wird  sich 
bald  Uberzeugen,  dass  man  nicht  nothig  bat,  zu  den  gekünstelten  neuen 
in  Deutschland  aufgestellten  Ansichten  seine  Zuflucht  za  nehmen. 

Eine  Lücke  findet  sich  in  der  Darstellung  des  Verf.  8.  33«,  wo 
er  von  dem  Yerhörn  spricht,  das  der  Präsident  mit  dem  Angeklagten, 
24  Standen  nach  der  Verbriogung  in  das  Arresthaus  abhalten  soll.  Das 
ganze  Verfahren,  worin  vorzüglich  auch  das  Recht  der  Ergänzung  der 
Procedur  durch  den  Präsidenten  höchst  wichtig  ist,  bedarf  einer  genauen 
Darstellung.  (Eine  sehr  gute  Erörterung  darüber  Endet  sich  in  dem  Jour- 
nal du  droit  criminel  par  Moni..  1850.  Novembre.  ».  321.)  Dagegen 
müssen  wir  die  Darstellung  der  Verhandlungen  in  der  Assise  (S  345 
305  ff.)  für  sehr  gelungen  erklaren.  Man  weiss,  wieviel  durch  die 
ReckUttsuug  geschehen  ist,  und  dass  durch  du  blosse  Lesen  der  ein* 


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Höchster:  Lehrbuch  des  französischen  Strafprozesses.  t91 

schlägigen  GeseUesstelien  Memand  eioe  klare  Uebersicbt  des  Verfahrens 
bekommt,  dais  vorzüglich  die  Kenntnis»  der  ergangenen  Rechtssprüche 

des  Cassationsbofs  erst  ein  klares  Bild  zu  geben  im  Stunde  ist.  Der  Ver- 
fasser hat  in  alten  diesen  Rücksichten  die  Materialien  benützt  und  so  mit 
guter  Benutzung  der  Aussprüche  des  französischen  und  des  Berliner  Cas- 
sationsbofs  eine  so  tief  in  die  Einzelnheiten  des  Verfahrens  eingehende 
Darstellung  gegeben ,  dass  vielleicht  kaum  eine  almliche  vorgelegt  werden 
kaon;  so  enthalt  seine  Schrift  gute  Erörterungen  über  Punkte,  die  der 
Code  höchstens  andeutet,  und  welche  nur  durch  den  Gerichtsgebrauch 
richtig  erkannt  werden  können,  z.  B.  S.  399  §.  267  über  Sachverstän- 
dige,  S.  409  über  das  resume,  S.  412 — 22  Über  Klagestellung,  und 
zergliedert  mit  Feinheit  und  praktischem  Sinne  höchst  schwierige,  ge- 
wöhnlich anderswo  gar  nicht  dargestellte  und  im  Geselzbuche  übergangene 
Punkte,  f.  B.  §.  288—289  über  das  Berichtigungsverfahren  der  Wahr- 
sprüche,  S.  460  über  die  Auslegung  ergangener  Urtheile  der  Geschwor- 
Ben.    Auch  das  Ungehorsamsverfahren  (S.   167J  und  die  Lehre  vom 
Cassationsbof  S.  484  sind  gut  erörtert.    Das  vorliegende  Werk  darf  da- 
her als  ein  sehr  brauchbares  empfohlen  werden  und  verdient  selbst  in 
einer  Uebersetzung  zur  Kenntniss  der  Franzosen  gebracht  zu  werden.  Der 
Verf.  würde  sich  aber  dann  ein  grosses  Verdienst  erwerben,  wenn  er 
auch  die  Fortbildung  des  französischen  Strafprozesses  durch  deutsche  Ge- 
setzgebung und  Rechtsprechung  darstellen,  die  vielfach  Verbesserungen 
des  französischen  Verfahrens  enthaltenden  Bastimmungen  der  Gesetzbücher 
Deutschlands  seit  1848  von  Baiern,  Preussen,  Oesterreich,  Braunschweig, 
Baden,  Sachsen,  Hannover  (die  Würtenbergische  und  die  Bernische  Ge- 
setzgebung bat  er  bereits  angeführt)  darstellen   und  die  Erfahrungen 
Deutschlands,   die  Rechtsprüche  der  deutschen  CassationshÖfe  mittheilen 
wollte.    Anf  diese  Weise  könnte  er  herrliche  Materialien  zur  Gesetzge- 
bung und  Uebung  des  Strafverfahrens  liefern.    Vorzüglich  verdienen  die 
durch  den  damaligen  Justizminister  Heintz,  der  als  Praktiker  das  fran- 
zösische Verfahren  genau  kennen  lernte,  im  Baierischen  Gesetze  von  1848 
bewirkten  Verbesserungen  des  franzÖsichen  Prozesses  die  allgemeine  Auf« 
merksamkeit.    Frankreich  wird  durch  die  Benützung  der  deutschen  Er- 
fahrungen und  durch  Beachtung  der  englischen  Einrichtungen  dann  zu 

* 

jenen  Verbesseningen  gelangen,  deren  Geist  bereits  der  erfahrene  Dnpin 
ia  seinem  herrlichen  diacours  de  Fentree  vom  3.  Nov.  1847  angedeutet  hat. 

Ullttermstler. 


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192  Willst  Essay  on  circurnslantial  cvidcnce. 

* 

An  Essay  on  principles  of  circumttantial  cvidcnce ,  Wust  rat  cd  bff  nw- 
merout  cases  by  William  Willi.    Third  ediNon.    London  #850. 

Die  Frage,  durch  welche  Mittel  die  Bürgschaften  vermehrt  werden 
können,  das«  Geschworne  einen  gerechten  Wahrspruch  gehen,  wird  vor- 
züglich da  bedeutend,  wo  der  Beweis  der  Anklage  nur  auf  eine  gros»e 
Zahl  von  Vermuthungen  gestützt  wird,  durch  deren  Zusammentreffen  die 
Schuld  des  Angeklagten  dargelhan  werden  soll.  Jeder  mit  der  Rechts- 
übung vertraute  Richter  kennt  die  Schwierigkeilen  dieser  Urlbeilsfällung 
und  die  Gefahren  des  sogenannten  circumstantiellen  Beweises.  Es  ist  be- 
greiflich, dass  auch  in  Deutschland,  wo  seit  einem  Jahre  iu  den  Staaten, 
in  denen  man  sich  bisher  gegen  Geschwornengerichte  sträubte,  solche 
Gerichte  eingeführt  sind ,  von  Männern ,  die  redlich  die  Wahrheit  suchen, 
mit  einer  gewissen  Scheu  auf  die  Wahrsprttcbe  der  Gescbworne  geblickt 
wird  in  Fällen,  von  denen  nur  ein  Beweis  durch  Nebenumstände  vorliegt. 
Schon  erbeben  sich  vielfach  Stimmen  des  Zweifels,  ob  in  solchen  Fällen, 
in  denen  man  freilich  oft  die  Strenge  und  Energie  der  Geschwornea 
rühmt,  der  Wahrspruch  der  Schuld  vor  dem  Gerichtshöfe  der  Vernunft 
gerechtfertigt  werden  kann.  Gewiss  wenigstens  ist  es ,  dass  in  sehr  vie- 
len Fällen,  in  welchen  in  deutschen  Staaten  Geschworne  einen  Angeklag- 
ten für  schuldig  erklärten  (namentlich  bei  Anklagen  wegen  Diebstahls}, 
die  angestellten  Richter  kein  verurteilendes  Erkenntniss  gefüllt  haben 
würden;  nicht  weniger  fest  steht,  dass  in  vielen  Fällen,  ia  denen  deut- 
sehe  Geschworne  auf  deu  Grund  einiger  Vcrd&chlsgründe  das  Schuldig 
aussprachen,  die  englischen  Geschwornen  das  Nichtschuldig  erklären  wür- 
den. Die  englischen  Bürger  wie  die  Richter  Englands  billigen  die  eng- 
lische Ansicht,  so  sehr  man  sonst  in  England  für  die  nothwendige  Strenge 
der  Geschwornen  gestimmt  ist.  Es  ist  passend,  den  Blick  vorzüglich 
auf  England,  das  Mutterland  der  Geschwornengerichte,  zu  werfen  und  iu 
fragen,  worin  die  Irsacheu  liegen,  ans  welchen  das  grosse  Vertrauen  zn 
den  Urtheilen  der  englischen  Geschwornen  und  zugleich  die  Erscheinung  sich 
erklärt,  dass  im  Allgemeinen  diese  Geschwornen  so  schnell  (ohne  viele 
Berathung)  und  sicher  entscheiden,  uud  in  so  manchen  Fällen  das  Nicht- 
schuldig  aussprechen,  in  welchen  deutsche  Geschworne  verurtheilen. 

I  A     Uli«  i<        i  •••  m      »  * 

.  ....  .  (Schlus*  <1W  m.    •  . 

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Nr.  13.  HEIDELBERGER  1851. 

JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR 


Willst  Essay  on  elrrunistantlal  evidente. 

(ScbhlSS.) 

Wir  finden  nach  genauer  Beobachtung  des  Gangs  der  Verhandlungen 
nnd  des  Benehmens  der  Geschwornen  in  den  verschiedenen  Ländern  Eu- 
ropa^ den  Hauptgrund  darin:  dass  in  England,  Schottland  und  Amerika 
die  Wahrsprüche  der  Geschwornen  aus  einem  wohllhätigen  Zusammen« 
wirken  der  Richter  und  Geschwornen  entstehen  nnd  dass  die  Prüfung  der 
Anklage  nach  traditionellen  Beweisregeln  gesichert  ist,  nach  welchen  der 
Gang  der  Verhandlungen  geführt  wird  nnd  die  Ueberzeugung  der  Ge- 
schwornen sich  richtet.  Es  kann  hier  nicht  von  einer  sogenannten  ge- 
selllichen Beweistheorie  die  Rede  sein,  welche  in  den  deutschen  Gesetz- 
büchern aufgestellt  und  in  den  wissenschaftlichen  Arbeiten  in  dem  Sinn 
entwickelt  war,  dass  nur  bei  dem  Dasein  gewisser  Bedingungen  ein  be- 
stimmtes Beweismittel  von  dem  Richter  als  genügend  betrachtet  werden 
durfte;  der  richtige  Sinn  der  praktischen  Engländer  hat  sie  vor  dieser 
Ansicht  bewahrt,  während  die  Beweislebre,  welche  das  englische  Recht 
kennt,  (mit  Ausnahme  einiger  als  Schutzwehr  gegen  grundlose  Anklagen, 
z.  B.  bei  Hochverrath  wegen  der  zwei  Zeugen  aufgestellten  Sätze}  ein 
traditionelles  Recht  ist,  hervorgegangen  aus  einer  langen  Rechtsttbung, 
abgeleitet  aus  der  Logik  und  der  Erfahrung ,  fortgebildet  durch  die  Rich- 
ter des  obersten  Gerichts  als  ein  Inbegriff  von  Regeln,  nach  welchem  der 
Prosecu tor  seine  Anklage  zu  begründen,  der  Vertheidiger  die  Anschuldi- 
gungen als  grundlos  nachzuweisen  sucht,  wahrend  der  präsidirende  Rich- 
ter vorzüglich  in  seinem  Schlug  vor  tröge  ( charge)  jene  Beweisregeln 
(rales  of  evidence)  in  der  Anwendung  auf  den  einzelnen  Fall  einzuschärfen 
nnd  dnreh  Hinweisung  darauf  die  Geschwornen  zu  warnen,  ihre  Berathung 
ihnen  zo  erleichtern  sncht.  Vor  Allem  bewährt  sich  der  Vortheil  dieser 
Beweislehren  bei  dem  sogenannten  Beweise  dnreh  Nebenumstände  (cir- 
cumslantial  evidence).  In  England  ist  die  Beweislebre  ein  vorzüglicher 
Gegenstand  wissenschaftlich  praktischer  Arbeilen;  zu  den  alleren  treff- 
lichen Werken  von  Philipps,  Boscoe  n.  a.  sind  in  den  letzten  Jahren 
ausgezeichnete  Werke  von  Starkie,  Taylor  nnd  Best  hinzugekommen. 
Greealears  (io  Amerika)  erschienenes  Werk  gilt  nach  in  England  mit 
XUV.  Jahrg.  2.  Doppelheft.  13 


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Will« :  Eis ay  on  circumstantial  evidencc. 


Recht  ols  ein  höchst  werthvolles.  Vorzüglich  verdient  das  Werk  von 
Wills,  dessen  Titel  wir  oben  angegeben  haben,  eine  grosse  Beachtung. 
Wenn  auch  Bentham  in  seinem  bekannten  grossen  Werke:  Rationale  mit 
seiner  feinen  Zergliederungskunst  und  seinem  Scharfsinn  eine  Masse  der 
geistreichsten  allgemeinem  Regeln  über  den  Beweis  durch  Neben  umstände 
aufgestellt  hat,  so  ist  doch  das  vorliegende  Werk  von  Wills  vorzuziehen, 
weil  es  mehr  im  praktischen  Geiste  bearbeitet  ist,  uicht  mit  einer  Masse 
abstrakter  und  willkürlich  zu  drehenden  Regeln  sich  begnügt,  sondern 
die  Rechtsanwendung  durch  das  Leben  selbst  erläutert,  jede  Regel  in 
ihrer  Wichtigkeit  durch  eine  grosse  Zahl  von  wichtigen  Slraffallen  ver- 
ständlich und  klar  macht  and  zugleich  aus  einer  Quelle  schöpft,  welche 
sicherer  den  Praktiker  leitet,  als  allgemeine  nur  aus  gewissen  sogenann- 
ten Grundsätzen  abgeleitete  Regeln.  Diese  Quelle  ist  der  Inbegriff  der 
Rechtsansichtin,  welche  von  den  englischen  Präsidenten  der  Assisen  in 
ihren  cbarges  am  Schlüsse  einer  Verhandlung  an  die  Gescbwornen  ge- 
richtet werden.  Es  sind  hier  nicht  willkürlich  nach  der  Individualität 
eines  Richters  aufgestellte  wechselnde  Meinungen  des  Vorsitzenden,  son- 
dern in  diesen  charges  liegen  die  Rechtsansichten,  welche  über  die  Be- 
urteilung der  Beweise  bei  Entscheidung  von  Rechtfällen  durch  die  Rechts- 
Übung  von  dem  obersten  Gerichte  Englands  als  dem  Mittelpunkt  der 
Rechtsprechung  seit  einer  langen  Reihe  von  Jahren  fortgebildet  wurden. 
Da  nun  die  15  Richter,  als  Mitglieder  des  obersten  Gerichts,  in  deu,  in 
den  verschiedenen  Grafschaften  in  gewissen  Zeiten  gehaltenen  Assisen  die 
Präsidenten  sind,  so  kann  man  annehmen,  das*  die  von  diesen  Richtern 
ausgesprochenen  Rechtsansichlen  eigentlich  die  Ansichten  des  obersten 
Gerichts  sind.  Eben  in  der  Beweislehro  wird  dies  bedeutend ,  weil  durch 
die  am  Schlusso  der  Verhandlung  vor  der  ßerathung  an  die  Geschwornen 
in  den  charges  erlheilte  Anweisung  in  der  Anwendung  auf  den  einzelnen 
Fall  die  Rechtsprechung  der  Geschwornen  eine  gewisse  Gleichförmigkeit 
erhält,  und  vor  Uebereilung  gesichert  und  weil  diu  ßerathung  erleichtert 
wird,  da  der  Richter  die  Geschwornen  aufmerksam  macht ,  worauf  sie  sehen 
sollten  und  sie  vor  gewissen  leicht  auf  sie  wirkenden  gefährlichen  Ansichten 
warnt.  Vorzüglich  bewährt  sich  dies  trefflich  bei  dem  circnmslantiellen 
Beweise,  bei  welchem  die  Gefahr,  durch  einzelne  trügerische  Erschei- 
nungen geblendet  zu  werden,  kühne  Schlüsse  aus  einzelnen  Thalsachen 
abzuleiten  und  willkürlich  zufällig  nebeneinander  vorkommende  ThaUacben 
in  eine  innere  Verbindung  zu  bringen,  so  gross  ist  und  leicht  unge- 
rechte Verurteilungen  erzeugen  könnte. 


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Willst  Essay  on  circumstantial  evidence.  195 

Hier  verdaukt  man  dem  Verfasser  des  vorliegenden  Werkes  eine 
trefiliche  praktische  Anleitung  zur  richtigen  Beurtheiluog  des  circumstan- 
tiellea  Beweises  in  Strafsachen.  Der  Verf.  nennt  S.  245  die  Beweisre- 
geln praktische  Salze  des  juristischen  Scharfsinns  und  der  Erfahrung,  gereift 
uod  systematisch  entwickelt  dnrch  eine  Reihe  erleuchteter  Männer,  Sätze,  die 
als  die  trefflichsten  Mittel,  Wahrheit  von  Irrthum  zu  unterscheiden  und  mög- 
lichst der  gefährlichen  Ueber macht  richterlicherBeurtheilung  entgegenzutreten 
dienen.  In  diesem  Sinne  entwickelt  der  ausgezeichnete  Verfasser  die  Lehre 
vom  Beweise  durch  Nebenumstunde ,  nnd  die  Vorzüge  seiner  Schrift  sind 
1)  eine  praktische  Zergliederung  des  Wesens  dieser  Beweisart,  2)  die 
klare  gedrängte  Darstellung  von  mehr  als  hundert  wichtigen  Straffällen, 
die  in  England  vorkamen  nnd  geeignet  sind ,  die  Gefahren  des  circum- 
stantiellen  Beweises,  aber  auch  die  Wichtigkeit  richtiger  Regeln  bei  der 
Beurtheiluog  solcher  Falle  zu  zeigen  nnd  3)  eine  grosse  Zahl  von  Char- 
ge.*, durch  welche  am  besten  die  Rechtsansiebton  der  englischen  Richter 
ihreo  Beweis  durch  Nebenumalände  nnd  zugleich  die  wohlthätige  Wirk- 
samkeit der  Richter  auf  die  Gescbworoen  sich  ergiebt.  —  Nicht  leicht  findet 
man  in  einem  Werke  so  viel  richtige  rationelle  Auffassung  mit  praktischer 
Darstellung  vereinigt.  Der  Jurist  eines  jeden  Landes  wird  das  vorliegende 
Bach  nicht  blos  mit  Interesse  lesen,  sondern  auch  mit  Nutzen  brauchen. 
Wir  wünschten ,  dass  die  Geschwornen  aller  L ander  mit  dem  Geiste  der 
Bechtsaaschauung  skh  vertraut  machten,  welche  das  Werk  von  Wilhi 
durchdringt  und  dass  sie  dnrch  die  darin  dargestellten  Rechtsfälle  he- 
werden. 

Es  ist  daher  begreiflich,  wie  auch  das  Werk  von  Wills  in  Eng- 
land eine  so  gute  Aufnahme  gefunden  bat,  dass  bereits  die  dritte  Auflage 
davon  erschien.  In  Nordamerika  ist  es  im  Prozesse  gegen  Webster  als 
Aatorilat  angefahrt  worden,  nnd  eben  hören  wir,  dass  in  Venedig  im 
Anhang  der  dort  erscheinenden  juristischen  Zeitschrift:  Eco  dei  Tribnnali 
das  Werk  von  Wills  übersetzt  werden  soll.  Stellt  man  sieb  recht  klar 
die  Schwierigkeiten  einer  richtigen  Würdigung  des  Beweises  durch  Ne- 
benumstande  vor,  nnd  erinnert  man  sich  der  Gefabren,  denen  dabei  der 
fötaler  anagesetzt  ist ,  so  begreift  man ,  wie  der  Engländer  kaum  glauben 
kten,  dass  man  in  Frankreich  und  Deutschland  den  Geschwornen  keine 
weitere  Anweisung  gieht  als  die,  dass  sie  nach  ihrer  intime  conviction 
den  Wehrsproch  fallen  sollen.  Mit  einer  solchen  unbestimmten  und  un- 
klaren Anweisung  ist  eigentlich  nichts  gesagt.  Wie  anders  steht  die  Sache 
»  England,  Schottland  nnd  Amerika!  Mit  welcher  Gewissenhaftigkeit 
locht  der  prfeidirende  Richter  am  Scbtnsse  der  Verhandlung  den  Ge- 

13* 


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196  Wills:  Essay  on  circumstantial  evidence. 

icbworoen  ihre  Berathung  zu  erleichtern,  sie  auf  die  richtig  leitenden 
Regeln  der  Erforschung  der  Wahrheit  aufmerksam  zu  machen  und  vor 
einem  ungerechten  Wahrspruch  zu  warnen!  Vorzüglich  in  Fällen  des 
circumstantiellen  Beweises  bewährt  sich  ebenso  der  praktische  Sinn  der 
englischen  Richter,  als  die  wohltbätige  Wirkung  der  ch arges,  in  welchen 
die  Richter  den  Geschwornen  die  Beweisregeln  zergliedern.  Herr  Wills 
hat  in  seinem  Werke  höchst  wichtige  charges  dieser  Art  mitgetbeilL  Sic 
gehen  alle  aus  dem  nicht  genug  zu  beachtenden  Sinne  der  englischen 
Richter  hervor,  die  notwendige  Strenge  in  der  Anwendung  der  Gesetze 
mit  einem  gewissen  Wohlwollen  und  mit  dem  Streben  zu  vereinigen,  die 
Geschwornen  vor  ungerechten  Wahrsprüchen  der  Schuld  zu  bewahren. 
Bei  jeder  Gelegenheit  sagen  sie  den  Geschwornen,  dass  sie  da,  wo  ein 
reasonable  doubt  an  der  Schuld  des  Angeklagten  vorbanden  ist,  frei- 
sprechen müssten.  Wie  würdig  drückt  sich  Baron  Alderson  in  seiner 
Charge  aus  (Wills  p.  32),  wenn  er  sagt:  „Der  meuschliche  Geist  ist 
geneigt,  mit  einer  gewissen  Lust  verschiedene  Nebenumstände  aneinander 
zu  reihen,  und  sie,  indem  man  sie,  wenn  es  nöthig  ist,  streckt,  zu  nö- 
tigen, Theile  eines  zusammenhängendes  Ganzen  zu  bilden.  Je  geistreicher 
eine  Person  ist,  desto  leichter  wird  sie  bei  der  Würdigung  solcher  Ge- 
genstände irregeleitet,  indem  der  Geist  einzelne  noch  mangelnde  Glieder 
xJer  Kette  ergänzt,  und  verleitet  wird,  einzelne  Thatsacben  als  richtig  der 
vorgefasste  Theorie  gemäss  nnd  als  noth wendig  anzunehmen,  um  den  Beweis 
als  vollständig  zu  betrachten."  —  Als  in  einem  Falle  sich  ergab,  dass  lange 
Zeit  nach  VerÜbung  eines  Verbrechens  die  gestohlenen  Sachen  im  Besitze 
des  Angeklagten  sich  befanden ,  hielt  der  Richter  Bayley  (Wills  p.  49) 
eine  Lossprechung  für  gerechtfertigt.  Als  in  einem  Falle  der  Angeklagte  io 
der  Voruntersuchung  zugestanden  halte,  dass  er  bei  der  Verübung  eines 
Hördes  gegenwärtig  gewesen,  aber  behauptete,  keinen  Tbeil  daran  ge- 
nommen zu  haben,  warnte  der  Richter  Littledale  (Wills  p.  65)  die  Ge- 
schwornen aus  der  ganzen  Erklärung  den  einen  Umstand  der  Gegen- 
wart am  Ort  der  That  herauszunehmen.  Vorzüglich  äussert  sich  die  Ge- 
wissenhaftigkeit der  englischen  Richter  auch  da,  wo  der  Thatbestand 
nicht  ganz  hergestellt  ist.  So  wird  z.  B.  bei  Vergiftungsfallen,  wenn 
zwar  das  Geben  des  Gifts  wahrscheinlich  ist,  zugleich  aber  sich  ergiebig 
dass  der  Tod  auch  anderen  Ursachen  zugeschrieben  werden  kann,  von  den 
I^iciilörci  den  0 6 s c Ii w  o r n c ti  t^in^t3«>cliiirft  ^  iio  ^  ivo  sig  crlicL)licli6  Zweifel 
haben,  lieber  loszusprechen  (Wills  p.  180).  Bei  Anklagen  des  Kiudes- 
mords  ist  es  eine   Hauptrücksicht,    ob  erwiesen  ist,    dass   das  Kind 

nach  der  Geburt  lebte,  und  Baron  Parke  (s.  Wills  p.  205)  forderte  die 

» 


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Willi!  Kssfly  OH  circmnst  Afitinl  cvidence. 


Jury  sorgfältig  auf,  zu  prüfen  ob  sie  Zweifel  habe,  and  im  Falle  de« 
Daseins  derselben  loszusprechen. 

Mit  Klarheit  entwickelt  nun  Herr  Wills  in  seinem  Werke,  mit  Be- 
rufung auf  die  in  der  Rechtsübung  ausgesprochenen  Ansichten ,  die  Lehre 
vom  Beweise  durch  Umstände.  Nachdem  er  (p.  2 — 13)  die  allgemeinen 
Begriffe  von  Wahrheit,  Gewissheit,  Wahrscheinlichkeit  zergliedert  bat, 
zeigt  der  Verf.  (p.  15),  dass  die  Unterscheidung  von  direktem  und  in- 
direktem Beweise  nicht,  wie  man  häufig  diess  aufstellt,  scharf  entgegen- 
gestellt werden  kann ,  dass  beide  Arten  die  nämliche  Beschaffenheit  haben, 
Dod  nor  in  der  Richtung  auf  den  zu  beweisenden  Gegenstand  sich  unter- 
scheiden. Er  erkennt  (p.  2)  die  Gefahr  an,  die  in  Strafsachen  durch 
dit  Annahme  von  Vermutbungen  entstehen  kann ,  und  hält  es  für  ebenso 
unvernünftig ,  dem  Richter  absolute  Regeln  für  Vermuthungen  vorzuschrei- 
ben, als  dem  Commandandanten  eines  Schiffs  eine  ausnahmslose  Vorschrift 
für  die  Führung  seines  Schiffs  zu  ert heilen:  er  tadelt  (p.  23)  den  Ver- 
sieb, gesetzliche  Beweisregeln  vorzuschreiben,  um  die  Beweiskraft  ein- 
zelner Beweisgründe  zu  beurtheilen ,  und  bedauert  es  (p.  26) ,  dass  man 
so  manche  allgemeine  Sätze  aufstellt,  die  leicht  irreführen  können,  z.  B. 
wena  man  den  oft  in  England  behaupteten,  selbst  von  englischen  Rich- 
tern verbreiteten  Satz  aufstellt:  die  Nebenumstände  können  nicht  lügen, 
wobei  man  vergisst,  dass  ebenso  gut  bei  dem  Beweise  durch  Nebenum- 
stlnde  Irrtbttmer  oder  Täuschungen  obwalten  können ;  ebenso  irrig  ist  es, 
($.28)  wenn  man  oft  von  der  unumstösslichen  Kraft  des  circumstantiellen 
Beweises  spricht,  wenn  nothwendig  die  Vermuthung  der  Schuld  aus  einem 
gewissen  Umstände  sich  ergiebt.  Uns  scheint,  dass  man  überhaupt  irrig 
▼ob  einer  ooihwendigen  Vermuthung  spricht ;  —  was  man  so  meint, 
ist  eio  Zusammentreffen  vieler  in  einander  eingreifenden,  sich  ergänzenden, 
auf  eine  bestimmte  Hauptthatsache  wirkenden  NebennmstUnde,  aber  nio 
ist  es  dann  eine  nothwendige  Vermuthung.  Nach  der  gewiss  richtigen 
Ausführung  (p.  32)  des  Herrn  Wills  darf  man  nicht  direkten  nnd  in- 
direkten Beweis  einander  gegenüber  stellen  nnd  streiten,  welche  Art  die 
vorzüglichere  ist;  jede  derselben  hat  ihre  eigenthümliche  Richtung  und 
fordert  eine  besondere  Geistesoperation.  Wenn  auch  der  Verf.  es  für 
onndglich  hilt,  alle  möglichen  Anzeigungen  aufzuzählen,  so  glaubt  er 
doch,  dass  man  die  anschuldigenden  Indicien  auf  folgende  Klassen  zu- 
rückfuhren kann:  1)  die  Motive  zum  Verbrechen;  2)  Aeussernngen  der 
verbrecherischen  Absicht;  3)  Vorbereitungen  zur  Ausführung  eines  Ver- 
brechens; 4)  in  der  nächston  Zeit  nach  einem  Verbrechen  vorkommen- 
den Besitz  die  Früchte  eines  Verbrechens ;  5)  Mangel  einer  genügenden 


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198  Will*:  Essay  on  circumstanlial  evidence. 

Erklärung  Verdacht  erweckender  oder  auffallender  Erscheinungen  an  einer 
Person,  Kleidung,  Benehmen  derselben  und  Versuch,  durch  falsches  Vor- 
geben Verdacht  von  sich  abzulenken;  6)  stillschweigende  Zugeständnisse ; 
7)  Unterdrückung,  Zerstörung,  Veränderung  oder  Vorspiegelung  von  Be- 
weisen. Der  Verf.  zergliedert  nun  jede  einzelne  dieser  Klassen,  indem 
er  mit  Scharfsinn  die  Natur  der  in  die  Klasse  gehörigen  Anzeigen ,  die 
verschiedenen  dabei  vorkommenden  Gestaltungen ,  aber  auch  die  Gefahren 
entwickelt,  welchen  dabei  der  Richter  ausgesetzt  ist.  Sehr  gut  macht 
der  Verf.  S.  40  darauf  aufmerksam,  dass  der  Gesetzgeber  und  Richter 
uicht  mit  den  Motiven  der  Menschen ,  sondern  nur  mit  den  als  ihren  Aua- 
gangspunkten und  Zweck  erscheinenden  Handlungen  und  mit  äusseren  That- 
sacben  sich  zu  beschäftigen  haben.  Er  zeigt,  wie  schwierig  schon  die 
Erforschung  der  Motive  C hifcufi?  selbst  nur  aus  Neuenumstanden  abgeleitete 

^  '  v    "  ■»  w  ~       *    "  ■  ^»»^  w  "  T        mmt  ™  ™       www     m     w  w  mw  mm  nw«w  mmm  mm  mm  w  mm      mm  mm  ^       *w«vw  W  m 

ist,  wie  das  nämliche  Motiv  zu  höchst  verschiedenen  Handlungen  führen 
kaun.  Interessante  englische  Strafrechtsfälle ,  die  der  Verf.  (p.  44)  an- 
fuhrt, zeigen,  wie  vorzüglich  da,  wo  über  die  Thatsache  kein  Zweifel 
ist,  z.  B.  dass  der  Angeklagte  geschossen  bat,  woht  aber  die  Richtung 
die  Absiebt  streitig  ist,  in  der  englischen  Rechtsübung  auf  das  Dasein 
von  Motiven  gesehen  wird.  Eine  ausführliche  Zergliederung  ist  (p.47 — 
57)  dem  Indicium  gewidmet,  das  aus  dem  Besitze  der  Früchte  eines 
Verbrechers  abgeleitet  werden  kann.  Hier  zeigt  sich  wieder  der  ver- 
ständige wohlwollende  Sinn  der  englischen  Richter ,  welche  immer  auf  die 
Lossprechung  wirken,  wenn  ein  vernünftiger  Zweifel  entsiebt;  wenn  da- 
her der  Angekagte  erst  lange  Zeit  nach  VerÜbung  des  Diebstahls  die  ge- 
stohlenen Sachen  besitzt,  so  leitet  man  daraus  keinen  Anschuldigungsbe- 
weis ab,  weil  man  so  vielerlei  Möglichkeiten  zugiebt,  durch  welche  der 
Angeklagte  die  Sache  auf  einem  ehrlichem  Wege  erworben  haben  kann 
(j>.  49);  ebenso  lüssl  man  Zweifel  an  der  Schuld  gelte»,  wenn  die  ge- 
stohlene Sache  an  einem  Orte  gefunden  wird,  der  nicht  ausschliessend 
vom  Angeschuldigten  besessen  wird,  vielmehr  von  der  Artist,  dass  auch 
viele  andere  Personen  dort  sich  beGuden  und  etwas  dahin  bringen  kön- 
nen, während  die  englische  Praxis  (S.  50)  da  eine  starke  Vermutbung 
gegen  den  Augeklagteo  ableitet,  wenn  er  Gegenstände  besitzt,  die  von 
einer  ganzen  Reibe  von  Diebstählen  herrühren.  Ernste  Warnungen  spricht 
der  Verf.  (p.  70—71)  gegen  die  Sitte  aus,  aus  einem  gewissen  auffal- 
lenden Benehmen  des  Angeschuldigten  auf  ein  Gesläodniss  der  Schuld  zu 
schliessen.  Nicht  ohne  Gruud  sagt  er  überhaupt  (p.  62),  dass  nicht 
weniger  als  durch  Folter  auch  oin  Unschuldiger  gefährdet  werden  kann 
durch  harte  und  listige  Verhöre.    Die  Gefahr  für  Unschuld,  wenn  aus 


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W1Ü0*  Es?ay  on  rircumstantial  cviJence.  199 

einzelnen  Ausdrücken  and  aue  dem  Zusammenhange  gewisser  Aeosserun- 
geo  einer  Person  Geständnisse  abgeleitet  werden,  ist  in  einem  Falle,  wo 
ein  gewisser  Coleman  unschnldig  hingerichtet  wurde  (p.  68),  klar  nach- 
gewiesen. Auf  die  Flncht  einer  Person,  da  auch  der  Unschuldigste  aus 
Furcht  vor  den  Qualen  einer  Untersuchung  zum  Entschlüsse  der  Flncht 
kommen  kann,  wollen  die  englischen  Richter  nie  ein  Indicium  der  Schuld 
bauen  lassen  (Will«  p.  70).  Sehr  lehrreich  ist  die  Darstellung  der  An- 
scbuldigungsbeweise ,  die  man  oft  aus  dem  Bemühen  einer  Person,  die 
Justiz  irre  zo  leiten,  oder  aus  dem  Streben,  eine  Leiche  zu  verbergen, 
oder  ans  der  Erscheinung,  dass  oft  Verwandte  bei  dem  Tode  einer  Per* 
!oa  eilen,  die  Beerdigung  vornehmen  zu  lassen  oder  die  Section  der 
Leiche  nicht  gestatten ,  ableiten  will.  Da  in  allen  diesen  Pillen  auch  aus 
Yöllig  schuldlosen  Absiebten  sich  die  Erscheinungen  erklären  lassen  (Wills 
p.  75 — 79),  so  sollte  darauf  nichts  gebaut  werden.  Eine  Reihe  merk- 
würdiger Fälle  dienen  wieder  zur  Erläuterung.  Unter  den  Gesichtspunkt 
physischer  Eigentümlichkeiten  von  Personen  oder  Sachen ,  die,  indem  sie 
zwischen  einem  verttbten  Verbrechen  und  der  Schuld  einer  Peason  einen 
Zusammenhang  annehmen  lassen,  stellt  der  Verf.  (p.  80  f.)  die  Identität 
voo  Personen  oder  Sachen,  die  Handschrift  einer  Person,  die  Zeit  der 
Verflbong  eines  Verbrechens  auf,  und  handelt  von  jedem  einzeln  vorzüglich, 
indem  er  wieder  durch  merkwürdige  Falle  zeigt,  wie  leicht  in  Bezug  auf 
Idealität  einer  Person  ein  Irrthum  obwalten  kann;  trefflich  ist  (p.  108 — 
1 15)  von  der  Trüglichkeit  der  Handschriftenvergleichung  gehandelt.  Die 
Lehre  von  dem  entlastenden  circumstantielleu  Beweise  ist  insbesondere  gut 
voo  p.  120  an  behandelt,  mit  Beziehung  auf  den  Beweis  der  Unmöglich- 
keit, dass  der  Angeklagte  das  Verbrechen  verüben  konnte,  auf  die  Abwe- 
senheit aller  Motive  zum  Verbrechen  oder  selbst  das  Dasein  abhaltender 
Beweggründe ,  auf  das  Benehmen  einer  Person ,  z.  B.  wenn  der  der  Ver- 
giftung Beschuldigte  selbst  von  den  Speisen  genoss,  in  denen  das  Gift 
sich  befunden  haben  soll.  Nicht  ohne  Wehmnlh  bemerkt  man  hier  einen 
noch  1815  vorgekommenen  Fall  (Wills  p.  127),  in  welchem  nach  aller 
Wahrscheinlichkeit  eine  unschuldige  Person  hingerichtet  wurde,  weil  die 
Geschwornen  den  entlastenden  Umstand ,  dass  der  Angeklagte  selbst  von 
den  vergifteten  Speisen  genoss  und  sehr  krank  darauf  wnrde,  nicht  be- 
achteten. Der  damalige  Richter  hatte  sie  nicht  aufmerksam  darauf  ge- 
macht. —  Ein  ausgezeichneter  Theil  der  Schrift  von  Wills  ist  die  Erör- 
terung über  den  Beweis  dos  Thatbestandes  durch  Nebenumstände  und  zwar 
in  Bezog  auf  die  Frage,  wenn  es  an  der  Auffindung  der  Leiche  fehlt 
oder  nur  einzelne  Theile  gefunden  werden  (p.  162);  ferner  in  Ansehung 


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Willi:  Essay  on  circtrmstantial  evidence. 


der  Fttlle,  wo  es  zweifelhaft  ist,  ob  Selbstmord  oder  fremde  Gewaltthal 
den  Tod  erzeugte  (p.  169),  io  Bezug  auf  Vergiftung  (p.  178)  und 
Kindsmord  (p.  203).  Zur  Erläuterung  dieser  schwierigen  Lehre  sind 
viele  Falle  trefflich  zergliedert.  Kein  Jurist  irgend  eines  Landes  wird 
diese  Darstellung  ohne  grossen  Nutzen  lesen.  Mit  feinem  praktischen 
Sinne  sind  nun  von  S.  209  an  die  Schlussfolgerungen  aus  dem  bisheri- 
gen angegeben.  Die  Beweiskraft  der  Nebenumstände  hängt  nach  dem 
Verf.  (p.  210)  davon  ab,  dass  die  Kraft  der  Umstände  noth wendig  zur 
Annahme  der  Gewissheit  der  zur  beweisenden  Hauplthatsache  führe,  weil 
jede  andere  Erklärung  oder  Vermuthung  dem  ordentlichen  Lauf  der  Dinge 
widersprechen  würde,  so  dass  wir  nach  Erschöpfung  jeder  anderen  Er- 
klärungsart entweder  die  Schuld  des  Angeklagten  annehmen  oder  jedes 
Ergebniss  der  gewissenhaftesten  Forschung  uud  Erfahrung  und  olle  Ope- 
rationen des  menschlichen  Geistes  als  nutzlos  und  trüglich  betrachten  müss- 
ten.  Die  am  Schlüsse  aufgestellten  Regeln  verdienen  aligemeine  Aufmerk- 
samkeit. Das  Studium  des  ganzen  Werkes ,  von  dem  wir  wünschten,  dass 
es  von  jedem  Geschwornen  recht  gewürdigt  würde,  erfüllt,  insbesondere 
wenn  man  die  grosse  Zahl  von  Fallen  liest,  die  der  Verf.  erzählt,  io 
deneu  Unschuldige  auf  Indicienbeweis  für  schuldig  befunden  und  gestraft 
wurden ,  mit  einem  eigentümlichen  Gefühle  über  die  Trüglicbkeit  mensch- 
licher Entscheidungen  und  mit  der  Erkenntniss  der  Notwendigkeit,  dass 
alle  Kräfte  Aller,  welche  die  Interessen  der  Menschheit  und  Gerechtigkeit 
würdigen ,  dabin  vereinigt  werden  möchten,  um  Formen  des  Verfahrens  zo 
ersinnen,  durch  deren  Anwendung  Bürgschaften  geliefert  werde ,  dass  die 
Schuldigen  sicher  ihre  verdiente  Strafe  leiden,  aber  auch  kein  Unschuldiger 
bestraft  werde.  In  dem  würdigen  Zusammenwirken  derHichter  und  Geschwor- 
nen, aber  auch  in  einer  solchen  Stellung  der  Richter,  welche  das  höchste 
Vertrauen  zu  ihrer  Unabhängigkeit,  Energie,  Gerechtigkeit,  verbunden  mit 
dem  Geiste  des  Wohlwollens  englischer  Richter  begründet,  liegen  ent- 
schieden die  besten  Bürgschaften.  Auch  die  Presse  hat  dabei  heilige 
Pflichten,  indem  sie  den  rechten  Sinn,  die  Beobachtungsgabe  des  Volkes 
stärken  und  entwickeln,  die  Pflichten  der  Zeugen  und  der  Geschwornen 
zergliedern,  sie  vor  gewissen  leicht  vorkommenden  Missgriffen  warnen  muss. 
Es  ist  erfreulich  zu  sehen,  wie  dies  auch  in  England  geschieht.  In  einem 
vor  uns  liegenden  Aufsatze :  über  die  Pflichten  der  Zeugen  und  Geschwor- 
nen in  der  Wochenschrift:  Household  Works  condueted  by  Charles  Dickens. 
Octobre  1850  p.  100  bt  dies  trefflich  durch  Zergliederung  merkwürdiger 
Fälle  geschehen. 

rontterntAler. 


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Schaffner-  Geschichte  der  Rcchtsverfassuns?  Frankreichs.  201 


Wilhelm  Schaffner,  Geschichte  der  Rechtsverfassung  Frankreichs. 
Frankfurt  a.  M.,  Druck  und  Verlag  ton  Johann  David  Sauer- 
länder I.  Band  bis  auf  Hugo  Capet  i845.  II.  III.  Band  bis  auf 
die  Revolution  1849.  1850.  IV.  Band  ton  der  Revolution  bis  auf 
unsere  Zeit.  1850.  — 

• 

In  unserer  Zeit  ist  es  nothwendig,  eine  gewisse  Versicherung  vor- 
aus? eben  H  lassen ,  ebe  man  die  Hand  an  die  Beurteilung  eines  Buches 
legt:  der  Unterzeichnete  steht  mit  der  Person  des  fleissigen  Verfassers 
dieser  Geschichte  in  gar  keiner  persönlichen  Verbindung,  und  daher  ist 
es  der  rein  objective  Eindruck  des  Werks,  welcher  ihn  die  Feder  füh- 
ren lässt.  Es  ist  ein  grosses  Unternehmen,  welchem  sich  der  Verfasser 
unterzogen  hat,  und  wir  glauben,  dass  eine  solche  Arbeit  nur  dann  eine 
vollkommen  befriedigende  Auerkennung  verdienen  kann ,  wenn  der  Schrif- 
steller  gleich  von  vornherein  eine  Art  wissenschaftlicher  Be- 
schränkung sich  auferlegt,  nach  welcher  er  die  grosse  Masse  der  vor 
ihm  liegenden  Materialien  überwältigen  will.  Man  wirft  so  oft  den  Fransosen 
vor,  ihre  rechtsgeschichtlicbe  Arbeiten  stünden  hinter  denen  der  Deutschen 
urück :  man  hat  in  einer  jetzt  untergegangenen  und  auch  in  einer  andern 
Zeitung  oberflächlich  genug  vorgebracht,  das  vorliegende  ßnch  trage  weni- 
ger den  Charakter  deutscher  Scbrtftstellerei ,  weil  es  anf  durchaus  positiver 
Grundlage  und  ohne  Construction  gearbeitet  sei;  allein  wir  müssen  diesen 
beiden  Ansichten  widersprechen ;  die  Franiosen  hoben ,  wenn  auch  nur  in 
fragmentarischen  Darstellungen,  ein  viel  reicheres  und  geordneteres  Ma- 
terial ihrer  Rechtsgeschichte  und  Rechtsgewobnheiten ,  wie  die  Deut- 
schen, zumal  sie  niemals  die  ParticularitBten  der  Provinzen  durch  eine 
allgemeine  Abstraction  verwischt  haben :  und  dem  Deutschen  ist  es  nun 
einmal  in  unserer  Zeit  nicht  anders  gegeben,  als  dass  er  seine  ganxe 
Denkweise  auf  jeder  Zeile  soiner  wissenschaftlichen  Arbeilen  der  Welt 
sehen  lasse,  seine  Subjectivität  vorkehre  gegeu  die  Objectivitlt  der 
Zeiten  und  Materialien.  Dieses  ist  die  vorwirkende  Richtung  unserer  phi- 
losophischen Bildung ,  die  sogar  in  das  innerste  Mark  des  Volkes  über- 
gegangen ist.  Unterdrückt  kann  diese  Richtung  nur  werden,  wenn  der 
Schriftsteller  eine  specielle  Seite  seiner  wissenschaftlichen  Bestrebung  her- 
vorbebt, und  hier  überall  auf  den  Geist  der  Zeit  aufmerksam  ist,  aus 
welcher  er  seine  Materialien  nimmt.  Wenn  es  unserm  Verfasser  gefallen 
hatte,  die  Rechlsgescbichte  einer  einzelnen  französischen  Provinz  ganz  dc- 
taillirt  zu  bearbeiten,  so  würde  dem  Sachkenner  gerade  dadurch  ein  viel 
besseres  Versländniss  der  französischen  Rechtsgeschichte  selbst  geworden 


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202  Schaffner:  Geschichte  der  Rechtsverfassung  Frankreich!. 

seiu,  als  durch  die  vorliegende  grandiose  Verbreitung  über  alle  Provimen 
Frankreichs.  So  hat  gerade  jetzt  Dupin  iu  Nevers  ein  Buch  edirl:  Re- 
daclion  solennelle  de  la  coutume  du  Nivernais  de  1534,  wo  er  zeigt, 
auf  welche  Weise  schon  damals  das  Gewohnheitsrecht  zu  einer  lex  scripta 
gemacht  worden  ist,  und  worin  man  sieht,  wie  auf  solche  Art  am  besten 
das  Traditionelle  des  Hechtswissens  erhalten  wird. 

Auf  den  ersten  Band  gedenken  wir  uns  nicht  einzulassen,  theils 
weil  er  nicht  sowohl  der  französischen ,  wie  überhaupt  der  germanischen 
Rechtsgeschichte  angehört,  und  da  des  Verfassers  äussere  Rechtsge- 
schicbte  nichts  ist  als  eine  Wiederholung  aller  jener  Verhaltnisse,  welche 
schon  in  den  deutschen  Staats-  und  Rechtsgeschichten  besprochen  sind, 
dann  weil  die  innere  Rechtsgeschichle  nicht  minder  ganz  allgemein  ge- 
halten werden  musste,  so  dass  neue  Entdeckungen  in  dieser  Pariode  von 
dem  Verfasser  nicht  gemacht  sind.  Viele  Capitel,  deren  historischen  Zu- 
sammenbang  der  Recensent  genauer  kennt,  namentlich  das  vierte  und 
fünfzehnte  Capitel,  Theile  der  Kirchenrechts^eschichte  überhaupt,  haben  in 
der  Darstellung  des  Verfassers  eine  vielfach  unrichtige  Grundansicbt  bekom- 
men, und  es  scheint,  dass  der  Verfasser  in  dieser  Beziehung  besondere 
Studien  nicht  gemacht  hat.  Man  darf  nur  lesen ,  was  er  S.  52  Über  daa 
Coocilium  von  Sardica  anfuhrt.  Die  pseudoisidorischen  Decretalen  bat  der 
Verf.  nie  untersucht,  auch  kennt  er  die  darüber  vorhandene  Literatur 
nicht,  und  wie  hoch  über  ihm  der  so  sehr  getadelte  Laferriere  steht, 
kann  er  selbst  einsehen,  wenn  er  die  geistreiche  Behandlung  lesen  will, 
die  dieser,  auch  in  der  neuesten,  besonders  von  der  Revolution  her  ge- 
arbeiteten französischen  Rechtsgeschichle  (schon  in  der  II.  Ausgabe)  höchst 
schätzbare  Gelehrte  in  der  dritten  Ausgabe  seiuer  französischen  Rechtsge- 
schäfte tom.  III.  pag.  445—476  Ober  diese  Sammlung  gegeben  bat. 
Doch  genug.  Wir  können  auf  keine  Weise  die  Ausführung  im  ersten 
Bande  als  einen  Fortschritt  in  der  Wissenschaft  ansehen. 

Das  interessanteste  in  der  französischen  Rechtsgeschichle  ist  offen- 
bar das  spätere  Mittelalter  in  seiner  Blülhe,  also  das  vollendete  Feudal- 
thum,  die  seigneurie,  das  Standewesen  auf  dem  Lande  und  in  den  Städ- 
ten, —  die  Gewalt  der  Krone  und  ihre  Gerichtsbarkeit,  und  in  Verbin- 
dung mit  diesen  weltlichen  Dingen  das  Hineinscblingen  der  geistlichen 
Hierarchie  mit  der  Bildung  der  französischen  Sprache  und  Wissenschaft. 
Man  muss  diese  Verhältnisse  wie  das  Kunstwesen  im  Mittelalter  bis  in  ihre 
kleinsten  Richtungen  erforschen;  bei  unendlicher  Mannicbfaltigkeit  tritt 
überall  derselbe  Typus  hervor,  wobei  in  politischer  Hinsicht  Alles  darauf 
ankam,  ob  dereinst  es  einer  der  Gewallen  gelungen  ist,  sich  über  die 


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Corporationen  zu  stellen ,  und  auf  welche  Art.  Dem  Siege  dieser  Gewalt 
Ut  deoo  auch  ihr  ausserordentlicher  Höhepunkt  zuzuschreiben,  so  dass 
nicht  einmal,  trotzdem  die  Information  in  Frankreich  unterdrückt  wurde, 
die  geistliche  Macht  hier  etwas  vermochte,  vielmehr  der  Absolutismus 
auch  diese  niederwarf,  und  das  Territorialität«  -  System  über  das  Kir- 
chenwesen von  Frankreich  aus  für  Europa  sich  dalirt.  Mao 
denke  nur  an  die  Werke  eines  Petrus  de  ftlarca  und  eines  Baluzius,  von 
denen  mehr  als  aus  dem  Protestantismus  Just  Henning  Böhmer  sein 
auch  die  katholische  Kirche  niederdrückendes  Territorialsystem  für  Deutsch- 
land geerbt  hat,  wie  er  selbst  in  seiner  ersten  Vorrede  zur  Ausgabe  des 
Corpus  juris  canonici  anfuhrt.  Allein  was  eben  in  Frankreich  kommen 
i,  wo  die  Rationalität  alle  Historie  niederwarf,  trat  zuletzt  ein  —  ein 
philosophisch  d.  h.  rationell  politisches  System,  und  damit  die 
Revolution ,  wo  es  keine  Corporationen  uod  Stände  mehr  gab ,  und  auch 
die  einzige  bleibende  Corporation ,  wenn  man  ihr  den  Namen  geben  darf, 
der  geistliche  Stand  zu  sein  aufhörte.  Zur  Bewältigung  dieser  Ereignisse 
muss  offenbar  die  kommende  Zeit  Schlimmes  und  Gutes  bringen,  in 
jedem  Lande  etwas  Anderes.  Nun  zur  Sache  d.h.  zur  Beurthei- 
lnag  des  zweiten  und  dritten  Bandes  dieses  Werkes. 

Vor  Allem  tadeln  wir  in  dem  II.  uod  III.  Baude,  dass  in  dieser 
wenigstens  zwei  Periodeu  darbietenden  Geschichte  weder  eine  chronolo- 
gische noch  eine  synchronistische  Ordnung  eingehalten  ist.  Das  darüber 
gestellte  Räsonnement  achtet  weder  Zeiten  noch  Räume.  Auch  die 
Landenarte  im  Anfange  des  III.  Bandes  ist  unpraktisch.  Man  hätte  am  Endo 
der  ersten  Periode  eioe  umfassende  äussere  Rechtsgescbichte  nach  den 
Provinzen  vorausschicken:  dann  das  Gewohnheitsrecht  etwa  in  einer  ähnlichen 
Abstractioo  wie  bei  Loysei  zur  inneren  Rechtsgescbichte  verarbeiten  müssen. 
Eine  allgemeine  Betrachtung  Uber  die  Verbindung  des  ganzen  Landes  durch 
das  Köoigtnum  hatte  als  Einleitung  zur  zweiten  Periode  dienen  können,  eine 
Wiederholung  gerade  in  der  Darstellung  des  auf  die  zweite  Periode  be- 
rechneten Werkes  von  Loysei  hätte  folgen  können.  Auch  an  einzelnen  Urkun- 
den hatte  es  nicht  fehlen  sollen:  wie  gut  wäre  es,  wenn  die  Contume  de 
Paris  abgedruckt  worden  wäre.  Doch  lassen  wir  uns  jetzt  in  den  Gedanken- 
gang des  Schriftstellers  selbst  ein.  Er  bezweckt  offenbar  auch  hier  nicht 
neae  Entdeckungen  zu  liefern,  sondern  nur  eine  Zusammenstellung,  eine  Art 
räsonnirender  Compilalion  zu  geben,  wie  sie  in  der  allgemeinen  Geschichte 
Rotteck  und  Andere  gewähren  wollten.  Für  wen  sollte  nun  das  Buch 
einen  bestimmten  Zweck  darbieten?  für  den  Anfänger  gewiss  nicht,  denn 
es  ist  zu  gehaltreich  und  zi  ungeordoet;   für  den  Gelehrten;  er  findet 


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204  RrhüfTnor'   CpurliirhlP  <\or  Rprht*Vf»rfa«?Tin(7  Frankrpirlia 

bekannte  Sechen,  ja  er  findet  Darstellungen,  die  nur  in  der  von  dem 
Verfasser  beliebten  Manier,  ntcbt  aber  allseitig  die  Sache  auffassen.  Auch 
der  populär  gesinnte  Literat  unserer  Tage  wird  dies  Buch  nicht  gebrau- 
chen können,  weil  es  für  ihn  zu  juristisch  ist.  Dabei  begegnet  uns  nir- 
gends eine  klare  Ansicht  nnd  lebendige  Darstellung  vom  Gerichtswesen 
im  Mittelalter,  namentlich  nicht  von  dem  Einflüsse  der  königlichen  Ge- 
richtsbarkeit zur  Vereinigung  des  Rechts  in  Frankreich,  die  in  der  That 
die  Basis  war  für  dasjenige,  was  in  der  Revolution  erreicht 
wurde:  nirgends  ein  ineinandergreifendes  Verhiltniss  des  Gewohnheits- 
rechts, der  Einwirkung  der  jurisprudence  und  der  spätem  Ordonnanzen; 
ja  man  kann  sagen ,  der  Quellenupparat  im  Material  selbst ,  bis  zur  Dog- 
matik,  in  der  Exegese  und  im  Glossarium,  in  der  Hinweisung  auf  Schrift- 
steller, in  Obersichtlichen  Anschauungen  ist  bei  Loysei  viel  grösser,  tüch- 
tiger, gelehrter  und  ist  ein  ganz  anderes  Denkmal  der  Nation,  wie  in 
dem  Werke  unsers  Schriftstellers.  Die  französische  Literaturgeschichte,  die 
Verbindung  derselben  mit  der  Dogmengcschichte,  an  welche  sich  die 
Franzosen  bis  in  die  neueste  Zeit  immerhin  noch  anschliessen ,  ist  dem 
deutschen  Schriftsteller  ganz  entgangen.  Dass  in  Frankreich  die  Bartolinische 
Schule  im  gemeinen  Rechte  noch  regiert,  wo  findet  man  eine  Spur?  (Trop- 
long  etc.)  Wie  wenig  führt  er  uns  in  der  neuesten  Zeit  kunstge- 
recht anf  Pothier  hin?  Wir  machen  diese  Ausstellungen  alle  nicht, 
um  dem  Buche  seinen  Werth  zu  nehmen ,  das  Buch  enthalt  einen  Bericht 
Ober  sehr  Vieles,  was  der  Verfasser  eben  zu  seiner  Freude  gelesen 
hat,  und  verdient,  dass  jeder  Gelehrte  es  vergleiche;  und  wir  wollen 
daher  auch  kurz  anzeigen,  welche  Capitel  es  behandelt,  und  wollen  zu- 
letzt für  die  Privatrechtsgeschichte  auch  bemerken,  wie  wir  glauben,  nnf 
welche  Art  sie  hätte  behandelt  werden  müssen. 

Vom  ersten  bis  zu  dem  sechsten  Capitel  einschliesslich  läuft  eine 
Einleitung  d.  i.  ein  Abriss  der  politischen  Geschichte ,  eine  geographische 
Darstellung  der  einzelnen  Provinzen  Frankreichs,  ein  üeberblick  in  der 
Darstellung  der  Rechtsgeschichte.  Wir  haben  hier  manches  Raisonnement 
gefunden,  was  wir  tadeln  können,  denn  der  Verf.  selbst  wird  diese  Ein- 
leitung für  nichts  ansehen ,  als  für  einen  Versuch ,  eine  allgemeine  histo- 
rische Unterlage  dem  Buche  zu  verschaffen.  Die  ganze  Seite  9  enthält 
Unrichtigkeiten  in  der  Sache  oder  im  Urtheil  —  wie  kann  der  Verf.  sa- 
gen: „auch  das  Cölibat  wurde  nun  entschieden  verlangt*4 ,  oder  was  will 
er  damit  sagen?  u.  s.  w.  Wras  denkt  er  sich  S.  22  unter  den  damals 
bestandenen  Inquisitionsgerichten  der  Kirche  —  und  wo  kommt  in  dieser 
Einleitung  überhaupt  Etwas  über  den  Geist  jener  Zeit  vor? 


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Schaffner*  Geschichte  der  Rechlsverfassuu?  Frankreichs  205 

• 

•  Als  der  Verf.  ioi  gedachten  zweiten  Bande  noch  eine  I weite 
Einleitung  zu  seiner  eigentlichen  Hechts  geschieh  te ,  die  erst  im  dritten 
Bande  anfangt,  gab,  glaubt  er:  —  es  lasse  sich  alles  unter  die  Formen 
des  Lehenstaats ,  Königthums ,  Volksthums  und  der  Kirche  bringen  —  ein 
Gedanke,  der  nichts  als  ein  Wiederhall  moderner  Ansichten  und  Vorstel- 
lungen ist,  auf  welchen  wir  uns  nicht  einlassen  wollen.  Bei  solchen  Con- 
slractionen  konnte  er  sich  nicht  —  hingeben  einer  besseren  und  mehr 
foroollco  i c Ii ( u ii ^  lo  der  fr*<iiiz.osiisc)icri  ^^6C>li«^^6scl)icl)t&  ^  dio  sclion  boi 
Camus  vorkommt,  (in  der  etude  du  droit  francais)  nemlich  die  ganie 
Rechtsgeschicbte  als  Geschichte  der  coutumes,  ordonnauces  und  der  ju- 
risprodence  oder  arre ts  darzustellen ,  denn  das  Volk ,  das  Königthum  und 
die  Kirche  waren  ja  auch  im  Lehonstaat,  und  der  Lehensstaat  blieb  mit 
dem  Königthum  and  mit  der  Kirche  und  mit  der  städtischen  Freiheit  bis 
zur  Revolution.  Es  ist  eine  grosse  Täuschung,  wenn  man  den  freien 
Bürger  in  den  Städten,  der  sich  in  alle  Formen  der  Regierung  fügen 
kann,  als  eine  Macht  ansieht,  die,  wie  sie  sagen,  Uber  allen  politischen 
Partheien  stehe:  als  die  Idee,  um  uns  auszudrücken,  des  Volks- 
tums. Wir  halten  deshalb  die  ganze  Darstellaug  des 
zweiten  Bandes  nicht  für  historisch. 

Was  namentlich  die  coutumes  betrifft,  hätte  der  Verf.  versuchen  müssen, 
(wie  er  theilweise  es  im  III.  Bande  gethan  hat}  für  gewisse  Lebren  die 
Hauptsätze  herauszufinden,  an  welche  sich  die  coutumes  gebildet  haben, 
und  diese  an  einzelnen  coutumes,  wie  z.  B.  von  Paris  zu  entwickeln \ 
dadurch  wäre  selbst  die  frühere  falsche  französische  Manier  beseitigt  wor- 
den, sich  an  den  Coutumier  general  oder  die  Conference  des  coutumes 
zu  halten,  oder  das  Pariser  Gewohnheitsrecht  als  tertium  comparationis 
aufzustellen,  oder  gar  das  französische  Gewohnheitsrecht  mit  dem  römi- 
schen Rechte  zu  vergleichen ,  oder  Sprichwörter  zu  commentiren  u.  s.  w. 
Ein  System  kann  wohl  mit  dem  römischen  Rechte  verglichen,  werden, 
nicht  aber  einzelne  Gewohnheiten,  welche  ein  System  voraussetzen. 

Auf  die  coutumes  beziehen  sich  bekanntlich  die  ordonuances;  es 
fehlt  dabei  nicht,  dass  Lücken  aller  Art  entstehen;  diese  zu  vermitteln 
sind  die  orrets  da  und  aus  ihnen  entsteht  die  jurisprudence ,  wie  das 
letztere  auch  heutzutage  noch  in  Frankreich  der  Fall  bt,  wo  der  Code 
civil  io  Anwendung  kommt. 

Das  siebente  Capitel  ist  nicht  uninteressant:  namentlich  der  Zustand 
der  früheren  Lehen ,  späteren  und  erblichen  Leben ,  des  germanischen  und 
römischen  Allod,  namentlich,  dass  man  der  Erblichkeit  wegen  auch  die 
Leben  Allod  nannte.   Nur  hätte  angegeben  werden  sollen  S.  147,  wie 


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mSchfiffner'   (ieschichte  der  Rerhtsverfassun?  Frankreichs 

sich  das  römische  Allod  vom  germanischen  unterschieden  hat  und  warum 
das  germanische  Allod  besser  war  wie  das  römische?  Gerade  in  solchen 
Dingen  ist  das  canonische  Recht  ganz  unbestimmt,  weil  es  den  Zweck 
hatte ,  eine  Transaction  zwischen  dem  römischen  und  germanischen  Rechte 
nicht  selten  durch  Stillschweigen  zu  machen.  Das  Wort  proprielas  be- 
deutet oft  das  römische  Allod,  oft  aber  jedes  vom  Lehen  verschiedene 
Rprht  oft  auch  das  Allod  und  Lehen  zusammen  Man  sieht  dieses  schon, 
wenn  man  den  Titel  der  Decretalen  Uber  das  petitorium  und  possessorinm 
vergleicht. 

In  der  ersten  Periode  dieser  Zeit,  wo  aber  nicht  allein  das  Lehen- 
wesen regierte,  sondern  auch  eine  davon  verschiedene  Hörigkeit,  ja  so- 
gar das  Recht  freier  Personen  und  des  AHodialguts,  hätte  man  ausgeben 
mttssen  von  den  Standen  und  ihrem  verschiedenen  Rechte  an  Leib,  Gut 
und  Ehre ,  wahrend  bei  dem  Verfasser  das  Wort  Lehenstaat  eine  zu  um- 
fassende Bedeutung  hat,  denn  neben  ihm  bestand  doch  noch  eine  schon 
von  der  älteren  Geschichte  ererbte  Heerbobeit,  die  zugleich  eine  Terri- 
torialhoheit im  Frieden  war,  und  welche  sich  bis  zum  Königthum  erhob. 
In  der  zweiten  Periode  war  dann  der  bekannte  Kampf  zwischen  deo 
seigneur's  und  dem  Königthume,  dessen  Vollendung  das  König ih um  etwa 
in  der,  weun  auch  fragmentarischen  Darstellung  bildete,  die  wir  bei  Loy- 
sei finden.  Auch  hier  kommen  bei  unserm  Verfasser  manche  Lebren  zu 
kurz ,  z.  B.  die  Lehen  sur  les  Offices ,  worüber  Loyseau  ein  so  gutes  Buch 
geschrieben  bat.    Kr  fahrt  ihn  blos  an  in  der  Note  der  Seite  312. 

Das  Lebenwesen  war  ein  künstliches  Institut,  der  Staat  ist  ein  na- 
türliches wie  die  Familie :  das  Lehenwesen  radicirt  sich  auf  einzelne  Gü- 
ter resp.  Rechte,  später  sogBr  auf  Aemter:  der  Staat  verlangt  ein  zu- 
sammenhängendes territorium  als  sichtbares  Ohject  der  Herrschaft;  das 
Lehenwesen  ist  in  der  Tbat  eine  societas  inaequalis ,  wie  bei  der  katho- 
lischen Kirche,  der  Staat  Ist  das  Haupt ,  an  welchem  organisch  die  Glie- 
der hängen  und  kann  sogar  der  societas  aequulis  sich  nähern.  Im  Lehen- 
wesen ist  Alles  ein  Gesellschaftsrecht;  die  Gerichtsbarkeit  wird  znm 
Zweikampf;  die  Gesetzgebung  ist  eine  Verabredung,  sowie  die  Besteue- 
rung; Krieg  und  Frieden  hangt  von  der  Fides  ab,  die  beide  Theile  ein- 
ander gewähren.  Dass  dasjenige,  was  künstlich  ist,  immer  künstlicher 
werden  muss,  liegt  im  Begriffe,  sowie  im  Geiste  des  Mittelalters  selbst, 
dessen  fein  künstliche  Entwicklung  in  alten  Dingen  der  Zweck  seiner 
Bestimmung  war.  In  dieser  Beziehung  hat  nun  der  Verf.  vom  achten  bis 
tum  zwölften  Capitel  vieles  Gute  geleistet. 


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Schäflfuer-  Geschichte  der  Rechlsverfussunfr  Frankreichs  207 

Dass  das  gemeine  Lehen  rech  l  in  Frankreich  nicht  vorkam,  wenig- 
stens nur  in  einigen  Theilen,  bat  der  Verf.  gut  ausgeführt:  ob  die  Ab- 
stractroo  des  Lebengewobnheitsrecbts ,  die  der  Verf.  im  zwölften  Capitet 
gemacht  bat,  genügend  ist,  will  der  Recensent  hier  nicht  entscheiden, 
weil  er  darauf  gerichtete  Studien  nicht  gemacht  hat.  Vom  Allodialrechte 
wollte  der  Verf.  iu  diesem  Bande  nichts  sagen,  weil  er  eben  einzelne 
Perioden  nicht  gemacht  hat,  vielmehr  diesen  Theil  in  seinen  dritten 
Band  verwies. 

Interessanter  war  für  uns  dasjenige,  was  er  vom  Königin nme  und 
Kirchenthume  in  diesem  Bande  angeführt  hat:  das  erste  halten  wir  für 
gelangen,  denn  die  königlichen  Griffe  waren  zu  fühlbar:  das  andere  hal- 
ten wir  für  weniger  gelungen,  offenbar,  weil  der  Verf.  im  canonischen 
Rechte  geringe  Studien  gemacht  hat,  indem  er  überall  den  grosseo  Bn- 
flass,  namentlich  auch  im  dritten  Bande,  vernachlässigt  bat,  welchen  das 
canonische  Recht  über  Prankreich  ausgeübt  hat.  Während  ein  Kampf  über 
die  sogenannte  Hoheit  unter  den  Königen  und  Päbsten  sich  erhob,  war 
der  Einfluss  des  canoniseben  Rechts  im  Kleinen  so  grossartig  unter  den 
Franzosen ,  wie  bei  keinem  anderen  Volke,  und  das  französische  Recht 
selbst  kann  nur  verstanden  werden,  wenn  man  das  canonische  Recht 
kennt.  Die  ganze  Lehre  des  canonischen  Privatrechts  ging  in  die  fran- 
zösische Praxis  über,  wie  wir  später  noch  zeigen  werden,  und  gerade 
deshalb  ist  den  deutschen  Interpreten  der  neueren  protestantischen  Rich- 
tung, selbst  einem  Mann,  der  als  Lehrer  sogar  canonisches  Recht  lehrte, 
wie  Zachariä,  die  Erklärung  des  französischen  Rechts  nicht  immer  ge- 
lungen. Die  Lehre  vom  Königlhnm  aber  ist  ziemlich  gut  dargestellt; 
freilich  ist  diese  Lehre  eine  der  verbreitetsten  in  der  französischen 
Literatur.  Unter  den  Schriften,  die  der  Verf.  S.  275  anführt,  finden  wir 
nur  eicht  die  über  das,  was  gleichsam  die  Entwicklung  des  königlichen 
Rechts  durch  die  französische  jurisprudence  nachweist,  aus  welcher  gerade 
hervorgeht,  wie  sich  die  wissenschaftlichen  Anbänger  des  König- 
tums zur  Herstellung  allgemeiner  Ordnung  bemüht  haben,  einmal  den 
König  zu  erbeben  über  die  weltliche  Hoheit  des  Kaisers,  die  der  Verf. 
unberührt  lässt  (er  hülle  hier  auf  ein  eigenes  gemeinsames  Bestre- 
ben der  französischen  Könige  und  der  venetianiseben  Republik  hin  ver- 
weisen  könoen),  dann  über  die  geistliche  Hoheit  des  Pabstes,  wofür  er 
nur  unten  im  Kircbenrechte  spricht  (auch  hier  hätte  er  der  Venetianer 
gedenken  konneu}  ,  endlich  über  die  Hoheit  der  seigueur'a,  deren  histo- 
rische Schicksale  er  wohl  angibt ,  die  literarischen  Mittel  aber  nicht  zeigt, 
durch  welche  sie  mehr  unterjocht  wnrden,  wie  durch  offenen  Kampf. 


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208 


Schäffner:   Geschichte  der  Kechtsvcrfassun?  Frankreichs 


Der  Ausgang  der  Dinge  war  die  bekannte  Parömie:  tot»  les  bommes  de 
son  royaume  lni  soot  sujets.  Selbst  die  ullramontanen  Schriftsteller  haben 
anerkennen  müssen ,  dass  der  König  den  Titel  par  la  grace  de  Dien  ange- 
nommen habe,  um  eine  Unabhängigkeit  vom  Kaiser  andPabst,  sowie  von 
Baronen  seines  Reichs  figürlich  anzuzeigen,  während,  wenn  andere  Per- 
sich  nicht  minder  auf  Gottes  Gnade  und  Barmherzigkeit  beriefen ,  sie 
noch  eine  äussere  und  weltliche  Macht  dazu  nennen  mussten,  von 
welcher  sie  ihr  Recht  herleiten ,  sowohl  die  Bischöfe,  wie  die  seigoeurs,  die 
Bischöfe  verwebend  auf  den  Pabst,  die  seigneurs  auf  die  suzerainete.  Wie 
das  Königtbum  sich  des  Einflusses  der  drei  Stände  bediente,  ist  im  vier- 
zehnten Capitel  gut  dargestellt.  Das  Resultat  war,  dass  die  Stände 
directen  Antheil  an  der  gesetzgebenden  Gewalt  nicht  nahmen ,  uud  dass 
sich  gerade  hier  zeigt,  wie  wichtig  das  Recht  der  königlichen  ord< 
ces  zu  allen  Zeiten  war.  Es  hätte  sich  hier  Gelegenheit  gegeben, 
allgemeine  Bemerkungen  über  den  Inhalt  der  königlichen  Ordonnanzen, 
dia  so  gut  gesammelt  sind,  vorzubringen.  Die  Rechte  der  Krone  selbst 
hätten  mit  Rücksicht  auf  privatrechtliche  Grundsätze  noch  besser  entwickelt 
werden  können,  nämlich  als  causa  individua  (das  Kronrecht  kann  nicht 
die  Erben  vertheilt  werden),  als  deutsches  Erbrecht,  wonach 
Annahme  bedarf,  nach  der  lex  salica  mit  Ausschliessung  der  Weiber,  als 
Singularsuccession,  wo  der  König  die  Schulden  seines  Vorgängers  nicht 
bezahlt,  und  überhaupt  von  dem  Willeo  seines  Vorgängers  nicht  abhän- 
gig bt,  ein  Punkt,  der  auf  die  Absolutheit  des  französischen  Kronrechts 

Das  Kronrecht  war  daher  in 


Allodialrecht ,  was  der  Verf.  besser  hätte  darstellen  können.  Unter  den 
Wirkungen  der  Krone  hätte  hier  gleich  das  so  wichtige  mundiburdium 
aufgeführt  werden  sollen.  Der  Verf.  hat  es  in  das  Privatrecht  verwiesen, 
allein  es  ist  ao  wenig  pri vat rechtlich  in  Beziehung  auf  die  dem  Könige 
unterworfenen  Personen,  wie  das  königliche  lloheitsrecht  in  Beziehung 

o..f    Amm    TtTnlnrini    nAor    ilnniimiim    «minpn«         Uns  V  firm  11  n  rl  c  r  h  a  fi  c  r  t>  f>  h  f  mI 

Hill   Uaa    i  erriiuriuiii   uuci    uuuiiuiuiu  ciuiiicus.      i/vs  » ui  huuuvvuvim  «vn  **» 

heutzutage  noch  ein  öffentliches  Recht.  In  der  ersten  Hinsicht  bat  sich 
in  Deutschland  das  kaiserliche  Recht  Uber  die  Juden  analog  ausgebildet, 
wovon  man  in  Frankreich  aus  bekannten  Gründen  nichts  wnsste.  Dagegen 
königliche  mundiburdium  viele  von  allen  Rechten  als  Fran- 
aus ,  z.  B.  die  Fremden ,  und  es  gab  nach  dem  Typus  des  Mittel- 

(Schlatt  folgt.} 


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Hr.  14.  HEIDELBERGER 


1851. 


JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR. 


(Schluss.) 

Das  Verhältniss  der  Stände  ist  im  vierzehnten  Capitel  etwas  zu 
dargestellt,  und  es  hätte  sowohl  hier,  wie  im  fünfundzwanzigsteu 

r*nUa1     Rüi>linnnn    nalro»  An      MiA  ■  J.n      mllaiaii     J..     I  TnK  Ai*/vn  n  rvc     Aam    tan  Aalatm 

la^uei  necijuuug  getragen  werden  müssen  ues  utuergungs  uer  leuuaien 
Ordnung  in  die  der  drei  Stände  und  der  Entwicklung  des  Bürgerlhums. 
Solche  Verhältnisse  findet  man  durchaus  hesser  dargestellt  in  den  Schrif- 
ten der  französischen  Schriftsteller  selbst,  die  einzelnes  Positive  und 
Historische  vorbringen  und  wenig  construiren.  Diese  Gelehrten  gehen  bis 
i:  sie  untersuchen  nicht  nur  Reohtssprtchwörter  der  Zeit, 
die  Bedeutung  der  Worte  selbst,  welche  gebrauch! 
wurden.  Wie  unterrichtend  ist  hier  das  achte  Buch  von  Pasquier  les  re- 
ch erches  de  la  France.  Das  Bürgerthum  entwickelt  sich  mit  der 
Sprache.  Das  Volksthum  ist  nur  das  Genie  des  Bürgerthums,  ea  fährt 
in  der  Nation.  Pasquier  hat  in  seinem  achteo  Capitel  die 
gegeben  zu  den  Rechtssprichwörtern,  die  Loysei 
hat,  und  in  welchen  in  der  That  der  schon  vor  der  Revolutio 
deoe  Geist  der  Nationalität  liegt.  Es  ist  noch  ungeheuer  viel  so  thun, 
um  die  Vereinigung  der  Stände  im  Bürgerthume  und  den  Zustand  der 

;r  Verfasser  nur  die  bekannten 

Dagegen  können  nnd  wollen  wir  lobend  anerkennen  dasjenige, 
was  der  Verf.  Uber  das  Königlhum,  seine  Verwaltung,  seine  Beamten, 
die  Hoheit  des  Königthums,  die  Finanz-  und  Polizeiverwaltang  zusam- 
hat,  und  wobei  ihm  freilich  sehr  reiche  nnd  in  einen  Cen- 
vercinigte  Quellen  zugänglich  waren.  Für  das  Bürgerthum  hätte 
der  Verf.  Viel  leisten  können ,  wenn  er  eine  recht  genaue  Darstellung 
der  Verhältnisse  der  Stadt  Paris  gemacht  haben  würde.  Man  vergleiche 
jedoch  dasjenige ,  was  er  S.  584  erzählt  und  Einiges  Über  die  Jurisdic- 
hat  er  II.  S.  424  ff.  angerührt. 

Formelle  des  Gerichtowesens  ist  Reissig  dargestellt,  sowohl 

necnis ,   wie  aie  ues  specieuen  iuh.hi», 
XLIV.  Jahrg.  2.  Doppelheft.  14 


uiginzeo 


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210  Schäffner:  Geschichte  der  Rcchtsverfassunc  Frankreichs 

namentlich  der  Messen,  des  Handels  und  der  Wechsel.  Aus  diesem 
Verhältnisse  ist  nothwendig  die  eigne  Verordnung  über  die  Handelsge- 
setae  hervorgegangen,  und  dieses  war  die  Veranlassung  der  gegenwär- 
tigen Abtheilung  des  bürgerlichen  Gesetzbuches  in  den  Code  civil  und 
den  Code  de  commerce.  Allein  der  Verf.  hätte  du  Gerichtswesen  besser 
nach  einem  dreifachen  Gesichtspunkte  eingeteilt,  nach  dem  gemeinen 
Recht,  nach  dem  besondern  Recht  und  nach  dem  königlichen  Recht  der 
Billigkeit  und  der  Oberaufsicht  über  die  Seigneuralgerichte.  In  ähnlicher 
Weise,  wie  sich  in  England  das  gemeine  Recht  und  das  Billigkeitsrecht, 
und  io  Rom  das  jus  civile  et  praetorium  ausgebildet  hat,  ist  auch  in  Frank* 
reich  durch  die  königliche  Auetontat  ein  Billigkeit»-  und  Hestitutionsge- 
richt  in  den  riquete*  ausgebildet  wurden,  in  der  That  ein  Gericht  der 
Gnade,  wo  wenn  Jemand  einen  königlichen  Brief  hatte,  die  Gerichte 
allerorten  diesen  Punkt  des  Rechts  nach  den  besonderen  Umständen 
des  Falb  besonders  zu  prüfen  und  darnach  au  erkennen  hatten.  Anf  diese 
Weise  hat  die  Gerichtsbarkeit  des  Königs  einen  ganz  allgemeinen  Spielraum 
durch  ganz  Frankreich  erlangt  und  dasjenige  vorbereitet,  was  am  Ende  sich 
auletat  aum  königlichen  und  obersten  Recht  der  gesammten  Privatrechts- 
gesetagebung  Uber  Frankreich  entwickelte.  Indem  der  König  gerade  da* 
durch  an  die  Spitze  alles  Rechts  in  Frankreich  sich  stellte,  vindicirte  er 
sich  das  Princip:  au  Roi  appartient  d'oetroyer  graces  et  dispenser  contre 
le  droit  commun.    Unter  dem  gemeinen  Recht  verstand  man  die  raison 

canonischen  Recht  und  die  Landesgewohuheiten.  Durch  das  jus  aequum, 
was  vom  Könige  ausging,  wurde  das  Recht  nicht  verwirrt,  sondern 
neben  dem  Buchstabenrechte  der  gemeinen  Ordnung  die  concreto  Billig- 
keit gebandhabt.  Das  System  der  lettres  de  grace  und  die  desshalb  be- 
stehende grossartige  Einrichtung  gehört  zu  den  reichhaltigsten  Quellen  für 
die  Geschichte  des  französischen  Königtbums.  Desshalb  muss  man  unter- 
aueben die  requetes  de  Photel  de  Roi,  an  deren  Spitze  der  Kanzler  stand, 
und  das  grosse  Werk  le  grand  stille  et  protocolle  de  la  Chancellerie  de 
France.  Nur  darauf  hin  kann  man  noch  Manches  erklären,  was  jetat  im 
Code  civil  vorkommt,  a.  B.  die  Ar  it.  1304—1314.  Wir  können  uns  — 
an  die  Vorschrift  dieser  Zeitschrift  gebunden ,  auf  die  weitere  Entwick- 
lung solcher  Dioge  nicht  einlassen:  noch  weniger  an  die  ungenügende 
Ausführung  Uber  das  Verhlltniss  der  Advokaten  und  Notare.  Das  Nota- 
riatswesen war  bekanntlich  im  Mittelalter  das  grossartigste  praktische 
Institut,  es  umfasste  das  ganze  Schreiberwesen,  und  durchdrang  nicht 
Hos  die  Ordnung  im  Privatrechtswesen,   sondern  auch  im  öffentlichen 

J    •  ; 


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Schaffner:  Geschiebte  der  Rechtsverfessang  Frankreich*.  911 


Recht,  die  notaires  da  Roi,  die  geheimen  Secrelaire  clercs  du  secrei 
eder  des  finaaces,  und  die  Bedeutung  dieses  Standes  ging  auch  auf  die 
geistlichen  Gerichte  und  Verwaltungen  über  (notarii  apostolici).  Diesem 
Verhältnisse  hätte  ein  eignes  grosses  Capital  gewidmet  werden  sollen, 
wobei  uns  gewiss  nicht  verdacht  werden  kann,  wenn  wir  dem  Verf.  in 
seinem  Werke,  dem  wir  schon  die  Nichtbeachtung  der  einzelnen  Perio- 
den vorgeworfen  haben ,  noch  besonders  vorhalten  müssen ,  dasa  er  seil 
i-anies  Material  nicht  im  historischen  Geiste  der  Zeiten ,  sondern  nach  dem 
Eindrucke  bearbeitet  hat ,  welchen  die  Gelehrten  heutzutage  von  dem  In* 
einandergreifen  der  Staatsmaschine  haben. 

Zwei  Richtungen  wollen  wir  hier  gänzlich  übergehen: 

1)  Diejenige  der  Staatsverwaltung  in  des  Verf.  Sinne,  von  der  er 
selbst  sagt:  „eine  äusserst  schwierige  Sache,  die  ebensowenig  wie  der 
Feudalismus  bis  jetzt  eine  erschöpfende  Beantwortung  erhalten  hat.  Der 
Zwack  des  Werkes  gestattet  uns  freilich  eine  grosse  Erleichterung,  wir 
haben  die  Geschichte  der  Verwaltung  bloss  Ubersichtlich  zu  behan- 
deln ,  die  administrative  Technik  nur  in  ihrem  Verhältnisse  zur  Verfassung 
zu  betrachten."  Auch  siebt  der  Verf.  ein,  dass  hier  mit  Abstraotionea 
nichts  zu  machen  ist.  Nur  im  System  der  modernen  Polizei  waren  die 
Franzosen  die  Erfinder  der  jetzigen  Ansichten,  und  es  fehlt  hier  nicht 
an  tüchtigen  Werken  darüber. 

2)  Das  Communal wesen.  Dieses  erfordert  ein  so  grosses  Detail- 
studiom,  dass  wir  nicht  wagen,  uns  darauf  einzulassen.  Dass  der  Verf. 
in  dem  Buche  das  Unterrichts  wesen  so  sehr  übergangen  bat,  ist  auch 
ein  Fehler,  er  hätte  namentlich  von  dem  Communal  Unterricht  sprechen 
müssen,  und  er  hätte  selbst  in  Beziehung  auf  Gewerbe  eine  schöne  An- 
leitung bei  Pasquier  gefunden,  z.  B.  über  die  Barbierer  und  Chirurgen 
(S.  598  der  Schrift). 

Dagegen  wollen  wir  die  letzten  Capitel  des  zweiten  Bandes  etwaa 
genauer  ansehen,  die  sich  über  das  allgemeine  kirchliche  Verhältnis»  der. 
gegebenen  Zeit  in  Frankreich  aussprechen. 

S.  494  bemerkt  der  Verf.:  ..die  Kirche  ordnete  im  Mittelalter  eine 
Reihe  von  Verhältnissen,  die  erst  allmählig  der  weltlichen  Macht  zufielen.* 
Allein  er  führt  das  Verhältniss  der  Kirche  zum  Staat  nie  gehörig  aus: 
weder  im  Standpunkte  der  Disciplin,  noch  der  Corporationen  zeigt  er, 
dass  überall  die  kirchliche  Ansicht,  namentlich  in  der  letzten  Hinsicht  von 
den  Bruderschaften,  die  Basis  der  weltlichen  Ordnung  wurde.  Der  Verf. 
bitte  unterscheiden  müssen  a)  den  Einfluas  der  Kirchengewalt  auf  daa 
rechtliche  Leben ,  ^)  den  Eiofluss  derselben  auf  daa  dogmatische  und 

u*. 


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212  Schäffner'   Geschichte  der  Rcchlsverfassung  Frankreichs 

moralische  Leben.  In  der  ersten  Hinsicht  bat  er  wohl  Alles  erwlhnt, 
was  sich  auf  das  Verhältniss  der  Kirche  zur  Staatsgewalt  bezieht, 
nur  müssen  wir  anerkennen,  dass  dieses  historisch,  d.  h.  nach  Perioden 
geordneter  und  genauer  im  ersten  Bande  der  Rechtsgeschichte  von 
Warnkönig  vorkommt,  wenn  auch  dieser  Punkt  nur  bekannte,  in  jedem  Buche 
klar  dargestellte  Dinge  enthalt,  wobei  bei  unserm  Verfasser  die  innere 
Beziehuung,  namentlich  in  der  Richtung  auf  Nachbarländer,  z.  B.  wegen 
des  in  Deutschland  bekannten  Investituratreites ,  nicht  gehörig  vergleichend 
hervorgehoben  ist.  Am  allerwenigsten  ist  der  Einfloss  gezeigt,  der  von 
Frankreich  aus  später  und  namentlich  im  achtzehnten  Jahrhundert  auf 
Deutschland  fiberging;  dann  ist  Vieles  sehr  ungenau  dargestellt,  s.  B.  der 
Einfloss  des  französischen  Königthums  auf  die  öcumeniseben  Concilien  der 
neuesten  Zeit,  die  Bedeutung  und  Richtung  des  Jansenismus  u.  s.  w.  Al- 
lein weniger  noch  ist  das  Schicksal  der  Kirche  in  Frankreich  selbst  her- 
vorgehoben. Dass  alle  Bestrebung  der  Calvinislen  nicht  genügend  war, 
das  katholische  Princip  in  Frankreich  zu  unterdrücken,  dass  man  sich  hier 
beglückt  fühlte,  ein  klein  wenig  an  den  Aussen  werken  der  Kirche  zu 
rütteln  durch  das  Phantom  des  Gallicanismns;  dass  aber  gerade  dadurch 
die  katholische  Bildung  unter  den  französischen  Geistlichen  zur  höchsten 
Blttthe  kam,  und  die  katholisch  -  theologische  Literatur  im  siebenzehnten 
und  achtzehnten  Jahrhundert  dort  die  besten  Bücher  besondere  für  das 
äussere  moralische  Leben  findet,  hätte  nicht  übergangen  werden  sollen. 
Aber  auch  der  juristische  Einfluss  des  canonischen  Rechts  ist  nirgends 
hervorgehoben.  Das  zweite,  dritte  und  vierte  Buch  der  Decretalen 
Gregors  IX.  hat  wohl  nicht  ata  System,  aber  im  Einzelnen  den  grösslen 
Einfluss  auf  Frankreich  geäussert,  in  den  Rechtsmitteln  und  der  Oassa- 
tion, im  Eberechte,  in  der  Systematisirung  der  Verlroge,  in  der  Lehre 
von  der  Veräusserung ,  namentlich  fremder  Sachen  u.  s.  w.  —  was  man 
in  jeder  Zusammenstellung  der  contomes  finden  kann,  sodass,  wenn  die- 
8os  aucn  nier  uoergangen  woraen  wäre,  es  uocii  im  urmen  oanae  neue 
bemerkt  werden  sollen ,  freilich  verweist  der  Verf.  S.  624  selbst  auf  den 
dritten  Band  seiner  Schrift,  aber  auch  hier  ist  keine  Ausführung.  Dass 
der  Verf.  nicht  einmal  der  zweideutigen  Gesinnung  eines  Pithou  Erwäh- 
nung getban  bat,  zeigt  von  seiner  geringen  Einsicht  in  den  Geist  des 

ron/micclion     HorMc  Winkt!»     \«-t,rr»     tranaran       Am     Pmflniii    Aar  «-«IlliflKfln 

chuuijisl-ucu  ulluis.  ?T j uii ig  vvaro  gor*  esen ,  aen  eiduuss  uer  »eitucnen 
Macht  dadurch  nnrhznu'AMPn    die«  Hin  Rßnnfirialearlirn  nnrh  in  rtA««A««nrin 

der  weltlichen  Jurisdiction  unterworfen  wurden.  Daher  kommt  die  Be- 
deutung der  rexreance.  Was  das  heissen  will  S.  661:  ..die  geistliche 
Gerichtsbarkeit  habe  ursprünglich  dem  Bischöfe  nur  im  Vereine  (?)  mit 


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Schaffner:  Geschichte  der  RechtSYerfassnntf  Frankreichs.  313 


der  DiöcesangeisUicbkeit  zugestanden«,  wissen  wir  nicht.  Der  Verf.  kannte 
weder  das  Kirchenrecht  an  sieb,  noch  war  er  sieh  selbst  klar.  Von  vielen 
Dingen  nimmt  der  Verfasser  keine  Notiz.  Es  war  dem  Recensenten  zu  seiner 
Zeit  höchst  interessant,  den  berühmten  Pasquier  in  seinem  dritten  Bache 
aber  kircbenrecbtliche  Dinge  zu  lesen.  Mit  einer  Ungeheuern  Klarheit  der 
Vcrliiiltnissc  seiner  Z&it^  nicht  ^  10  in  Deutschland  durch  sbstrflcto  An- 
sichten  gehoben,  sondern  durch  lebende  Personen  und  deren  Charakte- 
ristik gekräftigt,  zeigt  er  die  Gesinnung  der  Franzosen  der  unmittelbar 
vorgehenden  und  seioer  Zeit.  Mit  welcher  Heftigkeit  sind  sie  gegen  die 
Jeseiten  aufgetreten;  (chap.  42)  und  mit  welcher  Ruhe  hatten  diese  ihre 
C ons eq uenzen  fortgesetzt,  bis  zu  der  Zeit  ihrer  Aufhobung,  die  selbst 
keinen  andern  Grund  hatte,  wie  die  der  Tempelherrn.  Aber  Uber  alle 
diese  Dinge  ist  der  Verf. ,  so  hinweggegangen ,  wie  wenn  sie  in  Frank- 
reich keine  Bedeutung  gehabt  hatten.    Doch  genug  vom  zweiten  Bande. 

Indem  wir  nun  zum  dritten  Bande  übergehen,  erklären  wir  nach 
einer  genauen  Vergleichuug  mit  dem  Werke  von  Warnkönig,  auf 
welches  übrigens  der  Verfasser  keine  Rücksicht  genommen  hat,  dass  die- 
ser dritte  Band  der  gelungenste  Tl. eil  des  Unternehmens  ist,  wobei  es 
weniger  bei  der  äusseren  als  bei  der  inneren  Rechtsgeschichte  an  der  Ge- 
nauigkeit und  Bestimmtheit  fehlt,  welche  hier  so  wesentlich  ist.  Die 
äussere  Rechtsgescbicbte  wird  vom  1. — 8.  Capitel,  die  innere  Rechtsge- 
schich le  des  Privatrechts  vom  9.— 19.  Capitel,  des  Strafrechts  im  20.— 
21.  Capitel,  des  Civilprozessea  im  22.-26.  Capitel,  des  Criminalpro- 
zesses  im  27.  —  28.  Capitel   dargestellt.     Wir  wollen  uns  nnr  auf 
einige  Capitel  des  Privatrechts  einlassen  und  gerade  hier  nachweisen,  was 
noch  bitte  ausgeführt  werden  können:  denn  diese  historische  Unterlage 
war  in  der  Thal  dasjenige,  was  Tronchet  in  der  Seele  trug,  als  er  das 
Pf  oj d  x n ni  C od o  ci yi I  iu ö c Ii l c ,       ii r  für  die   ii n s s l r ö  Roch tß ^oschichto 
müssen  wir  vor  der  Hand  noch  bemerken,  dass  diese  gut  gelungen  ist, 
vielleicht  hätte  etwa  im  fünften  Capitel  darauf  hingewiesen  werden  können, 
dass  der  Geist  der  sich  fortbildenden  französischen  Rechtsordnung  sich 
ganz  besonders  in  den  Colonien  des  Morgenlandes  äusserte,  wo  man  in 
den  assises  klar  sieht ,  wie  sich  das  Bürgerthum  neben  dem  Adel  zu  ent- 
wickeln anfing.    Diese  assises  siod  die  eigentliche  und  Hauptquelle  des 
hervortretenden  Bttrgertbums.    In  dieser  Gestaltung  liegt  so  zu  sagen  auch 
der  Keim  zu  der  politischen  Verfassung  der  Neuzeit ,  namentlich  Englands 
in  seinen  beiden  Kammern,  und  daher  war  England  nur  revolutionär  in 
religiösen  RicWungen,  weniger  in  politischen.    Seite  146,  147  wirft  der 
Verl  die  schwierigste  aller  Fragen  auf:  wie  sich  die  Quellen  des  Rechts 


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214  Schäffher:  Geschichte  der  Rechtsvcrfassung  Frankreichs. 

in  Frankreich  vor  der  Revolution  zu  einander  verhalten  haben.  Aller- 
dings war  auch  hier  der  Gedanke,  wie  er  in  Deutschland  ist,  dass 
es  ein  gemeinsames  Gewohnheitsrecht  gebe:  allein  er  war  in  Prankreich 
besser  begründet,  denn  man  hielt  sich  an  das  Pariser  Stadtrecht,  le  droit 
commun  de  la  France  et  la  coutume  de  Paris  rednits  en  principes  .  .  et 
mis  dans  Tordre  d'un  commeutaire  complet  et  methodique  sur  cette  cou- 
tume par  F.  Bourjon.  Paris  1747.  1770.  —  man  hatte  auch  das  Pariser 
Stadtrecht  in  den  einzelnen  Lehren  gut  verarbeitet,  z.B.  in  der  berühm- 
ten Lehre  des  servitudes  mit  Rücksicht  auf  erchitectonische  Schriften  in 
Paris  1681  u.  s.  w.  bis  herunter  auf  das  treffliche  Werk  von  Pardessus. 
Diejenigen,  die  ein  solches  gemeines  Recht  Ifiugnen ,  verlangten,  dass  das 
römische  Recht  das  gemeine  Recht  sei;  allein  sie  sagten  nicht  welches? 
darum  ist  auch  das  römische  Recht  durch  seine  Interpretation  ein  sehr 
vielartiges  geworden:  diejenigen,  die  ein  gemeines  französisches  Recht 
zugeben,  verwerfen  wenigstens  für  den  Norden  Frankreichs  das  römische 
Recht:  aber  sie  hatten  doch  überlegen  müssen,  dass  nicht  nur  in  der 
Rechtswissenschaft,  als  auch  in  den  Ordonnances  der  spätem  Zeit  eine 
gewisse  Hinwendung  zu  dem  römischen  Recht  nicht  blos  in  der  Richtung 
der  Systematisirung  der  Begriffe,  als  auch  in  der  Ausfüllung  der  vom 
Gewohnheitsrechte  übrig  gelassenen  Lücken  sichtbar  werden  musste,  wie 
dieses  auch  die  Abfassung  des  Code  civil  bewiesen  hat.  Das  Resultat  ist 
a)  es  gibt  in  Frankreich  nur  insofern  ein  gemeines  Gewohnheitsrecht,  als 
man  Paris  zum  Muster  nimmt,  was  aber  nicht  allerorten  anerkannt  war, 
sondern  nur  in  der  isla  de  France,  was  aber  zur  Zeit  der  Gesetzgebung 
in  und  nach  der  Revolution  anerkannt  wurde;  b)  dieses  gemeine  Recht 
befriedigt  nicht  alle  Bedürfnisse  des  Lebens,  schon  weil  es  kein  voll- 
endetes System  hat ;  also  muss  in  das  römische  und  canonische  Recht  zu- 
rückgegriffen werden  1)  in  das  erstere  wegen  des  Systems  und  der 
Consequenzen,  2)  in  das  andere,  um  eine  Vermittlung  römischer  und 
germanischer  RechtssMze  zu  begründen.  Also  gab  es  znr  Zeit  der  Re- 
volution drei  gemeine  Rechte  in  Frankreich ,  jedes  für  seinen  Kreis:  a)  das 
Pariser  Stadtrecht  für  die  Gewohnheitsrechte,  b)  das  römische  Recht  für 
das  System  und  insbesondere  für  die  philosophische  Lehre  der  Verbind- 
lichkeiten, c)  das  canonische  Recht  für  die  Vermittelung  des  Systems  und 
der  Materialien  zu  einem  systematisch  gemeinen  Rechte  der  neueren 
Welt.  Leider  ist  der  Verf.  auf  diesen  Bildungsgang  nicht  aufmerksam 
geworden. 

Dieses  führt  uns  nun  zu  der  Beurtheitnng  des  dritten  Bandes  hin- 
sichtlich der  inneren  Rechtsgetchicbte  des  Privatrechts.    Der  Verf.  ist  ia 


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Schaffner:  Geschichte  der 


Fran  kreichs. 


der  Methode  dieser  Arbeit  nicht  mit  sich  einig  geworden.  Seine  Sab- 
jectiYittt  in  der  Vergleichung  des  Gewohnheitsrechts  mit  dem  römischen 
in  der  Auffindung  des  Gewohnheitsrechts  selbst  als  eioes  all- 


gemeinen, die  in  der  That  nicht  besteht,  in  der  Verwischung  aller  Gren- 
zen bei  der  Periodisirong  der  Geschichte  gibt  so  viel  Zuverlässiges,  dass 
das  Bach  nicht  einmal  dasjenige  ersetzt,  was  in  den  Institutionen  des 
Argou  gerunden  wird.  Wir  getrauen  uns  fast  jeden  Satz  in  seiner  pri- 
Yatrechtlichen  Geschichte  anzugreifen,  zumal  seine  Abstraction  nur  aus 
den  Begriffen  gemacht  ist,  die  der  Verfasser  kannte,  nicht  aus  denen, 
die  er  noch  hätte  verstehen  müssen.    Auch  in  der  französischen  Rechts- 

uns  nur  Monographien  helfen,  bei  denen  sich  von 
ein  allgemeiner  Blick  Ober  ganz  Frankreich  eröffnen  wird,  keines- 
solche  Werke  mit  allgemeiner  abstrahlender  Tendenz.  Dennoch 
wollen  wir  aoeh  hier  das  Verdienstliche  in  der  Arbeit  des  Verf.  aner- 
kennen ,  denn  die  encyclopädische  Bedeutung  lasst  sich  dem  Werke 
absprechen.  Der  vierte  Band  hat  aber  auch  für  diese  eocyclopä- 
inen  Werth.  Namentlich  hatte  der  Verf.  das  Prineip 
i ,  dass  jeder  Art.  des  Code  civil  seine  eigene  Geschichte 
bat  Wir  wollen  ihn  daher  zu  einer  neuen  Arbeit  auffordern:  Er  soll 
sich  bestreben,  die  historischen  Quellen  zu  jedem  Art.  des  Code  darzu- 
stellen, wobei  er  von  seinen  historischen  Ansichten  besseren  Gebrauch 

als  wenn  er  eine  allgemeine  Rechtsgeschichte  der  Frao- 
will.  Er  wird  hier  von  drei  Hauptrichtungen  ausgehen 
1)  von  den  herrschenden  Ansichten  der  Wissenschaft  vor  der 
Revolution,  Pothier  u.  s.  w. ;  2)  von  den  geltenden  ordonnonces  und 
den  die  neue  Zeit  ergreifenden ,  bald  zugelassenen ,  bald  verworfenen  Re- 
i;  3)  von  dem  Gewohnheitsrechte  der  Stadt  Paris.  Da« 
auch  dasjenige  erst  zur  Einsicht  kommen,  was  die 
Revolution  in  der  Umgestaltung  des  Privatrechts  gewirkt  und  nicht  ge- 
wirkt bat.  Was  das  Strafrecht  und  die  Gerichtsverfassung  betrifft,  das 
wir  unberührt:  in  diesen  Dingen  besteht  in  der  Gesammtwelt  noch 
eine  Art  von  Revolution ,  deren  Ende  noch  nicht  vorauszusehen  ist. 


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*16  Höplher:  Der  Krieg  von  1806  und  1807. 


Der  Krieg  von  1806  und  i807.  Ein  Beiträg  zur  Geschiente 
der  Preussischen  Armee  nach  den  Quellen  desKriegs- 
Archivs  bearbeitet  ton  Eduard  ton  Höpfner,  Oberst 
aggr.  dem  Generalstabe.  Erster  Theil:  Der  Feld%ug  von  1806. 

}l  1  Erster  Band.  Vorrede  VI  S.  490.  Zweiter  Band.  S.  396.  Mit 
Schlacht-  und  Gefechts  -  Plänen  und  Beilagen.  8.  Berlin ,  i850. 
\sOmvitsswn  oet  ocnropp. 

•  * 

In  dem  Ii e kannten  Griechischen  Sprichwort:  .Leiden  und  ler- 
nen11! liegt  ein  tiefer  Sinn,  die  häufige  Unfrei  Willigkeit  der  ge- 
priesenen Wissenschaft;  sie  wird  dem  von  Natnr  trägen  und  hand- 
werksmäßigen Menschengeist,  etliche  Aufnahmen  abgerechnet,  nur  durch 
Noth,  Hissgriffe  und  IrrthUmer  halbweges  aufgezwängt  und  eingeimpft; 
ohne  vielfältige  Lebenserfahrung  gehet  sie  niemals  in  Blut  und  Saft  über; 
ihre  eigentliche  Weihe  entspringt  aus  der  unerbittlichen  Selbstprü- 
fung und  Generalbeichte  begangener  Sünden;  ihre  Wurzeln  bildet 
mit  einem  andern  Worte  die  geläuterte,  der  schalen,  dogmatischen  Re- 
ceptirkunst  entgegengesetzte,  bescheidene  Kritik.  Dieses  Gesetz  gilt 
auch  von  der  Kriegskunst,  dem  Uberaus  schwierigen  Inbegriff  viel- 
facher, oft  mechanischer  Technik  und  entwickelter,  auf  einfache  Regeln 
zurückgehender  Wissenschaft.  Prüfende  und  zerlegende  Betrachtung  des 
in  That  und  Fluss  gesetzten  Heerwesens  oder  desFeldsugs  bildet  eine 
ihrer  fruchtbarsten  und  lehrreichsten  Quellen,  welche  weder  der  Strateg 
und  Taktiker  noch  der  politische,  den  Hergang  der  Staaten  aufsu- 
chende, Historiker  übersehen  darf.  Für  beide  Richtungen,  n  am  eullich  die 
streng  kriegs wissenschaftliche  Seite ,  füllt  das  vorliegende  Werk  eine 
fühlbare  Lücke  aus.  Es  zeigt,  auf  gedruckte  nnd  handschriftliche  Hülfs- 
mittel  gestützt,  wie  und  warum  der  verhängnissvolle  Feldzug  des  Jah- 
res 1806  seine,  mit  dem  tiefsten  Fall  der  Preußischen  Militärmo- 
narchie  endende  Wendung  nahm,  erstrebt  strenge  Gerechtigkeit  gegen 
Peind  nnd  Freund  und  weiset  in  angehängten,  generslisirenden  Betrach- 
tungen den  Schlüssel  der  kriegerischen  Begebenheiten  uach;  es  behan- 
delt den  Gegenstand ,  wie  bei  den  Griechen  mit  allerdings  höherer  Kunst- 
fertigkeit Polybios,  pragmatisch.  Diese  Arbeil  ist  daneben  auch  voll- 
kommen zeit  gemäss;  denn  theils  befindet  man  sich  an  einem  Wen- 
depunkt, welcher  Uber  kurz  oder  lang  zu  grössern  Heeresopera- 
tionen führen  kann,  theils  gingen  und  gehen  über  die  fragliche 
Katastrophe  oft  seltsame,  abentheuerlichsle  Urt heile  und  Ansichten  um. 
Nur  zu  oft  wurde  in  Bausch  und  Bogen  alles,  was  der  altpreussi- 


Höpfner:  Der  Krieg  von  180Ö  und  1807. 


217 


sehen  Armee  angehörte,  als  wurmstichig  Über  dem  Knie  abgeurtheilt, 
selbst  die  Tapferkeit  unbedingt  in  Frage  gestellt,  dagegen  der  Wi- 
dersacher masslos,  häufig  nur  nach  dem  Erfolg  und  ohne  Ken ntniss  seiner 
Einrichtungen   gepriesen.     Das  bekannte  Witzwort  Börne'*:  „nicht 
Preusseu,  sondern  Friedrich  der  Grosse  wurde  bei  Jena  und 
Auers  iü  dt  besiegt",  fand  bei  dem  lesenden,  oft  kopflosen  Kultur- 
michel,   dem  reinen  Zeitungs-  und  Broschürenpublikum,  unendlichen 
Beifall;  man  bekümmerte  sich  nicht  um  weitern  Aufscbluss.  Und  dennoch 
liegt  in  dem  humoristischen  Wort  in  so  fern  einige  Wahrheit,  als  der 
grosse  König  den  Fortschritt  gegenüber  seinen  Verhältnissen  ver- 
körpert und  diese  Bedingung  der  Wohlfahrt  Erben  hinterliess,  welche  sie 
im  Heere  und  Staatswesen  keineswegs  immer  pflichtmässig  eingeualleo 
haben.    „Denke  Er  nicht,  sagte  der  königliche  Greis  zum  Lieblings- 
schüler  Büchel,  ich  habe  immer  so  auf  dem  Lehnstubl  geses- 
sen und  gerufen:  „Ehre  komm'  her!  Hier  liegt  der  König 
von  Preusseu!"   Ne ,  sieht  Er  wol,  ich  habe  mir  den  Wind  um 
die  Nase  wehen  lassen/*)  —  Indem  mau  diese  Regel  des  per- 
sönlichen Schadens  und  Besserns  verabsäumte,  blieben  die  Formen  ste- 
hen;  der  belebende  Geist  aber  entfloh;  dem  Ganzen,  dessen  einzelne 
Glieder  oft  gesund  und  tüchtig  waren,  entwichen  Seele  und  ordnende 
Uebersicht;  es  versagte  im  kritischen  Augenblick  gegenüber  neuen,  un- 
bekannt gebliebenen  Fortschritten  und  Erfindungen  den  Dienst,  ja,  brach 
in  Folge  plötzlich  heraufbesebworner  Stürme  schmählich  zusammen.  Diess 
geschah  um  so  unaufhaltsamer,  je  weniger  der  politische  Zustand  den 
Bedürfnissen  uud  Mahnungen  der  Gegenwart  entsprach  und  alles  mied, 
was  durch  Kraft  und  staatsbürgerliche  Rechte  in  den  getrennten  Provin- 
zen das  Bewusstaein  geeinigter  Volkstümlichkeit  wecken  und  be- 
festigen konnte;  man  ahnete  nicht  die  Gefahren  der  staatlichen  und  mi- 
litärischen Verknöcherung  und  that  nichts,  ihr  gehörig  durch  zweck- 
mässige Reformen  za  begegnen.    Mit  vollem  Grund  wird  daher  in  dem 
Vorwort  (S.  5)  bemerkt:  „So  wie  der  Krieg  von  1806  in  seinem  Aus- 
gange das  Produkt  der  vergangenen  Zeit,  so  der  Krieg  von  1813  der 
Jahre  von  1807  bis  1812.    Gott  gebe,  dass  unserm  Vatertande  die 
siegreichen  Schlachten  der  Freiheitskriege  nie  das  werden,  was  der  sie- 
benjährige Krieg  der  alten  Armee  geworden  ist.    Die  kriegerischen  Epi- 
soden der  Jahre  1848  und  1849,  die  nur  schw floh  liehe  Feinde 


•)  Philipp  von  Büchels  militärische  Biographie.    Von  de  la  Motte 
Fouqu*.  I,  38. 


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318  Höpfncr:  Der  Krieg  von  1806  und  1607. 

gegenüber  zeigten,  können  uns  wohl  nicht  zur  Sicherheit  verführen."  — 
Der  Verfasser,  dessen  unbefangener  Bhck  schon  in  diesen  Worten  her- 
vortritt und  sich  durch  strenge  Unparteilichkeit  Uberall  beurkundet, 
schildert  zuerst  in  der  gedrängten  Einleitung  (S.  9—45)  den  allge- 
meinen politisch -diplomatischen  Gang  der  Ereignisse  und  wie 
sie  gemach  zum  Bruch  mit  Prankreich  heranreiften.  Es  wird  dabei 
mit  Recht,  jedoch  ohne  hinlängliche  Bestimmtheit,  ausgegangen  von  dem 
Basler  Separatfrieden  (5.  April  1795)  und  dem  Neutralit«  tsver- 
trag (17.  Mai)  als  Grundlagen  der  folgeoden,  von  Preussen  beob- 
achteten und  erst  ganz  zuletzt  aurgegebenen  Sonderbundspolitik. 
Ihr  Schöpfer  und  Pfleger  war  der,  bisweilen  über  Geböhr  herabgesetzte, 
Jedoch  von  dem  Wunsch  des  Königs  getragene  Graf  Haugwitz.  „La 
neutralite  fut  Pouvrage  de  Haugwitz,  sa  gloire,  son  enfant  che>iu,  heisst 
es  in  einem  halb  officielleo  Aufsatz  der  Minerva.  Die  guten  und 
schlimmen  Früchte  des  mit  Geschicklichkeit  und  Ausdauer  fest- 
gehaltenen Princips,  welches  Frieden  und  Wohlstand,  aber  auch 
Eigennutz,  Erschlaff  ung  und  verblendete  Sorglosigkeit  brachte, 
werden  darauf  hervorgehoben  und  mit  den  gleichartigen,  vielfaeh  ent- 
scheidenden Grundsätzen  des  Regensburger  Kcichsdeputationsge- 
schafts  (1803)  in  Verbindung  gesetzt.  Diess  geschieht  natürlich  zu- 
nächst in  Bezug  auf  die  neuen  Territorialverhältnisse  Prenssens 
und  nur  in  flüchtigen  Umrissen.  Jedoch  konnte  dabei  immerhin  die  Frage 
scharfer  hervorgehoben  werden,  warum  und  wie?  Frankreich  und 
Russland  in  die  innern  Angelegenheiten  Teutschlands  verwickelt 
wurden.  Die  Eifersucht  der  beiden  Hauptstaaten  zog  den  beobach- 
tenden Fremden  gleichsam  bei  den  Haaren  auf  die  heimische  Bühne  und 
gab  ihm  Gelegenheit ,  seinen  Ehrgeiz  abzukühlen.  Wie  wenig  aber  tbeuer 
bezahlte  Erfahrungen  und  Missgriffe  bessern  oder  belehren,  zeigt  die 
jüngste  Geschichte,  welche  nicht  eher  den  scheelsüchtigen  Gegensatz 
ruhen  liest,  als  bis  sich  der  östliche  Nachbar  einmengte  und  War- 
schau zum  Sitz  der  Vereinbarungspraxis  wählte.  Denn  man 
wollte  es  ja  so  haben.*)  —  Das  erste,  ziemlich  ausführliche  Kapitel 


*)  Diese  Stellung  ruhet  auf  dem  frühern  Off-  und  Defensivbflnd- 
niss,  welches  unter  dem  Namen  der  heiligen  Allianz  gestiftet  und  im 
G  ruucJ  g  t\  ig  tu  b  1  s  Hiii^orCtifKii^t  ^  nun  vc  r  1 3  ^  t  \%  u  r  tl  »  fcj  i  ii  u  n  Iii  ftss  ^  c  l)  1 1 1  Ii  c  r 
obachter  der  Zeitereignisse  schrieb  daher  in  seinem  Glossenbüchlein  bereite  am 
17.  September  folgende  Bemerkungen  nieder.  „Das  grosse  Concert.  —  Alle 
Welt  ist  gespannt,  das  Entree  bezahlt,  das  Publikum  ungeduldig,  das  Orchester 
versammelt,  aber  still.   Warum?  Es  wartet  auf  den  Contrebassisten.  Mit 


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Höpfncr:  Der  Krieg  von  1806  und  1807.  219 

beschreibt  die  geg enseitig en  Streitkräfte  (8.  45— 197)  and  das 
Wesen  der  Prcussiichen  und  Französischen  Armeeverfassung. 
Diess  ist  eine  sehr  schützenswerthe,  ans  bisher  zerstreuten,  theilweise 
unbekannten  Quellen  und  Nachrichten  hervorgegangene  militärisch- 
statistische Uebersicht,  welche  kein  Leser  ohne  Belehrung  aus  der 
Hand  legen  wird.  Schon  das  Zahlverbaltniss  bietet  einen  bedeutenden 
Abstand  dar,  indem  Prenssen  1806  an  Feld-  und  Garnisontruppen  für 
den  Krieg  6915  Offiziere,  247,724  Kombattanten,  Frankreich  da- 
gegen ohne  den  Rheinbund  und  die  Holländer  (etwa  80 — 90,000  Mann) 
560,200  Soldaten  besass,  nicht  gerechnet  den  Generalstab,  die  Gensdar- 
merie  u.  s.  w.  Noch  mehr  hatte  die  kaiserliche  Armee  dadurch 
voraas,  dass  sie  grundsätzlich  keine  Ansprüche  der  Geburt  und  ähn- 
licher Verhältnisse  berücksichtigte,  für  die  Militiirpflichtigkeit  (Konscrip- 
tion) keine  ständische  korporative  Ausnahme  duldete,  die  Ver- 
pflegung nicht  auf  Magazine,  sondern  auf  freilich  drückende  R  e- 
qaisitionen  im  feindlichen  oder  verbündeten  Lande  anwies,  durch 
Feldzöge  und  Zusammenziehung  in  grosse  Lager,  besonders  im  Jahr 
1805,  die  Mannszucht  befestigte  und  die  Schlagfertigkeit  nach  allen  Rich- 
tungen erhöhete,  die,  in  den  Revolutionskriegen  gewonnene  Massen- 
oder Kolonnentaktik  der  alten,  zu  einseitig  angewandten  Linear- 
taktik mit  Glück  entgegenstellte,  Leichtigkeit  der  Bewegungen  nnd 
Starke  des  Anpralls  zu  verknüpfen  trachtete,  auf  die  Bildung  desGenie- 
eorps  und  des  Generaistabs  einer-  des  leichten  Fussvolks  anderer- 
seits die  gehörige  Sorgfalt  verwandte,  geleistete  Dienste  auf  dem  Schlacht- 
felde glänzend  belohnte,  stattliche  Invalidenhit user  besass  und  trotz  des 
imperatorischen,  einheitlichen  Oberbefehls  eine  Art  demokrati- 
scher Kraft  im  Anfrücken  handhabte,  endlich  für  Agenten  nnd 
Späher  keine  Geldsummen  sparte.  Napoleon  kannte  daher,  was  hier 
versehwiegen  wird ,  die  Plane  und  Oertlichkaiten  seiner  Feinde ,  auch  der 
Preossen,  im  Ganzen  sehr  genau.  Sein  Soldat  war  dabei  gnt  geklei- 
det, bewaffnet  und  genährt,  Vorzüge,  welche  den  Erben  Friedrichs 
bei  der  Unendlichkeit  des  Gepäcks,  der  Knauserei  nnd  schwerfälligen  Un- 


der  Ankunft  des  Russischen  Kaisers  in  Warschau  wird  das  Concert  beginnen, 
etwa  gegen  Ende  Septembers;  das  erste  Stück  spielt  in  Schleswig-Hol- 
stein, das  zweite  tu  Frankfurt  a.  M.  in  Betreff  des  Bundestages,  das  dritte 
in  der  Schweiz  auf  diplomatische  Art  gegenüber  Neuenburg,  und  das 
vierte  wird  einstweilen  in  Betreff  Frankreichs  vertagt,  jedoch  nicht  auf- 
gegeben." 


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m  Höpfner:  Der  Krieg  von  1806  und  1807. 

Ordnung  des  Magazinwesens  meistens  abgingen.  Der  P  reo  sei  sehe 
Krieger  stand  dagegen  nicht  nach  an  Tapferkeit,  Mannszucht,  Manövrir- 
fähigkeit;  seine  Reiterei  übertraf  die  feindliche  an  Kraft  und  Gewandt- 
heit, seine  Artillerie  war  gut,  aber  nicht  hinlänglich  zahlreich,  sein  Fuss- 
volk  kaltblütig,  an  den  Bajonettangriff  nach  etlichen  Salven  gewohnt  und 
rasch  von  Schritt  wie  Bewegungen;  aber  eine  Hauptgattung,  die  leichte 
Infanterie,  fehlte  entweder  ganz  oder  trat  nur  in  etlichen  Bataillonen 
der  Buchsenjfiger  und  Scharfschützen  hervor.    Als  ein  Hauptgebrechen 
muss  man  neben  dem  ungeheuren,  fast  orientalischen  T r o s s  die  vielfache 
Zusammensetzung  der  Armee  aus  Fremden,  oft  aus  Abenteu- 
rern, betrachten.    Die  etalsmiissige  Zahl  derselben  betrug  80,993  Mann 
(S.  68),  wie  man  sich  dessbalb  im  Felde  eben  so  sehr  gegen  Deser- 
tionen wie  gegen  den  Feind  sichern  musste.    „Denn  die  Mehrheit  der 
Ausländer,  beisst  es,  bestand  aus  Abenteurern  oder  Strolchen,  welche 
von  einer  Armee  zur  andern  zogen,  viel  gesehen,  viel  erfahren  hatten, 
aber  nur  nicht  was  Treue,  Zucht  und  Gehorsam  war."  (S.  72.J  Für  die 
Eingebornen  gelten  dagegen  zuwider  aller  Vernunft  und  Billigkeit 
ausserordentlich  viele  Ausnahmen,  welche  UieiJs  Geburt,  theiis  Be- 
ruf und  Vermögen  brachteu.    Der  Adel  war  persönlich  befreit ;  un- 
bedingt eximirt  erschienen  die  Besitzer  adeliger  Güter,  welche  12,000 
Thaler  und  darüber  an  Werth  hatten   ferner ,  die  im  Staatsdienst  stehen- 
den CiviJbeamten ,  die  Söhne  der  Räthe  und  expedirenden  Secretärs  bei 
den  Landeskollegien,   der  Konsistorialrälhe  und  Universittftsprofessoren, 
einzelne  Städte  und  ganze  Bezirke  durch  besondere  Privilegien,  z.B. Ber- 
lin, Breslau,  das  Schleiche  Gebirge,  das  Herzogthum  Kleve  und  Ost- 
friesland.   Bedingte  Ausnahmen  galten  für  die  Söhne  der  Aerste,  Pre- 
diger, böhern  Schulbedieuten,  Generalpachler  und  solcher  Kaufleute,  welche 
jährlich  5,000  Tbaler  und  darüber  in  ihrem  Geschäfte  umsetzten  u.  s.  w. 
Mach  dem  amtlichen  Verzeicbniss  bestanden  1,197,431  kanton  (milittr-) 
Pflichtige  Feuerstellen  mit  3.320.122  kantonpfliebtiaeu  männlichen  Seelen ; 
aber  das  Verhältnis  der  wirklich  Diensttuenden  zu  den  Dienstfähigen 
gestaltete  sich  bei  den  unendlicheu  Ausnahmen  wie  1:7.  —  Desshalb  war 
es  auch  schwer,  eine  allgemeine,  der  durchgreifenden  Wehrpflicht  ge- 
wöhnlich verbundene  Vaterlandsliebe  zu  entwickeln-,  man  hing  in  der 
Armee  wie  in  dem  Volk  von  dem  Fleck  der  Geburt,  dem  Kreise  oder 
Bezirk  ab  und  schämte  sich  bei  einbrechendem  Unglück  nicht,  um  des 
kleinen  Stückes  oder  Lappens  willen  dem  grossen  Ganzen  den  Rücken  zu 
wenden.  —  „Die  Trümmer  unserer  Macht,  urtheilte  daher  Massen- 


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Höpfncr:  Der  Krieg  von  180€  und  1807. 


bach*),  werden  sich  nie  wieder  zusammenfügen ,  wenn  nicht  eine 
Staatsverfassung  gestiftet  wird,  deren  Schlußstein  das  feste  Ver- 
trauen  de«  Königs  zu  seinem  Volke,  und  des  Volkes  zu  seinem  Könige 
ist;  eine  Staatsverfassung,  welche,  indem  sie  Talente  entwickelt,  nur  Ta- 
lente belohnt ;  eine  Staatsverfassung  endlich ,  welche  der  Theorie  der  po- 
litischen Welt  so  nahe  kommt,  als  nur  immer  die  Ausführung  der  Idee 
kommen  kann!"  —  Das  zweite  Kapitel  beschreibt  die  ersten  Anord- 
nungen Prenssens  zum  Kriege;  es  machte,  uneingedenk  der  na- 
benden Gefahren,  mit  Einschlnss  von  19,000  Sachsen ,  nur  150,000  Hann 
mobil,  verabredete  nichts  Uber  etwanigen  Rückzug  und  armirte,  Mag- 
deburg ausgenommen,  keine  Festung.    Alles  geschah  wie  in  Anwan- 
delllog eines  verblendenden  Fatnms  tumultuarisch,  plan  -  und  kopflos.  Das 
dritte  Kapitel  verfolgt  die  langsamen  und  hänflg  ungewissen  Bewegungen 
der  Prenssen  bis  an  den  Nordfuss  des  Thüringer  Waldes. 
(S.  117 — 191.)    Dabei  werden  die  eingreifenden  Persönlichkeiten  mit 
Benatzung  einer  handschriftlichen  Arbeit  des  Generals  Clause  witz  aus- 
führlich and  in  der  Regel  treffend  geschildert    Hier  und  da  möchte  man 
jedoch  Einsprache  erheben  dürfen,  indem  die  Züge  bald  zu  unvollständig, 
bald  zu  pikant  ausfallen.    Der  71  jährige  Herzog  Karl  von  Braunschweig 
war  allerdings  trotz  der  Kriegskunde  und  des  gesunden  Urtheils  aus  Man- 
gel an  frischer,   entschlussfähiger  Kraft  für  den  offensiven  Oberbefehl 
nicht  sehr  geeignet ,  aber  sein  Harjptmissgeschick  bildeten  der  gleichzeitig 
wirksame,  vom  König  präsidirte  Kriegsrath  und  die  Anwesenheit  einer 
Französischen  Freundin ,  welche  offenbar  die  Schwächen  und  Plane  des 
alten  Herrn  belauerte  und  für  die  Landsleute  benutzte.  (S.  von  Henkefs 
Erinnerungen  S.  43.  Jahrbücher  1847  Nr.  22.)   „Der  Fürst,  bemerkt 
Massenbach,  (S.  102.  II.)  besass  die  Scharfsieh i  eines  guten,  aber  den 
kraftlosen  Willen  eines  mittelmässigen  Kopfes.    Er  konnte  von  sich 
sagen:  Video  meliora  proboque,  deteriora  sequor."  —  Oberst  Scharn- 
horst, Chef  des  herzoglichen  Generalstabs,  ist  zu  kurz  und  zu  flüchtig 
behandelt,  denn  dass  man  von  dem  Cbarakterbilde  etwas  lernen  könnte. 
Es  ist  ein  stiller,  abgeschlossener  Mann,  dessen  Tiefe  und  Bedeutung  dem 
alten ,  fertigen  und  geräuschvollen  Militärstaale  entgehen  musste.  Es  wurde 
ihm  desshalb  Unklarheit,  wie  auch  der  Verfasser  meint,  nicht  ohne  Grund 
vorgeworfen.    Eine  angemessene  Biographie  fehlt;  Beiträge  dazu  geben 

i 

*)  Denkwürdigkeiten  zur  Geschichte  des  Verfalls  des  preussischen  Staats. 
0,  2,  122. 


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223  Höpfner:  Der  Krieg  von  1806  und  1809. 

£.  M.  Arndt,  Rahden  und  Min u toi i  in  der  Schrift  über  Friedrich 
'Wilhelm  III.  Den  ersten,  bisher  Übersehenen  Aufsulz,  welchen  Scharn- 
horst als  Hannoverscher  Fähndrich  den  Mililäranstalten  des  Grafen  von 
Schaumburg  -  Lippe  widmete,  lieferte  Schlüter  (X.  Heft  53. 
S.  93  sqq.).  An  eine  geordnete  Landwehr  dachte  schoo  der  erwähnte 
Lehrmeister,  dessen  berühmter  Zögling,  scheint  es,  den  Plan  weiter  aus- 
bildete und  praktisch  anwandle.  —  Dem  59jährigen  Fürsten  von  Ho- 
henlohe, einem  lebendigen,  gemUthlichen ,  tapfern  und  von  Natur 
eigentlich  auch  gehorsamen  Soldaten,  wird  bei  mittelmässigen  Gaben  eis 
xu  hoch  fliegender  Ehrgeiz  vorgehallen.  Sein  Hauptfehler  lag  wohl  ia 
der  zu  grossen  Abhängigkeit  vom  Generalstabschef ,  dem  Obristen  von 
Massenbach,  einem  mehr  politischen  denn  feldherrlichen  Geiste.  Der- 
selbe lebte  seit  Jahren  in  der  Idee  eines  festen  Bündnisses  zwischen 
Frankreich  und  Preussen,  welches  vom  Niemen  bis  an  den  Rhein 
die  leitende  Spitze  eines  mächtigen  Föderativstaates  bilden  und  sich 

müsse.  Den  Krieg  mit  Napoleon  hielt  er  daher,  auch  wenn  man  ihn 
besser  vorbereitet  hätte,  für  eine  ungeheure  Thorheit  und  deu  nächsten 
Schritt  zum  Untergang.  Unklarheit  besass  er  jedoch,  wenn  seine  noch 
vorhandenen  Denkwürdigkeiten  als  Massstab  dienen  sollen,  keineswegs; 
überall  sind  die  Sachen  und  Verbältnisse  in  scharfen ,  bestimmten  Umrissen 
dargestellt,  oft  nicht  ohne  bedeutende  Wahrheit  und  richtiges  Urtheil. 
Die  angeborne  und  gepflegte  Lust  am  Theoretisiren  und  Räsonnireo 
tritt  aber  auch  hier  wie  im  Hauptquartier  hervor.  —  Der  52  jährige  Ge- 
perallieutenant  von  Rüchel,  tapfer,  eitel,  ehrgeizig,  beredt,  in  dem 
unbedingten  Preussenthum  Friedrichs  II.  und  seiner  Schule  fest- 
gerannt, wäre  „hei  grösserer  Einfachheit  ein  sehr  tüchtiger  Führer  ge- 
worden, doch  zur  Leitung  einer  Armee  eignete  er  sich  nicht. a  —  Der 
81jährige  Feldmarschall  von  Möllendorf  hatte  zwar  noch  einen  un- 
geschwächten Körper,  aber  keinen  entschlussfähigen  Schwung  des  Geistes, 
welcher  verkümmert  und  geschmeidig  in  kritischen  Augenblicken  hin  und 
her  schwankte.  Der  General  rhu  II,  wie  Mass  enb  ach  ein  Wirtem- 
berger,  „hatte  in  der  Armee  den  Ruf  von  Genialität,  beim  Könige  war 
er  aber  in  dem  Verdacht  grosser  Verschrobenheit,  und  nicht  mit  Un- 
recht." (S.  154)  —  Der  Obrist  Kleist  (später  Graf  von  Nollendorf), 
»eiliger  General- Adjutant,  „verstand  es  nicht,  seine  bedeutende  Stelle 
auszufüllen  und  eine  entscheidende  Stimme  zu  gewinnen,  wozu  er  mit  der 
Autorität  des  Königs  im  Hintergrunde  eigentlich  berufen  gewesen  wäre.14 


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Höpmer:  Der  Krieg  von  1806  und  1807. 


—  Den  70 Jührden,  tüchtigen  General  von  Kalkreuth  halte  die  viel* 
leicht  unkluge  Ernennung  jüngerer  Waffeugefänrten ,  z.  B.  Rüche  Pf  , 
zu  selbständigen  Kommandos  mit  so  tiefem  Ingrimm  erfüllt,  dass  dafür 
Worte  und  Theten  zeugten.  —  Das  vierte  Kapitel  beschreibt  die  Rü- 
stungen und  einleitenden  Bewegungen  der  Franzosen 
mm  Kriege.  Sie  eröffneten  gegenüber  dem  128,000  Mann  starken 
Preassischen  Operationsheer  den  Feldzug  mit  etwa  200,000  Mann  und 
gingen  sogleich  na  einem  eben  so  umfassenden  als  kühnen  A n griff  Uber, 
welcher  dnrcb  die  Besetzung  Naumburgs  (12.  Öctbr.)  und  der  Saalpässe 
die  linke  Flanke  des  Feindes  gefahrvoll  bedrohete.  Nachdem  das  fünfte 
Kapitel  die  rathlosen  Berathungen  in  Erfurt  geschildert  hat ,  wer- 
den in  den  folgenden  Abschnitten  (6  —  9)  die  beiderseitigen  Bewe- 
gungen und  Voranstalten  zu  den  entscheidenden  Schlachten  bei 
Jena  und  Auerstiidt  (14.  October)  wie  diese  selber  ausführlich  be- 
schrieben. Der  Verfasser  hält  dabei  den  rein  militärischen  Standpunkt  fest 
und  übergeht  wohl  absichtlich  einzelne  Züge  heldenmüthiger  Hingebung. 
Dahin  gehört  z.  B.  das  Benehmen  eines  15  jährigen  Knaben.  „Als,  mel- 
det Maasen  back  (II,  155.),  daa  Schicksal  des  Tages  (bei  Jena)  auf 
dem  Wendepunkt  stand,  als  der  Feldherr  (Hohenlohe)  hersprengte,  die 
Ordnung  eines  weichenden  Bataillons  herzustellen:  da  begleitete  ihn  auch 
der  fünfzehnjährige  Eberhard,  Sohn  des  Majors,  als  Ordonnanzoffizier. 
Der  Jüngling  erblickt  den  zurückweichenden  Fahnenjunker,  enlreisst  ihm 
das  Panier  und  ruft:  „Mir  dieses  Ehrenzeichen,  Dir  die  Schande!  Auf 
mich  sehet,  Bursche!  Hier  ist  Bure  Fahne.  Ihr  folgt!"  —  Und  so  trug  • 
er  die  Fahne  in  die  Linie  zurück."  —  Lehrreiche,  strategisch-tak- 
tische Betrachtungen  des  zehnten  Kapitels  beachliessen  den  ersten  Band. 
„Der  Charakter  in  den  meisten  neuern,  namentlich  von  Napoleon  ge- 
lieferten Schlachten,  heisst  es  neben  anderm  (S.  480),  besteht  in  dem 
langsamen  Verzehren  der  Kräfte,  um  den  letzten  Stoss  zu  tbun ,  wenn  der 
Gegner  mit  seinen  Kräften  fertig  ist,  so  dass  die  geringste  frische  Trup- 
penmacht ausreicht,  um  die  erschütterten,  gelichteten  Massen  des  Gegners 
zu  zertrümmern.  Bei  diesem  successiven  Gebrauch  der  Streitkräfte  bleibt 
aber  immer  die  Grundbedingung,  dass  der  letzte  Akt,  die  Entscheidung, 
mit  dem  Akt  der  Einleitung  und  Entwicklung  des  Gefechts,  ein  Ganzes 
bilde,  dass  man  die  Truppen,  welche  man  zur  Beschäftigung  des  Fein- 
des u.  s.  w.  verwendet,  nicht  schlagen,  nicht  aufreiben  las  st,  bevor  die 
frischen  Truppen  auftreten  konnten.  Diese  Grundbedingungen  fehlten  in 
der  Schlacht  bei  Jena  preussischer  Seit»  vollständig,  und  zeigt  dieselbe 


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224 


Höpfner:  Der  Krieg  von  1806  und  1807. 


daher  statt  eines  successiven  Gebrauchs  der  Streitkräfte,  ein  Gefecht 
mit  vereinzelten  Truppen."  —  Bd  Auers  tu  dt  erfolgte  das  Unglück 


Der  Verfasser  drückt  diesen  Gedanken  also  aos:  „Preussiscber  Seite 
fehlte  der  Uebergang  aus  der  Marsch-Disposition  ton  Schlacht- 
plan völlig.  Niemand  wusste  was  iu  thun  war;  die  Truppen  gingen 
ins  Gefecht,  ohne  zu  wissen,  was  man  wollte  und  sollte."  (S.  485.} 
Der  »weite  Band  beendigt  in  den  Kapiteln  eilf  bis  zwanzig  die  Kriegs- 
geschichte des  Jahres  1806  und  erläutert  das  Dargestellte  bin  und  wie- 
der durch  Betrachtungen  (Kap.  17}.  Die  Gefechte  bei  Halle  (17.  Oc- 
tober)  und  Lab  eck  (6.  Nor.),  wo  Blücher  den  Preussucheu  Waf- 
fenruhm behauptet,  und  die  Kapitulation  von  Prem  lau  (28.  October) 
werden  mit  besonderer  Sorgfalt  und  Klarheit  geschildert.  Das  letzte  Er- 
eigoiss,  an  Saratoga  mahnend,  bekommt  manche,  bisher  unbekannt  ge- 
bliebene Aufklärung;  der  Fürst  von  Hohenlohe  erscheint  im  Ganzen 
ehrenhaft  wie  Burgoyne  am  Hudsonfluss;  durch  Fehlgriffe  nnd  Missge- 
schicke verwickelt,  hat  er  nur  die  Wahl  «wischen  Uebergabe  und  Tod, 
sei  es,  dass  ihn  die  Schlacht  oder  der  Rückzug  auf  die  meistens  verlegte 
Strasse  gen  Stettin  bereitet;'  persönlich  willig  für  das  Aeosserste  findet 
er  keinen  bestimmten  oder  mannhaften  Entschluss  in  dem  versammelten 
Kriegsrath,  welcher  nichts  bietet  als  dumpfes  Stillschweigen.  Eine  ein* 
sige  Gegenäusserung  würde  gezündet  und  den  Pfad  gefahr  -  jedoeb  ruhm- 
voller Bbre  geöffnet  und  trotz  der  allgemeinen  Erschöpfung  dem  Soldaten 
Kran  des  Widerslandes  gegeben  haben.  Weil  sieh  aber  Niemand  in  dem 
kritischen  Augenblick  regte,  ging  der  Kapitulationsantrag  durch;  etwa 
10,000  Mann,  1800  Pferde  und  60  Geschütze  kamen  iu  die  Gewalt  des 
schlauen  Feindes.  Dieser  wusste  vielfach  seine  Starke  in  dem  vorange- 
gangenen Gesprächen  zu  überschätzen  und  bis  auf  100,000  Mann  zu 


steigern, 


(Schlusi  folgt.) 


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fr.  15.  HEIDELBERGER  1851. 

JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR 


Hftpfuert  Der  Krle*  von  tSOG  und  1SOY. 

(Schluss.) 

Der  Fürst  und  der  Grossherzog  von  Berg,  heisst  es,  (S.  188) 
r.Ueu  bei  Seite  (vor  der  Stadt  Prenzlau).  Der  Grossherzog  wendete 
Alles  ao,  um  den  Pürsten  von  der  Misslichkeit  seiner  Lage  zu  überzeu- 
gen, uod  äusserte  zn  verschiedenen  Malen,  wie  man  hören  konnte:  „Je 
Yoos  donne  ma  parole  d'booneur  que  Vous  ötes  cerne  par  100,000  hom- 
mes",  und  bezeichnete  sehr  lebhaft  gestikulirend  mit  den  Hinden  die 
verschiedenen  Gegenden,  wo  die  ganze  französische  Armee  stehen  sollte: 
»Voll«  le  corps  du  marechal  Lennes!  —  Voilä  le  corps  du  marechal 
Beroadotte!  —  Voila  le  corps  da  marechal  Soult!  et  je  me  trouve 
ici  arec  — "  mit  wer  weiss  wie  viel  tausend  Mann.  Der  Fürst  ritt 
zurück  und  besprach  sich  mit  mehreren  Generalen,  kehrte  dann,  als  die 
FraBzosen  ungedoldig  wurden,  zum  Grossherzog  von  Berg  zurück;  viele 
Offiziere  schlugen  inzwischen  allein  und  mit  Kommandos  den  Weg  nach 
Lockeflitz  ein  und  entkamen  glücklich  nach  Stettin.  Es  kamen  nunmehr 
die  Bedingungen  zur  Sprache,  als  während  der  Unterredung  dicht  hinter 
der  Anhöbe,  welche  die  Redenden  hinter  sich  hatten,  eine  mächtige 
Dampfkugel  aufstieg.  Man  fragte  sich,  was  das  sei?  worauf  ein  Fran- 
zose rief:  „An,  voila  le  signal  du  marechal  Soult,  qui  nous  annonce, 
qtfl  est  arrive  sur  Votre  chemin  et  qu'il  Vous  a  coupe*  Votre  re*traite.u 
Es  war  jene  Dampfkugel  nichts  anderes  als  ein  preussischer  Pulverkasten, 
der  durch  Zufall  ohne  bedeutenden  Knall  in  die  Luft  geflogen  war;  der 
Franzose  war  nur  schlau  genug  gewesen,  diess  für  seinen  Vortheil  zu 
beoolzen"  u.  s.  w.  —  Wie  man  sich  aber  bei  besserer  Fassung  immer- 
hin, wenn  auch  mit  grossem  Verlust  durchschlagen  konnte,  zeigte  der 
Prinz  August,  Bruder  des  bei  Saalfeld  gefallenen  Ludwig  Fer- 
dinand. Er  leistete,  von  seinem  Adjutanten,  dem  später  berühmt  ge- 
wordenen General  Claus ewitz  unterstützt,  mit  den  Trümmern  einea 
Grenadierbataillons  nördlich  von  Prenzlau  bei  Ellingen  den  hartnäckigsten 
Widerstand ,  schlug  mehre  Angriffe  der  feindlichen ,  2000  Pferde  starken 
Reiterei  ab  und  kapitnlirte  nicht  eher,  als  bis  seine  250  Leute  meistens 
teschotten,  verwundet  oder  in  die  Sümpfe  getrieben  waren.  Napoleon 
XUY.  Jahrg.  2.  Doppelheft.  15 


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226  Höpfncr:  Der  Krieg  von  180«  und  1807. 

•  • 

nahm  den  jungen  Mann  in  Berlin  mit  grosser  Achtang  auf  und  erlaubte 
ihm,  aich  von  seinen  Wunden  bei  den  Eltern  heilen  zu  lassen;  jedoch 
dürfe  er  keinen  Briefwechsel  führen  und  müsse  sich  aller  Reden  enlbal- 
ien.  *uo  i  —   1/98    leiAie ,    zwanzigste    i\a|iiici   Bcniiui?!  1 5  ineiinciBO 

nach  ungedruckten  Quellen,  die  fruchtlosen  Waffenstillstands-Un- 
terhandlungen zu  Cliarlollenburg.  Es  ist  zu  wünschen,  dass  der 
Herr  Verfasser  bald  den  zweiten  Theil  seines  lehrreichen  Werkes  liefern 
und  den  Feldzug  des  Jahres  1807  erläutern  möge.  Derartige,  wenn 
auch  streng  militärische  Schriften  kommen  auch  der  allgemeinen  Ge- 
schichte und  dem  grössern,  wahrhaft  gebildeten  Publikum  zu  gate. 
18.  Dec. 


Geschichte  des  sogenannten  Tugend  -  Bundes  oder  des  sittlich  -  wissen- 
schaftlichen Vereins.  Nach  den  Original- Acten  ton  Johannes 
Voigt.  Berlin ,  Decker' sehe  Ober-Hofbuchdruckerei.  1850,  IL 
Vorrede.  120  S.  8.  N 

Die  oft  besprochene,  bald  zu  boch,  bald  zu  niedrig  angeschlagene 
Verbindung  der  Tugendfreunde  wird  hier  von  einem  anerkannt  tüch- 
tigen ,  gewissenhaften  Historiker  und  unmittelbaren  Zeitgenossen  das  erste- 
mal nach  den  Urkunden  geprüft  und  dargestellt.  Viele  Vorurtbeile  und 
Täuschungen  zerrinnen  sofort  bei  dem  Lichte  der  Kritik;  die  von  Etlichen 
gepriesene,  von  Andern  verunglimpfte  Gesellschaft  erscheint,  auf  ihr  ge- 
ichichtüches  Maass  zurückgeführt,  eis  der  harmlose  Verein  vaterländisch 
gesinnter,  gemeinnUUüch  wirkender  Männer  ohne  grossartige,  militä- 
risch-politische Richtung.  Dieses  freilich  nüchterne,  den  gewöhn- 
lichen Ansichten  widerstrebende  Endergebniss  wird  in  sechs  Abschnitten 
dem  Leser  vorgeführt.  Zuerst  wird  die  Entstehung  des  Vereina  eis 
Frucht  der  über  Preussen  und  Teutschland  ergangenen ,  jüngsten 
Stürme  und  beispiellosen  Leiden  behandelt,  der  OberGskal  Mos  qua  zu 
Königsberg  als  Finder  des  leitenden  Gedankens  bezeichnet.  „Nur  in  der 
jnoern,  sittlichen  Erhebung,  in  der  Wiedererweckung,  Stärkung  and  Be- 
währung vaterländischer  Tugenden,  in  der  thatkriifligen  Wirksamkeit  ächt- 
patriotischer Gesinnung,  glaubte  der  wackere  Mann,  müsse  die  abhaltende 
Scbwuogkraft  gefunden  werden ,  die  das  zur  fremdherrlichen  Dienslbarkeit 
entwürdigte  Vaterland  zur  alten  Grösse,  den  tief  erniedrigten  Thron  zu 
seinem  frühem  Glänze  wieder  emporbringen  könne."  (S.  3}  Die  Re- 
gierung, unier  Steins  kräftige  and  umsichtige  Reformhand  gestellt, 


Voigt:  Geschichte  des  Tugend-Bundes. 


bestätigte  nach  mehrmonatlichem  Stillschweigen  den  Verein  für  die  Aus- 
übung öffentlicher  Tugenden  oder  die  sittlich- wissen- 
schaftliche Gesellschart;  jedoch  sollte  er  sich,  wie  der  königliche 
Cabinets  -  Bescheid  vom  30.  Junias  1808  lautete,  ganz  in  den  Grunzen 
der  Landesgesetie  und  ohne  alle  Einmischung  in  Politik  und  Staatsver- 
waltung beschäftigen,  jede  Ausartung  bei  Strafe  sofortiger  Endschaft 
meiden  nnd  jetzt  wie  vierteljährig  eine  Liste  seiner  Mitglieder  einreichen. 
(S.  14)  —  Unter  diesen  zeichneten  sich  durch  Thatigkeit  für  die  Zwecke 
besonders  ans  der  Professor  Lehmann  in  Königsberg,  Krug  ebenda- 
selbst und  spater  in  Leipzig,  der  Sud-Preussiscbe  Justiz- Assessor  Heinrich 
Bardeleben  ans  Prenzlau,  Verfasser  der  wirksamen  Schrift:  „Preos- 
sens  Zukunft-,  der  Rittmeister  von  Dörenberg,  der  Major  von  Grol- 
■  ii  (nachmals  General  der  Infanterie),  der  Major  von  Boyeo  (nach- 
mals Kriegsminister),  der  Major  Prinz  Hermann  von  Hoheniollern- 
Hecbingen,  der  Major  Ferdinand  von  Schill,  zu  Kolberg  aufgenom- 
men, der  Herzog  von  Holstein-Beok,  die  Hauptleute  von  T h i I e  und 
von  .Ingersleben  (spater  Oberpräsident  am  Rhein),  Staatsrath  von 
Ribbeutropp  u.  s.  w.  Dagegen  suchte  mau  Stein,  Gneisenau, 
Scharnhorst,  Hüllmano,  Schleiermacher  n-  s.  w.  umsonst  zu 
gewinnen,  fand  überhaupt  nicht  mehr  als  334  meistens  in  Preussen, 
Schlesien,  Pommern  wohnhafte  Mitglieder.  Die  ursprüngliche  Verfassung 
und  innere  Organisation  war  einfach,  aber  auch  mangelhaft;  später,  seit 
dem  Herbst  1 809 ,  wurde  sie  sehr  künstlich  und  erstickte  gerade  dadurch 
den  belebenden  Geist.  Obenan  stand  der  Königsberger  Stamm  verein 
als  Centraibehörde  mit  dem  hoben  Rath  und  dem  Obercensor; 
dann  folgten  Zweigvereine  mit  Provinzialrätben  und  Cen- 
loreo,  darauf  Kammern,  auf  bestimmte  Geschäfts  thatigkeit  angewiesen, 
z.  B.  Erziehung,  zuletzt  Frei  vereine,  welche  namentlich  das  Landvolk 
für  die  Absichten  der  Gesellschaft  ergreifen  und  vorbereiten  sollten.  Ein 
besonderes  Augenmerk  hatte  man  auf  die  kriegerische  Ausbildung; 
denn  neben  den  gewöhnlichen,  für  die  Stärke  nnd  Gewandtheit  des  Lei- 
bes bestimmten  Uebungeu,  wie  Laufen,  Springen,  Werfen,  Schiessen, 
Schwimmen  u.  s.  w.  sollte  das  sogenannte  Mi  Ii  tä  r- Ins  ti  t  u  t  tbeils  „ge- 
meinschaftlich die  Kriegswissenscbaft  nach  ihrem  ganzen  Umfange  zu  er- 
gründen trachten,  tbeils  einwirken  sowohl  auf  Fortbildung  junger  Offiziere 
in  Wissenschaft  und  Sittlichkeit,  als  auch  auf  den  gemeinen  Soldaten,  fttr 
welchen  man  einen  vollständigen  Unterricht  über  seine  Pflichten  auszu- 
arbeiten habe."  (S.  68.)  Offenbar  war  es  daher  trotz  des  gemeinnützi- 
gen und  philantropischen  Gepränges  für  die  eigenllicben  Leiter  des  Veretna 

15* 


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Voigt:  Geschichte  des  Tugend-Bundes. 


Hauptabsicht  die  ..Wiedergewinnung  der  physischen  und  politischen  Kraft  des 
»Staats  vorzubereiten,  wenn  einst  Umstände  eintreten  sollten,  die  eine  solche 
Wiedergewinnung  begünstigten."  Aber  eben  desshnlb  wurde  der  Zweck, 
welcher  zunächst  eine  feindselige  Stellung  zu  Frankreich  enthielt, 
weder  in  den  Statuten  noch  sonstwo  ausgesprochen,  vielmehr  stillschwei- 
gend festgehalten  und  verfolgt.  Die  Gesellschaft  hatte  insofern  allerdings 
in  ihren  ursprünglichen  Bestrebungen  mittelbar  eine  patriotisch- 
politische  Tendenz,  welche  man  aber  spater  ängstlich  zu  überkleistern 
suchte  und  gerade  dadurch  den  Verfall  beschleunigte.  (Vgl.  Krug  auf 
8.  93.3  Dennoch  machte  die  Sache  bei  der  allgemeinen  Erschlaffung  and 
Einschüchterung  nur  geringe  Fortschritte;  denn  die  Einen  langweilten  sich 
bei  der  philanthropisch  -  gemeinnützigen  Richtung,  die  Andern  schreckte 
die  hier  und  da  im  Hintergrunde  erblickte  politische  Tendenz  ab.  Umsonst 
suchte  daher  der  feurige  und  thätige  Bardeleben  durch  allerlei  pikante 
Agilationsmittei  in  Berlin  eine  Hauptkammer  zu  stiften;  die  Gebildeten 
merkten  Unratli  und  die  Masse  hatte  nur  für  rohe  Aeusseriichkeiten  Sinn. 
„Dieses  Volk,  schrieb  halb  unmuthig  der  Apostel  zurück,  lasst  sieb  vor- 
züglich bei  Weissbier  und  Taback  ergreifen  und  bearbeiten.  Auch 
in  Frankfurt  (an  der  Oder)  wird  mit  Glück  die  Sache  von  dieser  Seite 
angefasst,  da  leider  mit  dem  geistlichen  Stande  überall  wenig  anzufangen 
ist.u  (S.  28.)  Die  unglückliche,  kühne  Ausfahrt  Schills  brachte  neue 
Hemmnisse;  denn  der  Major  gehörte,  obschon  man  ihn  verleugnete ,  dem 
Tugendbunde  an ;  eben  so  war  sein  Waffengefährte ,  Lieutenant  Barsch, 
ein  tbitiges  Mitglied  gewesen,  und  auch  der  Graf  von  Krokow  halte 
sich,  wie  der  Königsberger  Stammverein  artheilte  und  desshalb  die  Ge- 
nannten feierlich  ausstiess ,  der  Conspiration  schuldig  gemacht. 
(S.  91.)  Fortan  kränkelte  die  Gesellschaft  sichtbarlich ;  sie  suchte  hinter 
einem  papiernen  Bollwerk  künstlicher,  auf  allerlei  Gemeinntttzlichkeit  be- 
rechneter Institutionen  umsonst  Trost  und  Schirm;  der  feurige,  pa- 
triotisch-aktive Geist,  in  der  Mehrheit  schon  früher  schwach,  entfloh 
oder  suchte  ausserhalb  und  unter  der  Hülle  des  Vereins  für  seine  Zwecke 
zu  arbeiten.  Jener  selber  stellte  dagegen  in  den  vielen  schriftstellerischen 
Arbeiten  und  Pianeu,  den  häufigen  Sitzungen  und  mündlichen  Vorträgen 
das  bescheidene,  langweilige  Bild  der  ordinärsten  Gemeinnützlichkeit  dar. 
Die  Gescbäftsabtheilun?  für  Wissenschaft  and  Kunst  z,  B.  t heilte 
sich  zu  Königsberg  und  anderswo  in  zwei  Klassen;  die  eine  sollte  sich 
tbätig  beweisen  durch  „Einfluss  auf  die  Deutsche  Literatur  im  Allgemei- 
nenu  (dafür  liess  sieb,  wie  zur  Ironie,  nur  ein  Regiments  -  Chirurgus 
einschreiben),  die  andere  sich  durch  „Theilnahme  an  der  nie  erschienenen 


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Voigt:  Geschickte  des  Tngend-Bundes.  229 

Zeitschrift:  „Wiedergeburt  der  sittlichen  Welt«  betätigen  (&  71).  Am 
meisten  wirkten  noch  auf  dem  Lande  die  sogebeisseneo  Freivereine 
für  die  materielle  und  sittliche  Wohlfahrt  des  Volks.    Dennoch  galt  hier 
und  da  die  lächerlichste  Geheimnissthuerei  für  offenbar  unschuldige 
Dinge.    So  verordnete  eine  besondere  „Lokal-Gesetzgebung"  für 
die  übrigens  praktische  und  wirklich  gemeinnützige  Kammer  in  Brauns- 
berg:  „Stillschweigen,  ausserhalb  des  Bundes,  gegen  Jedermann 
ober  das,  was  in  demselben  gesprochen,  vorgeschlagen,  gelesen  oder 
gethan  wird,  ist  als  erstes  Gesetz  proclamirt  worden;  selbst  die  Ehe- 
frauen der  unter  uns  verheirateten  Mitglieder  werden  sich  damit  begnü- 
gen,   im  Allgemeinen  zu  wissen,   dass  wir  zu  einem  Männerbunde 
geboren,   der  sich  der  Tugend  und  dem  Valerlande  weiht«  (S.  76.) 
Derartige  Wichtigthuerei  für  ganz  nützliche  Debatten  über  Kartoffelbau, 
Gewerblichkeit  u.  a.  w. ,  wurde  aber,  von  den  Gegnern  ausgebeutet  oder 
ins  Lächerliche  gezogen  ,  auch  ernsthaften ,  patriotischen  Absichten  mit  der 
Zeit  schädlich,  ja,  gefahrvoll;  streitbare,  aaf  wirklichen  Widerstand  ge- 
richtete Persönlichkeiten  traten  entweder  aus  oder  bedienten  sieb  der  ge- 
sellschaftlichen Formen  und  Verbindungen  für  höhere  Zwecke  als  Kar- 
ioffelbau  und  Entsumpfung  wüster  Moorgründe.    Fremde  und  heimische 
Agenten  des  Franzosenthums  unterliessen  es  dabei  nicht,  mit  den  phi- 
listerhaften Wichtigtuern  welteifernd,  die  Tugendgesellschaft  durch  Zei- 
tungsartikel und  Angebereien  als  staatsgeführlich  zu  verdächtigen,  und 
edle,  vorwartsstrebende  Mitglieder  erkannten  allmählig  die  Unmöglichkeit, 
durch  gemeinnützige  Philanthropie  belebend  und  aufregend  in  die  dumpfe 
Masse  einzugreifen.    Die  künstliche,  seit  Senil  Ts  Auftritt  einge- 
führte Organisation  mit  vorherrschender  Gemeinnützlichkeit  brachte  daher 
bald  äusserlich  dem  sittlich  -  wissenschaftlichen  Verein  den  Todesstreich; 
er  wnrde  am  31.  December  1809  durch  königliches  Cabinetsscbreiben 
ohne  alles  öffentliche  Aufsehen  aurgelöst,  die  gesammte,  weitsebichtige 
Schreiberei  abgeliefert  und  versiegelt,  die  Mitgliedschaft  weder  im  Guten, 
Doch  im  Bösen  angerechnet  und  die  Censurbehörde  beauftragt,  keine 
Schriften  und  Aeusserungen  Uber  diese  ganze  Angelegenheit  veröffentlichen 
zu  lassen.  (S.  106.)  —  So  starb  der  Tugendbund,  nachdem  er  sich 
seit  1809  auf  eine  zu  breite,  geräuschvolle  Basis  gestellt  hatte,  offi- 
ziell; aber  der  patriotisch  -  militärisch  -  politische  Gedanke,  einmal  an- 
geregt, blieb  aufrecht  und  unterhielt  eiuen  engern,  wenn  auch  nicht  auf 
Statuten  ruhenden ,  werkthätigen  Bund ,  welchen  weder  die  Franzosen  noch 
die  Teutscben  Cabinetsregieruogen  tödten  konnten.    Denn  der  einmal  ge- 
gebene Anstoss  wurde  nicht  durch  den  Auflösuugsbefehl  erschüttert  oder 


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Voigt:  Geschichte  des  Tugend-Bnnde*. 


ganz  gebrochen;  »eise  Wirk  engen  dauerten  fort  und  führten  einander 
Gleichgesinnte  zu,  welche  mit  grösserer  Thatkraft  und  geringerm  Aufwand 
an  theoretischem  Grübeln  den  gemeinsamen  Feind  bekämpften.  Man  nahm 
ia  die  Gesellschaft  auf  ohne  weitläufige ,  geschriebene  Statuten ,  man  han- 
delte in  ihrem  Geiste  ohne  die  oft  lästigen  und  erschwerenden  Abstufun- 
gen and  Beiwerke  der  innern  Organisation;  der  Tugendbund  wurde  mit 
einem  Wort  praktische  Wahrheit.  Allerdings  hat  er  nicht  den  unmittel- 
baren Anstoss  zu  der  starken  Freiheitsbewegung,  welche  namentlich  in 
Preussen  und  Nordteutschland  dem  Russischen  Feldzuge  des  Jahres  1812 
folgte,  gegeben,  aber  doch  vielfach  und  wesentlich  die  Gemtllher  darauf 
Torbereitet  und  gerüstet.  Die  Gesellschaft,  ibrer  papiernen,  künstlichen 
Verfassung  ledig,  wirkte  nur  desto  freier;  mit  Grund  fragte  lange  nach 
dar  Auflösung  (14.  Jun.  1810)  der  alte  Uhu  her  naiv  seinen  Freund 
Eisenbart:  „a  pro  po  wie  stet  es  mit  die  Tugend- II ilter?tt*); 
denn  er  wusste  recht  gut,  dass  sie  nicht  todt  waren  uud  handelte  in  dem- 
selben Sinne.  Die  etwanige  Annahme,  jene  hier  mitgetlieilteu  Originalactea 
hatten,  wie  der  beliebte  Ausdruck  lautet,  den  Zeitgenossen  eine  patriotisch 
historische  Illusion  geraubt,  ist  daher  günzlich  irrig;  der  Bond  bestand 
fort ,  aber  ohne  Papier  und  gemeinnützlicben  Aushängeschild. 
Es  gibt  noch  lebende  Zeugen,  welche  ihm  angehört  und  für  ihn  gewor- 
ben haben.  Sie  fühlen  aber  schwerlich  Beruf,  ein  flatterhaftes  Publikum 
der  lieben  Neugier  wegen  mit  allerlei  Aufzeichnungen  und  patriotischen 
Ergüssen  zu  behelligen  und  ihm  seiue  werklose  Epigonenpolitik  des  ewi- 
gen Negirens  zu  verkümmern  oder  neue  Reichs-  und  Unionsphaatasieen 
aufzufrischen. 

*)  Siehe  von  Dorow,  Denkschriften  und  Briefe  I,  61. 

Morl  ilaai. 


Beitrag  zur  Kenntnis*  der  orographischen  und  geognostischen  Beschaf- 
fenheil der  Nordwest  -  Küste  Amerikas  mit  den  anliegenden  Inseln 
ton  Dr.  C.  Greving  k.    8.  35t  S.  Mit  5  Karten  und  4  Tafeln.' 
St.  Petersburg  bei  K.  Kray;  1850. 

Diese  Mittheilongen ,  welche  vorzugsweise  die  Russisch-Amerikani- 
schen Colouieen  behandeln,  wurden  veranlasst  durch  sehr  reichhaltige 
Sendungen,  welche  dar  Akademie  der  Wissenschaften  in  St.  Petersborg 
aukamen. 

Der  Archipel  der  Aleoten,  obwohl  seit  länger  als  einem  Jahrhun- 
hundert  durch  Schiffe  der  Russen  und  anderer  Nationen  befahren,  ist 


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Grewingk:  Nordwest-Küste  Amerikas.  231 

heutiges  Tages  nicht  viel  mehr  gekonnt,  als  zur  Zeit  Cook*?.   Die  Ge- 
fahren,   die   Mühseligkeiten  anf  Landreisen  in  jenen  Gebenden  sind  zu 
gross.     So  weiss  man,  dass  ein  Steuermann,  im  Jahre  1847  abge/chickt, 
um  das  Land  zwischen  den  Quellen  des  K  op  fe  rf I  uss  es  und  des  K  u  s- 
kokwain  zu  untersuchen,  mit  zwei  Russen  und  vier  Aleuten  von  den 
Kaloschen  der  Tundra  erschlagen  wurden.  —  Beim  so  äusserst  Schwie- 
rigen der  Forschungen,  bei  der  Wahrscheinlichkeit,  dass  sorgfältige  Un- 
tersuchungen Oberhaupt,  besonders  aber  die  genane  orographiscbe  und 
geoguostische  Kenntoiss  des  ganzen  mächtigen  Landstriches,  wovon  vor- 
liegendes Werk  handelt,  nicht  so  bald  erfolgen  dürften,  müssen  die  Mit— 
tbeilungen  des  Verfassers  dankbar  aufgenommen  werden.  Im  Bereiche  der 
sogenannten  todten  Natur  verhalt  es  sich,  wie  man  weiss,  nicht  so  wie 
in  der  Thier-  und  Pflanzenwelt.    Ohne  Selbst- Anschauung  einer  Gegend, 
ja  ohne  vorliegende  nähere  Schilderung  derselben,  vermögen  wir,  nach 
Musterslücken  von  Gesteinen  und  von  fossilen  Resten  —  (vorausgesetzt, 
dass   solche  mit  Sachkenntnis  aufgenommen  wurden}  —  gewisse  allge- 
meine Schlüsse  zu  ziehen.    Hinsichtlich  der  Felsarten  ist  es  nicht  wie  mit 
Pflanzen  und  Thieren;  sie  bleiben  sich  gleich  unter  allen  Himmelsstrichen. 
Erfahrene  Beobachter  vermögen  selbst,  nach  dem  Physiognomiscben  eines 
Landes  dessen  geologischen  Charakter  einigermassen  zu  beurtheilen,  und 
umgekehrt  aus   der  Gestein- Beschaffenheit  manche  Schlüsse  zu  wagen, 
Über  Berg  -  Gestaltung ,  Über  Wasser- Verlheilung,  Über  Fruchtbarkeit  u.  s.  w. 

West-Hälfte  Nordamerikas  zwischen  der  Parallele 
der  Bai  San  Francisco  und  der  Mündung  des  Stachiu,  mit 
den  an  der  Küste  gelegenen  Inseln.  (Hierzu  die  Karte  „über 
Gebirgs -Verbreitung  in  der  westlichen  Hälfte  von  Nordamerika41,  und  zum 
Tbeil  anch  die  Karten  „Uber  die  Nordwest-Küste  Amerikas  und  die  anlie- 
genden Inseln.4*  Auf  dieser  Körte  wurden  die  verschiedenen  auftretenden 
Fels-Gebilde  durch  Farben  angegeben.)  Von  der  nördlichen  inneren  Seite 
der  Bai  San  Francisco  weiter  nach  N.  sieht  man  die  Fortsetzung  des 
Californischen  Küsten-Gebirges  in  mehreren  nicht  bedeutenden 
Höhenzügen,  wovon  der  am  rechten  Sacramento-Ufer  hin  erstreckte 
sich  mit  einer  Gebirgs-Kelte  vereinigt ,  die  an  der  liuken  Seite  der  Quel- 
len des  genannten  Flusses  vorhanden.  Vom  West -Abhang  der  Sierra 
Nevada  kommen  die  Gold  führenden  Nebenflüsse  des  Sacramento. 
Mit  den  Winterbergen  und  der  Cascade  Range  beginut  das 
eigentliche  Columbische  Gebirge.  Die  Gebiete  des  Columbia- 
Stromes  (Columbien)  und  des  Fra-Flusses  (Neu-Caledo- 
nien)  find  darch  physische  Beschaffenheit  streng  von  einander  geschieden. 


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233 


Grewingk:  Nordwest-Küste  Amerikas. 


Der  östliche  Tbeil  Columbiens  hat  ein  meist  freundliches  und  frucht- 
bares Ansehen,  und  nur  an  der  Küste  mächtige  düstere  Tannenwälder 
oder  steppenarlige  Ebenen.  Der  Columbia-Strom  Iiiesst,  nachdem 
er  die  einengenden  Felswände  des  Gebirges  verlassen,  in  einer  ausser« 
ordentlich  üppigen  Gegend ,  wo  auch  Steinkohlen  gefunden  werden.  Neu- 
Caledonien  dagegen  ist  von  felsiger  Beschaffenheit  und  von  vulkani- 
scher Natur.  Die  Küste  längs  des  westlichen  Theiles  findet  sich  mit  einer 
Menge  kleiner  Eilande  besetzt,  deren  felsige  Gipfel  meist  mit  Schnee 
bedeckt  erscheinen;  in  den  Schluchten  reichen  Gletscher  bis  beinahe 
ans  Meer. 

Insel  Sitcha  oder  ßaraoow,  von  der  nahe  gelegenen  Ad- 
miralität*- oder  Kuju-Insel  im  0.  durch  den  Chutsnow  -  Kanal 
getrennt,  wild  und  pittoresk.  Von  allen  Seiten  erbeben  sieb,  dieht  am 
Meere,  hohe  kegelförmige  Berge  mit  steilen  Gehängen  und  von  tiefen 
Schluchten  durchfurcht.  Die  geologischen  Untersuchungen  auf  Sitcha 
waren  bisher  von  geringem  Erfolg.  Bei  Neu-Archangeljsk  tritt 
Grauwacke  auf  im  Wechsel  mit  Thonschiefer. 

Edgecumb-  oder  Krusow -Insel,  nach  dem,  2852,2  Par. 
Fuss  Uber  den  Meeresspiegel  ansteigenden,  erloschenen  Vulkane  St. 
Lazaro  oder  Edgecumb  benannt.  An  der  Küste  basaltische  Lava, 
stellenweise  in  Dolerit  Ubergebend;  die  Blasenräume  umschliessen  Stilbit. 
Vom  Kegel  des  Edgecumb  wird  gesagt,  dass  er  bus  „thoniger 
Schlacke"  bestehe,  mit  Nestern  und  Adern  von  Pechstein.a 

Tschitschagow-Insel,  durch  einen  Meeresarm  von  Site  La 
geschieden.  Grauwacke,  Thonschiefer,  Hornblende- Gestein  und  Serpentin 
kommen  vor. 

Festland  in  der  Parallele  von  Sitcha;  Halbinsel 
Tscbugatsk;  KenaiskiscberMeerbusen;  HalbinselAlaeksa. 
Gegen  Ende  Septembers  (1841)  war  es  kalt  und  stürmisch  bei 
der  Abfahrt  von  Sitcha.  In  der  Nacht  gefallener  Schnee  hatte  das, 
die  Bergscbluchten  ausfüllende  grüne  Eis  zum  Theil  mit  weisser  Decke 
bekleidet.  Im  Fahrwasser  trieben  Eismassen  umher,  die  sieb  von  Glet- 
schern abgelöst.  Das  Trostlose  der  Küste  hat  kaum  seines  Gleichen. 
Glimmerschiefer  sehr  reich  an  Granaten  steht  zu  Tag.  —  Die  Berge  an 
der  Küste  vom  Cap  Spencer  bis  zur  Mündung  des  Kupfer-Flusses  be- 
stehen aus  Granit  und  aus  Schiefer.  Sie  siud  cntblösst  von  allem  Pflan- 
zen-Wachsthum und  bedeckt  mit  ewigem  Schnee.  Unmittelbar  aus  der 
Wasserfläche  steigen  die  Höhen  empor  und  zeigen  sich  so  abschüssig, 
dasi  selbst  Steinböcke  nach  ungefähr  dreihundert  Toisen  nicht 


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Grewingk:  Nordwest-Küste  Amerikas. 


233 


aufwärts  zu  klettern  vermögen.  In  allen  Schlachten  ungeheuere  Gletscher. 
-  Vom  Cap  St.  Elias  bis  Cap  Suckling  scheint  die  Küste,  seit 
man  dieselbe  kennt,  grosse  Aenderungen  erlitten  zu  haben,  und  das 
Nämliche  dürfte  von  den ,  in  der  Nähe  des  letzten  Vorgebirges  gelegenen 
Inseln  Kajak  nnd  Wingham  der  Fall  sein.  Sämmtüche  neuere  Hö- 
hen-Messungen, so  wie  andere  Beobachtungen  beweisen  übrigens  die  Un- 
richtigkeit früherer  Karten.  Am  Cap  Suckling  merkwürdig  einge- 
schnittene und  gezähnte  Berg  -  Umrisse.  Mit  dem  Fernrohr  erkannte  man, 
dass  die  Oberflächen  dieser  Höben  aas  zahllosen  kleinen  vierseitigen  ab- 
gestumpften Pyramiden  bestehen;  nach  Betrachtung  näher  befindlicher  Stellen, 
beleuchtet  durch  die  Sonne,  ergab  sich,  dass  die  Gehänge,  vom  Gipfel 
bis  zum  Fusse,  aus  Eis  zusammengesetzt  waren.  Eine  herrliche  Natur- 
Erscheinung! 

Aus  Capilän  Be  Icher 's  Mittbeiluugen  geht  hervor,  dass  er  Ge- 
legenheit hatte,  Gletscher  und  deren  ihm  unbekannte,  in  jenen  Gegenden 
allem  Vermulhen  nach  ungewöhnliche  rasche  Bewegung  zu  sehen.  Ge- 
nauere Untersuchungen  würden  von  nicht  geringem  Interesse  sein.  Jene 
ewig  dauernden  Eisinassen  dürften  au  dieser  Küste  ausserordentlich  weit 
sich  erstrecken. —  Am  rechteu  Ufer  von  Cook'*  lolet  kommen  Stein- 
kohlen vor.  In  den  Jahren  1829  und  1830  fand  ein  unterirdischer 
Brand  statt.  —  Von  den  geognostischen  Verhältnissen  der  Halbinsel 
Aiaeksa  ist  später  die  Rede. 

Westküste  Nord-Amerikas  zwischen  59°  und  69°  Br. 
Bei  den  spärlichen,  aus  Reise- Berichten  von  Cook,  Kotzebue,  Bee- 
chey,  Lütke,  Simpson  und  Sagosskin  entnommenen,  geognosti- 
sebeo  Notizen  über  die  westliche  Küste  des  Festlandes ,  weiter  nach  Nor- 
den, wozu  anch  das  in  der  Akademie  der  Wissenschaften  und  in  ver- 
schiedenen Privat -Sammlungen  vorhandene  Material  benutzt  wurde,  können 
nnd  wollen  wir  nicht  lange  verweilen.  Wir  beschränken  unsere  Mitthei- 
langen  auf  einzelne  Punkte.  Die  Insel  Steffens  oder  St.  Michael 
worde,  so  erzählen  Volkssagen,  durch  die  Kräfte  der  Tiefen  emporge- 
hoben; bejahrte  Männer  wollen  sich  erinnern,  dass  das  Eiland  zweimal 
vollständig  vom  Meer  überfluthet  gewesen.  Olivin  führende  Basalte  und 
schlackige  Laven  herrschen.  Eine  ähnliche  Zusammensetzung  ist  auch  der 
kleinen  nachbarlichen  S che lechow- Insel  eigen.  —  Unfern  des  Caps 
Nügwüljunk,  aus  granitischem  Gestein  bestehend,  finden  sich,  in  einer 
Bucht,  in  thonig  -  sandigein  aufgeschwemmten  Bodeu,  Stosszühue,  Rippen 
und  Schienbein  -  Knochen  von  Mastodonten.  Vou  jenem  Cap  bis  zum 
Vorgebirge  Tolstoj  wird  das  Ufer  niedriger,  erhebt  sich  aber  sodann 


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234  Grewingk:  Nordwest-Küste  Amerikas. 

wieder,  es  erscheinen  dreihundert  Fuss  hohe  Thonschiefer  -  Wände.  Zwi- 
schen dem  Unalaklik  und  dem  Kwichpak  wechselt  dieses  Gestein 
mit  Grauwacke. —  Die  zweitausend  Fuss  Höhe  erreichenden  Taschutu- 
ling-Berge,  ostwärts  von  der  Redoule  Kalmakow,  werden  tob 
Glimmer -reichem  Granit  gebildet.  —  An  der  inneren  Küste  des  Nor- 
ton-Sundes soll  Porphyr  (was  für  einer?)  anstehen.  —  Von  Port 
Cläre  nee  erstreckt  sich  an  der  Küste  ein  Höhenlug  bis  zum  Cap 
Prince  of  Wales  oder  Nüchta.  Die  Ufer  vor  dem  genannten  Cap 
Werden  durch  auffüllend  steile  Felswände  begrenzt,  von  Tieflhtilern  durch- 
schnitten. Das  Cap  Prince  of  Wales  selbst  ist  eine  Felsen -Sdule 
mit  Gestein-Blöcken  tiberdeckt.  Auch  das  gegenüber  liegende  Ost-Cap 
der  Küste  Asiens  besteht  ans  einer  jähe  abstürzenden  felsigen  Halbinsel, 
vor  deren  Spitze  einige  Kirchthurm-ähnliche  Massen  emporsteigen.  —  Auf 
das  Prinz  Wales-Vorgebirge  folgt  uiedriges  Ufer  nnd  hinter  diesem 
ein  sandiger  Landrücken.  Vom  Teufelsberge  erstreckt  sich  ein  Lava- 
Strom  bis  znm  Meer.  —  Westlich  vom  steilen  Cap  D  e  c  e  i  t  wird  die 
Küste  von  dunkelblauem  Schiefer  und  von  schieferi?em  Kalk  zusammen- 
gesetzt. Wie  gesagt  wird,  soll  zwischen  (?)  diesen  Glimmerschiefer 
lagern.  Die  vorspringenden  Punkte  des  Ufers  erscheinen  mit  grossen 
Blöcken  Olivin -führender  Lava  bedeckt.  —  Im  Grunde  der  Es  c  li- 
sch o  1 1 7  -  B  o  i  erheben  sich  die  Hügel  nicht  über  taussend  Fuss.  Die 
Küste  8n  der  Mündung  des  Blickland  River  besteht  aus  Atlnvtonen  nnd 
Schlamm -Klippen,  nnd  ebenso  ist  das  nördliche  Ufer  der  Eschs  c  hol  tz- 
Bai  beschaffen.  Im  nördlichen  Theil  der  sich  anschliessenden  Halbinsel 
Choris  ein  Hut -förmiger  Pio  und  an  der  Westseite  wird  das  Fels-Ge- 
stade von  Glimmerschiefer  gebildet,  in  welchem  Quarz-  und  Feldspath- 
Gänge  aufsetzen,  der  Turmalin,  Granaten  und  Hornblende  führt.  —  Der 
südlichen  Spitze  der  Halbinsel  Choris  gegeullber  erhebt  sich  das  Eiland 
Chamisso,  in  dessen  Milte  ein  Wall  von  kahlen  Felsen  den  höchsten 
Pnnkt  ausmacht.  Glimmerschiefer,  in  Gnciss  übergehend,  herrscht.  Er 
enthält  Granaten,  Turmalin  und  CMorit,  umschliesst  auch  Gänge  von  Horn- 
blende, Quarz,  Hornstein  und  Feldspath. 

Bedeutendere  Inseln  in  der  UmgebnngAlaesak's.  Das 
Eilend  Kudjak  ist  gleichsam  mit  Bergen  übersäet,  deren  einige  sehr 
hoch  sind  und  von  ewigem  Schnee  bedeckt.  Das  wichtigste  Gestein  ist 
Tbonschiefer,  der  sich  oft  sehr  Quarz -reich  zeigt.  Die  Eingebornen 
verarbeiten  ihn  zu  Schneid  -  Gerätschaften  und  zn  Haus -Lampen.  An 
höheren  Stellen  der  Insel  viele  verquorzte  Holzstämme,  andere  siebt 
man  von  Eisenkies  durchzogen,  oder  von  Eisenoxyd-Hydrat  durchdrungen. 


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Grcwingk:  Nordwest-Küste  Amerikas.  235 

4 

—  Unga,  von  dieser  Insel- Gruppe  die  grösste,  liegt  am  weitesten 
gegen  Westen.  Das  Gerücht,  es  käme  hier  Diamant  vor,  hat  sich  nicht 
bestätigt.  Nach  Handrücken  zu  urlheilen,  führt  der  Gneiss  des  Eilandes 
Molybdän  glänz  nnd  Gediegen  -  Kupfer.  Analcim- Krystalle  werden  in  Bla- 
senraumen  einer  dioritischen  Felsart  gefunden.  Besonders  beachtungswerth 
ist  der,  allerdings  laDgst  bekannte  Umstand,  dass  auf  Unga  pflanzliche 
Erzengnisse  besonders  schnell  siliciflcirt  werden.  An  höheren  Stellen  trifft 
man  versteinerte  Klötze  und  ganze  Baumstämme,  deren  einige  noch  deut- 
lich die  mit  eisernen  Beilen  —  also  zur  Zeit  der  Russen  —  behauenen 
FlSchen  erkennen  lassen;  der  Process  dauerte  demnach  ungefähr  hundert 
Jahre.  —  Von,  den  fünfzehn  oder  sechzehn  Inseln  der  Semenowsky- 
Grnppe  weiss  man  so  gut  wie  nichts.  Die  übrigen  zahlreichen  Eilande 
iwischen  Unga  und  Unimnk  zerfallen  in  die  Paw  low  sehe,  Bei« 
ko  wache  und  San  nachsehe  Gruppe.  Auf  letzterer,  die  sehr  reich 
an  Seen  ist,  steigt  in. der  Mitte  ein  hoher  Kegel  empor,  der  Halibu- 
thead.  —  Amak  soll  ein  erloschener  Vulkan  sein.  Die  neueste  Kata- 
strophe fand  im  Jahr  1804  statt,  wie  erzählt  wird. 

Aleutische  Inseln.  Von  den  Fnc  Ii  s-Ei  landen  kommt 
zuerst  Unimak  zur  Sprache,  vor  allen  der  thtttigste  Schauplatz  vulkani- 
scher Phänomene.  Die  frühesten  genauen  Nachrichten  gab  Saikow, 
welcher  von  1775  bis  1778  auf  der  Insel  weilte.  Spatere  Mittheilmigen 
stammen  von  Cook,  Chudaeko w  nnd  Sauer.  Das  am  meisten  voll- 
ständige Bild  verdankt  man  Lütke  und  Wenjaminow.  Das  Eiland 
lasst  sich  als  Gewölbe  eines  ununterbrochen  thätigen  Schmelzheerdes  an- 
sehen. Der  Rücken  dieses  Gewölbes  bildet  einen  aus  SW.  nach  NO. 
streichenden  Gebirgszug.  Mehrere  Essen  münden  in  demselben,  welchen 
das,  in  den  Tiefen  wallende  Feuermeer  Fnuken  und  Flammen  entsendet. 
Diese  Wallungen  sind  so  müchtig .  dass ,  ungeachtet  der  vielen  Gichlfänge, 
die  Heerd  -  Suhle  oft  bebt  und  erzittert.  Der  zu  1400  Toisen  anstei- 
gende Scbischaldin  —  von  Eingebornen  Agajednn  genannt —  ist 
die  erhabenste  der  Feueressen,  von  regelmässiger  Kegelform,  die  beiden 
Obern  Drittbeile  der  ganzen  gewaltigen  Bergmasse  mit  Schnee  bedeckt. 
Seit  undenklichen  Zeiten  ist  der  Scbischaldin  fettig,  stösst  indessen 
meist  nur  grosse  Rauch  -  Mengen  aus.  Besonders  heftig  waren  die  Erup- 
tionen in  den  Jahren  1824  und  1825.  Nach  furchtbarem  unterirdischem 
Tosen  und  Knallen  —  man  vernahm  dasselbe  auf  Unalascbka  and 
Allksa  —  spaltete  sich  ein  niederer  Kamm  nordostwürts  vom  Berge. 
An  sechs  Stetten  wurden  Flammen  onsgestossen  und  schwarze  Asche  cm- 
porgeicfaleodert.  (Wie  bekannt  pflegt  sich  die  vulkanische  Asche  erst  dann 


236 


Grewingk:  Nordwest-Küste  Amerikas. 


grau  gefärbt  zu  zeigen,  wenn  die  Katastrophe  ihrem  Ende  naht.}  In 
einem  zehn  deutsche  Meilen  entlegenen  Dorfe  herrschte  am  hoheo  Mittage 
die  Finsterniss  der  Nacht.    Gleichzeitig  stürzte  ein  Wasserstrom  von  der 
Berghöhe  gegen  die  Südseite  der  Insel  und  bedeckte,  Bimssteine  mit  sich 
fortführend,  eine  Landstrecke  von  mehr  als  zwei  deutschen  Meilen.  Das 
Meerwasser  blieb  trüb  bis  zum  Herbst.    Seit  diesem  Ereignisse  lobte  der 
Vulkan  weniger,  aber  der  Ausbruchstelle  von  1825  entstieg  ohne  Unter- 
brechung Rauch.    Nach  einer  Eruption  im  Jahre  1827  nahmen  Fische 
«od  Schalthiere  auffallend  ab;  erstere  trieben  in  Menge  todt  auf  dem 
Meere  hin  und  her  und  worden  ans  Land  geworfen.    In  den  Monaten 
November  uod  December  1830,  der  Berg  war  gerade  io  dichten  Nebel 
gehüllt,   hörte  man  wieder  ein  furchtbares  Brüllen,  und  später  wurde 
wahrgenommen,  dass  aller  Schnee  vom  Scbiscbaldin  verschwunden 
war.    Weit  erstreckte  Spalten  zeigten  sich  auf  drei  Stilen;  schauderhafte 
Flammen  stiegen  aus  deuselbeu  hervor.    Die  Eiogebornen  glauben  nach 
allen  diesen  Eruptionen  eine  Verminderung  der  Erdbeben  zu  bemerken.  — 
Bei  andern  Vulkanen,  Khoginak,  Pogromnoj  oder  Nosowskoj 
u.  a.  w.  ist  hier  nicht  zu  verweilen.  —  Zwischen  Unimak  uod  Una- 
laschka  liegt  die  Gruppe  der  Krioitzün-Insel  Unalga,  felsig, 
die  Küsten  steil.    Akulan,   von  Bergen  durchzogen,  welche  ein  zer- 
rissenes Ansehen  haben,  in  der  Mitte,  als  erhabenste  Stelle,  3332  Posa 
Uber  dem  Meeresspiegel,  ein  Vulkan,  aus  dessen  Krater  die  Aleuten  sich 
Schwefel  holen.    Akun,  Goloj,  Tigalda  und  Ugamak  sind  von 
uotergeordoetem  Ioteresse.  ü  o  a  I  a  s  c  h  k  a ,  150  Werst  lang  und  50  Werst 
breit,  die  grösste,  am  häufigsten  besuchte  aller  Fuchs-  und  siSmmtlicher 
Aleu  tischen  Inseln,  ist  in  naturhislorischer  Beziehung  wenig  be- 
kannt.   Für  Seefahrer  giebt  es  kaum  einen  grauenvolleren,  öderen  An- 
blick.   Schwarze  Lava -Ufer  steigen  senkrecht  aus  dem  Meere  empor,  bis 
zu  Höhen,  die  ewiges  Eis  bedeckt.    Das  ganze  Eiland  scheint  aus  dicht 
an  und  ueben  einander  gereihten  Bergen  zu  bestehen;  einige  reichen  mit 
ihren  Gipfeln  bis  in  die  Wolken.    Man  unterscheidet  drei  Gaupt-Gebirgs- 
züge,  das  Makuschin-,  Bobrow-  und  das  Koschin-Gebirge.  Der 
Vulkan  -  Kegel  Makuschin,  mit  einem  Schwefel-führenden  Krater,  dem 
Rauchwolken  entsteigen,  hatte,  so  weit  zuverlässige  Sagen  reichen,  kei- 
nen Ausbruch.     Das  meiste  geologische  Material  über  Unalaschka 
brachten  Chamisso,  Eschscholtz,  Posteis  und  Wosnessensky. 
Weniger  bedeutend  sind  die  Mitteilungen  von  Hofmann,  Fischer, 
Koprejanow  und  K  a s c Ii e  w a  ro  w.    Was  als  nsch warzer,  Feldspath- 
reicher  Porphyr  (Thon-Porphyr) u  bezeichnet  wird,  wovon  es  heisst,  dass 


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Grewingk:  Nordwest-Kusle  Amerika«. 


237 


„Uebergange  in  Wandelstern  statt  fänden",  gehört,  nach  unserm  Erachten, 
ohne  Zweifel  zum  Melaphyr.  Das  Auftreten  von  Tracbvt  ist  durch  den 
Aussprach  L.  von  Buchas  entschieden.  Tertiär -Gebilde  kommen  am 
nordoordwesllichen  Pusse  des  Mak  uschin  vor.  Sie  führen  Tellina  lu- 
tea, Mya  arenaria  tar.,  Venus,  Turbo,  Trochus,  Triton  tum  anglica- 
nm.  Auch  Stoss-  und  Mablzäbne  von  Mammuth  sollen  sich  finden.  Im 
südlichen  Winkel  der  Ca pitaius- Bucht  hat  man  Braunkohlen  ge- 
troffen. Gneiss,  Syenit,  Diorit,  Tbonschiefer  u.  s.  w.  erscheinen  als  Ge- 
schiebe. —  Die  Inseln  Borjka,  Spirkin  oder  Sidamak  schliefen 
sieb  Una läse hka  dicht  au;  Amachnak  hat  ihren  Sitz  inmitten  des 
Capitains-Ha fe ns,  und  auf  der  Westseite  dieses  Eilandes  steigt  die 

kleine  Felsen-Insel  Uknadak  hoch  empor.  Umnak,  seit  1759 

bekannt,  wird  von  Unalaschka  durch  eine  fünf  Werst  breite  Meerenge 
getrennt.  In  der  Länge  120,  in  der  Breite  30  Werst  messend,  hat  die 
Insel,  was  Lage  und  Gestalt  betrifft,  viel  Aebnliches  mit  Unalaschka. 
Aaf  der  südwestlichen  Hälfte  zieht  ein  Gebirge  hin,  in  dem  zwei  Vulkane, 
Retsches ch noj  und  Sewidowsky,  letzterer  ist  der  höchste  Punkt 
des  Eilandes.  Man  sab  ihn  öfter  rauchen.  Umnak  scheint  nach  Uni- 
mak  der  lebhafteste  Schauplatz  vulkanischer  Ereigniate  in  geschichtlicher 
Zeit  gewesen  zu  sein.  Obsidian -Blöcke,  nicht  selten  hundert  Pfund  an 
Gewicht,  werden  getroffen.  Sie  sollen  auf  einem  Granit-Felsen  lie- 
gen ( ?).  Aos  dem  Obsidian  bereiteten  Eingeborne  früher  Beile  und  an- 
dere Gerätschaften.  Viele  heisse  Quellen  beweisen  die  fortdauernde 
Tätigkeit  unterirdischen  Feuers.  Das  Erscheinen  und  Verschwin- 
den von  Inseln  dürfte  in  diesem  Heere  häufiger  stattgefunden  haben,  als 
solches  bekaont  geworden.  Unser  Verfasser  weilt  bei  vulkanischen  Vor- 
fingen an  der  Nordseite  von  Umnak,  beim  Entstehen  des  Eilandes  St 
Johann  Bogoslow  oder  Agaschagoch  und  (heilt  im  Auszüge  mit, 
was  in  verschiedenen  Beise  -  Berichten ,  namentlich  in  jenen  von  Bara- 
■  ow  und  Tebenkow  über  den  befragten,  interessanten  Gegenstand 
enthalten.  —  —  Eine  besondere  Gruppe  in  der  Reihe  der  Fuchs-Ei- 
lande bilden  die  Vierkegel-Inseln,  wovon  Buch,  wie  bekannt, 
Tennntbet,  dass  sie  die  Bildung  der  Aleutischen  Eilande  am  besten 
Charaktere rc n.  Kigalgan  hatte,  so  viel  man  weiss,  keine  Eruptionen. 
Auf  Kigamiljach  giebt  es  Stellen,  an  denen  der  Boden  ganz  heisa 
>*t,  wo  man  unterirdisches  Gelöse  hört,  auch  treten  heisse  Quellen  an 
kn  Tag.  Tanacb-Angunach  hat  einen  thatigen  Feuerberg  aufzu- 
weisen. Ulaeganund  Tscheg u lach  sollen  im  Anfang  des XVIII.  Jahr- 
hunderts Eruptions-Phünomehe  gezeigt  haben.  Niehl  ohne  Interesse 


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Grewingk:  Nordweet-Küste  Amerikas. 


sind  die  drei  westlichsten  der  Fachs- Inseln,  Junaska,  Tschugul 
und  Amuchta. 

Grewingk  wendet  sich  nun  zu  den  Andrej anowsky-Inselo. 
Die  erste  derselben,  auf  Amuchta  folgend,  hatte,  10  viel  man  weiss, 
im  Jahre  1790  Eruptions-Erscheinungen.  Ein  kleiner  Pik  atösst  von  Zeit 
zu  Zeit  Rauch  aus.  Die  dem  Verf.  von  daher  mitgeteilten  Mineralien 
sind  u.  a.  Obsidian,  Schwefel,  Graphit  o.  s.  w.  Das  lange  und  schmale 
Eiland  AmU  hat  keinen  Ihiitigen  Valkan  aufzuweisen.  Dagegen  besitzt 
die  Insel  Ate  ha  drei  ,  Feuerberge:  Korowinsky,  der  häufig  raucht, 
Kljutschewskoj  uud  Sarütschew,  welcher  im  Jahre  1813  starke 
Ausbruche  halte.  Am  südlichen  Gehänge  der  Konischen  Sopka 
finden  sich  Schlamm- Vulkane,  von  den  Russen  Teufelsohren  genannt.  Auf 
der  Nordseite  der  Insel  Kanaga  erhebt  sieb  ein  Kegel,  der  Rauch  aus- 
stößt und  bis  zu  seiner  Mitte  von  ewigem  Schnee  bedeckt  wird.  Iu 
heissen  Quellen  am  Fusse  des  Berges  kochen  die  Einwohner  ihre  Fische. 
Einer  der  höchsten  Vulkane  der  Aleutischen  Inseln  ist  auf  T a n o a g a 
oder  Takaawangha.  Der  Gipfel,  in  mehrere  Spitzen  ausgehend, 
raucht  ohne  Unterlans.  Das  Goreloj -  Eiland  endlich  besteht  aus  einem 
mächtigen  rauchenden  Feuerberg  von  Pyramiden  -  Gestalt. 

Die  letzten  bekannten  Vulkane  der  Aleutischen  Inselreihe 
finden  sich  auf  den  Ratten -Ei  landen.  Von  den  sieben  Bergen  auf 
Semisoposchny  erreicht  keiner  über  dreitausend  Fuss  Meereshöhe, 
einer  derselben  stösst  Rauch  aus.  Amtschitka  heisst  die  grössta  und 
Bildlichste  der  Ra tten- Inseln.  Als  vorkommende  Gesteine  werden 
genannt:  Thon-Porphyr,  Tracbyt-  oder  Andesit-artiger  Phonolitb,  Braun- 
kohle u.  s.  w.  Weiter  hierher  gehörige  Eilande  Ajugadach,  Sil- 
chin,  Knska  und  Buldür.  —  Mit  den  Nahen-Inseln,  unter  wel- 
chen Attu,  auch  Attak  oder  Otma  die  ansehnlichsten,  endigt  die 
Aleutische  Iusel-Gruppe. 

Wegen  ihrer  Aehnlicbkeit  im  Charakter  mit  den  Nahen-Inseln 
zählt  unser  Verf.  auch  die  Commandeur-  oder  getrennten  Ei- 
lande auf,  obwohl  dieseibeo  ihrer  Lage  nach  zu  Asien  gehören.  Sie 
wurden  zuerst  von  Bering  und  Steller  im  Jahre  1741  besucht  und 
1755  sandte  man  den  Hutten  -  Verwalter  Jakowlew  ab,  um  die  Kup- 
fer-Insel —  wovon  Grewingk  ein  zierliches  Karteben,  entnommen 
aus  dem  Sibirischen  Anzeiger,  miltueilt  —  genauer  zu  erforschen.  Das 
ganze  EUand  ist  ohne  alle  Waldungen  und  voller  Berge,  die  sehr  steil 
sind  und  aus  mürbem  Gesteine  bestehen.  Jährlich,  wenn  der  Schnee 
schmilzt,  stürzeu  grosse  Felswände  herab.   Das  gediegene  Kupfer  wurde 


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Grewingk:  Noadweat-Küste  Amerikas.  239 

an  der  nordwestlichen  Landspitze  gefunden.  Nach  Er  man  steht  auf  der 
Insel  Zecbslein  an;  er  sagt  jedoch  vom  Kupfer,  dass  es  ein  charakteri- 
stischer Begleiter  der,  vom  Andesit- Gipfel  durchbrochenen  Grauwacke- 
Formation  sei.  Jener  Gewährsmann  erhielt  von  der  Kupferinsel 
GaogstUcke  von  Quarz  mit  „grün  oxydirtem  Erze-,  und  einen  „Talk- hal- 
tigen derben  Kalku,  welcher  auf  dieselbe  Weise,  wie  eine  ähnliche  Fels- 
art  bei  Nischnej  Tagilsk  am  Ural  mit  „Kupfergrün  und  mit  Ma- 
lachit- durchsetzt  ist.  „Man  wird  diese  Gesteine, u  so  fährt  Er  man 
fort,  „wohl  ohne  Weiteres  als  einen  integrirenden  Tbeil  unter  den  älte- 
sten Kamtschatiscben  Niederschlags  -  Formationen  aufrühren,  wenn 
man  den  geringen  Abstand  derselben  von  der,  aus  Grauwacke  -  Klippen 
bestehende  B  er  in  gs- In  sei  und  die  Lage  von  beiden,  einerseits  zu  den 
nicbitgelegenen  Punkten  der  OslkUste  der  Halbinsel  und  von  der  andern 
u  den  westlichen  Aleu tischen  Inseln  in  Betracht  zieht."  Wir 
kuQoen  unserui  Verf.  nur  beistimmen,  wenn  er  bemerkt,  wie  es  über- 
rasche, dass  Er  man  so  leicht  allgemeine  Schlussfolgeu  ziehe.  Die  Küste 
Kamtschatkas,  gegenüber  der  Berings-Insel  und  diese  selbst  sind 
io  geologischer  Hinsiebt  so  gut  als  unbekannt.  Nach  Belegstücken ,  die 
Grewiugk  von  Wosnessky  erhielt,  besteht  da&  Gestein  am  nord- 
westlichen Eode  der  Kupfer-Insel  vorherrschend  aus  Trachy-Dolerit, 
In  diesem  Gebilde,  oder  in  metamorph ischen  Schiefern,  kommen  das  ge- 
diegene Kupfer  und  Kupferglanz  vor,  auch  Kalkspath-  und  Quarz-Gänge. 

 Die  Berings-Insel  schildert  der  Verf.  nach  Steller  und 

fegt,  aus  Beschreibungen  und  Musterstttckcn ,  die  Er  mau  erhielt,  am 
Schlosse  einige  geologische  Notizen  bei,  welche  wir,  da  sie  kein  ent- 
schiedenes Anhalten  gewähren,  hier  übergehen  zu  können  glauben. 

Die  Pribuelon-Eilande,  entdeckt  in  den  Jahren  1786  und 
1787,  liegen  in  des  Länge  der  westlichen  Fuchs -Inaein  and  io  der 
Breite  des  Tschigiogak  auf  Alaeksa.  Die  Gruppe  besteht  aus  zwei 
grossen  und  aus  zwei  kleinen  Inseln.  Die  Bussen  fanden  sie  unbewohnt, 
such  waren  dieselben  Nachbar  -  Völkern  nicht  bekannt.  Dabei  ist  jedoch. 
Bemerkens  wer  lh ,  dass  beim  ersten  Besuche  von  St.  Paul,  in  einer  Bucht 
io  der  Südwest-Seite,  dass  Gefäss  eines  Degens  und  eine  Kalkpfeife  auf- 
genommen wurden,  auch  war  eine  Feuerstätte  zu  aehen.  Die  äusserten 
Eodeo  des  Eilandes  St.  Georg  bestehen  aus  sehr  schroffen  und  die 
Nordküste  aus  meist  gerade  dem  Meere  entsteigenden  Felsen ,  Uber 
deren  kahlen  Gestein  -  Wänden  selten  deutliche  wagerechte  Lava -Lagen 
erscheinen  und  am  Meere  Uber  dem  Wasser- Spiegel  sechs  Fuss  Mächtig- 
keit haben ;  ausserdem  wenige  Merkmale  vulkanischer  Ereignisse,  wie 


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Grewingk:  Nordwest-Küste  Amerikas. 


gesagt  wird.  Dos  Auftreten  von  Granit  und  von  Gneiss  dürfte  zu  be- 
zweifeln sein.  Auf  der  Insel  St.  Paul  sind  die  Ufer  da,  wo  sie  sich 
steiler  erheben,  aus  Lagen  schwarzer  poröser  Lava  zusammengesetzt;  hin 
und  wieder  finden  sieb  Schlacken- Haufwerke,  auch  ist  von  Laven-Bom- 
ben die  Rede.  Möglich,  dass  das  Eiland  sein  Eutstehen  einem  Vulkane 
Verdankt.  Eine  deutliche  Krater-Bildung  mit  Spuren  vor  nicht  gar  langer 
Zeit  unterbrochener  Tätigkeit. 

Der  Verf.  wendet  sich  nach  diesen  Betrachtungen,  die  orographi- 
sebe  nnd  geognostische  Beschaffenheit  der  Westküste  von  Nord-Amerika 
und  der  Inseln  zwischen  Asien  und  Amerika  betreffend,  zu  den  vulka- 
nischen Phänomenen  an  der  Nordwest-Küste  Amerikas  und  auf  den  anlie- 
genden Eilanden  in  geographischer  Anordnung.    Die  einzelnen  Vulkane 
werden  aufgezählt  und  ihre  Eruptions- Erscheinungen  nach  Jahren  gereiht. 
Sodann  folgt  eine  chronologische  (Jebersicht  der  vulkanischen  Phänomene 
auf  den  Aleutischeu  Inseln   und   auf  der  Amerikanischen 
Nordwest- Küste,  beginnend  mit  dem  Jahre  1690  und  fortgesetzt  bis 
1944.    Aus  dieser  Uebersicht,  welche  Grewingk  selbst  für  keine  voll- 
ständige augesehen  wissen  will,  scheint  sich  zu  ergeben,  dass  die  vul- 
kanische Thätigkeit  der  Aleulischen  Inseln  und  Alaeksa's,  seit- 
dem man  diese  Gegenden  kennt,   in  Abnahme  begriffen  sei,  während 
gegenwartig  die  Haupt- Mündungen  des  nördlichen  Theiles,  jenes  den 
grossen  Ocean  umgebenden  unterirdischen  Kanals,  auf  Kamtschatka: 
in  der  Kljutschews-Kaja  Sopka  und  auf  dem  Festlande  Ameri- 
kas: im  Vulkane  Wr  an  gell  befindlich  sind,  dieselben  auf  der  Insel- 
Reibe  zwischen  Asien  und  Amerika,   in  der  Gruppe  der  Fuchs- 
in sein  gefunden  werden,    Ferner  ist  nicht  zu  verkennen  —  eine  Be- 
hauptung, durch  mehrere  interessante  Thatsachen  belegt  —  dass  zwischen 
der  Thätigkeit  oder  Ruhe  verschiedener  einander  näher  oder  entfernter 
liegenden  Punkte  des  grossen  betrachteten  nördlichen  Vulkanen  -  Gürtels 
gewisse  Beziehungen  bestehen.    Freilich  bringen  die  erwähnten  Beispiele 
den  Zusammenhang  der  in  verschiedenen  Richtungen  ziehenden  unterirdi- 
schen Kanäle  nicht  zur  Evidenz,  jedoch  spricht  dafür  auch,   dass  man 
auf  kleinen  Räumen  —  wie  auf  den  Inseln  Umnak,  Unalaschka  und 
Unimak  —  die  Wirksamkeit  einer  Feueresse  aufhören  sieht,  wenn  die 
andere  zur  Thätigkeit  von  neuem  erwacht. 

(Schluss  folgt.) 


Nr.  16.  HEIDELBERGER  1851. 

JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR. 


Grewlnfk!  \ordwe«t-KÜ8te  Amerikas. 

(Schlug.) 

Ob  dasselbe  Verhältnis?  ebenfalls  für  das  Eintreten  der  Rabe  des 
nitKsdjak,  dem  Tschiginagach  auf  Alaeksa  und  denPribülow- 
Insela  in  einer  Breite  liegenden  Edgecumb,  nach  der  Erhebung  von 
St  J.  Bogoslow  gilt,  ist  schwer  zu  entscheiden,  da  die  Angaben  Uber 
die  leiste  Thätigkeil  des  Edgecumb  zweifelhaft  und  die  Nachricht  Uber 
den  weiter  dazwischen  liegenden  Raum  höchst  mangelhaft  sind.  Die 
Aleatischen  Insel-Reihen  mit  der  Halbinsel  Alaeks  a  östlich  und 
Jen  Common  deur-Inscl  n  westlich,  zieht  in  einer  bogeuförmigen 
Linie  hie,  die  wie  ein  Knotenseil  zwischen  den  Fels -Säulen  Amerikas 
und  Asiens  angespannt  ist,  unter  der  eigenen  Last  sank  uud  dabei  ihre 
Statten  gegen  einander  beugte.  Unter  den,  durch  das  Streichen  der  Ge- 
birge, durch  Erdbeben  u.  s.  w.  angezeigten  Hebungs-Richtungen,  ist  die 
ans  SW.  nach  NO.  die  kraftigste  und  ausgebreitetste  gewesen;  auch  be- 
ichrinken  sich  die,  in  neuester  Zeit  beobachteten  Erhebungen  der  Fuchs-* 
Iaseln  vorzüglich  auf  dieselbe.  Abgesehen  von  der  geognostiseben  Zu- 
sammensetzung, lässt,  mit  Ausnahme  von  den  Comma ndeur-  I nseln 
und  von  Klein-Alaid,  keine  Angabe,  keine  Abbildung,  Erhebungs- 
Kralere  mit  aus  denselben  aufsteigenden  Trachyt-  oder  Andesit  -  Kegeln  . 
vermuthen.  Man  muss  sich  dessbalb  dahin  beschränken,  fünfundzwanzig 
wahre  Vulkanen  -  Inseln  anzunehmen.  Überhaupt  scheinen  unter  deu 
Inseln  zwischen  Asien  und  Amerika  Eruptions  - ,  Vulkanen  -  und  basaltische 
Inseln  vorhanden,  die  drei  Formen,  in  denen,  nach  L.  v.  Buch 's  An- 
schauungs-  Weise  ,  Erhebungs-  Eilande  auftreten. 

Der  Verf.  geht  nun  zu  Bemerkungen  über ,  bestimmt  jene  von  ihm 
^gesprochene  Vennothueg  zu  bestätigen,  so  wie  zu  einer,  dem  zu  Ge- 
bot stehenden  Material  entsprechenden,  Uebersicht  der  geognostiseben  Ver- 
hältnisse, welche  die  besagte  Vermuthnng  unterstützen  und  deutlicher 
■sehen  (8.218—269).  Wir  bedauern,  dass,  beim  beschränkten  Räume, 
«s  nicht  vergönnt  ist,  Herrn  Grewingk  Schritt  für  Schritt  folgen  zu 
fonea,  denn  es  wird  gar  viel  Wissenswürdiges  zur  Sprache  gebracht 
Wir  erkennen  dankbar  das  so  sehr  Schwierige  einer  genaueren  Erfon ofcttf 
XUY.  Jahrg.  jfc  Doppelheft.  16 


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242   *  Grewingk:  Nordwe*t-Küstc  Amerika«. 

der  geschilderten  Gegenden.  Möchten  Geographen  und  Geologen  zu 
Jünger»,  auf  wissenschaftliche  Zwecke  gerichtete  Reisen  sich  veranlasst 
sehen.  „Das  Berühren  einzelner,  weit  von  einander  entfernten  Punkte, 
auf  Transport  -Schiffen  und  dergleichen  Gelegenheiten,  geuügt  nicht  und 
würde  Jeder,  der  auf  ähnlichem  Wege  die  na  tur  Wissenschaft  liehe  Kennt- 
nis« dieser  Gegenden  wesentlich  zu  fördern  gedächte,  wie  es  schon  Vie- 
len ergangen,  zu  spät  enttäuscht  werden.  Diess  sind  Worte  des  YerL 
denen  wir  mit  entschiedenster  Ueberzeugung  beistimmen. 

Als  erster  Anhang  folgt  eine  Uebersicht,  die  an  der  West- 
küste Nord-Amerikas  in  Steinkohlen-,  Juni-  und  Tertiär  -  Gebilden, 
im  Diluvial  -  Boden  und  in  Alluvionen  bis  jetzt  aufgefundenen  fossilen 
Thier-  und  Manzen-Reste  betreffend  (S.  270—291). 
.  .  Ein  zweiter  Anhang  enthält  eine  Zusammenstellung  der  Male- 
riaben geboten  zu  einer  Geschichte  der  Reisen  und  Entdeckungen  auf  der 
West -Hälfte  Nord-Amerikas  und  in  den  benachbarten  Meeren.  An  die 
Angaben  der  wiebtigern  Gescbichts-Quellen  reiht  sich  eine,  eben  so  voll- 
ständig, als,  mit  grosser  Umsicht  verfasste,  gewiss  Yielen  sehr  willkom- 
mene ,  durch  nicht  wenige  beigefügte  Bemerkungen  bereicherte,  Uebersicht 
and  Quellen -Nachweisung  der  Reisen  auf  der  Westhälfte  Nord- Amerikas 
und  10  dsn  ji  3  c  1 1  b  h  r  1 1  c  Ii  cd  BIccrcD* 

Die  beigegebeneu  Karten  stellen,  wie  solches  theits  schon  aus  dem 
von  uns  Angedeuteten  zu  ersehen,  folgende  Gegenstände  dar:  Gebirgs- 
Yertheilung  in  der  westlichen  Hälfte  Nord- Amerikas; 
geognostischc  und  orograpbiscbe  Beschaffenheit  der 
Nordwest-Küste  Amerikas  und  der  anliegenden  Inseln; 
westliche  Hälfte  der  Halbinsel  Tschugalsk.  Die  Ausführung 
lässt  nichts  ku  wünschen  übrig.  Eben  dieses  gilt  von  den  drei  Tafeln, 
welche  fossile  Reste  darstellen. 

Wir  haben  nun  noch  vom  Ergebniss  einer  Reise  zu  reden ,  die  als 
sehr  erwünschter  Beitrag  zur  Kenntniss  des  grossen,  östlich  von  Ural 
und  westlich  von  den  letzten  Marken  der  krystallinisehen  Gesteine  Sca 
dinavicus  begrenzten  Beckens  zu  betrachten  ist.  Mit  dem  besprochenen 
Werk  kam  uns  nämlich  aus  Petersburg  ein  Auszug  aus  dem  Bericht  Gr e- 
wingk's  zu,  die  von  ihm: 

»im  Sommer  1848  unternommene  Reise  nach  der  Halb- 
insel Kanin  am  nördlichen  Eismeere14 
betreffend.    Wir  glauben  die  Leser  unserer  Jahrbücher  zu  verpachten, 
wenn  wir  einige  Augenblicke  dabei  verweilen.    Der  Bericht,  wovon  die 
Rede,  tut  halt,  ausser  dem  Geologischen,  so  Manches  in  geschichtlicher, 

* 

•«  • 

v  4 


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Grewingk:  Nordwest-Küste  Amerikas. 


elhoographischer,  technischer  und  ökonomischer  Beziehung  Wichtige  and 
Interessante,  das  bisher  nicht  oder  nur  sehr  unvollständig  bekannt  ge- 
wesen Dabin  u.  a.  die  Ueberbleibsel  verschiedener  Religion*  -  Seelen, 
der  Bilder  -  Schriften  an  der  Teufels -Nase  u.  s.  w. 

Im  Sommer  1848  wurde  Grewingk  von  der  Akademie  der  Auf- 
trag, in  den  Gouvernements  Olooelz  and  Archangel  geologische 
Untersuchungen  anzustellen ,  vorzugsweise  aber  die  Ufer  und  Umgebungen 
des  Onega-Sees  und  die  Halbinsel  Kanin  genauer  zu  erforschen. 

Von  der  Stadt  Ln  dein  oje  Pole  an  begannen,  längs  den  Ufern 
des  Swir,  die  Untersuchungen,  aueb  fanden  barometrische  Melsungen  der 
höheren  Punkte  stet*.  Bis  zur  Ledina,  einem  Nebenflusse  des  Swir, 
nur  aufgeschwemmtes  Land,  Wander  -  Blocke  und  Asare.  Sodann  treten 
Diorito  auf,  Granite  und  Sandsteine.  Letztere,  sowie  das  als  „Solo- 
mens  ky- Fels1  bezeichnete  Conglomeret  boten  am  westlichen  Ufer  des 
Onega-See's  bis  Petrosawodsk,  mit  ihren  Beziehungen  zum  Dio- 
lit,  für  die  Beleuchtung  metamorpbiscber  Gebilde,  nicht  unwichtiges  Ma- 
terial. Zwischen  Petrosawodsk  und  Tiwdija,  auch  weiter  bis 
Powenet i,  gesellen  sich  den  erwähnten  Felsarten  Glimmer-,  Cl.lont- 
nnd  Thonschiefer  bei,  ferner  Marmor  und  Dolerit.  Die  Untersuchung  der- 

o 

selben,  ferner  Asar- Gebilde,  Fluth -Schrammen ;  Gebirgs-  nnd  Fluss- 
Vertheilung  gsben  Aufschlösse  über  die  Becken  -  Bildung  des  Onega- 
see'* und  über  die  letzte  Ftntb. 

Ostwärts  von  Powenetz  eine  in  neuerer  Zeit  eröffnete,  aber 
wieder  verlassene  Gold  -  Wäsche.  Das ,  geologisch  zum  Theil  gänzlich  un- 
bekannte, östliche  Ufer  des  Ooega-See's,  auch  mehrerere  Inseln  in 
demselben  erforschte  Grewingk.  Ausser  neuen  Beobachtungen  konnte 
die  Grenze  krystallinischer  Gesteine  berichtigt  werden,  dessgleichen  jene 
der  Devonischen  und  der  Bergkalk  -  Formation ,  auch  die,  zu  einem  voll- 
ständigen Bilde  noch  mangelnden,  letzten  Fluth-Schrammen  in  Östlicher 
Richtung  wurden  aufgenommen. 

Das  Ergebnis:;  dieser  Arbeiten  ergänzt  die  Erklärung  der,  am  West- 
Ufer  des  Sees  stattgehabten  Hergänge,  und  wird  vielleicht  den  Streit 
über  allmälige  oder  plötzliche  Hebung  von  Scnndinavien,  Finland  o.  s.  w. 
schlichten  helfen.  ' 

Den  weiten  Bergkalk  -  Ebenen  an  der  0  n  e  g  a  und  Dwina  konnte 
nur  wenig  Aufmerksamkeit  geschenkt  werden.  Vom  Arohangel  Aus- 
flusse zu  den  Dwina-Inseln,  zur  Isakown  Gora  (Isaaks-Berg) 
und  zur  Brussowiza.    An  letztem  Flusse  Sandstein  -  Schichten,  Welche 

der  Bergkaik-Formation  angehören  dürften.   Bei  Metsohka  sehr  wenig 

16» 


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Grewingk:  Nordwest-Küste  Amerikas. 


entwickelte  Tertiär  -  Lagen.  An  der  Pinega  besonder»  Versteinerungs- 
reicher  Bergkalk,  von  Gyps  und  Permischem  Zechstein  begleitet.  Nament- 
lich die  BelajaGora  (weisser  Berg),  KrassnajaGora  (Roth-Berg) 
und  Ustjohuga  sind  beachtungswerthe  Stellen.  In  der  Taibala 
(Wildniss,  Urwald),  zwischen  Ustjohuga  und  dem  Me-sen-FIusse, 
noch  Kalk-Mergel ,  sodann  folgt  der  bekannte  Pelrefacten-leere  Thon  und 
zeigt  sich  herrschend  bis  in  die  Nabe  der  Stadt  Uesen.  Am  Kuloj- 
Flusse  Höhlen  gyps  und  Salzsoolen. 

Von  S  e  m  s  c  h  a  aus  längs  der  Westküste  der  Halbinsel  K  a  o  i  n  zu 
Wasser.  An  der  Bugräniza  treten  die  Schiefer  der  Halbinsel  näher 
ans  Meer,  fallen,  noch  weiter  nördlich,  steil  zur  KUste  ab,  und  in  Schluch- 
ten und  Spalten  finden  sieb  jene  kurz  verlanfenden,  reissenden,  mit  mäch- 
tigen Wasserstürzen  versehenen  Flüsse,  für  die  westliche  Seite  Kanin  s 
so  bezeichnend.  —  Fahrt  durch  die  Tschiscba  und  Tschescha  aus 
dem  Eismeer  ins  Weisse  Meer. 

Für  Erhebung  der  Halbinsel  wurden  in  den  häufig  die  Schiefer 
durchbrechenden  Gängen,  sodann  in  den  vulkanischen  Gesteinen  Kanin's 
Beweise  gefunden,  und  hiermit  auch  das  Verschwinden  der,  einst  zwischen 
Kolgujen  und  Nowaja  Semljä  gelegenen  Iosel  Sopka,  auch  das 
Erdbeben  von  Archangel  erklärt.  Ueber  das  relative  Erhebungs-Alter 
Kanin's,  so  wie  über  den  Versuch,  das  wirkliche  Alter  des  Eilandes 
—  nach  Berechnungen,  die  sich  auf  sorgfältiges  Studium  der  Tundra 
stützen  —  in  Zahlen  -  Werthen  anzugeben ,  desgleichen  über  die  Bestim- 
mung der  neu  entdeckten  Petrefacten-führendeu  Gesteine,  an  der  Ober- 
fläche der  Halbinsel  soll  später  Bericht  erfolgen. 

Wir  empfehlen,  und  in  jeder  Hinsicht,  diese  Schriften  Gr ewiogk's 
der  Aufmerksamkeit  deutscher  Naturforscher. 

Leonhard. 


Histoire  des  Ducs  de  Guise  par  Rene  de  Bouille.    Tom.  IL  1849. 
T.  III.  et  IV.    1850.    Paris,  Amyot. 

Seitdem  Referent  den  ersten  Band  dieses  Werkes  in  den  Jahrb. 
vom  J.  1849  Nr.  45  u.  46  anzeigte,  folgten  drei  weitere  Blinde,  wo- 
mit nun  das  Werk  vollendet  ist.  Der  erste  Band  achloss  mit  dem  Hin- 
tritt Heinrich 's  IL,  der  in  sehr  verwickelten  und  schwierigen  Verhält- 
nissen den  noch  schwächeren  Franz  U.  zum  Thronfolger  hatte.  Anstatt 
sich  zu  entwirren ,  wird  jetzt  der  Parteikampf  noch  verwickelter  und  hart- 
näckiger» de  einerseits  die  Hugenoten,  durch  du  angedrungene  Zuge- 


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Renö  de  Bouille:  Hisloire  des  Ducs  de  Guis(\ 


släodoiss  ihrer  Duldung  ermuthi g t ,  die  Schwäche  der  Regierung  zu  ihrem 
Vortheil  auszubeuten  suchen .  anderseits  aber  den  Guisen  .  als  längst  be- 
währten  Vorkämpfern  auf  katholischer  Seite  die  Glieder  des  bourbonischen 
Zweigs  des  königlichen  Hauses  sich  entschiedener  als  je  gegenüber  stel- 
len.  Dazu  kam,  dass  jetzt  die  nahe  Verwandtin  der  Guise  Maria  Stuart 
Gemahlin  des  jungen  Königs  von  Frankreich  war.    Diesem  Vortheil  stand 
swar  der  Ehrgeiz  der  Königin  Mutter  Catherine  v.  Medicis  im  Wege. 
Dagegen  kam  es  den  Guisen  zu  Statten,  dass  diese  Fürstin,  welcher  der 
fiberwiegende  Einfluss  des  Connelable  Montmorency  bei  Lebzeiten  Ilein- 
rich's  II.  lastig  geworden  war,  sich  desselben  jetzt  durch  Begünstigung 
der  Guise  zu  entledigen  hoffte,  während  auf  der  Seite  der  ßourbons  die 
Hauptrolle  dem  Prinzen  von  Conde,  Bruder  des  schwachmüthigen  Anton, 
Köoigs  von  Navarra,  zufiel.    Conde  verband  mit  starkem  Ehrgeiz  Mut  Ii 
nad  Talente  und  wegen  der  Klemme  seiner  Finanzen  war  ihm  eine  grosse 
politische  Bolle  doppelt  erwünscht.  —  Mit  lobenswürdiger  Umsicht  und 
Genauigkeit  entwickelt  der  Verf.  das  ganze  Gewebe  der  gegenseitigen 
Ranke,  der  Verhandlungen  und  Unternehmungen,  womit  der  Parteikampf, 
u  welchem  sich  die  grösseren  europäischen  Mächte,  vorzüglich  Spanien 
nad  England  mitbeteiligten ,  fortgesetzt  wurde,  wobei  die  Religion  den 
Deckmantel  politischer  Interessen  abgeben  musste.    Refer.  würde  ein  Buch 
schreiben  müssen,  wenn  er  hier  vom  Inhalt  der  drei  letzten  Bände  einen 
ähnlichen  Abriss  wie  von  dem  des  ersten  Bandes  zu  geben  versuchte. 
Er  muss  sich  daher  auf  Andeutungen  und  Betrachtungen  in  Beireff  der 
hauptsächlichen  Ereignisse ,  die  für  das  Endergebniss  am  meisten  entschei- 
dend waren,  beschranken.  —  Unausgesetzt  blieb  das  Streben  der  innig 
miteinander  verbundenen  Glieder  des  Guisischen  Stamms  auf  die  Macht- 
übung  über  Frankreich  im  Namen  des  Königs  gerichtet.    Dabei  versäum- 
ten sie  nie  eine  Gelegenheit,  um  durch  Vermehrung  ihres  Guterbesitzes, 
ihrer  Aemter  und  Würden  sich  die  Mittel  für  jene  Machtübung  zu  sichern. 
Nach  der  Thronbesteigung  Franz  IL  kamen  die  beiden  Brüder  Franz  und 
Karl  von  Guise  an  die  Spitze  der  Verwaltung;  jenem  fiel  das  Heerwesen* 
diesem  (dem  Kardinal)  die  Finanz-  und  Gericittsverwaltung  anbeim.  Im 
J.  1559  erschien  eine  heftige  Denkschrift,  die  das  gehässigste  Licht  auf 
ihre  ehrgeizigen  Absichlee  zu  werfen  suchte ,  die  sich  unter  andern  durch 
ito  Bemühungen,  ihre  Abstammung  von  Karl  d.  gr.  darzutbun,  verrathen 
bitten  (IL  27).    Der  Kardinal  Karl  liess  in  den  Städten  Heiligen-Bilder 
aufstellen,  vor  denen  Kerzen  brannten  und  um  die  sich  Haufen  sammel- 
ten,  welche  die  Vorbeigebenden  zu  Ebrfurchtsbezeigungen  nöthigten 
(p.  33).   Diesa  erbitterte  die  Hugenoten,  und  der  Kardinal  erhielt  von 


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Fene'  de  Bonille:  Hisloire  de*  Don  de  Guise. 


verschiedenen  Seileu  Warnungen,  dass  seinem  Leben  nachgestellt  werde. 
Aach  kam  es  iu  den  Versammtungen  der  Hngeaolen  zur  ernsten  Bera- 
thung,  ob  es  nicht  znltissig  sei,  sich  mit  Waffengewalt  der  Tyrannei  der 
Guise  eu  widersetzen  und  den  Thron  von  ihrer  Vormundschaft  zu  be- 
freien. Juristen  und  Theologen  neigten  sich  znr  Bejahung  (  [>.  3G  ff.}. 
Io  einer  grossen  Versammlung  wurde  ein  gewisser  La  Renaudie  zur 
Leitung  der  ersten  Schttderhebuttg ,  wozu  Coligny  den  PIrii  entworfen, 
erkoren.  Die  Verschwürung  blieb  jedoch  den  Guisen  kein  Geheimnis», 
und  die  von  ihnen  getroffenen  Massregeln  brachten  es  dahin,  dass  die 
Verschwörung  von  Ainboise,  die  sich  des  Siegs  schon  ganz  versichert 
hielt,  in  eine  schwere  Niederlage  für  die  Hugeuoten  umschlug,  die  sich 
plötzlich  in  ihren  eigenen  Netzen  gefangen  sahen.  Frans  Guise .  jetzt 
neuerdings  zum  GeneraUieutenaul  des  Heichs  ernannt,  liess  doreb  ein 
Edict  »dien  Schuldigen  Verzeihung  zusichern,  wofern  sie  die  Waffen  nie- 
derlegten. Er  war  auch  zum  Niederschlagen  alles  Verfahrens  gegen  die 
Häuptlinge  geueigt.  Nicht  so  sein  Bruder  der  Kardinal,  der  selbst  gegen 
den  Prinz  von  Conde  keine  Schonung  zulassen  wollte.  Allerdings  be- 
zeichneten seihst  die  angestellten  Verhöre  Conde*  als  das  eigentliche  Haupt 
der  Verschwörung,  und  man  stellte  sie  dem  König  so  vor,  ah  habe  sie 
feinem  Thron  uud  Leben  gegolten.  Doch  hatte  der  König  den  Mntb  den 
Goisen  zu  erwiederu:  ..Seid  es  nicht  vielmehr  ihr,  gegen  die  die  Ver- 
schwörung gerichtet  war?  Würden  nicht,  weuu  ihr  euch  einige  Zeit 
von  Wer  entferntet,  die  l  m  uhen  aufhören  ?*  —  „Entfernten  wir  uns, 
so  wBre  euer  und  eurer  Brüder  Leben  keinen  Tag  sicher.**  —  Die  Kö- 
nigin Mutter  forderte  nun  Conde  auf,  sich  durch  Absagung  von  den  Ge- 
nossen zu  reinigen.  Der  Kardinal  aber,  der  anwesend  war,  schlug  ihm 
vor:  er  möchte  einem  Verhör,  da*  die  Königin  mit  Schuldigen  vorneh- 
men würde ,  hinter  einer  Tapete  zuhören.  Entrüstet  antwortete  der  Prinz 
mit  dem  Gegeoautrag:  der  Kardinal  möchte  diese  so  erniedrigende  Rolle 
selbst  Obernehmen,  um  mit  Gewissheit  zu  vernehmen,  wie  man  von  ihm 
und  seinem  Bruder  denke,  (p.  55.  56.)  ehrenhafter  benahm  sieb  Franz 
v.  Guise  bei  dem  Verhör,  welches  Conde  nun  in  Gegenwart  der  Vor- 
nehmsten des  Hofs  und  der  fremden  Gesandten  zu  bestehen  hatte.  Dieser 
vertheiditfto  sich  mit  Ruhe  und  erbot  sich,  obgleich  Prinz  von  Geblüt, 
zum  Zweikampf  mit  jedem  Ankläger.  Franz  v.  Guise  setzte  aber  jetzt 
die  Zuhörer  m  nicht  geringes  Erstaunen,  indem  er  erkürte:  weit  ent- 
fernt, au  die  gegen  den  Prinzen  verbreiteten  Gerüchte  zu  glauben,  biete 
er  sich  selbst  dem  Prinzen  zum  Seeundanten  an.  Da  sprach  Conde*,  seine 
Treue  gegen  den  König  nochmals  betheuernd,  Worte  des  Danks  für  den 


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Rene  de  Booillc:  Histoire  des  Ducs  de  Guise,  247 

Gegner.    Hierauf  erbat  er  sich  einen  Urlaub,  um  zu  seinem  Bnider  in 
Beara  zurückzukehren.    Auch  Coligoy  und  sein  Bruder  d'Andelot  erbaten 
Sick  Urlaub,  und  die  Königin  ersuchte  den  erstem,  nach  der  Normandie 
tu  gehen,  um  die  dortigen  Uoruhen  zu  dampfen.    Dieser  Auftrag  gab 
dem  Admiral  erwünschte  Gelegenheit,  in  seinen  Berichten  die  Schuld  der 
Unruhen  dem  Ehrgeil  der  Guise  zuzuschreiben.    Dessungeachtet  sprach 
das  Parlament  zu  Paris,   als  ihm  der  Hergang  der  Verschwörung  von 
Amboise  war  rorgetragen  worden,  dem  Herzog  v.  Guise  den  Titel:  Er- 
haller des  Vaterlandes  zu.    So  wie  aber  der  Kardinal  von  Lo- 
tbringen nicht  aufhörte,  den  Verdacht  gegen  Conde  zu  nähren,  so  fuhren 
auch  die  Hugenoten  fort,  den  Argwohn  gegen  den  Ehrgeiz  der  Guise  zu 
schüren.    Selbst  der  spanische  Botschafter  rietb  damals  der  Königin  Mal- 
ter der  letztern  zeitweilige  Entfernuag  (p.  64),  wührend  Elisabeth  von 
England  in  einer  auch  in  Frankreich  verbreiteten  Kundmachung  die  Gnise, 
welche  die  Maria  Stuart  zur  Annahme  des  Titels  einer  Königin  von  Eng- 
land bewogen  hatten,  als  Englands  geschworne  Feinde  bezeichnete,  die 
die  Buhe  der  Völker  ihrem  Familieniaterease  zum  Opfer  brächten,  (p.  70.) 
Catharina  von  Medicis  war  bei  diesen  Verhältnissen  fest  entschlossen,  sich 
durch  nichts  aus  ihrer  Mittelstellung  zwischen  den  Parteien  verrücken  zu 
lassen.    Während  sie  daher  geschehen  Hess ,  dass  auf  Antrieb  des  Kardi- 
aals  von  Lotbringen  alle  Klagen  in  Religionssacben  den  weltlichen  Ge- 
richten entzogen  und  ganz  den  bischöflichen  Gerichten  vorbehalten  wur- 
den, gab  aie  auch  zu,  dass  der  von  ihr  zur  Kanzler  würde  erhobene 
Michael  v.  Hospital,  dessen  bekannte  Denkart  die  Hoffnung  einer 
Versöhn un g  weckte,  zur  Vorbereitung  nöthiger  Reformen  anf  Berufung 
der  Generalstaaten  und  eines  Nationalconcils  antrug.    Wirklich  kam  eine 
Versammlung  von  Notabein  zu  Fontainebleau  zusammen,  wo  die  Bischöfe 
von  Valence  und  Vienne  mit  vieler  Schonung  von  der  Hugenotenpärtei 
sprachen  und  auf  die  Notwendigkeit  eines  Nationalconcils  drangen,  wo- 
fern e  dem  gewünschten  allgemeinen  zu  viele  Schwierigkeiten  entgegen- 
ständen.   Fasl  einstimmig  wurde  dieser  Antrag  auf  die  Berufung  der 
Generalstaaten  zum  Beschluss  erhoben.    Diese  kamen  im  October  1560 
mitten  unter  den  fortgesetzten  Bestrebungen  der  Parteien,  sich  zu  ver- 
stärken, zu  Orleans  zusammen.    Hier  begingen  die  Guise  den  schweren 
Missgriff,  den  Prinzen  von  Conde  in  Gewahrsam  bringen  zu  lassen,  woran! 
eine  königliche  Commission  das  Tod  es  url  heil  Uber  ihn  aussprach.  Schon 
war  der  Tag-  für  die  Hinrichtung  anberaumt,  und  diese  nur  noch  in  der 
Erwartung  Coligny's  verschoben,  dem  ein  gleiches  Loos  zugedacht  war, 
als  unversehens  Franz  II.  schwer  erkrankte  und  starb.    Da  sein  Nacbfol- 


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34*  Rem*  de  Bouiltt:  Histoire  des  Daci  de  Gaise. 

ger  Karl  IX.  erst  10  und  ]/2  Jahr  alt  war,  befürchteten  die  Guise,  die 
Geoeralstaaten  würden  die  Regentschaft  dem  Antop  von  Boarbon,  König 
von  Navarra,  übertragen.  Um  dem  zuvorzukommen  und  zugleich  die 
Nacht  der  Gaise  zu  zügeln,  trug  die  Königin  Mutter  dem  Anton  von 
Boarbon  die  Leitung  des  Heerwesens  als  Generallieutenant  des  Reiches 
an,  ond  wnsste  ihn  zu  bereden,  dnss  er  urkundlich  ihrer  Regentschaft 
seit  der  obersten  Leitung  aller  politischen  Angelegenheiten  die  Zustimmung 
gab.  Dies  machte  Karl  IX.  als  seinen  Willen  kund.  Catharina  sah  nun 
mit  geheimem  Wohlbehagen .  wie  sich  die  Bourbons  mit  Montmorency 
und  den  Cbatillons  auf  einer  und  die  Guise  auf  der  andern  Seite  bei  je- 
dem Anlass  am  den  Vorzug  stritten.  Eiu  neuer  Versuch  des  Herzogs 
von  Gaise,  den  Prinzen  von  Geblüt  gleichgestellt  zu  werden,  misslang; 
ebenso  scheiterte  der  Wunsch  des  Kardinals  Karl  aum  einzigen  Redner 
aller  drei  Stände  bei  den  Generalstaaten  erwählt  zu  werden,  an  dem 
Widerspruch  des  dritten  Standes.  Als  die  Versammlung  sieb  über  die 
grosse  Schnldenmasse ,  die  anter  Franz  II.  sich  angehäuft  halte,  beschwerte, 
trog  Anton  von  Bourbou  auf  strenge  Untersuchung  und  Widerruf  untnäs- 
siger  Vergabungen  an;  die  meisten  waren  zu  Gunsten  der  Guise  gesche- 
hen. Anton  von  Bourbon  verlangte  auch,  dass  ihm  die  Schlüssel  der 
königl.  Residenz  eingehändigt  würden,  die  dem  Herzog  von  Guise  an- 
vertraut waren.  Die  Regentin  trat  ins  Mittel  und  nahm  die  Schlüssel  in 
ihren  Verwahr.  Einem  zweiten  Begebreu  Anton's  von  Bourbon ,  auf  Frei- 
stellung seines  Bruders  Conde  und  Niederschlagung  seines  Prozesses,  zeigte 
sich  Catharina  zu  willfahren  geneigt.  Guise  erklärte  aber,  dies  verletze 
die  Ehre  des  verstorbenen  Königs ,  und  Conde  setzte  zur  Bedingung  sei- 
ner Rückkehr  an  den  Hof  die  Entfernung  des  Herzogs.  Endlich  kam  zu 
Fontainebleau  nach  Auflösung  der  Generalstaaten  eine  Schein  -  Aussöhnung 
zu  Stande.  Da  weckte  aber  am  Ostertag  eine  vom  Bischof  von  Valence 
Yor  dem  Hof  gehaltene  Predigt,  welche  die  Reformideen  bevorwortete, 
die  Glat  der  Zwietracht  aufs  Neue.  Franz  von  Guise  erhob  laute  Be- 
schwerde, und  es  bildete  sich  jetzt  schnell  ein  neuer  Bund  gegen  die 
Hugenoten;  an  ihrer  Spitze  stand  die  Trias:  Guise,  St.  Andre  und  Mont- 
morency, der  plötzlich  mit  seiner  Partei  zerßel.  Dieser  Bund,  den  die 
Regentia  sehr  ungern  sah ,  unterstellte  sich  in  Religionssachen  der  Leitung 
Philipps  IL  Sein  Botsehafter  nud  Guise  einigten  sich  für  einen  Plan  zur 
völligen  Unterdrückung  der  HuirenotenDartei .  wahrend  die  Redentin  wie- 
der  mehr  Coligoy  Gehör  verlieh  (p.  136).  Bald  nach  der  Krönung 
Karls  IX.,  bei  welcher  Guise  die  Forderung  des  Rangs  gleich  nach  An- 
ton von  Bourbon  durchsetzte,  wurde  das  auf  Betrieb  der  reformirlen 


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Rene*  de  Bouillö:  Histoire  des  Ducs  de  Guise. 


249 


Prediger  von  Conde  und  Coligny  verlangle  Religionsgespräch  zuBoissy 
veranstaltet.    Kardinal  von  Xournou  holte  dasselbe  widerrathen,  der  Kar— 
dmal  von  Lothringen  aber,  seiner  Beredsamkeit  einen  glänzenden  Sieg 
zutrauend,  die  Regentin  dafür  entschieden  (j>.  146).    Der  Jesuitengene- 
ral Leines  steigerte  hier  die  Erbitterung  aufs  höchste,  indem  er  den 
Untergang  des  Reichs  verkündete,  wenn  nicht  die  Hugenoten,  die  er 
)opi ,  volpi ,  serpenti  nannte ,  daraus  vertrieben  würden.    Des  Kardinals 
Beredte  Vorträge  machten  auf  Anton  v.  Bourbon  aolchen  Eindruck,  dass 
er  sich  von  der  Reform  lossagte  (p.  159.  163).    Dennoch  Hess  die  Re- 
gentin ,  von  Hospital  geleitet,  in  der  Versammlung  zu  St.  Germain  die 
öffentliche  Religionsübung  den  Hugenoten  verwilligen.  Diese  Verwilligung, 
an  der  Guise  keinen  Theil  nahm,  blieb  aber  erfolglos  fp.  164).  Guise 
warb  nun  um  Verbündete  in  Deutschland  (p.  166).    Doch  eio  blutiger 
Zusammenstoss  zwischen  seinem  Gefolge  und  den  Hugenoteo  zn  Vassy 
gab  die  Losung  zum  Ausbruch  des  Religiooskriegs ,  der  nun  Prankreich 
lange  Zeit  zerrüttete.    Dieser  Krieg,  der  mit  einem  Triumphzug  des  Ver- 
teidigers des  Glaubens  in  Paris  und  mit  der  Aufstellung  einer  reformir— 
ten  Bundesregierung  in  Orleans  unter  Conde  begann,  während  die  Re- 
genlin  vergebens  zu  vermitteln  suchte ,  wird  von  dem  Verf.  mit  der  gröbs- 
ten Umständlichkeit  beschrieben.    Nach  dem  blutigen  Sieg  bei  Dreux, 
wo  Conde  des  Guise  Gefangener  wurde,  musste  dieser  in  einem  ärm- 
lichen Bauernhaus  übernachten.    Weil  da  nur  eine  Lagerstätte  sich  fand, 
überliest  er  sie  dem  Conde*.    Doch  dieser  wollte  sie  nur  mit  ihm  theilen. 
So  ruhten  der  Sieger  und  der  Besiegte  neben  einander.  Letzterer  konnte 
nicht  einschlafen,  während  der  andere  ruhig  schlief  (p.  235).  Allein  bei 
der  Belagerung  von  Orleans,  welche  Pranz  v.  Guise  mit  Erfolg  betrieb, 
erreichte  ihn  das  Schicksal.    Er  fiel  von  der  Meuchlerhand  eines  Edel- 
manns, dem  er  früher  nach  der  Verschwörung  von  Amboise  Begnadigung 
verschafft  hatte.    Umständlich  beschreibt  der  Verf.  die  Scene  des  Nords 
und  des  Sterbelagers,  auf  welchem  Guise  noch  mit  der  Regentin  mehrern 
Unterredungen  über  die  Lage  des  Reichs  hatte,  (p.  272.  278  ff.)  Hein- 
rich v.  Guise  (bisher  Joinville  genannt)  trat  jetzt  an  des  ermor- 
deten Vaters  Stelle.    Kam  er  diesem  an  Feldherrntalent  und  vorsichtiger 
Klugheit  nicht  gleich,  so  übertraf  er  ihn  noch  an  Herrscbbegierde  und 
an  alleo  Talenten  und  Künsten,  die  ihrer  Befriedigung  dienen  (p.  302  ff.). 
Damals  befand  aich  der  Kardinal  von  Lotbringen  zu  Trient,  wo  die  Re- 
formfreunde  aich  längere  Zeit  wie  um  ihr  Haupt  sich  schaarten.  Seine 
dortige  Wirksamkeit  und  die  Gegenwirkungen  Roms,  das  ihn  fürchtete 
«ad  ihm  schmeichelte ,  sind  vom  Verf.  gut  geschildert    Er  anerkennt  des 


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250  Rene  de  Bouille:  Iiisloire  de«  Ducs  de  Guise. 

Kardinals  Verdienste  für  die  Reformbeschlttsse  und  für  die  friedliche 
Schliessung  des  Coucils ,  oüue  zu  verhehle» ,  das*  er  sich  gleichzeitig  alle 
Mühe  gab,  sich  der  Gunst  des  Pabstes  zu  versichern,  welche  ihn  für  die 
Ausführung  der  Entwürfe  und  Absichten  seines  Hauses  in  Bezug  auf  Frank- 
reichs Zustände,  besonders  seit  dor  Ermordung  seines  Bruders  unentbehr- 
licher schien  als  je  zuvor  (p.  334).  Trotz  seinen  Reformeifer  Hess  er 
sich  noch  neue  IM'r  lind  Verleihungen  von  Seite  des  Pabstes  gefallen,  ob- 
gleich die  Beschlüsse  des  Concils  die  Vereinigung  mehrerer  Kirchenpfrtto- 
den  verboten.  Auch  wäre  sein  vergebliches  Werben  um  die  Stelle  des 
Vorsitzenden  Legaten  im  Concil,  welche  ihn  von  Rom  noch  abhängiger 
gemacht  hätte,  nicht  zu  erklären,  wenn  er  nicht  dadurch  sich  den  Weg- 
zur  dreifachen  Krone  zu  bahnen  gehüllt  hätte.  Nach  seiner  Rückkehr 
in  Frankreich  drang  er  jedoch  auf  die  Vollziehung  der  Reformbe- 
schlüsse und  gab  selbst  davon  in  seiner  Synode  zu  Rheims  das  Beispiel 
(p.  340  ff.).  —  Bald  hernach  bildete  sich  auf  Betrieb  der  Guise  die 
später  so  berüchtigte  Ligue,  wogegen  Jttontmorency  und  Coligny  ihrer- 
seits Verabredungen  trafen  (p.  244.  250).  Diess  hinderte  jedoch  die 
Regentin  nicht,  ihre  Versuche  zur  Aussöhnung  fortzusetzen.  Zu  Moulins 
kam  eine  solche  zum  S  oh  ein  zu  Staude.  Coligny  wurde  hier  förmlich 
für  schuldig  am  Nord  des  Franz  v.  Guise  erklärt,  (p.  364  (f.)  Die  immer 
engere  Verbindung  des  französischen  Hofs  nit  Philipp  IL,  dessen  Heer 
unter  Alba  man  ungehindert  durch  Frankreich  zur  Unterdrückung  der  Nie- 
derländer ziehen  liess,  wurde  für  die  Hugenoten  das  Signal  zu  allgemei- 

WWaffenrüstuni?  Schlacht  Mete  auf  Schlacht  mit  wechselndem  Glück. 
Der  Kardinal  von  Lothringen  entwickelte  den  tbütigsteu  Eifer,  um  einen, 
den  Hugenoten  günstigen  Frieden  zu  verhindern.  —  Der  Verf.  erwähnt 
(p.  407)  einer  Schrift,  welche  der  Leibarzt  des  Kardinals  1568  an  den 
König  richtete,  worin  er  den  Anspruch  Frankreichs  auf  Erweiterung  sei- 
ner Grenzen  selbst  über  den  Rhein  beverwortete :  Rhenus  non  limes  Gal- 
ii»,  sed  modo  Danubhis!  —  Docb  weckte  der  steigende  Ehrgeiz  der 
Guiie  die  Eifersucht  Karb  IX.  Besonders  erzürnte  ihn  der  Versuch  des 
Herzogs  Heinrich ,  durch  Ränke  die  Hand  seiner  Schwester  zu  erhalten. 
Er  näherte  sich  nun  Coligny,  zog  ihn  in  seine  Umgebung,  nannte  ihn 
Vater,  gab  ihm  die  Erlaubniss  sich  mit  50  Garden  für  seine  Sicherheit 
zu  umgeben,  verlieh  ihm  Sitz  im  Königlichen  Rath  und  überhäufte  seine 
Fremde  mit  Ehren  und  Aemtern  (jp.  484).  Durch  diese  aufs  Höchste 
getriebene  Verslei lungskunst  gelang  es  ihm,  Coligny  ganz  zu  verblenden, 
während  er  und  seine  Mutter  den  Katholiken  unter  der  Hand  zu  verstehen 
gabeu,  sie  seien  durch  den  kurz  zuvor  zu  Stande  gekommenen  Vergleich 


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Bend  de  Bouille :  Histoirc  des  Ducf  de  Guise. 


Ton  Sl.  Germain  entsetzlich  hintergangen.  Den  Herzog  von  Guise  aber, 
des  er  »ich  fern  hielt,  Hess  er  bitten,  keinen  Versehmach  darob  zn  hegen, 
da  es  in  Frankreich  keine  Person  gebe,  der  er  nächst  seinen  Brüdern 
mehr  zugethan  sei.  (p.  480  ff.)  Indessen  hatten  der  König  nnd  seine 
Matter  Mühe,  den  Herzog  ron  Erneuerung  seiner  Klage  gegen  die  an- 
geblichen Mörder  seines  Vaters  abzuhalten.  Beide  (Guise  und  Coligny) 
Irsfee  an  Hofe  zusammen,  als  dieser  von  Blois  nach  Paris  zurückgekehrt 
war,  om  die  Hochzeit  der  Schwester  des  Königs  mit  Heinrich  von  Beanr 
iu  leiern.  Die  prachtvollen  Festlichkeiten  schienen  hier  eine  Aussöhnung 
zo  verkünden.  Gerade  dieser  Schein  aber  ward  zum  Widerspiel  unser- 
-eben.  Coligny  drängte  den  König  zur  Ausführung  des  von  ihm  schon 
lia^e  betriebenen  Kriegszngs  zur  Eroberung  der  spanischen  Niederlande. 
Karl  IX.,  weit  entfernt,  diesem  Plan  geneigt  zn  sein,  vorwarf  ihn  doch 
akht,  sondern  erbat  sieb  nur  Frist,  und  spielte  die  Comödie  einer  Ab- 
neigung gegen  Gnise  so  täuschend,  dass  Coligny  allen  Warnungen,  anf 
seiaer  Hot  so  sein,  das  Gehör  versagte.  Ingeheim  wurde  nun  zwischen 
dem  König  und  seiner  Mutter  der  Beschluss  verabredet:  weil  man  nicht 
gleich  Coligny  nnd  Heinrich  von  Gnise  aus  der  Welt  schaffen  könne, 
zuerst  jenen  und  seinen  Anhang  unter  den  Streichen  des  Volks  unter 
Guisc's  Leitung  fallen  zu  lassen ,  und  hernach  diesen  entweder  als  Mörder 
aut  dem  Rechtsweg  zu  verfolgen,  oder  sich  dnreh  ergebene  Soldaten 
seiner  zn  entledigen.  Wegen  des  dem  Coligny  bestimmten  Looses  wurde 
jetzt  Heinrich  von  Guise  ins  Vertrauen  gesetzt ,  und  ein  zn  seiner  Partei 
gehöriger  Abeotbeurer  Maurevert  übernahm  es,  den  Admiral  bei  seiner 
Nachkehr  von  Hof  nach  seiner  Wohnnng  ans  einem  Versteck  zu  erschies- 
sen.  Die  Wunden  des  letzteren  waren  jedoch  nicht  tödtlich.  Karl  IX. 
gab  sich  den  Schein  höchster  Entrüstung  über  die  Thal  und  gab  Befehl, 
ära  Morder  arfzusuchen .  während  er  den  Verdacht  auf  die  Guise  zn  len- 
ken sachte,  (p.  500  ff.)  Er  mit  seiner  Mutter  und  beiden  Brüdern  be- 
gibt sich  seibat  zo  Coligny,  bezeigt  ihn  die  lebhafteste  Theilnahme  und 
fordert  ihn  auf,  seine  Freunde  in  den  seiner  Wohnung  benachbarten  Häu- 
sern zu  vereinigen.  Doch  gleich  darauf  wurde  im  Louvre ,  um  sich  gegen 
die  Rache  der  Hugenoten  zu  sichern ,  ihre  Ermordung  beschlossen.  Die 
Abführung  am  34.  August  1572  ist  unter  dem  Namen  der  Bartholin 
miusaaebt  bekannt.  Heinrich  von  Gube  übernahm  die  Anordnung  nnd 
Leitung  des  grisslichen  Trauerspiels.  Auf*  Umständlichste  schildert  der 
Verf.  seine  Theilnahme.  ohne  das  Mindeste  davon  in  Abrede  zu  stellen, 
selbst  nicht,  dass  er,  als  Cotigny'a  Leiche  in  den  Hofraum  seines  Patastes 
war  mnuntergeworfeo  worden,  ihr  mit  einem  Nastoch  das  Biet  rem 


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Rene  de-  Booüle:  Histoire  des  Ducj  de  Guise. 


Gesicht  wischte  und  de  er  nun  die  Züge  des  Admirals  erkannt,  die  Leiche 
mit  dem  Fuss  wegstiess,  unter  dem  Zuruf:  „Giftiges  Thier!  nicht  mehr 
verbreiten  wirst  du  nun  dein  Gift."  (p.  505.)    Auch  durch  wandelte  er 
darauf  mit  seinem  Bruder  wie  ein  Sieger  die  ganze  Stadt,  die  eine  Wahl- 
stalte  des  Mords  geworden  war.    Doch  liess  er  vielen  Hugenoten,  na- 
mentlich hundert  Edelleuten,  die  er  kannte  und  von  denen  er  eine  Sin- 
nesänderung hoffen  m  können  glaubte,  seinen  Palast  Öffnen,  um  der  Wuth 
ihrer  Verfolger  in  entgehen  (p.  508).  —  Vor  eilf  Jahren  bat  H.  Al- 
beri  zu  Florenz  ein  Leben  der  Catharina  von  Medicis  veröffentlicht, 
worin  er  seine  Landesgenossin  von  der  Beschuldigung,  die  Urheberin  der 
Bartholomäusnacht  zu  sein,  zu  reinigen  sucht.  (  S.  die  Anzeige  im  Jahrg. 
1840.  S.  600  ff.)    Hr.  Bouille  scheint  dieses  Werk  nicht  gekannt  zu 
haben.    Aber  die  Thatsacben,  die  er  anführt,  stehen  ihm  schnurstracks 
entgegen.    Nach  seiner  Darstellung  waren  es  Karl  IX.,  seine  Mutter  und 
der  Herzog  von  Anjon,  die  hinter  dem  Rücken  von  Gnise  mit  der  tief- 
sten Verstellungskunst  die  Greuelthat  vorbereitet  und  erst  dann  dem  Her- 
zog von  Guise  davon  Kunde  gegeben  haben ,  als  der  Zeitpunkt  erschienen 
war,  wo  die  Vollziehung  mit  Ueberrascliung  der  Schlachtopfer  unver- 
sehens erfolgen  sollte,  wogegen  die  Vollziehung  selbst,  auch  nach  Bouille 
das  Werk  des  Herzogs  war,  indem  er  als  Haupt  der  von  fanalischem 
n.as&  gegen  die  tiugonoien  enuiiien,   liim  ganz  ergeuenen  voiKsmassen 
dazu  bereitwilligst  die  Hand  bot.    Catharioa  von  Medicis,  indem  sie  am 
Tage  nach  der  Mordnacht  dem  König  von  Spanien  Nachricht  davon  gab, 
wünschte  sich  Glück,  dass  Gott  ihrem  Sohne  die  Gnade  verliehen,  sich 
seiner  rebellischen  Untertbanen  zu  entledigen.    Unser  Verf.  citirt  dieses 
Schreiben  aas  den  Papiers  de  Simancas  B.  34  piece  135.  Nach  der  Thal 
freilich  gab  sich  Karl  IX.  in  seiner  ersten  Kundmachung  vom  24.  August 
den  Schein,  als  wäre  sie  blos  das  Ergebniss  des  feindlichen  Verhältnisses 
zwischen  dem  Haus  Guise  und  dem  Admiral  Coligny  and  ihrem  beidersei- 
tigen Anbang ,  ohne  dass  der  König  daran  Theil  genommen ,  als  welcher 
vielmehr  mittelst  der  um  ihn  zu  seiner  eigenen  Sicherheit  versammelten 
Garden  dem  Gemetzel  Einhalt  zu  tbun  gesucht  habe  (p.  516).  Doch 
ward  im  königlichen  Käthe,  wo  die  Kundmachung  beschlossen  wurde,  das 
Bedenken  aufgeworfen:  ob  nicht  die  leberwalzung  der  ganzen  That  auf 
den  H.  v.  Guiae  nicht  die  Zuneigung  der  Katholiken  für  ihn  noch  steigern 
müsse  (p.  517).    Auch  fand  es  Karl  IX.  gerat  he  n,  am  26.  Augost  im 
Parlament  zu  erklären,  alles  Vorgegangeue  sei  auf  seinen  ausdrücklichen 
Befehl  geschehen  zur  Bestrafung  der  Verschwörer  gegen  ihn  und  sein 
Haus  zur  Vernichtung  der  katholischen  Religion  uad  zum  Umsturz  des 


- 


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Rene  de  BouilU*:  Histoire  des  Ducs  de  Gaise. 


253 


Reichs  (p.  519).    Zugleich  liess  er  aber  in  Deutschland  und  England 
kund  thon :  er  habe  sich  durch  die  ihn  and  den  Thron  bedrohende  Gefahr 
genöthigt  gesehen,  „den  Herren  des  Hauses  Guise  freie  Hand  zu  lassen" 
(p.  520).    Der  Kardinal  von  Lotbringen  hingegen,  damals  in  Rom  an- 
wesend, nannte  in  einem  an  Gregor  XIII.  gerichteten  Schreiben  Karl  IX, 
„den  von  Gott  gesendeten  Vertilgungsengel"  (p.  520).    Doch,  obgleich 
jetzt  Bekehrungen  in  Menge  erfolgten  (die  von  Heinrich  v.  Bearn  selbst 
wir  darunter),  so  erhob  sich  doch  schnell  von  Seile  der  Hugenoten, 
besonders  im  Sttden,  eine  kräftige  KriegsrUstung ,  durch  das  Versprechen 
der  Unterstützung  von  England  und  Deutschland  ermuntert.    Auch  sah 
lieh,  nachdem  die  Angriffe  auf  Hochelle  vergeblich  geblieben,  Karl  IX. 
bald  zu  einem  neuen  Vergleich  bewogen,  der  den  Hugenoten  freie  Re- 
ügioaittbung  und  den  Besitz  von  Hoc  helle.  Montauban,  Nismes  und  San- 
cerrc  zugestand.    Nicht  wenig  trug  der  Wunsch  dazu  bei,  die  Wahl 
seines  Bruders  Anjou  zur  Krone  von  Polen  durchzusetzen,  wo  die  Pro- 
testanten eine  grosse  Partei  bildeten  (p.  536).    Der  Kardinal  von  Lo- 
thringen ,  indem  er  de^i  König  hiefür  einen  ansehnlichen  Beitrag  des  Klerus 
anbot,  pries  eeine  dissimulation  pleine  de  piete,  womit  er  nach  dem  Be- 
durfniss  der  Zeit  sein  Reich  von  den  falschen  Propheten  gesäubert  hohe, 
und  versicherte,  der  Klerus  erwarte  nur  Schutz  für  seine  Gerechtsame 
wjd  Befreiungen ;  sonst  verlange  er  nichts  als  die  Seelen,  vor  allen 
die  des  Königs.    „La  nous  donnant,  vous  la  donnes  «  Dieu,  Vous 
la  donnes  a  lui  et  a  nous,  quand  vous  y  tieudres  la  vraie  et  vive  foi 
calholique,  spostolique  et  romaine,  et  Tarmeres  d'un  tele  d'extirper  les 
beresies,  les  blasphemes"  (p.  538—540).    Bald  nach  dem  Zug  Anjou's 
aach  Polen  starb  Karl  IX.,  und  jener,  der  ingeheim  nach  Frankreich  zu- 
rückeilte ,  gab  gleich  fünf  Guisen  Sitz  in  seinem  Rath  und  bezeigte  dem 
Kardinal  von  Lotbringen  das  grösste  Zutrauen.    Dieser  genoss  es  jedoch 
nicht  lange.    Er  starb  an  einer  Verkantung,  die  er  sich  zuzog,  indem  er 
einer  Processen  der  Bruderschaft  der  Weissen,   der  sich  der  damals 
Frömmigkeit  heuchelnde  Heinrich  III.  einverleibt  hatte,  nackten  Fussen 
beiwohnte.    Die  ganze  Königsfamilie  umgab  sein  Sterbebett.    Selbst  die 
Königin  Mutter  ward  bis  zu  Thronen  gerührt.    Doch  sagte  sie  gleich 
nachher:  von  nun  an  werden  wir  Frieden  haben  (p.  567).    Unser  Verf., 
der  des  Kardinals  grosse  Eigenschaften  anerkennt,  ohne  seine  nicht  ge- 
ringen Fehler  zu  vertuschen,  fuhrt  des  Urlheil  des  Jesuiten  Daniel  an: 
La  conservation  de  sa  propre  graodeur  et  les  avantages  de  la  maison  de 
Gaiie  servaient  beancoop  a  «Dimer  aon  zele,  et  tont  bieo  considere, 


254  Rene*  de  BouilJe:  Histoire  des  Du  es  de  Guiie. 

rambition  etait  sa  pasaion  dominante  (Hist.  de  France  ed.  in  IV. 
T.  Vt  p.  552). 

Damit  schliesst  der  zweite  Band.  Im  dritten  Band  entrollt  sirU 
mit  der  genauesten  Umständlichkeit  der  noch  trübere  Zeitabschnitt,  wo 
der  charakterlose,  ganz  elenden  Lieblingen  (Mignons)  hingegebene  Hein« 
rieh  III.,  obgleich  er  sich  mit  einer  nahen  Verwandtet  der  Guise  ver- 
ehlicbt  hatte,  unaufhörlich  zwischen  den  zwei  Parteien  der  Hngenoten  und 
der  von  Philipp  II.  inspirirten  und  geschützten  und  von  Heinrieb  v.  Guise 
geleiteten  Ligue  hin-  uud  herscb wankt.  Bald  stellt  sich  der  König,  not- 
gedrungen ,  zumal  da  sein  eigener  Bruder  mit  selbstischen  Absichten  gegen 
ihn  aufstand,  an  die  Spitze  der  Ligue,  doch  bloa  um  ihre  Plane  zu  ver- 
eiteln oder  zu  durchkreuzen,  bald  steht  er  beiden  Parteien  feindselig  ent- 
gegen, doch  mehrentheils  von  weit  grösserer  Furcht  vor  dem  angebliche» 
Yertbeidiger  der  Staatskirche  und  des  Throns  als  vor  ihren  offenen  Be- 
kämpfe» erfüllt.  Weil  er  beiden  Parteien  nur  üisstrauen  einflössen  konnte, 
war  er  beiden  verhasst,  und  trug  die  Hauptschuld  an  der  zunehmenden. 
Verwirrung  und  an  der  Unmöglichkeit  einer  haltbaren  Versöhnung.  Zu 
einer  Entscheidung  zwischen  dem  König  und  Guise  schien  es  kommen  zu 
müssen,  als  letzterer  im  April  1588  unversehens  nach  Paris  kam,  wo 
der  König  von  Soldaten  umgeben  sich  aufhielt,  obgleich  fast  die  ganit 
Bevölkerung  ihm  bewaffnet  und  auf's  ausserste  erbittert  gegenüber  stand. 
Guise  wurde  von  ihr  wie  ein  Abgott  empfangen,  uud  weil  sie  für  aein 
Leben  besorgt  war,  setzte  sie  sich  förmlich  in  Belagerungstaad  und  er- 
richtete Barrikaden.  Der  König  aber ,  der  den  Herzog  mit  Unwillen  auf- 
nahm, getraute  sich  nicht,  ihn  verhaften  oder  morden  zu  lassen,  sondern 
hielt  es  für  gerathener ,  heimlich  zu  entfliehen  und  nunmehr  sieb  auf  eine 
Unterhandlung  mit  Guise  einzulassen,  die  mit  der  Unterzeichnung  aller 
von  diesem  dictirten  Friedensbedingungen  endete,  (p.  284  ff.}  Nun  berief 
aber  der  König  die  Generalstaaten  nach  Bioin.  Aach  Heinrieb  v.  Guise, 
trotz  der  Abmahnungen  seiner  Freunde,  folgte  der  Einladung  dahin,  auf 
das  Ansehen  seiner  Macht  vertrauend,  die  damals  ihren  Zenitb  erstiegen 
hatte.  Hier  jedoch  fiel  er  am  23.  Des. .  als  er  gerufen  sich  zum  König 
begab,  in  dessen  Vorgemach  unter  der  Hand  von  Mördern,  welche  die- 
ser gewonnen  hatte.  Dieae  Scene  wird  umständlich  vom  Verf.  beschrie- 
ben (L.  VL  ob,  2.  p.  305—317).  Doch  verhalf  auch  dieser  Meuchel- 
mord dem  König  nicht  zur  Macht.  Des  Ermordeten  Bruder  Majenne 
trat  jetzt  an  die  Stelle  des  erstem ,  bis  aein  Neffe  (Hei n rieh  II.  v.  Gmse) 
.»einer  Gefangenschaft  entronnen,  den  Haupteinfluss  gewann.   Auch  dieser 


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Rene*  de  Bouille:  Hiftoire  des  Du  es  de  Guise.  355 

wurde  dann  wie  Majenne  des  Trachtens  nach  der  Krone  verdächtigt.  — 
Aach  Heinrich  III.  sollte  das  Ende  des  Bürgerkriegs  nicht  erleben;  er 
fiel  unter  Blörderhand  vor  den  Mauern  seiner  Hauptstadt,  die  er  belagerte. 

Die  Fortsetzung  des  Kampfs  der  Ligue  mit  Heinrich  von  Bourbon, 
den  der  sterbende  Heinrich  III.  selbst  als  seinen  rechtmässigen  Nachfolger 
bezeichnet  hatte,  wird  nun  in  den  letzten  Kapiteln  des  dritten  Bandes  und 
in  den  ersten  des  vierten  Bandes  dargestellt.  Es  geschieht  dies  von  dem 
Verf.  mit  der  nämlichen  Ausführlichkeit  und  unparteiischen  Geschichtstreue, 
wie  in  den  früheren  Abtheilongen  seines  Werkes.  Die  letzten  Abschnitte 
desselben  sind  der  Theilnabme  der  Guise  an  den  öffentlichen  Angelegen- 
heiten unter  Heinrich  IV.  und  Ludwig  XIII.  insbesondere  an  der  Fronde 
gewidmet  und  schliessen  mit  Auskünften  Uber  die  letzten  Geschicke  dieses 
Hauses  bis  zu  seinem  Erloschen.  Sein  Gestirn  am  politischen  Himmel  war 
von  dem  Augenblick  verschwunden ,  wo  Heinrich  IV.  von  ganz  Frankreich 
als  der  rechtmässige  Herrscher  anerkannt  wurde. 

Wenn  wir  nun  das  Wesen,  den  Charakter,  die  Tendenzen  und 
Ergebnisse  der  ungemeinen  und  nachhaltigen  politischen  Thätigkeit  der 
Hauptpersonen  des  Guisiscben  Stammes  überschauen,  so  dringt  sich  uns 
die  Betrachtung  auf:  wie  vieldeutig,  zweifelhaft  und  ungewiss  der  Werth 
oder  das  Verdienst  aller  Bestrebungen,  die  mit  grossem  Geräusch  die 
Welt  erfüllten,  vor  den  Augen  der  unbefangenen  Nachwelt  erscheinen 
müsse,  wenn  sie  einerseits  nicht  rein  von  selbstsüchtigen  Absichten  sieh 
darstellen,  und  anderseits  ihr  Erfolg  voraussichtlich  mit  nicht  zu  berech- 
nendem Trübsal  und  Elend  für  die  Menschheit  und  die  Gesammthcit  der 
Gesellschaft  verbunden  war.  In  solchen  Epochen ,  wo  eine  ausserordent- 
liche Gahrung  und  Aufregung  der  Geister  in  der  Gesellschaft  entsteht  und 
die  öffentlichen  Gewalten  sich  aus  Unverstand  und  Schwachsinn  zur  Be- 
schwichtigung derselben  unfähig  nnd  unmächtig  erweisen,  ist  es  aller- 
dings leicht  begreiflich,  dass  ausgezeichnete  Talente,  von  persönlichen 
Verbältnissen  ermuntert,  sich  aufgefordert  fühlen,  die  Versäumnisse  und 
die  Unzulänglichkeit  der  Inhaber  der  öffentlichen  Gewalten  durch  ihre 
persönlichen  Anstrengungen  zu  ersetzen.  Nur  zu  leicht  gesellt  sich  aber 
diesem  übernommenen  Beruf  sich  voranzustellen  die  Versuchung,  die  durch 
Lahmheit  der  Regierung  gesteigerte  Zwietracht  und  Verwirrung  für  Er- 
reichung selbstischer  Vortheile,  als  gerechte  Belohnung  gemachter  An- 
strengungen über  die  Gebühr  auszubeuten.  Nicht  ohne  Grund  flösste  die 
Art  nnd  Weise,  wie  die  Guise  die  Sache  des  Throns  uud  des  Altars 
gegen  die  Partei  der  Neugläubigen  eigenmächtig  verfochten,  den  Königen 


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256  Kene  de  Bouill« :  Hktöire  des  Dactf  de  Guise. 

und  ihren  Ratbgebern  den  Argwohn  ein,  dass  ihrem  Kampfeifer  ehrgeizige 
Familieninteressen  zur  Triebfeder  dienten.    Daher  entspann  sich  zwischen 
der  Regierung ,  als  deren  Vorfechter  die  Guise  sich  hervortbaten  und  die- 
sen selbst  ein  von  misstrauischer  Eifersucht  unterhaltener  Antagonismus, 
der  den  Wirrsal  stets  vermehrte  und  der  Herstellung  eines  friedlichen 
Zustandes  im  Reich  hinderlich  wurde.    Hatte  der  Ehrgeii  der  Guise,  wie 
es  manche  Tbatsacben  und  Umtriebe  wahrscheinlich  gemacht  (S.  z.  B.  im 
vorliegenden  Werk  P.  III.  L.  V.  ch.  1.  p.  31  ff.  und  cb.  3.  p.  252. 
255),  sich  das  Endziel  vorgesteckt,  die  Krone  der  Cspetinger  mit  Be- 
seitigung der  Bourbons  anf  ihr  Geschlecht  tu  bringen,  so  wurde  ihre 
Schuld  durch  das  Verfehlen  des  Ziels  uoch  lange  nicht  gesühnt,  indem 
ihrem  herrschsüchtigen  Streben  ganze  Geschlechtsalter  und  die  Wohlfahrt 
des  Vaterlandes  in  einem  erbitterten  Bürgerkrieg  auf  unabsehbare  Zeiten 
zum  Opfer  fielen.    Gesetzt  aber  auch,  das  Augenmerk  der  Guise  wlre 
einzig  dahin  gerichtet  gewesen,  die  ttets  unterhaltene  Beunruhigung  des 
Reichs  und  die  grimmige  Spaltung  seiner  Bevölkerung  durch  den  Eifer 
der  Glaobensparteien  zum  Vehikel  der  eigenen  immer  höher  steigenden 
Machtübung  zu  benutzen,  so  wäre  doch  auch  diese  ehrgeizige  Politik 
weder  zu  rechtfertigen  noch  zu  entschuldigen.    Ihre  Geschichte  ist  jeden- 
falls  eine  furchtbare  Bestätigung ,  dass  die  mächtigste ,  blühendste  Monar- 
chie dem  Untergang  nahe  steht,  wenn  ihr  Geschick  einer  Reihenfolge 
schwacher  und  charakterloser  Regierungen  übergeben  und  es  einer  ehr- 
geizigen Familie  vergöunt  ist,  den  Throninhabern  einen  langen  Zeitraum 
hindurch  nur  die  Wahl  an  lassen,  sich  entweder  zum  blossen  Vollstrecker 
ihres  Willens  herabgewürdigt  oder  widrigenfalls  von  ihnen  stets  an  den 
Rand  des  Abgrunds  hingedraugt  au  sehen. 

Constnnz. 


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Nr.  17.  HEIDELBERGER  1851. 

JAHRBÜCHER  OER  LITERATUR 


A.  Tebeldi,  das  EigerUhum.  Stuttgart.  H aUber ger"  sehe  Verlogshandl. 
'  •      1848.  148  S.  gr.  8. 

Aus  einem  doppelten  Grande  glaubte  der  Unterzeichnete  eine  An- 
leige  dieser  Schrift  machen  zu  aollen,  zunächst  wegen  der  hohen  Wich* 
tigkeit  der  darin  besprochenen  Fragen  und  der  eigentümlichen  Art  ihrer 
Beantwortung,  die  gerade  darum  besonders  zum  Nachdenken  anregt,  weil 
sie  der  herrschenden  Zeitrichtung  zumeist  gerade  entgegenläuft,  sodann 
aber  aus  dem  Grunde,  weil  es  ihm  leid  seio  würde,  wenn  der  sehr  be- 
achtenswerlhe  Kern  des  Buchs  (zumal  Kap.  13—16)  über  der  Schale 
auch  von  Andern  ebenso  übersehen  werden  sollte ,  wie  er  selbst  nahe 
daran  war  es  zu  thun,  als  er  sich  bloss  das  Anfangs-  und  Scblusska- 
pitel  angesehen  hatte.    Denn  diese  entbalien  meist  muisigen  Ballast  tob 
herkömmlichen  geschmack-  uud  gehaltlosen  Redensarten  und  Ausrufungen 
Ober  die  Zunahme  von  Armuth  und  Elend  im  Grossen;  ja  die  Einleitung 
(S.  1—7)  wird  nicht  selten  geradezu  lächerlich  durch  den  missglück teo 
Versuch  des  Verf.,  auf  den  Krückeu  eines  von  schwäbischen  Sprachfeh- 
lern strotzenden  Ausdrucks  sich  zum  Schwung  einer  dichterischen  Begei- 
sterung hinaufzuschrauben,  so  dass  nicht  uur  der  Ernst  der  Sache  dar* 
unter  leidet,  sondern  auch  ein  Entschluss  dazu  gehört  weiter  zu  lesen. 
Auch  die  auf  dem  Gebiet  der  Rechtsphilosophie  sich  bewegenden  Betrach- 
tungen des  Verf.  (in  den  ersten  12  Haupbtücken)  Uber  das  Eigen thum 
und  seinen  Recbtsgrund  überhaupt  gehören  grossentheils  zu  der  sehr 
schwachen  Seite  der  Schrift,  da  sie  nur  etwa  Das  wiederbringen,  was, 
unter  dem  Einfluss  des  Römischen  Rechts  und  der  Ka nt- Fi ch te' sehen 
Rechts  ansieht,  schon  in  unzähligen  Büchern  darüber  ausgeführt  ist.  Doch 
zeichnet  sich  die  Darstellung  des  Verf.  hier  schon  mehrfach  aus  durch 
einzele  treffenden  Bemerkungen  und  ahnungsvollen  Stellen,  nicht  minder 
in  der  Begel  durch  eine  grosse  Anschaulichkeit,  Lebendigkeit  uud  kräf- 
tige Kürze  des  Ausdrucks.    Immerhin  aber  bleibt  dieser  ganze  Theil  des 
Bachs  nur  eine  Zutbat,  der  der  Verf.,  um  ein  Buch  über  „das  Eigen- 
thum« zu  schreiben,  glauben  mochte  nicht  entrathen  zu  können.  Er  hätte 
jedenfalls  besser  gethan,  sich  einfach  zu  beschränken  auf  die  fast  durch- 
weg vortreffliche  Schilderung  der  bäuerlichen  und  gewerblichen  Verhält- 
nisse der  mittleren  Zeiten,  über  die  er  mit  genauer  Sachkunde  spricht, 
XUV.  Jahrg.  3,  Doppelheft.  17 


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258  .!  Tebddi:  das  Eigenthum.  T! 

und  hieran  sodann  seiua  Vorschläge  anzuknüpfen  zur  »Ilmühlichen  L'rn- 
gestaltung  des  in  Belüg  auf  Landwirtschaft  und  Gewerbe  heute  gelten« 

den  Rechts,  die  am  so  mehr  Beachtung  verdienen  als  dieses  Recht  jene 
Hauptgrundlagen  alles  Wohlslandes  nach  des  Verf.  Ansicht,  die  der  Be- 
richterstatter vollkommen  t heilt,  einer  stetig  fortschreitenden  Auflösung 
entgegenführt.  Den  ganzen  hier  einschlagenden  Tbeil  des  Buchs,  beson- 
ders dessen  13. — 16.  Hauptstück,  dürfen  wir  mit  gutem  Gewissen  Allen, 
zumal  nnsern  Volks-  und  Staatswirthschaflern  empfehlen,  da  Diese  von 
der  Lichtseite  des  s.  g.  freien  Eigen th ums  so  bestochen  cn  sein 
pflegen,  das*  sie  noch  immer  fast  kein  Ange  haben  für  dessen  täglich 
dunkler  werdende  Schattenseite  und  für  den  Umstand,  dass  in  der  gan- 
zen Geschichte  so  lose  Eigenthums  verhält  nHsc ,  wie  sie  seit  60  Jahren 
mehr  nnd  mehr  sich  gestaltet  haben,  ohne  Beispiel  sind.  Ganz  ahnlich 
sehen  wir  auch  z.  B.  einen  sonst  so  klaren  Kopf  wie  Thiers,  noch 
in  seinen  neuesten  Reden  und  Schriften  über  das  Eigenthum,  völlig  in 
das  alle  ausgefahrene  Geleise  zurückfallen,  da  die  tollen  Versuche  seiner 
Landsleute ,  die  Arbeit  in  (Un  -)  Ordnung  zu  bringen ,  ihn  —  wie  rief« 
Andere  «—  ganz  blind  für  die  Mängel  der  bisherigen  Eigenthumsverhllt- 

■  * 

■iJ.#A  n  abV  fr      m%%      KoliAti      tnliAinAH  T  \  '  _  ~  ftLA-      L.      I  \J  n  *•  0       mm  n  m  n  ■  ■    f  knil« 

msse  gcmacni  zu  u  einen  sineinen«  l/iese  od  er  nai  aer  tctt.  grossen  iüoiis 
erkannt  und  scharf  gezeichnet.  Es  ist  ihm  nicht,  wie  der  Schule  des 
8.  g.  abstrakten  Liberalismus,  entgangen,  dass  die  Grundkrankheit  uns  rer 
Eigenthumsgesetzgebung,  von  der  sich  im  Alterthum  wie  Im  Mittelalter 
kaum  eine  Spur  zeigte,  in  der  Auffassung  der  ganzen  Eigenthumsfrage 
fast  lediglich  im  Standpunkt  des  Einzelen  liegt,  dass  das  noth wen- 
dige Verhittniss  der  stets  wechselnden  Zahl  der  Menschen  zu  der  eben- 
falls stets  wechselnden  Zahl  der  vorhandenen ,  zur  Bedurfnissbefriedigung 
erfoderiiehen  Sachen  dabei  ganz  ausser  Acht  gelassen  worden  ist,  wäh- 
rend es  von  Tag  zu  Tag  gebieterischer  Beachtung  fodert,  je  dichter  die 
Bevölkerung  und  je  drückender  die  Lebenslage  eines  immer  grösseren 
mens  dieser  DCYuiKerung  wiro.  noi.  no»  senon  in  seinen  „urunuzugen 
des  Naturrechts"  diesen  Missstand  nSher  besprochen  und  eine  Reihe  von 
Beschrankungen  des  s.  g.  freien  Eigenthums  angedeutet ,  welche  das  Recht 
ihm  dringend  zu  verlangen  scheint.  Der  Verf.  geht  in  seinen  Vorschlä- 
gen noch  weiter  als  er.  Im  Wege  zum  Ziel  mag  hier  oder  dort  geirrt 
fein;  dieses  selbst  aber  steht  fest;  nicht  bloss  mehr  die  Wissenschaft, 
sondern  das  drängende  Leben  gebietet,  es  unverrückt  ins  Ange  zu  fes- 
ten. Vorwärtsgehen  auf  dem  bisherigen  Wege  scheint  dem  Verf.  mit 
Hecht  unheilbringend  für  die  Menschheit!  Ans  den  ersten  12  HnuptstUckeo 
heben  wir  nur  Hinzeies  ans. 


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Tebeldi:  das  Eigenthum. 


I«  1.  Kapitel  wird  das  „Recht  tu  leben«,  alt  körperlich  be- 
reites Wesen,  als  Hauptrecht  angeführt,  Kraft  dessen  wir  Anerkennung: 
tob  der  Gemeinschaft  und  Erhaltung  aus  deren  Mitten)  En  fodern  halten; 
das  Hecht  überhaupt  wird  ganz  Kantisrh  als  blasse  Beschränkung  der 
äussern  Freiheit  der  Einzel en  mittelst  Zwangs  zum  Zweck  der  Ermög- 
lich des  Zusammen- Lebens  und  Wirkens  erklärt,  die,  wie  jede  Schranke, 
uDbcqnem,  aber  doch  da«  kleinere  Uebel  sei.  Ob  Menschen  ohne  Vor- 
nunffgebrauch ,  wie  Kinder,  Rechte  haben  könnten,  scheint  dem  Verf.» 
zweifelhaft  (!).  Im  2.  Kap.  (S.  12  —  17)  „die  Gleichheit  der 
Menschenrechte werden  Recht  und  Staat  ewige  Naturnotwen- 
digkeiten genannt,  deren  Gestaltungen  freilich  sterblich  seien  wie  die; 
Menschen.  Der  Verf.  fuhrt  die  Satze  ans,  daas  Ungleichheit  immer  neue 
Ungleichheit  gehart  und  der  Gesellschaft  ihr  Grab  gräbt,  dass  wir  nur 
gezwangen  einer  Gemeinschaft  angehören  können,  die  auf  unsere  Kosten 
da  ist,  sofern  wir  mehr  in  sie  einlegen  als  von  ihr  erhalten  (gleichwie 
»  einer  Aktiengesellschaft) ,  dass  wir  zu  ihr  in  einem  bloss  t  tatsächlichen 
Verhältaiss  stehen,  mithin  gegen  sie  so  wem?  eine  Verbindlichkeit  haben 
ak  sie  ein  Recht  auf  ans ,  dass  wir  vielmehr  austreten  oder  die  ans  nach- 
teiligen Gesetze  umstossen  dürfen,  sobald  wir  die  Macht  daiu  haben 
i  b.  die  Mehrzahl  sind ;  endlich  dass  die  Gleichheit  Jedem  ein  Recht  gebe 
auf  so  reichlichen  Unterhalt,  als  ihn  das  Verhältniss  der  vorhandenen 
Sachen  zu  den  vorhandenen  Menschen  zulasst,  aber  auch  eine  Pflicht  zu 
TOThaltnissmässigem  Arbeitbeitrag  zur  Hervorbringung  der  nothwendigenv 
Sachen.  Das  3.  Kap.  enthalt  gewissermassen  eine  Einleitung  und  einen 
Leberblick  Desaeu,  was  die  Schrift  dea  Verf.  hauptsächlich  auszuführen 
versucht.  Es  erörtert  „die  t  {tatsächliche  Verth  eilung  des  Eigen- 
IbiBs*  und  hebt  hervor,  dass  weder  Einer  oder  Zwei,  noch  eine  Million 
»«sehen  an  Sacken,  d.  h.  an  leiblichen  and  geistigen  Lebensmitteln,  sich 
allein  zueignen  and  brauchen  oder  aufsammeln«)  dürfe  was  Alle  be- 
dürfen, also  aif  Kosten  Anderer  (Mitlebender  oder  künftiger  Geschlech- 
ter); sonst  liege  darin  gleichsam  ein  Verbot  für  die  Verkarsten,  sich 
stit  zo  essen,  Häuser  tu  bewohnen  u.  a.  f.  (S.  41),  ja  ein  Diebstahl 
[eine  Aeusserung,  die  besser  weggeblieben  wäre,  weil  sie  anProudhon's 
marktschreierisch«  Wort  erinnert).  Der  Verf.  zeigt,  dass,  Wer  keinen 
fruchtbringenden  Besitz  hat,  nur  arbeiten  könne,  wenn  er  für  seine  Arbeit 

wenigstens  soviel  erhalt,  als  er  tarn  Leben  braucht;   die  Arbeitfähigkeit 

•  i 

•)  Dieses  Aufstapeln,  bemerkt  der  Verf.,  sei  überall  da  schädlich  und 
^gerecht,  wo  an  Lebensmitteln  kein  Ueberaus«  sei  nnd  enthalte  dann  Wucher, 

17* 


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Tebeldi:  das  Eigenthum. 


allein  sichere  das  Recht  zu  leben  in  keiner  Art  auf  alle  Fülle;  die  blei- 
bende gänzliche  Abhängigkeit  (Sklaverei)  der  blossen  Arbeiter  folge  un- 
widerlegbar aas  dem  Umstände ,  dass  die  Arbeit  ohne  Boden  und  Kapitale 
nicht  denkbar  ist,  dass  sie  nicht  schaffen  kann,  dass,  wenn  der  Be- 
sitzer nicht  Arbeit  dem  Arbeiter  zugestehen  würde,  Dieser  keine  fände 
(S.  23);  der  Verf.  zeigt  ferner,  dass  und  warum  es  täglich  schwerer 
wird,  auch  nur  das  Not  Ii  wendige  durch  gemeine  Arbeit  au  erschwingen, 
dass  Maschinen  und  Hitwerbung,  zumal  der  kleinen  Besitzer,  —  die  zu- 
mal in  den  graulichen  Versteigerungen  an  den  Wenigstfodernden  zu  Tage 
trete  — ■  die  Nicht b es itzer,  sammt  Weib  und  Kind,  trotz  aller  Arbeit- 
überbürdung,  doch  nur  zum  kümmerlichsten  Pflanzen! eben  kommen  lasse, 
„das  sie  mit  Allem  zahlen  müssen,  was  sie  über  das  Thier  erhebt" 
(S.  42),  und  er  Bndet  den  Hauptgrund  der  raschen  Aufzehrang  des 
Mittelstands  durch  Vermögens  -  Zersplitterung  einer-  und  Aufhäufung  an- 
dererseits in  der  Auflösung  jener  Schranken  von  Beidem,  die  in  den 
alten  Acker verfassungeu  und  Gewerbeordnungen  gelegen 
bitten.  Was  diese  Schranken  bedeutet  und  Was  die  beillosen  Gesetze  ge- 
wirkt haben,  wodurch  sie,  unter  dem  Schilde  der  „  Freiheit u  (des 
Eigen thuras,  Gewerbs,  Verkehrs),  zumal  seit  der  französischen  Umwäl- 
zung, beseitigt  worden  seien,  schildert  der  Verf.  späterhin  näher.  In 
diesen  Gesetzen  und  ihren  Verteidigern  erblickt  er  die  naturlichen  Feinde 
der  zahlreichen  Klassen,  die  dadurch  um  das  Recht  auf  Sachen  gebracht 

w  •         mm  mm  m  ■  ■  *  mrm  mfmm  w  mm        mm  ■  mm^mm  mm  mm    m  ■  mw        mm  mm  •—        mmmmm        mm  mmmw  ^  ■  *  ^w*^«  mm  mW  mm  VM       j%  ^*  mw  ■  ^™ mr w 

wären  und  die  man  nun  mit  ungeheurer  Tyrannei  zwinge,  nach  den 
schmachvollsten  Demttthigungen  unterzugehen.  Daneben  wirkten  alle  die 
armseligen  Wittelchen ,  womit  unsere  Ständekammern  den  Arbeiten  zu  hel- 
fen suchten,  z.  B.  unentgeltlicher  Unterricht,  progressive  Steuern,  Brod- 
karten  n.  dgl. ,  nicht  mehr  als  Abzapfungen  bei  Wassersüchtigen.  Der 
Besitz,  ungleich  und  unstetig,  ohne  richtiges  Verhältniss  der  Menschen  zu 
Grund  und  Boden  und  zur  Arbeit,  wie  er  ist,  könne  nicht  aufrecht  er- 
halten werden.  Entweder  die  Gesetze  werden  ihn  regeln  oder  furchtbare 
Umwälzungen!  Den  Verhungernden  helfen  alle  hochklingenden  Bürger- 
rechte Nichts;  Nichts  hilft  ihnen  die  lächerliche  sog.  „Gl  eich  hei  t  vor 
dem  Gesetz-,  Nichts,  dass  sie  als  „aktive  Bürger"  verhungern!  ruft 
der  Verf.  aus,  der  Oberhaupt  hier  ebenso  kräftig  als  treffend  die  Sach- 
lage schildert,  die  ihm  später  (Kap.  12)  den  Stoff  abgibt  zu  einer  gaoz 
missglückten  Parabel  unter  dem  Titel:  „eine  halb  wahre  Geschichte."  In 
4.  Kap.  „das  Eigenthum  und  seine  Erwerbung"  erklärt  der 
Verf.  den  Begriff  des  Eigenthums  in  der  gewöhnlichen  Weise ,  zeigt  leid- 
lich, dass  der  Satz:  „Bezeichnung  gebe  Eigenthum4'-  nur  den  ganz  ver- 


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Tebeldi:  das 


fehlten  Versuch  enthalte,  unsere  Eigenthumsverhaltnisse  IQ  rechtfertigen, 
weil  er  den  Grandmangel  habe,  die  durchaus  notwendige  Beschrän- 
kung des  Eigenthumerwerbs  zu  verkennen,  die  sich  aus  dessen  uner- 
läßlicher Vereinbarkeit  mit  den  Rechten  und  der  Freiheit  Andrer  ergeben, 
zonal  mit  deren  unbedingtem  Recht  auf  Leben  und  Sachen  (Lebensunter- 
halt), weil  er  ganz  folgerichtig  auch  die  Sklaverei  rechtfertigen  würde, 
da  auch  der  Mensch  bezeichenbar  sei.  Das  5.  Kap.  fahrt  den  Satz  auf: 
„Abgesehen  von  bürgerlichen  Gesetzen  ist  nur  Eigen- 
tum, was  besessen  wird;  denn  ohne  jene  sei  nur  im  körper- 
lichen Besitz  die  Möglichkeit  des  Schutzes  und  der  Erkennbarkeit  der 
Absicht  des  Gebrauchs  vorbanden  ,  daher  dem  Volk  noch  Besitz  und  Ei- 
gentum gleichbedeutend  sei  und  die  Römer  Letzteres  nur  bei  körperlichen 
Dingen  anerkannt  hätten.  Der  Verf.  will  weder  von  einer  ursprünglichen 
Gütergemeinschaft,  noch  von  dem  erdichteten  Ur vertrage  als  Quell  desSon- 
dereigenthums  etwas  wissen  (S.  33) ,  und  hält  ebenso  richtig  dafür,  dass 
aoeh  die  Formgebung  durch  Bearbeitung  Eigenthum  am  Stoff  nicht 
gebeo  könne  (höchstens  Entschädigungsanspruch),  sonst  gebe  dieses  der 
blosse  an  sich  schrankenlose  Wille.  Seine  Beweisführung  ist  hier  jedoch 
ebenso  dürftig  als  sein  Satz  falsch:  „die  Naturrechtslehrer  erklärten  die 
Verordnung  (!)  von  Kraft,  die  Bearbeitung,  zum  Erwerb  von  Sachen 
nirgend  noth wendig."  Ein  flüchtiger  Blick,  sei  es  in  Ahrens'  oder  des 
Ref.  Buch  über  Naturrecht,  sei  es  in  den  trefflichen  Art.  „ 


Ton  W.  Scholz  im  Staatslexikon,  ja  schon  in  Warnkönig's 
pniiosopnie  wuroe  oen  veri«  vieiieicnc  nier  unu  unernBupi  oesnmmi  na— 
ben,  Manches  vielseitiger  und  anders  auszuführen.  Wenigstens  nicht  alle 
..Juristen"  beten  die  platte  römische  Theorie  von  den  Rechtsgründen  des 
Eigenthumerwerbs  als  rechtsfilosofisches  Evangelium  nach!  Die  Haupt- 
»ilze  des  6.  Kap.  „inwiefern  das  Eigenthum  in  der  Natur 
tust",  sind  bereits  oben  besprochen;  es  enthalt  viel  Unbegründetes  und 
l  ebertrieben  es ,  was  wir  Übergehen.  Wahr  bleibt  nur  soviel,  dass  der 
Bedarf  (auch  der  künftige!)  und  die  Sicherung  seiner  Deckung  den  Haupt- 
inhalt für  jede  gerechte  Eigenthumsgesetzgebung  abgeben  muss,  und  dass 
dessen  Art  und  Umfang,  so  sehr  verschieden  bei  den  Einzelen,  in  der 
Regel  nur  für  eine  enge  Umgebung  beurtheilbar  ist  —  welch'  Letzteres 
«üe  Gleich macher  von  Oben  vergessen.  Im  7.  Kap.  (S.  45  ff.)  wird  „der 
Binfluss  der  Erbfolgesetze  auf  das  Eigenthumu  besprochen. 
Ei  wird  der  sehr  schwache  Versuch  gemocht,  zu  zeigen,  dass  nur  durch 
der  Staatsgesetzo  der  Nachlass  nicht  herrnlos  werde,  und 
wcsshalb  die  Arbeit  der  Nachkommen  von  Nichtbesitzern 


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Tebeld«:  da*  Eigenthum. 


fast  immer  unergiebig,  also  die  Mittellosigkeit  gleichsam  vererblich,  kurz 
eine  Pariaklösse  und  eine  tielreicbende  Gebnrtaristokratie  (der  Besitzer) 
da  sei.    Das  Erbrecht  soll  nicht  abgeschafft,  sondern  nur  auf  ein  höch- 
ste* Mass  beschrankt  werden  (wie?   hat  zwar  der  Verf.  nicht  gesagt, 
aber  Andere  vor  ihm),  und  Was  drüber  U  der  Gemeinde  zufallen, 
die  dann  Mittel  hätte  wirksam  der  Armutb  abzuhelfen.    Neu  und  über- 
raschend für  die  Meisten  wird  die  Ausführung  im  8.  Kap.  (S.  49  ff.)  sein  : 
„Hecht  und  Eigenthum  sind  dasselbe,  jedes  Recht  ist  B  i- 
gentbum";   dieses  ist  nur  das  Recht  in  Bezug  auf  einen  bestimmtem 
Fall,  daa  Erscheinende,  Körperliche  am  Recht;    das  Recht  aber  ist  dos 
Wesen  (der  Grund) ,  das  Innere  oder  Geistige  —  das  Lebensprinzip  — 
des  Eigenthums,  mit  dem  es  entsteht  und  vergeht,  auch  wenn  sein  Gegen- 
stand fortdauert:   ea  besteht  in  der  Beziehung  des  Guts  auf  die  Person. 
Das  Fiffenthum  ist  die  Summe  der  anerkannten  Beziehungen  einer  Sache, 
d.  h.  eines  Mittels  für  menschliche  Zwecke ,  zu  nur,  nicht  die  Sache  selbst, 
auch  licht  mein  Wille;  es  begreift  alle  wirklichen  und  vermeinten,  jetzi- 
gen und  künftigen  Güter  (nicht  bloss  die  körperlichen  Dinge),  worü- 
ber ich  verfügen  kann ,  z.  B.  auch  das  Recht  auf  die  Dienste  des  vor- 
ausbezahlten Bzrbiers,  ein  Jegdrecbt,  eine  jährliche  Rente,  eine  Bank- 
note, einen  Steatsschuldscbein ,  ein  Lotterielos ,  eine  schone  I  rau,  das 
Recht  eine  bestimmte  Person  zu  heirathen,  den  Adel.    Geistreich  ver- 
gleicht der  Verf,  4en  heutigen  vermeinten  Gegensatz  von  Recht  und 
Eifenthum  dem  früheren  von  Kraft  und  Stoff  (8.  52)  und  erklärt  Um 

«1 14  flar  Wah rtiflhmuuf*     (Ihss  vie I  ß  RechtA  kpinpn  Tb  lisch wer  Iii  hab£D    w o 

sin  nämlich  Allen  zukommen,  z.  B.  des  Jagdrecht,  das  Rennt  Holz  aus 
dem  Urwald  zu  holen  vor  1000  Jahren,  wo  sie  also  volkswirtschaftlich 
keine  Güter  (d,  h.  Vermögenstheile)  sind.  Jedes  bestimmte  Recht  bedürfe^ 
nach  ellgemeiner  Uehereinkunft,  einen  äussern  Gegenstand  zur  Unter- 
lage. Das  0.  Kapitel  stellt  den  Satz  auf,  das  Eigezthum  ist  den 
Verfügungen  des  Staats  unterworfen.  Daher  dürfe,  je  müsse 
er  es,  sofern  es  auch  eine  Staatseinrichtung  ist,  gleich  alleo  andern 
solchen »  z.  B.  den  Strafen,  seinen  Bedürfnissen  aunassen  es  beschränken 
seine  Erwerb-  und  Verhistarten  ändern,  sofern  diese  Verfügungen  den 
Zweek  des  Ganzen  fördern,  z.  B.  das  Verbot  der  Niederreissung  oder 
Anzundung  meiues  Hauses,  seiner  Verwandlung  in  ein  Pulvermagazin,  le- 
benslanger Verdingung  etc,  Von  den  Beispielen  solcher  Staatseingriffe  zu 
allen  Zeiten,  die  das  10.  Kap.  (S.  58-64)  in  ziemlich  bunter  Reibe 
zus  alter ,  mittlerer  und  neuer  Zeil  beibringt ,  genüge  es  hier  zz  erinnern 
an  die  zahllosen  und  oft  schweren  Steuern  (wezz  der  Verf.  zucn  die 


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Tebeldi:  das  Einentham; 


»63 


Opfer,  Lehnwesen  und  Requisitionen  zählt),  an  die  Beschränkungen  des 
Erwerbs  von  Liegenschaften  über  ein  gewisses  Mass  oder  durch  Nicht- 
adlige,  des  Berg-  und  Häuserbaus,  der  Jagd,  an  die  Bestimmungen  über 
gesetzliche  Erbfolge,  Majorate,  Unteilbarkeit,  Ausstattung,  Vorkaufs- 
rechte etc.  Als  mittelbarer  wirkend  werden  Zunft-  und  Iudigenatgesetze, 
Aufhebung  der  Ehescheidung,  der  Vaterschaf  (klage  u.  dgl.  genannt,  end- 
lich als  Beispiele  sogar  der  Wegnahme  des  Ganzen  durch  den  Staat: 
Einführung  oder  Aufhebung  der  Sklaverei  nnd  Leibeigenschaft,  Geld-  und 
and  Vermögenstrafen,  Einziehung  von  Klostern  und  Stiftungen,  Verlustig- 
erklUrung  von  Amt  und  Geschäft,  Armensteuero ,  Rekrutenaushebung  etc. 
Das  11.  Kap.  führt  eine  nicht  minder  bunte  Reihe  von  Autoritäten  dafür 
an,  dass  das  Eigenthuni  eine  Einrichtung  des  Staats  sei,  in  diesem  inten 
Rechtsgrund  habe,  —  ein  Satz,  der  über  die  Grawe  der  Wahrheit  hin- 
ausgeht  und  ausserdem  überflüssig  ist  um  zu  beweisen,  Was  er  bewei- 
sen soll:  dass  der  Staat  das  Eigenthum  zu  regeln  habe.  Im  13.  Kap. 
(S.  73 — 87)  wird  lichtvoll  dargestellt:  das  geb un denn  Eigenthum 
nnd  dessen  Vortheile  für  die  Gesellschaft.  Einleitend  wird 
hervorgehoben,  dais  das  Sondercigcuthum  ohne  Frage  aus  der  eigensten 
Katar  des  Menschen  entspringe,  stärker  als  Alles  antreibe  zu  Arbeit  und 
Erwerb  für  sich  und  die  Seinen,  dass  Jeder  nur  das  Eigne  gern  schon« 
nnd  bessere,  dass  umgekehrt  Gütergemeinschaft  jenes  Reizes  haar  sei, 
daher  Zwang  unentbehrlich  mache,  Sklaverei,  Verflachung  und  Unbildung 
nach  sich  ziehen  müsste,  dass  aber  das  Eigenthum  so  wenig  wie  der 
Staat  immer  ebenso  gestaltet  sein  müsse  wie  heute.  Sonst  sei  es,  soweit 
nur  mOglicb,  auch  Gemeingut  gewesen,  d.  h.  es  habe  auf  der  eisernen 
Grundlage  des  Vortheils  der  Mehrzahl  geruht.  Jedes  deutsche  Dorf,  sagt 
der  Verf.,  habe  bestanden  ans  einer  bestimmten  Zahl  untrennbarer  Höfe, 
d.  b.  unveräusserlicher  Lehen  (die  früher  alle  drei  Jahre  verloost  wor- 
den), die  ein  Sohn  erbte  und  nicht  verschuldet  nnd  verpfändet  werden 
durften.  Ein  besonderes  Gemeindegut  daneben  sorgte  für  gemeinsame 
Anstalten  und  Vorrüthe ,  z.  B.  Saalkorn  („Gemeindeschttttkästen") ,  zumal 
für  Missjahre  etc.  Selten  war  ausser  dem  Bauerbof  sammt  Zubehör  Et- 
was xu  erbet),  daher  keine  Heirathen  nach  Geld;  dort  blieben  die  Ge- 
schwister als  Kneebte  und  Mägde  und  hatten,  da  sie  nicht  fortgeschickt 
werden  durften ,  gesicherten  Unterhalt  (S.  78).  Acbnlich  wie  der  Boden 
(die  Mark  in  Höf«)  wurde  auch  die  Arbeit  als  Besitzthum  binnen  eines 
bestimmten  Bezirks  vertheilt,  so  dass  weder  heraus  noch  hinein  ge- 
arbeitet werden  durfte;  man  Hess  darin  für  jede  Art  von  Arbeit  nur  so 
viel  Meister  zu,  als  von  dem  Einkommen  für  die  erfoderlicbe  Arbeit 


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264 


Tebeldit  das  Eigcntlinm. 


leben  konnten,  und  seilte  für  jeden  Meister  eine  unttberschreitbare  Zahl 
von  Hülfserbeilern  fest,  um  dem  Einfloss  der  Glücks-  und  Unglücksfalle 
zu  Stenern.  Das  Meisterrecht  war  unveräusserlich  (unverschuldbar),  des- 
sen Erbe  der  gewerbtüchtige  älteste  Sohn ,  auch  die  Wittwe.  Die  Nach- 
geborenen hatten  das  nächste  Recht  Hülfsarbeiter  zu  werden.  Nicht  die 
Willkür  der  Meister ,  sondern  des  Innungsgesetz  entschied  Uber  Zahl,  Zu- 
lassung oder  Entlassung,  Lohn,  Arbeitzeit  und  Ruhetage  der  Hülfsarbeiter. 
Sie  gehörten  zur  Familie  des  Meisters,  an  seinen  Tisch,  unter  sein  Dach 
und  erwarben  stufenweise  ein  näheres  Recht  auf  die  Meisterschaft.  „Was 
den  Grundbesitzern  die  Gemeinden  waren,  waren  den  Arbeitern  die  In- 
nungen." Diese,  denen  durch  Beitrüge  der  Meister  und  Gehülfen,  sowie 
durch  Stiftungen,  die  nöthigen  Geldkräfte  zuflössen,  nahmen  sich  der  Be- 
dürftigen, Wittwen  und  Waisen  an,  überwachten  die  Güte  der  Hand- 
werkerzeugnisse ,  deren  Preise,  die  Sittlichkeit  der  Gewerbgenossen,  die 
Einhaltung  der  Handwerkordnungen ,  die  Zurückweisung  der  Pfuscher,  die 
Ehre  der  Innung.  Diese  „Organisation  der  Arbeit11  sicherte  das 
Loos  der  Gewerbarbeiter  nicht  minder  als  das  der  Bauern.  Es  gab  sehr 
wenig  freies  (d.  b.  nicht  als  Zubehör  an  den  landbau  und  Gewerbbe- 
trieb gebundenes")  Kapital,  was  dann  allen  Kindern  oder  aber  Stiftungen 
zufiel,  sich  bald  wieder  verlor,  selten  Jemanden  nöthig,  daher  schwer  auf 

7inaon  onavnlaili  An  udr  nnA  nir>lif  * n  /  '«l s*»1i  ü  fl  Ii » I  ri  »Ii a n  im  ßrAcaan  «nf. 
/Jiuscu  «usxiiJiciiicii     " oi    tum    iiii  Iii.    au  ucM.  im 1 1 ii 1 1 1 1 »  u i  Ii   im  urusscu  «IUI 

gehäuft  werden  konnte.  Konnten  die  Bauern  auch  nicht  so  woblfeil,  wie 
heute,  Gewerberzeugnisse  kaufen,  so  waren  sie  dafür  auch  schuldfrei. 
„Die  zünftige  Zeit  verwirklichte  die  richtigste  Vertbeilung  der  Lebensbe- 
dingungen, die  der  menschliche  Erfindungsgeist  bisher  ins  Leben  zo  rufen 
vermochte Sie  kannte  keine  Uebervölkerung.  Damals  gehörte  Jeder 
einer  Familie  an  und  konnte ,  ohne  festen  Besitz ,  eine  neue  nicht  grün- 
den, wozu  er  auch  weit  weniger  Beweggründe  hatte  als  heute.  —  Ihre 
Vervollständigung  erhält  diese  Schilderung  durch  die  des  Gegensatzes :  des 
freien  Eigenthums  und  seiner  Folgen  —  im  14.  Kap.  (S.  88 
—112).  Den  Grund  hierzu  legte  nach  dem  Verf.  die  im  17.  Jahrhun- 
dert nach  Friedrichs  II.  glänzendem  Vorgang  auf  grosse  stehende  Heere 
sich  stützende  unbeschränkte  Fürstenscliaft ,  der  Land  und  Leute  als  ihr 
Sondergut  galten,  und  die  mit  dem  ganzen  Zustand  der  Gesellschaft  zur 
Zeit  des  gebundenen  Eigenthums  unvereinbar  war.  Dieses  musste 
also  beseitigt  werden ,  um  den  „aus  einer  Spitze  bis  ins  letzte  Dorf  hin- 
ein regierten  Hilitörstsot  möglich  zu  machen  ,  da  es  weder  Menschen  noch 
Geld  im  hierzu  erfoderlichen  Masse  liefern  konnte.  Steigerung  der  Be- 
völkerung, die  immer  einige  Steigerung  der  Arbeiterzengnisse  mit  sich 


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Tebeldi:  das  Eigen thom. 


fährt,  galt  nun  als  Mass  des  Wohlstandes  und  Ziel  des  Staalswirths. 
Dafür  war  Steigerung  der  Familienzahl  oölbig-  und  das  Hauptmittel  hierzu 
Zerstückung  des  Grundeigenthums  (der  Gemeinde-,  Kloster-  und 
Bauergüter).  Man  gestattete  die  Theilnng  der  Höfe  ort  selbst  Uber  das 
geringste  Mass  des  Bedarfs  einer  Familie  hinaus.  Der  Verf.  fuhrt  gut 
aas,  wie  die  gewöhnliche  Folge  davon  war:  Verfallen  der  Geschwister 
des  kleinen  Hofbesitzers  ans  Proletariat,  Rückgang  der  Viehzucht,  des 
Getreidebaues  und  der  Ergiebigkeit  des  Bodens ,  Entwertbung  der  nun  zu 
grossen  Gebäude,  des  Viehs  und  Gerätbes  der  Höfe,  Zerrüttung  der  Fa- 
milienverhältnisse durch  nothgedrungene  Gesinde  -  Ammen- Fabrikdienste  etc., 
endlich  Lebens  Verkümmerung,  Er  zeigt,  dass  man,  um  die  Tbeüe  der 
zerschlagenen  Höfe  bewirtschaften  zu  können,  und  da  die  Aushülfe  durch 
das  frühere  Gemeindegut  wegfiel,  folge  weise  auch  Pfandschulden  er- 
lauben musste  und  auf  das  gleiche  gesetzliche  Erbrecht  aller  Geschwister  am 
Boden  kam.  Die  Pfandverschuldung  enthält  aber  ..eine  Theilung  der  Scholle, 
die  noch  weiter  geht  als  die  thataSchliche  Zerslückung.*  Der  Schuldner 
ist  für  den  schuldbelasteten  Theil  nur  Pachter  seines  Gläubigers ,  aber  ohne 
Recht  auf  Nacblass  in  Missjahren ;  er  zahlt  für  Diesen  die  Steuer  mit,  auf 
Kosten  seiner  Lebsucht.  Häufige  Besilzwechsel ,  gezwungene  Tnglöhnerci 
der  Bauern  nebenher,  Eben  nach  Geld,  endlich  der  Bettelstab  seien  all- 
tägliche Früchte  der  Vernichtung  der  alten  Ackerverfassungen ,  deren  üble 
Einwirkung  auf  Abnahme  der  Waldungen  und  drückende  Ungleichheit  der 
Grundsteuer  näher  gezeigt  wird  (S.  96  f.).  Ebenso  wurden  zugleich  die 
alten  gebundenen  Gewerbverhlltnisse  taglich  mehr  gelockert  oder  ganz 
anfgelöst ,  da  es  galt ,  die  Gewerblhatigkeit  künstlich  so  zu  steigern,  dass 
sie  (durch  Miterzeugung  für  s  Ausland)  eine  Bevölkerung  (für  das  Heer) 
•iternähren  konnte,  für  die  der  eigne  Boden  nicht  ausreichte.  Zu  dem 
Ende  vermehrte  man,  auch  durch  Scholzbriofe ,  die  Zahl  der  Meister  und 
sprich  die  Grossgewerbe  (Fabriken) ,  deren  Betrieb  einen  weiten  Markt, 
grosses  Kapital  und  meist  vielartige  Arbeit  verlangte,  ganz  frei  von  den 
Zosflbescbrinkungen  auf  einen  festen  Bezirk,  eine  genau  bestimmte  Art 
der  Arbeit,  Prüfung  der  Tüchtigkeit  darin  etc.  Zugleich  erlaubte  man 
bei  Kleingewerben  beliebig  viele  Gesellen ,  deren  Mitwerbung  ihren  Lohn 
herabdrückte,  Ablohnung  bloss  mit  Geld  und  nach  Stückarbeit,  wodurch 
Feier-  and  Krankheittage  ihnen  ausfielen  und  sie  überhaupt  aus  der  Fa- 
milie des  Meisters  ausschieden  — ,  man  beschrankte  ihre  Lehr-  und  Wan- 
derzeit, verminderte  damit  ihr  Kunstgeschick  etc.  Von  tsusend  Zufallen 
hingen  seitdem  die  Gewerbe  ab ,  z.  B.  von  Erfindungen,  Ansiedlong  frem- 
der Arbeiter,  Mttwerbung  etc.    Mit  Aufhebung  der  Zünfte  vollends  hörte 


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26« 


Tebeldi:  das  Eigeniham. 


der  Ge-werbbetrieb  auf,  ein  festes,  seinen  Mann  mit  Weib  und  Kind 
reichlich  nährendes  vererbliches  Besilzthum  zu  sein.  Die  Erzengangs- 
kosten  der  Waeren  stiegen  durch  die  übermässige  Mehrung  der  Gewerb- 
leote,  die  alle  leben  wollten.  Eine  künstliche  Steigerung  des  Waaren- 
verbrauchs  durch  schlechte  Arbeit,  Mode  und  Luxus  ward  nöthig.  Die 
Meistersühne  verloren  das  alte  Vorrecht  auf  die  Hülfsarbeiterscbaft.  Es 
erwuchs  ein  neues  Proletariat  aus  dieser  Lage  der  Meister  und  Gesellen. 
Dieselbe  wurde  oft  durch  Zolle  der  Nachbarländer  noch  schlimmer,  den 
Ausfall  bezahlte  baußg  der  Staat  durch  Ausfuhrbelohnungen.  So  ward  es 
t heuer  genug  erkauft,  dass  man  heute  überall  kaufen  kann  und  sehr 
wohlfeil;  denn  die  Wohlfeilbeit  allein  bürgt  beute  für  Absatz.  Der  Rai* 
ebere  kann  aber  begreiflich  viel  wohlfeiler  and  ins  Grosse  arbeiten  lassen, 
ohne  oder  mit  Maschinen.  So  wird  der  unbemitteltere  Handwerker  all- 
mählich heraba-ed  rückt  mm  Tupliihner  und  Fabrikarbeiter  Die  Bildung 
geht  rückwärts.  Die  aufgehäuften  Waareavorrätbe  drängen  zum  Jagen 
nach  Absatz  um  jeden  Preis,  sie  fuhren  eudlieh  zum  Feiern  und  -~ 
Hungern  und  rufen  Heere  hervor,  bereit  zum  Umsturz  der  geselligen 
Ordnung.  Der  Verf.  bespricht  ferner  die  Rückwirkung  von  dem  Allem 
auf  eine  immer  ungleichere  und  für  die  ärmste  Klasae  bedrückendere  Art 
der  Besteurung,  zumal  da  die  indirekte  Steuer  zur  Hauptsache  werde, 
weil  das  Kapital  sich  der  direkten  entziehe;  er  zeigt,  wie  das  Kapital 
durch  die  Ungebundenheit  des  Eigenthums  ungeheuer  anwuchs  und  ferner 
anwachsen  nauss,  wie  seiner  Despotie  Alles  unterlag,  auch  der  Boden, 
der  fast  ganz  beweglich  gleich  der  Fahrniss  geworden,  teitdem  er  Ter- 
schuldet ^  verflussert  uud  dorch  Anksuf  vod  Pfflndbricfori  erw  orben  werden 
konnte,  ohne  dass  man  grundateuerpfliefatig  wurde  oder  Inländer  war« 
Hierauf  schildert  Kap.  15  (S.  113  ff.)  die  heutige  Desorg  anisirung 
der  Gesellschaft,  ihre  Auflösung  in  feindliche  Klassen  und  Familien, 
ment  ohne  vielfach  scharf  treffende  Wahrheit,  und  hieran  knüpfen  sich 
im  16,  Kap.  (S.  122 — 140)  Vorschlage  zur  Beorgan isirung 
des  Eigenthums.  Tiefeingreifend,  aber  unertasslich  scheint  dem  Yerf. 
hier:  1)  Allmähliche  Rückführung  des  Bodens  auf  feste  ausreichende 
Familienbesitze  (Höfe)  dadurch,  dass  jeder  Besitz,  der  diess  Mass  er- 
reicht bat,  für  untrennbar  erklärt  wird,  dass  kleinere  Grundstücke  nur 
von  Solchen  erworben  werden  können,  die  jenes  Mass  noch  nicht  er- 
reicht haben,  ausser  ihnen  nur  (in  ErbfäUen)  von  der  Gemeinde,  die 
dieselben  zum  Schätzungspreise  übernimmt  und  daun,  in  Höfe  vereinigt, 
veräussert.  2)  Ebenso  allmähliche  Theilung  zu  grosser  Besitze  (Lehen- 
Ritter  -Stammgüter  etc.)  in  angemessene  Hofe,  die  von  deren  Eigen- 


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Tebeldi:  das  Eitfenthnra, 


2W 


iblimcm  &di)s  t  obDt  W ordco  niiisscD  ^  nicht  v c r j) flehtet  werden  dürfen^ 
wenn  sie  nicht  Gesammtheiteu  gehören.  Den  Pfandglnubigern  sei  zu  ge- 
stalten, auch  eiuzele,  die  Grösse  eines  Hofs  erreichende  Theile  des  Ter* 
pfändeten  Bodens  zu  veräussern.  3)  Abzuschaffen  sei  Alles,  was  dahin 
führe,  dass  die  Höfe  kein  ausreichendes  Einkoromen  abwerfen,  also 
vor  Allem,  und  umsonst,  Frohnen  und  geistliche  Zehnten,  denn  jene 
seien  feudale  Gegenleistungen  für  Auslagen  »um  gemeinen  Besten  gewe- 
sen, die  heute  nur  der  Staat  mache  (gegen  Steuer),  die  Geistlichkeit 
aber  erhalte  nun  auf  anderm  Wege  von  den  Staatsbürgern  Was  ihr  ge- 
bühre. Jeder  Hof  müsse  wieder  zum  Gesammtbesten  für  uotheilbares  und 
■nverpfändbares  Erbe  des  ältesten  oder  jüngsten  Sohnes  erklart  werden, 

haudene  Pfandschulden  dürften  nicht  weiter  zugeschrieben  werden,  und  der 
Kredit  müsse  künftig  nur  auf  der  Rechtlichkeit  und  Faustpfändern  beruhen. 
4)  Die  Gemeinden  müssen ,  um  der  Kitt  zu  sein ,  der  die  Höfe  zur  Feld- 
mark bindet,  ein  Eigen th um  von  Belang  haben,  aber  nicht  Uber  einen 
bestimmten  Theil  der  Feldmark;  sie  sollen  daher,  falls  sie  bisher  Um- 
]  d  ^  c  ti  o  d r  t  fl  q  t  s  z  u  ^  c  Ii  ii  ss  c  L)ccJ  urficu  ^  ^  CrSctZilic  \\  o  t^rljcn  der  U<ilftc 
alles  Bodens  werden ,  der  einen  Hof  übersteigt ;  alle  Körperschaften  sollen 
von  Vermögenseinziehung  frei  sein  und  den  Eiuzelen  in  Besteurung,  aber 
auch  sonst  (1}  in  Erwerb-  und  Eigenthumrecht  gleichgestellt  werden;  — 
eine  Foderung,  bei  der  der  Verf.  offenbar  an  die  geistlichen  Körper- 
schäftc o  ^fvlösicr  etc.  ^  niohl  ^oddeht  liät  *  in  dtr^Mj  lodlo  Ildnd  Oruud**" 
eigenthum ,  wohl  gar  unbeschrankt,  gelangen  zu  lassen  (wie  weiland  in 
Spanien),  nicht  bloss  volkswirtschaftlich  ein  Unheil  wäre,  dem  zu  be- 
gegnen mit  Grund  neue  und  alte  Rechte  für  uuerlässlich  halten.  5)  Zur 
Sicherung  des  Looses  der  Feldhilfsarbeiter  endlich  sollen  die  Arbeitgeber  ihnen 
Koat  und  Herberge  schuldig  sein ,  für  die  Arbeitloseo  und  Arbeit  unfähigen 
die  d Cüi ei odeu  s o r ^ c n  ^  dl c  xu gleich  dos  W t» c Ii t  1 1  d  L)  c  ti  solle lic irölliciidcn 
Hilfsarbeitern  das  Gemeindebttrgerrecbt  zu  kündigen.  —  Diess  Alles  werde 
das  Land,  das  jetzt  unnatürlicher  Weise  im  Besitz  der  Städte  sei,  Denen 
zurückgeben,  die  es  bauen;  dafür  müsse  den  Städten  Schadloshaltung 
durch  Bildung  von  Gewerbbezirken  aus  einer  Anzahl  Landgemeinden  wer- 
den, die  für  ihren  Bedarf  je  auf  eine  bestimmte  Stadt  angewiesen  seien. 
Den  Angehörigen  dieser  Bezirke  soll  dann ,  unter  Oberaufsicht  des  Staats, 
damit  die  Landleute  vor  Uebergrifien  sicher  seien,  die  Leitung  aller  Ge- 
werbangelegenbeiten  binnen  derselbeo  zustehen  —  mittelst  Gewerbver- 
sataaiiongea  —  %.  B.  Bestimmung  der  Zahl  der  Gewerbleule  etc.  nach 
dem  Bedarf,  «J«\  damit  Diess,  sowie  die  Sicherung  des  Looses  4er 


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»6$  Tebeldi :  das  Eigenlhum. 

Gewerbgehülfen ,  die  Ueberwachung  der  Güte  der  Waaren  u,  f.  f.  mög- 
lich aei,  hält  der  Verf.  für  unerläßlich:  Gestalten  der  Nichtdurdung  des 
Verkaufs  andrer  als  selbstverfertigter  Waaren  ;  Nichlwicderverteihcn  er- 
ledigter Gewerb-  und  Fabrikbetriebe  (wobei  die  Hilfsarbeiter  nicht  zu 
kurz  kommen  können,  weil  sie  die  Mehrzahl  sind  und  mitstimmen),  Ver- 
bot, zu  einem  Bürgerhaus  ein  zweites  zu  erwerben,  Schulden  auf  ein 
Bürgerhaus  zu  legen ,  sofern  es  nicht  noch  für  den  Geschäftbetrieb  über- 
flüssige Räume  hat ;  Verbot  der  Vereinigung  mehrer  Arbeitbesitze  in  der- 
selben Hand;  Verpflichtung  der  Gewerbleute  zum  Selbstbetrieb  ihres  Ge- 
werbs  und  Vererbung  desselben  auf  Wittwe  und  filtesten  Sohn ;  Erklärung 
von  Werkstatt  und  Werkzeug  für  untheilbares  Zubehör  des  Gewerbrechts, 
das  der  älteste  Sohn  miterbt ,  ohne  an  die  Geschwister  Etwas  herauszah- 
!en  zu  müssen,  Dritte  aber  zum  Scbätzwerth  zu  übernehmen  haben;  Vor- 
recht der  Gewerbkinder  auf  die  Hilfsarbeit;  zünftiger  Betrieb  aller  Ge- 
werbe-, Festsetzung  der  Arbeitst unden  und  des  geringsten  Arbeitslohns,  und 
zwar  nach  Zeit,  nicht  nach  dem  Stück;  Verpflichtung  der  Heister,  Kost 
•und  Wohnung  den  Gehilfen  zn  geben ;  Versorgung  der  Armen  jeder  Ge- 
werbgenossenschaft durch  diese ;  Recht ,  beirathenden  Hilfsarbeitern  das 
Gemeindebürgerrecht  zu  kündigen.  Heute,  wo  die  Gewerbarbeit  meist 
gemeine  Arbeit  geworden  und  die  Mitwerbung  so  sehr  gross  ist ,  scheint 
dem  Verf.  noch  ausserdem  unerlüsstich :  1)  Haushaltvereinigung  zu  ja 
80 — 100,  womit  auch  mancher  Beweggrund  zum  Heirathen  wegfalle, 
die  Zulänglichkeit  der  Arbeillöhne  übersehbar  werde  etc.  Die  wirth- 
achaftlichen  Vortheile  davon  sind  einleuchtend,  ob  aber  dabei  ohne  Ka- 
sernenzucht bei  meist  rohen  Leuten  an  Handhabung  der  Ordnung  zu  denken 
sei,  scheint  dem  Ref.  fast  ebenso  zweifelhaft  wie  bei  Fourier"»  Pha- 
lonsteren.  2)  Grosse  Findelhäusser;  —  ein  Vorschlag,  dessen  sittliche 
Verwerflichkeit  keiner  Ausführung  bedarf.  3)  Beförderung  der  Auswan- 
derung im  Grossen,  mittelst  überseeischer  Lnndköufe ,  angemessener  Staats- 
vorschüsse ,  auch  in  Bezug  auf  Landwirthschaft  und  Gewerbbetrieb,  fiif  die 
Dürftigen  nebst  unentgeltlicher  Ueberfahrt.  Wie  zweckmässig  auch  die 
Gemeinden,  nach  dem  Vorgang  des  Allerthums,  auf  eine  ähnliche  Ablei- 
tung ihrer  Armen  Bedacht  nehmen  würden ,  da  der  Staat  unmöglich  Alles 
ouf  sioh  nehmen  kann,  ist  für  sich  klar,  und  dnrch  ein  neuerliches  Bei- 
spiel in  Baden  bestätigt  worden  (Ref.).  4)  Verbringung  schwerer  Ver- 
brecher in  Verbrecheransiedlungen,  —  worin  der  Verf.  das  einzige  Mittel 
zur  Ersparung  unmenschlicher  Strafen  sieht  und  die  ihm  in  viel  zu  rosi- 
gem Licht  erscheint.  Um  endlieh  das  Uberwuchernde  Kapital  wieder  in 
den  Hintergrund  zu  drangen,  will  er  1)  Besteurung  der  Fabriken  und 


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Tcbeldi:  das  Eigenthum.  269 


Maschinen  io  Verhältnis*  tu  ihrer  grossen  Arbeilkraft.    fSo  seien  i  B. 
die  Eisenbahnbesitzer  Nichts  als  Grosafuhrleote ,  —  aber  ganz  steuerfrei) 
Das  Gegeolheil  rufe  Dergleichen  künstlich  hervor  und  erdrücke  die  klei- 
nen Gewerbe.    2)  Abschaffung  der  Staats  -  und  Handelsbanken,  die  beide 
nicht  vorhandene  Gelder  vermutben  machen  sollten  nnd  wovon  letztere 
nur  die  Grossgewerbe  unterstützten.    Alle  Staatsschulden  würden  am  Ende 
nicht  bezahlt  und  das  Papiergeld  entwerthet  (daher  die  vereinten  Staaten 
von  N.  A.  es  nicht  dulden  Ref.).    3)  Verbot  aller  anf  den  Inhaber  lau- 
tenden Schuldscheine  und  Zinsabschnitto  (s.  138),  da  die  Inhaber  nicht 
zu  ermitteln,  also  durch  die  Vermögensteuer  nicht  zu  erreichen  seien. 
Ref.  halte  dieselbe  Massregel  noch  aus  andern  Rechtsgründen  in  seinen 
„Grundzogen  des  Nat.  R."  gefodert  und  ist  überzeugt,  dass  sie  mit  der 
Zeit,  trotz  aller  Bequemlichkeit  der  heutigen  unnatürlichen  Einrichtung 
nnd  alles  Geschreies  der  Börsenmänner  nnd  Aktiensebwindler,  als  unver- 
meidlich werde  erkannt  werden.    Jedenfalls  will  der  Verf.  die  Zulassung 
der  Staatsschuldscheine  beschränkt  wissen.    4)  Herabsetzung  der  Staats- 
schnldzinscn  etwa  auf  die  Hälfte.    Diess  werde  täglich  dringlicher,  da 
z.  B.  fünfprozentige  Statspapiere ,  die  im  Kurs  nur  zu  60%  stünden,  weit 
mehr  als  5%  trügen  nnd  die  Völker  nicht  gehalten  seien,  ewig  die 
Sebalden  zu  bezahlen,  die  Eitelkeit  und  Leichtsinn  früherer  Geschlechter 
ihnen  anferlegt  hätten.  —  Niemand  wird  leugnen,  dass  in  der  grossen  Mehr- 
zahl der  vom  Verf.  gemachten  Vorschläge  ein  beherzigenswerther  Kern 
von  Wahrheit  liegt,  ao  sehr  sie  auch  gegeo  den  Strich  der  heutigen  s.  g. 
Volks-  und  Staatwirthschaftlehre  sein  mögeu,   denn  diese  scheint  uns, 
wie  wir  offen  bekennen,  Nichts  weiter  zu  sein,  als  eine  niederländisch 
na  tortreue  Sohilderung  der  heutigen,  lediglich  vom  blinden  Zu- 
fall beherrschten,  jedes  höheren,  leitenden  gesellschaftlichen  Grundsatzes 
and  folglich  aller  Ordnong  haaren,  wirthscbaftlirhen  Vorgänge,  die  unter 
dem  gleissenden  Schilde  der  (  individualistischen")  Freiheit  fder  Gewerbe, 
des  Handels  etc.)  und  der  freien  Mitwerbung,  die  Kräfte  Aller  gegen 
Alle  zu  einem  herzlosen  Vernichtungskrieg  in  Bewegung  setzen,  der  den 
siehern  Untergang  der  wirklichen  Freiheit  ood  des  Wohlstaods  der 
grossen  Mehrzahl  io  dem  Monopol  Weniger  zur  trostlosen  Folge  hat  und 
haben  muss.    Das  blosse  Gewährenlassen  mag  in  Zuständen,  wie 
die  Nordamerikas,  noch  auf  lange  hin  ausreiebeo,  überhaupt  solange 
als  dabei  Jeder  seio  gutes  Auskommen  finden  kann.    Bei  uns  kann  nur 
eine  baldige  feste,  durchgreifende  Ordnung  der  landwirtschaftlichen  und 
gewerblichen  Verhältnisse  vom  Standpunkt  des  Ganzen  aus  Rettung  brio- 
gen  vor  der  Zerreisiung  aller  geselligen  Bande  durch  den  versteckte» 


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*7ff  Tebeldi:  das  Eigentum«. 


oder  offenen  Sklavenkrieg  des  durch  untere  Gesetze  herangezogenen  Pro- 
letariats, und  das  blosse  Zusehen  des  .Staats,  wie  bisher,  dünkt  ans  ein« 
Politik  tu  »ein,  deren  Kurzaichligkeit  ohne  Beispiel  ist. 

K.  HMrr. 


A  critical  history  of  the  language  and  lilerature  of  antient  Greece,  by 
William  Mure  of  Ca  Uhr  eil.  London:  Longman,  Brown  Green 
and  Longmans,  paternoster-rotc  1850.  Vol.  7.  XVI  und  519  S. 
Vol.  II.  VII  und  508  S.   Vol.  III.  VIII  und  532  S.  in  gr.  8. 

■ 

Die  erste  Kenntnis*  von  dem  Erscheinen  dieses  Werkes  erhielt  Ref. 
durch  die  englischen  Blatter,  welche  mit  ungeteiltem  Lobe  Uber  dieses 
Werk  sich  aussprachen  und  dasselbe  geradezu  als  ein  solches  bezeichne- 
ten, wodurch  Alles,  was  bisher  Uber  diesen  Gegenstand  geschrieben 
worden,  völlig  Überboten  werde,  indem,  bei  dem  Ungenügenden  aller 
bisherigen  Versuche,  hier  zum  erstenmal  eine  Geschichte  der  griechischen 
Literatur  im  eigentlichen  Sinne  des  Worts  hervortrete.  Ware  diese  nun 
wirklich  der  Fall,  so  wäre  vor  Allem  eine  Verpflanzung  dieses  Werkes 
auf  deutschen  Boden  zu  wünschen;  denn  dass  die  griechische  Literatur, 
trotz  aller  Ungunst  der  Zeit  und  aller  der  schon  auf  Schulen  wirksamen 
Hemmnisse,  doch  noch  in  Deutschland  mehr  Pflege  und  eine  grössere 
Zahl  von  Verehrern  findet,  wie  in  England,  wo  dieser  Kreit  enger 
gezogen  ist,  wird  Niemand  in  Zweifel  stellen  wollen.  Der  Verf.  dieses 
Werkes  zeigt  sich  als  einen  gebildeten,  mit  Griechenland,  griechischer 
Literatur  und  mit  den  darüber  angestellten  Forschungen  im  Genien  vertrau- 
ten, von  Vorurtheilen,  soweit  sie  nicht  in  englischen  Ansichten  und  Ur- 
tbeilen  begründet  sind ,  auch  ziemlich  freien  Hann ,  was  seinem  ^Verke 
die  Aufmerksamkeit  des  deutschen  gebildeten  Publikums  immerhin  anwen- 
den mag,  auch  wenn  das  Endurtheil  Uber  dasselbe  in  Deutschland  ein 
anderes  sein  sollte,  als  das,  was  Englische  Blätter  und  Englische  Leser 
darüber  füllen.  Preilicb  ist  es,  so  weit  wir  wissen,  die  erste  grössere 
Erscheinung  der  Art  auf  englischem  Boden ,  durch  welche  ein  in  sich  zu- 
snmmennangenues  oiiu  aer  gnecniscnen  Literatur  in  ihrem  Ursprung,  in 
ihrem  Fortgang  und  ihrer  Eni  Wickelung  gegeben  werden  soll;  auch  soll 
dasselbe  •  wie  hervorgehoben  wird,  keineswegs  als  eine  bloss  philologi- 
sche Arbeit  angesehen  werden ,  sondern  als  eine  Darstellung,  bei  welcher 
die  allgemein  literarhistorische  Tendenz  nirgends  ausser  Acht  gelassen 

wnrHftn  Inu-ipfurr»  nun  diACA  7watLa  ArrAirht  aintt  rnno  uns  (1«m 
viuruüD.     liimcicru    uuu   uicdu   aytoi&c   crrviciit  »iuu ,    wog    »in  ucn« 


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Mi 


Bericht ,  den  wir  hier  über  den  Inhalt  und  Charakter  des  Werkes  in  der 
Kflne  zu  geben  versneben,  erbellen;  es  mag:  auch  damit  die  oben  aufge- 
worfene Frage  ihre  Beantwortung  finden,  ob  eine  UebertragungdesGa  Il- 
ten in  deutsche  Sprache  wünschenswert!!  oder  selbst  als  ein  Bedürfnis 
erscheine.    Ref.,  um  hier  gleich  seine  Meinung  auszusprechen,  hat  sieb 
von  einem  solchen  Bedürfnis*  am  so  weniger  Überzeugen  können,  als 
schon  die  Breite  der  Darstellung,  die  Weitschweifigkeit  mancher  Aus- 
führungen, und  die  mangelhafte  Darstellung  anderer  Parthieen,  deutsche 
Leser  wenig  anziehen  wird,  die  über  diejenigen  Gegenstände,  welche 
in  vorliegenden  drei  Bänden  bebandelt  sind,  eben  so  gut  und  theilweise 
noch  besser  ans  deutschen  Werken  eine  gründliche  Belehrung  gewinnen 
können,  so  dass  die  Moth wendigheit  einer  Uebertragung ,  wenigstens  des 
Ganzen,  nicht  vorliegt.    Dass  im  Einzelnen  übrigens  Manches  vorkommt, 
was  gereckte  und  dankbare  Anerkennung  verdient,  wird  aus  unserer 
Anzeige  sich  herausstellen.     Wie   der   Verfasser   seine   Aufgabe  ge- 
fasst  hat,  wird  zunächst  aas  dem  ersten  Capitel  des  ersten  Bachs  er« 
sichtlich,  welches  auf  etwas  mehr  eis  anderlhalbhundert  Seiten  eine  Ein« 
Icitun^  bsTiu^t  ^  w  dclie  Ii o u p t s ei c fi  1 1 c h  mit'  der      tlnsclieo  ^  dein  ersten  ^^ol^* 
traten  der  Poesie  in  den  homerischen  Gedichten  vorausgehenden  Periode 
sich  beschäftigt    Der  Verf.  spricht  hier  im  Allgemeinen  sein  Staunen  aus, 
wie  das  alte  Griechenland,  ungeachtet  des  gewaltigen  Umfange  seiner 
Literatur  in  allen  Zweigen  und  nach  allen  Richtungen  bin,  doch  ebenso 
wenig  wie  das  alte  Rom  eine  Geschichte  der  Literatur  im  weiteren  Sinne 
des  Wortes  aufzuweisen  habe  —  ein  Satz  in  dieser  Allgemeinheil  hin- 
gestellt, kaum  annehmbar,  da  er  die  grossen,  dahin  einschlägigen  Er- 
scheinungen der  spateren  Zeil,  die  freilich  im  Strome  der  Zeit  unterge- 
gangen und  nns  jetzt  nur  aus  dürftigen  Notizen  bekannt  sind,  völlig  in 
ignorirnn  seheint;  und  dasselbe  müssten  wir  auch  von  der  weiter  ausge- 
sprochenen Behauptung  des  Verfassers,  wonach  es  noch  auffallender  er- 
scheinen müsse,  dass  keine  vollständige  Geschichte  der  griechischen  Lite- 
ratur in  einer  neuern  Sprache  an  Stande  gekommen,  als  dass  die  Grie- 
chen uns  keine  solche  hinterlassen  haben  sollten ,  denken ,  wenn  nicht  die 
Anführung  deutscher  Werke  der  Art,  welche  der  Verf.  verschiedentlich 
benutzt  hat,  nns  zeigte,  dass  wir  ihm  wenigstens  den  Vorwurf  der  Un- 
bekannlschaft  mit  dem,  was  die  deutsche  Literatur  auf  diesem  Gebiete 
aufzuweisen  hat,  nicht  machen  dürfen,  obwohl  wir  die  ausschliessliche  und 
bevorzugte  Stellung ,  die  er  auf  diese  Weise  unwillkührlieh  für  sein  Werk 
beansprucht,  nicht  gelten  lassen  können.    Eher  nehmen  wir  die  von  ihm 
ausdrücklich  gegebene  Erklärung  bin,  sein  Werk  sei  unternommen  in  der 


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272  Mar«:  hkUnj  of  thc  langtiage  and  literatnre  of  Greece. 

Hoffnung,  den  vorhandenen  Mangel  „in  onr  national  library«  hinsichtlich 
derjenigen  Zeilperiode  auszufüllen,  weiche  die  Muster  des  Geschmacks  für 
alle  folgenden  Zeitalter  gebracht  habe.    In  sechs  Perioden  wird  das  ganze 
Gebiet  der  griechischen  Literatargeschichte  vom  Verf.  abgetheilt,  eine 
erste,  mythische,  welche  die  früheste  Cuilur  der  Nation  befasst,  eine 
»weite,  poetische,  welche  von  den  früheren  Erzeugnissen  griechischer 
Poesie  bis  auf  560  vor  Chr.  oder  54  Olymp,  reicht;  eine  dritte,  atti- 
sche, die  mit  der  Entstehung  des  attischen  Drama  und  einer  prosaischen 
Literatur  beginnt  und  mit  den  Zeiten  der  macedonischen  Monarchie  und 
ihres  Uebergewicbts  in  Griechenland  ihren  Schlusspunkt  erreicht;  die 
vierte,  alexandriuische,  geht  von  der  Gründung  Alexandriens  bis 
zum  Ende  des  griechisch  -  aegyptischen  Reichs;    die  fünfte,  römische, 
bis  zur  Gründung  von  Conslantinopel;   die  sechste,  byzantinische, 
befasst  die  Periode  des  Verfalls  und  des  endlichen  Untergangs  der  grie- 
chischen Literatur.    In  den  eben  erschienenen  drei  Bänden  sind  kaum  die 
beiden  ersten,  an  äusserem  Umfang  wie  an  Bedeutung  mit  den  übrigen, 
gar  nicht  zu  vergleichenden  Perioden  behandelt:  welchen  Umfang  daher 
das  ganze  Werk  erhalten  soll,  lässt  sieb  jetzt  noch  kaum  bemessen.  Es 
scheint  diess  auch  der  Verf.  gefühlt  zu  haben;   er  sucht  sich  daher  bei 
dem  gewaltigen  Umfang  eines  solchen  Unternehmens,  dessen  vollständige 
Ausführung  die  Kräfte  eines  Einzelnen  weit  Ubersteigt,  die  Grenzen  etwas 
enger  dadurch  zn  stecken,  dass  er  für  die  späteren  Perioden  das,  was 
der  Fachwissenschaft  mehr  angehöre ,  auslassen ,  und  dagegen  mehr  auf 
das  Allgemeine  der  Literatur,  namentlich  Poesie,  Rücksicht  nehmen  will. 
Die  Literatur  der  Griechen  umfasst  zwar  allerdings  im  weiteren  Sinne  (so 
heisst  es  S.  7)  auch  ihre  Philosophie  nod  Wissenschaft  (scienee)  ebenso 
gut  wie  ihre  Poesie,  Geschichte  und  Drama  (Als  ob  das  Drama  von  der 
Poesie  verschieden  wäre!);  es  wird  daher  ein  Hippokrates  nnd  Euklid  es 
ebenso  gut  dahin  gehören,  als  ein  Homer  und   Herodo tus;  aber  jene, 
wie  alle  andern  in  diesen  Bereich  fallenden  Autoren,  bilden  mehr  eiaen 
Gegenstand  der  Geschichte  der  Wissenschaft  Tscience^  als  der  Literatur 
{lettre*)'  uod  beslellt  ibr  Werlh  hauptsächlich,  wo  nicht  ausschliesslich, 
in  dem  Inhalt  ihrer  Werke  und  deren  Gründlichkeit,  worüber  der  bloss 
literarische  Ceosor  kaum  ein  Urtheil  auszusprechen  verpflichtet  sein  kann. 

(Schhut  fotgi.) 


•         •••  ■      m  i  ■  • 


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Nr.  18.  HEIDELBERGER  1851. 

JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR. 

Mürel    hlNtor?  of  tue  lniiguage  aucl  Uteratiare 

of  Greeee. 

■ 

(SchlUM.) 

Die  Besonderheiten  des  Slyls  und  der  Composition,  welche  in  den 
mehr  populären  Zweigen  der  Schrift  die  HanptgegenstHnde  der  kritischen 
Beorlheilung  ausmachen,  nehmen  hier  eine  untergeordnete  Bedeutung  an. 
Wena  daher  der  Literarhistoriker  aus  einer  gewissen  Höflichkeit  —  by 
the  received  courtesy  in  such  cases  —  auch  nicht  frei  sein  sollte  von  der 
Verpflichtung ,  solche  Werke  unter  sein  Material  aufzunehmen ,  so  wird 
er  doch  ihnen  nur  eine  beschrankte  Aufmerksamkeit  zuzuwenden  haben. 
Mit  diesen  so  hingestellten  Schützen  scheint  der  Verf.  gleichsam  den  Vor- 
warfen Torgebaut  zu  haben,  die  ihn,  wohl  nicht  ohne  Grund,  treffen 
werden,  wenn  er,  nachdem  er  die  früheste  Periode  der  Literatur,  in 
drei  Bunden  in  aller  Breite  und  Weitläufigkeit  abgehandelt,  die  folgende 
Periode,  die  der  eigentlichen  Blüthezeit,  kürzer  abmacht  und  Uber  einen 
Hippokrates  und  Herodolus,  oder  über  einen  Plato  und  Aristoteles  uns 
mit  einigen  Notizen  abspeist,  wie  sie  in  jedem  Schulcompendium  sich 
finden,  ohne  in  das,  was  Wesen  und  Inhalt  ihrer  Werke  und  damit  auch 
ihre  Stellung  und  Bedeutung  auf  dem  Gesammtgebiet  der  Literatur  aus- 
macht, etwas  naher  einzugehen.  Ein  solches  Verfahren  würde  uns  aber 
gerade  bei  einem  Autor  befremden  müssen,  der  eine  vollständige 
Geschichte  der  Literatur  zu  geben  verspricht,  und  damit  die  Ver- 
pflichtung auf  sich  nimmt,  nicht  blos  in  Einem  einzelnen  Zweige  dar 
Literatur,  in  dem  er  besondere  Studien  gemacht  und  der  ihn  etwa  be- 
sonders anzieht,  seine  Aufgabe  durch  eine  genügende  Darstellung  dessel- 
ben zu  lösen,  sondern  das  Gleiche  auch  in  allen  andern  Zweigen  der 
Literatur,  der  prosaischen  wie  der  poetischen,  zu  leisten.  Wir  ver- 
linten von  dem  Literarhistoriker  keineswegs ,  dass  er  uns  t.  B.  eine  Ge- 
ichichte  der  Philosophie  liefere,  und  so  in  das  Fach  des  eigentlichen  Phi- 
losophen eingreife,  aber  er  muss  uus  doch  mit  allen  den  auf  dem  Ge- 
biete der  philosophischen  Literatur  hervortretenden  Erscheinungen  bekannt 
machen,  ihre  Entwickelung  nachweisen  und  ihren  Charakter,  wie  ihren 
Werth  und  ihre  Bedeutung  uns  erkennen  lassen :  und  diess  wird  er  eben 
XUV.  Jahrg.  2.  Doppelheft.  18 


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I 


TjH  Marc:  history  of  the  langnngc  and  literature  of  Greeee. 

fo  gut  auch  bei  andern  Zweigen  der  Literatur  zu  leisten  haben,  wie 
bei  der  Poesie.  Dass  damit  freilich  seine  Aufgabe  erschwert  wird, 
bedarf  keiner  Bemerkung:  aber  entliehen  darf  er  derselben  sich  in  kei- 
nem Falle,  so  bequem  diess  auch  sonst  für  ihn  sein  würde.  Aller- 
dings liegt  darip  der  natürliche  Grund,  warum  wir  wohl  manche  gute 
Darstellungen  einzelner  Zweige  der  Literatur  besilzen:  vollständige  Litera- 
turgeschichten aber  zu  den  grösseren  Seltenheiten  mit  allem  Recht  ge- 
hören. Wie  es  scheint,  bat  der  Verf.  sich  besonders  mit  der  älteren 
Periode  Griechenlands  beschäftigt  und  namentlich  die  homerischen  Gedichte 
zum  besonderen  Gegenstand  semer  Studien  gemacht,  da  fast  die  Hälfte 
des  Raums  der  drei  Bände  blos  mit  den  diese  Gedichte  befassenden  Un- 
tersuchungen eingenommen  ist;  hätte  er  demnach  seine  Arbeit  als  eine 
Darstellung  dieser  Periode  oder  Uberhaupt  der  homerischen  und  der  ver- 
wandten Literatur  oder  Poesie  bezeichnet,  so  würde  man  daran  keinen 
Anstoss  nehmen  können;  indem  er  aber  diese  Stadien  als  eine  Geschichte 
der  griechischen  Literatur  bezeichnet,  so  steht  die  Ausdehnung,  welche 
hier  dieser  einzelne  Punkt  erhält,  bei  aller  Anerkennung  dor  Wichtigkeit 
und  Bedeutung  desselben,  doch  in  keinem  Verhältniss  zu  den  übrigen 
Theilen  eines  so  ausgedehnten  und  weiten  Gebietes,  wie  das  einer  Ge- 
schichte der  gesammten  griechischen  Literatur,  von  welcher  der  Verf. 
doch  nur  einen  verhältnissmüssig  sehr  geringen  Tbeil  hier  bearbeitet  bat. 
Er  hat  zwar  dabei,  wie  man  bald  wahrnimmt,  das,  was  die  deutsche 
Forschung  dieses  Jahrhunderts  darüber  bietet ,  mehrfach  benutzt ,  darin  aber 
doeb  dieselbe  offenbar  verkannt,  wenn  er  behauptet,  dass  zwar  allge- 
mein jetzt  auch  in  Deutschland  anerkannt  werde,  von  welchem  Werth 
und  von  welcher  Bedeutung  selbst  für  die  geschichtliche  Bestimmung  der 
homerischen  Gedichte  die  nähere  Einsicht  in  das  innere  Wesen  derselben 
(the  internal  evidence,  wie  es  der  Verf.  nennt)  sei,  dass  man  aber  doch 
vergeblich  sich  umsehe  nach  einer  Analysis  ihres  Textes  auf  so  erwei- 
terten und  unpartheiischeo  Principien,  wie  sie  allein  zu  bestimmten  hUto- 
rischea  Resultaten  fuhren  könnten.  Aus  diesem  Grunde  eben  habe  er  in 
diesem  Werke  eine  solche  Analysis  zu  geben  versucht,  die,  auch  abge- 
sehen von  ihren  Beziehungen  auf  streitige  Punkte,  in  sich  selbst  als  ein 
Wünschenswerther  Beitrag  zur  Geschichte  der  Literatur  erscheine.  Mau 
wird  die  Bedeutung  einer  solchen  Einsicht  in  das  Wesen  und  in  den 
Charakter  der  homerischen,  Poesie ,  sowie  in  die  Sprache  und  den  ganzen 
Ii  au  derselben  gewiss  nicht  verkennen,  zumal  wenn  es  güt,  daraus  wei- 
tere, Schlüsse  über  die  Entstehung  dieser  Gedichte,  ihr  Zeitalter  u.  s.  w. 
zu  ziehen :  aber  gerade  darauf  ist  ja  aach  in  Deutschland  vielfach  und  ia 


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Maro:  history  oi  the  language  and  liternture  of  Greece.  275 

einer  solchen  Weise  hingewiesen  worden ,  dass  derartige  Behauptungen  in 
dem  .Munde  eiues  englischen  Gelehrten,  der  gründliche  Studien  auf  diesem 
Gebiete  gemacht  haben  will,  höchst  auffallend  erscheinen  müssen.  Im 
»weilen  Cspitel:  „hislorical  value  of  greek  mylhical  Matorf*  kommt  das 
Verhlllni&s  des  Mythus  zur  Geschiebte  zur  Sprache ,  und  damit  auch  die 
naiiere  Bestimmung  der  Grenzen  beider:  dass  jedoch  dieser  schwierige 
Gegenstand  auf  den  circa  zwanzig  Seiten  dieses  Abschnittes  so  gelöst  sei, 
dsss  wir  fortan  zu  unterscheiden  vermöchten,  was  jedem  dieser  beiden 
Gebiete  zugehöre  und  in  jedem  einzelnen  Fall  zuzuweisen  sei,  wird  Nie- 
mand, der  diesen  Abschnitt  näher  durchgangen ,  behaupten  wollen.  Ein 
drittes  Cap.  behandelt  die  Urgeschichte  (primeval  hislory)  der  griechi- 
schen Sprache:  hier  war  ein  Zurückgeben  auf  den  Ursprung  des  Volkes 
selbtf,  darch  die  Natur  der  Sache  geboten:   und  diese  Untersuchung  hat 
der  Verf.  auch  keineswegs  abgelehnt.    Peinsger  und  Hellenen  erscheinen 
ihm  hier  als  ein  Volk  wesentlich  derselben  Race,  und  diese  Identität  oder 
Verwandtschaft  der  beiden  mit  diesem  Namen  in  der  ersten  Geschichte 
voq  Hellas  uns  entgegen  tretenden  Stamme,   welche  beide  selbst  dem 
gfOiseo  indogermanischen  Stamme  angehören,  sucht  er  dann  selbst  in 
Beug  auf  die  beiden  gemeinsame  Sprache  weiter  zu  begründen,  und 
durch  ein  aus  unserer  Zeit  genommenes   Beispiel   zu  veranschaulichen. 
Hiernach  verhält  sich  das  Pelasgische  zum  Hellenischen  ( <1.  h.  zu  der  in 
Griechenland  später  herrschenden  Sprache}  gerade  wie  das  Angelsächsi- 
sche, Danische  und  Hollfindische  zu  dem  Deutseben  unserer  Tage,  als  dem 
caltivirtesten  Zweige  einer  zahlreichen  Familie  von  Zungen.    Das  Pelas- 
gische  erscheint  dem  Verf.  als  die  Familie  oder  der  Baum ,  das  Helleni- 
sche iU  dessen  blühendster  Zweig  u.  s.  w.    Mit  dieser  Auilassung  ist 
Mich  die  Sache  leicht  abgemacht :  dass  sie  aber  die  richtige  und  histo- 
risch begründete  ist,  damit  so  wenig  bewiesen,  als  durch  da»  vom  Verf. 
angewendete  Bild ,  das  uns  in  dem  von  ihm  gebrauchte»  Sinn  ebenso  uo- 
lösend  erscheint,  wie  die  Behauptung,  das  Veriiaitniss  der  Peiassjer  zu 
J«n  Hellenen  erscheine  in  Manchem  wie  das  der  Angelsachsen  in  den 
jetzigen  Engländern  (S.  50).    Man  wird  daher  auch  den  vier  Sülze», 
»eiche  der  Verf.  in  dieser  Beziehung  S.  50  u.  51  aufstellt,  schwerlich 
allgemeine  Gültigkeit  zulbeilen  wollen.    Erstens,  heisst  es  hier,  der 
Auidruck  Peiasgisch  bezeichnet  eine  ursprüngliche  Familie  von  verwandte« 
Mb»  and  Stämmen ,  von  welchen  das  Hellenische  Volk  und  die  Sprache 
ihren  Ursprung  herleitete.    Zweitens:  während  die  benachbarten  Küsten 
des  ttitteineers  von  den  frühesten  Zeiten  an  durch  Stämme  besetzt  waren, 
welche  eine  Maunicbfaltigkci t  von  gänzlich  verschiedenen  Sprachen  redeten, 

18* 


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276  Mure:   history  of  the  language  and  literalure  of  Greeca. 

so  findet  sieb  innerhalb  der  Gränzen  Griechenlands  selbst  keine  Spar  ir- 
gend einer  nicht  wesentlich  griechischen  Sprache.   Drittens:  diejenigen 
Tbeile  der  griechischen  Bevölkerung,  die  mit  ihren  ursprünglichen  Satten 
auch  ihren  angebornen  Charakter  und  ihre  Sprache  unverändert  beibe- 
halten, sind  demnach  als  achte  Sprösslinge  des  alt  pelasgischen  Grand- 
stocks zu  betrachten.    Viertens:  das  Kennzeichen,  nach  welchem  wir 
ausserhalb  Griechenlands  ein  pelasgisches  Volk  von  andern  fremden  Stum- 
men zu  unterscheiden  haben,  bildet  die  Aebnlicbkeit  ihrer  Sprache  mit 
dem  classischen  Griechisch.    Der  Verf.  fühlte  wohl,  dass  er  mit  diesen 
Sätzen  sich  in  einen  entschiedenen  Widerspruch  mit  dem  ältesten  Zeugen, 
mit  Herodo t us  I,  56  und  insbesondere  57  setzt;  denn  dieser  lässt  sich 
Aber  die  Sprache  der  Pelasger  in  einer  Weise  aus,  dass  man  wohl  sieht, 
wie  zu  seiner  Zeit  selbst  keine  sichere  Auskunft  oder  eine  historische 
Tradition  darüber  vorbanden  war;  was  Herodot  darüber  augiebt,  ist  das 
Ergebniss  der  von  ihm  darüber  angestellten  Untersuchung,  deren  Gründe 
er  eben  so  offen  angiebt,  wie  das  daraus  für  ihn  sich  ergebende  Resul- 
tat, wonach  die  Pelasger  keine  hellenische,  sondern  eine  fremdländische 
(ß^pßopov  rXuiaoav)  Sprache  redeten,  und  selbst  die  Attiker,  als  Pe- 
lasger, mit  ihrer  Umwandlung  zu  Hellenen,  auch  ihre  (pelagische)  Sprache 
verlernten  und  also  die  Hellenische  anuahmen.    Dieses  Zeugniss  ist  in  der 
Thal  zu  bestimmt,  um  uns  eine  Verwandtschaft  oder  Identität  beider 
Sprachen  und  beider  Volksstämme  annehmen  zu  lassen ,  wie  sie  nicht  blos 
der  Verfasser,  sondern  mit  ihm  auch  gar  manche  deutsche  Gelehrte  an- 
nehmen, die  bierin  allein  die  einfache  Lösung  der  grossen  Schwierigkei- 
ten erblicken,  die  sich  aller wärts  in  der  älteren  Geschichte  Griechenlands 
aufhäufen,  wo  der  Name  der  Pelasger  auftaucht.    Aber  eben  der  Gegen- 
satz, in  dem  das  Pelasgische  überall  zu  dem  speeifisch  Hellenischen  er- 
seheint, lässt  uns  doch  kaum  eioe  Identität  beider  in  dem  Grade  anneh- 
men, dass  beide  nur  als  die  Schösslinge  einer  gemeinsamen  (älteren) 
Wurzel  zu  betrachten  seien.    Wenn  nun  unser  Verf.  meint,  dass  es  in 
dem  Geiste  des  Geschichtschreibers  (in  the  spirit  of  the  historian's  ge- 
neral  argument)  kaum  einem  Zweifel  unterliegen  könne,  dass  er  mit 
dem  Ausdruck  barbarisch  d.  i.  fremdländisch  nur  eine,  von  der  eigenen 
Sprache  verschiedene ,  habe  sligmatisiren  wollen ,  und  andrer  Seits  eben 
so  wenig  angenommen  werden  dürfe,  dass  Herodofs  Meinung  das  Re- 
sultat einer  wirklichen  Analyse  ihres  Baues  oder  ihrer  Verwandtschaft  ge- 
wesen, ein  Geschäft,  wozu  Herodo tus  eben  so  wenig  disponirt  ab)  qoa- 
lificirt  (?)  gewesen ,  mithin  seine  Angabe  keineswegs  genügen  könne, 
um  die  Verbindung  des  Griechischen  mit  dem  Pelasgischen  zu  verwerfen 


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More:  hislory  of  the  languagc  and  literalure  of  Groecö.  277 


-  so  sind  diess  lauler  willkürliche  Annahmen ,  die  eine  unbefangene 
Prüfung  nicht  aushalten  können,   und  somit  in  ihr  Nichts  zurückfallen. 
Was  der  Verf.  aus  andern  Stellen  des  Herodolus,  worin  das  Gegentbeil 
der  I,  57  ausgesprochenen  Aeusserung  sich  rinden  soll,  vorbringt,  um 
Hellenisch  und  Pelasgisch  als  völlig  synooym  mit  einander  und  dem  Bar- 
barischen entgegengesetzt  zu  bezeichnen,  wird  bei  näherer  Beleuchtung 
eben  so  wenig  Stich  halten  können.    Die  in  Italien  sesshaften  Pelasger 
gelten  dem  Verf.  (8  58  ff.)  ebenfalls  für  Griechen  und  werden  von  ihm 
aU  ein  Beweis  für  die  vorher  angenommene  Identität  des  hellenischen 
und  pelasgischen  Stamms  wie  der  Sprache  angesehen :  beides  als  selbst- 
sündig  und  frei  von  fremdem,  zunächst  orientalischem  Einfluss  darzustel- 
len, ist  der  Zweck  des  nächsten  vierten  Abschnittes,  der  übrigens  ziem- 
lich oberflächlich  gehalten  ist.    Zwar  erkennt  der  Verf.  an,  dass  fremde 
Ansiedelungen  in  Griechenland  stattgefunden ,  dass  sie  anch  beigetra- 
gen zur  Civilisation  seiner  Bewohner  und  einen ,  wenn  auch  gerin- 
gen, Einfluss  anf  die  Sprache  ausgeübt;  aber  er  verwirft  jede  Annahme 
von  Aegyptischen  Einwanderern  gänzlich;   die  Sagen  von  Cadmus,  Da«* 
mos  bezieht  er  auf  Phönicische  Ansiedler,  die  aus  Aegypten  vertrieben, 
an  die  Gestade  Griechenlands  geflohen,  wovon  auch  die  Verpflanzung  des 
(Pbönicischen)  Alphabets  auf  griechischen  Boden  ein  Zeugniss  gebe;  es 
werden  daran  geknüpft  einige  das  griechische  Alphabet  betreffende  Bemer- 
kungen.  Mit  dem  fünften  Capitel  wendet  sich  der  Verf.  zu  dem  Bau  und  za 
dem  Genius  der  griechischen  Sprache,  wobei  er  von  dem  Satze  ausgeht, 
dass  die  griechische  Sprache  als  ein  reiner,  unverdorbener  SprÖssling  des 
Indo- Pelasgischen  Urstamms  zu  betrachten  sei:  er  bespricht  dann  den 
Einfluss  des  Bodens  und  Clima's    wie   des  Nationnlcharakters  auf  die 
Sprache,  darauf  das  Bildungsprincip ,  das  den  Sprachen  des  Indogermani- 
schen Stammes  gemeinsam  sei,   und  den  Gegensatz  derselben  zu  dem 
Semnitischen  und  Chinesischen  Sprachstamm,  so  wie  die  besonderen  Ei- 
gentümlichkeiten des  Griechischen  als  eines  Zweiges  des  Indogermani- 
schen Stammes.    Wir  glauben,  es  hätten,  unbeschadet  des  Ganzen,  diene 
Betrachtungen  wegbleiben  können.     Dasselbe  mag  auch  von  Manchem 
geltea,  was  in  dem  nächsten  sechsten  Capitel  vorkommt,  das  von  der 
hflneren  Cultur  der  griechischen  Sprache  handelt,  und  uns  in  dem,  was 
*■  fi.  über  die  Bildung  der  verschiedenen  Dialekte  gesagt  ist,  weder  neu 
noch  überhaupt  befriedigend  erscheint,  wenn  ein  klares  Bild  gewonnen 
und  der  successive  Gang  der  Entwickelung  erkannt  werden  soll.  Hit  dem 
»iebeoten  Capitel  kommt  der  Yerf.  noch  einmal  auf  den  „original  genius 
of  Grecisn  litereturett  zu  reden;  wir  zweifeln,  ob  der  Abschnitt,  der  auch 
Vergleich  sogen  mit  dem  Charakter  der  neueren  Literatur  hineinzieht, 


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2V8         Mure:  hlltory  of  tbe  language  and  literature  of  Grecce. 

detitschen  Lesern  Etwas  Neues  oder  Anwehendes  bieten  kann.  Das  achte 
Cap.:  „roythical  poets  and  works"  giebt  einige  ziemlich  allgemein  gehal- 
tene Bemerkungen  Uber  die  altere  griechische  oder  vorhomerische  Poesie 
und  die  als  Repräsentanten  derselben  gewöhnlich  geltenden  Numen  eines 
Orpheus,  Amphion,  Pbilammon  u.  s.  w.  Wenn  Thracien  als  das  Vater- 
land dieser  ältesten  Singer  in  der  Sage  erscheint,  so  will  der  Verfasser 
diess  keineswegs  von  dem  unter  diesem  Namen  gewöhnlich  bezeichneten 
Lande  verstehen,  sondern  von  der,  an  den  Granzen  von  Böotien  und 
Phocis  gelegenen,  den  Parnass  und  Helieon  einschliessenden  Berggegend, 
die  ehedem  im  Mythus  den  Nomen  Thracien  getragen,  und  als  das  ei- 
gentliche Heimathland  der  frühesten  griechischen  Sängerschule  zu  betrach- 
ten sei.  Feste  und  sichere  Beweise  werden  freilich  für  diese  Annahme 
nicht  gegeben,  die,  so  fest  auch  der  Verf.  daran  hält,  doch  ganz  tinbe- 
gründet erscheint.  Am  Scbluss  des  Abschnitts  wird  übrigens  vom  Verf. 
anerkannt,  wie  diese  ältesten  Sänger,  so  gering  auch  ihre  Ansprüche 
auf  eine  „substantial  personalityu  seien,  doch  immerhin  betrachtet  wer- 
den müssten  a)s  die  frühen  Förderer  griechischer  Poesie,  welche  den 
Weg  zu  der  Volleudung  gehahnt,  in  der  die  Poesie  in  Homer's  Gedich- 
ten erscheine.  Diese  üeberzeugung  t heilen  auch  wir,  hätten  aber  dess- 
halb  gewünscht,  diese  älteste  hieratische  Poesie  und  ihren  Zusammenhang 
mit  den  ültesten  religiösen  Zuständen  von  Hellas  in  einer  andern  Weise, 
als  es  hier  geschehen  ist,  dargestellt  zu  sehen. 

Mit  dem  zweiten  Buch,  das  die  zweite  der  obeu  bemerkten  Perio- 
den der  Geschichte  der  griechischen  Literatur,  die  poetische,  überhaupt 
befassen  soll,  treten  wir  in  diu  epische  Poesie,  und  zwar  zunächst  in 
den  Kreis  der  homerischen  Poesie  ein,  deren  Behandlung  der  ganze  Rest 
dieses  ersten  Bandes  S.  108  —  und  der  ganze  zweite  Band  —  mit 
einziger  Ausnahme  von  cap.  XXI,  das  von  llesiod  und  von  cap.  XXII, 
das  von  einigen  andern  Resten  epischer  Poesie  handelt,  gewidmet  ist. 
Der  Verfasser  schlägt  nun  hier  einen  andern,  als  den  sons*  gewohnlichen 
Weg  der  Behandlung  ein.  Homer,  so  hebst  es  hier,  existirt  nnr  in  sei-, 
nen  Gedichten:  diese  geben  daher  auch  den  einzigen  authentischen  Stoff 
für  seine  Biographie:  desshalb  muss  die  Geschichte  derselben  nothwendig 
der  ihres  Verfassers  vorangehen.  Und  so  lässt  »ich  denn  der  Verf.  erst 
in  dem  letzten  der  diesem  Gegenstand  gewidmeten  Abschnitte,  dem  acht- 
zehnten dieses  Buchs  (Band  II.  S.  192  ff.)  auf  die  Erörterung  dessen  ein, 
was  die  Person  des  Homer  betrifft:  die  siebenzehn  vorhergehenden  Ab- 
schnitte beschäftigen  sich  mit  den  homerischen  Gedichten ,  d.  h.  mit  flies 
und  Odyssee,  aussehriesslich  nnd  suchen  dabei  aHc  die  Punkte,  welche 


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Marc  t  history  of  the  langnage  and  literalurc  of  Greece.  270 

zumal  Mit  Wolf  die  Aufmerksamkeit  der  Gelehrten  Eoropa's  so  sehr  in 
Anspruch  genommen  haben,  zu  erledigen.  Denn  der  Verf.,  der  wie  ge- 
legentlich versichert  wird  (S.  221),  selbst  früher  den  Ansichten  von  Wolf 
huldigte,  ist  durch  ein  zwanzigjähriges  Studium  von  der  Haltlosigkeit  der- 
selben so  sehr  aberzeugt  worden,  dass  er  ea  für  seine  Pflicht  ansieht, 
Alles  aufzubieten,  um  auch  bei  Andern  eine  gleiche  Ueberzeugung  herbeizu- 
führen. Und  diess,  nichts  Aoderes,  ist  eigentlich  auch  das  Ziel,  das  sieb 
der  Verf.  hier  gesteckt  hat,  diess  ist  die  Aufgabe,  die  er  durch  diese 
siebenzehn  Abschnitte,  wie  selbst  durch  den  achtzehnten,  zu  lösen  ver- 
sucht; und  es  geschieht  diess  weniger  durch  äussere  Beweise,  als  durch 
den  inneren  Beweis,  der  aus  dem  Inhalt  und  Charakter  dieser  Gedichte, 
und  ans  dem  Wesen  dieser  ganzen  an  Homer'*  Namen  geknüpften  Poesie 
entnommen  wird.  Wie  diess  geschieht,  darüber  wollen  Wir,  da  wir  das 
Ganze  dieser  Argumentation  unmöglich  wiedergeben  können,  wenig- 
stens einige  Andeutungen  hier  niederlegen.  Wir  übergeben  die  allge- 
meinen und  einleitenden  Bemerkungen,  so  wie  die  Angaben  Ober  die 
Zeugnisse  der  frühesten  Zeit  für  die  Existenz  einer  Ilias  und  Odyssee  und 
das,  was  über  die  diesen  Punkt  betreffenden  Untersuchungen  der  alexan- 
drinischen  wie  der  pergamenischen  Schule  gesagt  wird,  wir  übergeben 
auch  das ,  was  weiter  (im  3.  Capitel)  über  Pisistratas  und  dessen  Bemü- 
hungen gesagt  ist,  weil  es  ohne  Belang  ist;  indess  Findet  sich  hier  schon 
am  Scnlusse  (S.  218)  als  Resultat  dieser  Untersuchung  der  Satz  ausge- 
sprochen, dass  Ilias  und  Odyssee  ursprünglich  ihrem  wesentlichen  Be- 
stände nach  (in  its  substantial  integrity  and  order)  so  componirt  waren, 
wie  wir  sie  jetzt  besitzen,  dass  aber,  in  ihrem  Uebergang  auf  die  Nach- 
welt, diese  Ordnung,  wo  nicht  gänzlich  verwischt,  doch  durch  die  Pd- 
pularorgane  der  Ueberlieferung  in  eine  solche  Verwirrung  gebracht  War, 
welche  eine  günzliche  Auflösung  besorgen  Hess;  was  eben  bei  dem  Fort- 
schritt der  geistigen  Cultur  einen  regen  Eifer  hervorgerufen ,  diesen  Miss- 
stand zn  heben  durch  grössere  Ordnung  und  Regelmässigkeit  bei  den 
öffentlichen  Vorlesungen  dieser  Gedichte ,  so  wie  anderseits  auch  durch 
die  Anlage  neuer  Ausgaben  an  dem  Gebrauch  der  verschiedenen  Staaten ; 
dabin  werden  gerechnet  die  Ausgaben  von  Chios,  Argos  u.  s.  w.,  so 
wie  die  des  Pisistratus.  Das  vierte  Cap.  (S.  219  ff.)  sucht  insbesondere 
aus  inneren  Gründen  den  Nachweis  des  Ursprungs  der  Ilias  und  Odyssee 
zu  führen,  wobei  wir  freilich  auf  Aeusserungen  stossen,  die  Niemand, 
der  mit  der  deutschen  Forschung  auch  nur  einigermassen  vertraut  ist,  für 
gerechtfertigt  anerkennen  wird.  So  heisst  es  s.  B.  S.  225  in  Bezug  auf 
diesen  inneren  Beweis  (the  internal  evidence),  welcher  jetzt  allgemein 


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280         Mure:  Mitory  of  the  language  and  Meratnre  of  Greece. 


als  die  einzige  Quelle  anerkannt  sei ,  aus  der  ein  klares  Licht  über  die 
Geschichte  der  homerischen  Dichtungen  zu  gewinuen  stehe,  es  sei  dem- 
ungeachtet  kein  Zweig  der  homerischen  Frage,  der  so  sehr  vernachläs- 
sigt worden  sei;  es  sei  überhaupt  kein  Versuch  gemacht  worden,  die 
ganze  Frage  auf  den  höheren  Grund  eines  Princips  zu  bringen,  welchen 
sie  einzunehmen  fähig  sei  u.  s.  w.  Allerdings  hat  der  Verf.  in  seinen 
weitschweiügen  Untersuchungen,  in  denen  wir  gern  das  Resultat  zwan- 
zigjähriger Studien  erkennen  wollen,  darauf  sein  Hauptaugenmerk  ge- 
richtet, und  diess  besonders  durchzuführen  gesucht:  allein  darin  kann  kein 
Grund  zu  solchen  Aeusserungen  oder  eine  Rechtfertigung  derselben  gegen- 
über dem  liegen,  was  Deutschland  bereits  in  dieser  Besiehung  geleistet 
hat,  wo  mau  eben  so  gut,  und  wohl  noch  besser,  als  der  Verfasser 
diess  hier  zu  tbun  unternommen  hat,  auf  die  innere  Einheit  der  beiden 
Gedichte,  auf  Plan  und  Anlage,  Charakteristik  u.  s.  f.  hingewiesen  bat, 
um  sie  als  Produkte  Eines  grosscu  Geistes  darzustellen.  Im  fünften  ([und 
sechsten)  Capitel  folgt  eine  Analyse  oder  gedrängte  Inhaltsübersicht  der 
vier  und  zwanzig  Bücher  der  Ilias  mit  einigen  weiteren  Bemerkungen,  in 
denen  z.  B.  die  Integrität  des  SchifTscatalog's  im  zweiten  Buch  der  Ilias, 
und  dessen  nolbwendige  Verbindung  mit  dem  ursprünglichen  Ganzen  be- 
hauptet wird  (S.  263  1T.  508  ff.).  Im  folgenden,  siebenten,  Capitel  sacht 
der  Verfasser  das,  was  man  die  poetische  Einheit  nennt,  in  der  Ilias, 
im  Ganzen  wie  im  Einzelnen,  zu  erweisen;  die  Charaktere  des  Achilles 
und  Agamemnon  werden  nüher  besprochen  u.  s.  w. ;  auf  den  Contrast, 
in  dem  Homers  Darstellung  und  Charakterschilderung  zu  der  weit  unter- 
geordneten und  oft  gänzlich  verfehlten  des  Virgilius  stehe,  wird  mehrfach 
hingewiesen;  so  z.  B.  S.  294  ff.  301  ff.  Auch  das  achte  Capitel  setzt 
diese  Betrachtung  der  einzelnen  Charaktere  in  den  homerischen  Gedichten 
fort  und  scbliesst  S.  361  mit  der  Behauptung,  wie  es  für  den,  der  die- 
ser Untersuchung  gefolgt  sei,  unmöglich  erscheinen  müsse  zu  glauben, 
dass  eine  Reihe  so  trefflich  ausgeführter  Portraits,  „individoalised  by  so 
snbtle  a  unity  of  mechanism,  not  only  in  their  broader  features  of  pc- 
ouliarity  but  in  the  nicest  turns  of  sentiment  and  phraseology  can  be  the 
produce  of  the  medley  of  artists  to  which  the  Wolßan  schooi  assigns 
them."  Cap.  IX  giebt  eine  ahnliche  Analyse  der  Odyssee,  wie  sie  im 
fünften  Absohnitt  von  der  Ilias  gegeben  war.  Cap.  X  sucht  in  ähnlicher 
Weise,  wie  früher  bei  der  Ilias,  die  Einheit  der  Handlung  der  Odyssee 
zu  erweisen  und  diess  durch  die  Darstellung  der  einzelnen  in  diesem  Ge- 
dicht hervortretenden  Charaktere,  Scenen  u.  dgl.  noch  weiter  zu  begrün- 
den.   Hier  wird  man  gewiss  Manches  Beaclitenswerthe  im  Einzelnen  zur 


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Mota*    filatorv  nf  the  ]ant*nn(rp  and  lit#>rflf nr*»  nf  Crctcn  OQf 

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I 

richtigen  Erkeontniss  und  Würdigung  der  Odyssee  finden ,  die  der  Verf. 
(S.  389)  ein  reiches  Gemälde  des  menschlichen  Lebens,  wie  es  in  jenem 
Zeitalter  und  in  jenem  Lande  war,  nennt,  ein  Gemälde,  das  jeden  Gegen- 
stand in  sich  fasse,  vom  Erhabenen  bis  zum  Scherzhaften,  vom  Forcht- 
bsren bis  zum  Burlesken,  während  es  Uberall  ein  enges  Anschliessen  an 
die  Natur  bekunde  und  uns  eben  so  sehr  durch  die  Reinheit  und  Wahr- 
heit als  durch  den  Glanz  der  Darstellung  ergötze.  Einzelne  Ungleich- 
heiten, wie  sie  in  beiden  Gedichten  vorkommen  und  von  den  Gegnern 
der  Einheit  dieser  Gedichte  wohl  geltend  gemacht  und  seihst  hervorge- 
hoben worden  sind,  werden  im  eilften  Cspitel  besprochen,  um  den  dar- 
aus wider  die  Einheit  genommenen  Beweis  zu  entkräften;  im  zwölften 
wird  das  Verhältnis*  der  Götter  oder  vielmehr  deren  Dazwiichenknnft  und 
Eintreten  in  menschliche  Angelegenheiten,  dieser  divin  mechanism,  wie 
es  der  Verfasser  nennt,  behandelt:  da  dieser  Mechanismus  in  der  Utas 
wie  in  der  Odyssee,  trotz  aller  Verschiedenheit  der  Gegenstände  gleich 
massig  hervortritt,  so  liegt  auch  darin  eio  innerer  Beweis  für  die  Iden- 
tität des  Verfassers  dieser  Gedichte ,  wie  für  die  Selbständigkeit  und  Ein- 
heit derselben,  aU  Eines  grossen  Ganzen.  Was  sonst  den  religiösen 
Glauben  Homer'*  und  dessen  Götterwelt  überhaupt  betrifft,  so  ist  dieser 
Gegenstand  in  Deutschland  von  mehreren  Gelehrten  in  einer  so  erschöpfen- 
den Weise  behandelt  worden,  dass  man  bei  einem  englischen  Schrift- 
steller darüber  keine  Auskunft  zu  suchen  hat.  Die  drei  folgenden  Ab- 
schnitte (XIII,  XIV,  XV)  sind  dem  Styl  des  Homer,  seiner  ganzen  Dar- 
stellungs-  und  Ausdrucksweise,  mit  Allem,  was  dazu  gehört,  gewidmet 
und  nehmen  auch  am  Schlüsse  noch  Rücksicht  auf  die  metrische  Gestal- 
tung ond  Behandlung ;  Cap.  XVI  beschäftigt  sich  mit  den  Chorizonten  und 
ihrer  Behauptung  von  der  Verschiedenheit  des  Dichters  der  Ilias  von  dem 
der  Odyssee,  so  wie  den  angeblichen  Verschiedenheiten  beider  Gedichte 
selbst ;  dass  auch  hier  Alles  aufgeboten  wird ,  um  das  Gegentheil  zu  erweisen 
und  zu  begründen ,  wird  nach  dem ,  was  wir  schon  oben  bemerkt  haben, 
kaum  hier  näher  auszuführen  sein.  Gegen  die  Hyperkritik  neuerer  Zeit 
führt  der  Verfasser  manchen  Streich.  Es  will  ihm  nun  einmal  nicht  ein- 
leuchten, dass  die  älteren  Griechen  in  Bezug  auf  natürliche  Urtbeilskraft 
und  richtige  Unterscheidung  und  Beurtbeilung  desseu,  was  ihrer  Nation 
selbst  angehörte,  den  neueren  Kritikern  an  Befähigung  nachgestanden, 
und  dass  z.  B.  ein  Aristoteles,  Aristarchus  und  Longinus  weniger  com- 
petente  Richter  in  solchen  Fragen  der  Literatur  seien,  als  Fremde,  die 
sich  mühsam  mittelst  Grammatik  und  Lexicou  durch  die  spärlichen  Reste 
der  alten  Literatur  durcharbeiten,  während  Jenen  noch  der  ganze  Reich- 


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282  Mure:  history  of  the  linguale  and  literature  of  Greece. 


thum  dieier  vaterländischen  und  heimischen  Literatur  zu  Gebot  gestanden. 
Dann  möchte  wohl,  setzt  er  hinzu,  ouch  in  untern  Tagen  „a  German  or 
Daten  professor"  kraft  aeiner  tiefem  Einsicht  in  die  abstruseu  Mysterien 
der  allgemeinen  Sprachkunde ,  eine  grossere  Competenz  ansprechen,  um 
Uber  die  Anlhenlicität  eines  Stückes  ron  Sbeakspeare  oder  einer  Stelle 
Müton'a  tu  urtheilen,  als  ein  Addison  oder  Wharton  u.  s.  w.  (S.  122  ff.) 
Die  Richtigkeit  dieser  Sülze,  gegenüber  so  mancher  unglücklichen,  auch 
in  unierm  Vaterlande  geübten  Kritik  oder  vielmehr  Hyperkritik  wird  Nie- 
mand in  Abrede  stellen  wollen.  Das  siebenzehnte  Cap.  handelt  von  den 
Interpolationen  de«  Textes  der  homerischen  Gedichte  in  einer  Weise,  die 
Jeder,  der  mit  diesem  Gegenstände  und  den  darüber  bei  uns  geführten 
Untersuchungen  auch  nur  einigermasaen  vertraut  ist,  nicht  anders  als 
ziemlich  oberflächlich  und  ungenügend  bezeichnen  kann.  In  dem  Streben, 
die  Integrität  der  liias  und  Odyssee  nach  ihrem  gegenwärtigen  Bestand 
zu  aichern  und  diesen  als  den  ursprünglichen  darzustellen ,  geht  der  Verf. 
weiter  ab  Aristarchus  und  Aristopbanes ,  welche  den  Schluss  der  Odyssee 
mit  Bach  XXIII,  296  selzten,  wahrend  der  Verf.,  der  allerdings  we- 
sentliche Mängel  in  dem  darauf  noch  weiter  jetzt  folgenden  Stück  aner- 
kennt, doch  dasselbe  als  acht  und  selbst  noth wendig  darzustellen  ver- 
sucht, und,  was  jene  Mängel  betrifft,  diese  zuletzt  mit  der  zum  Sprflch- 
wort  gewordenen  Ausflucht  entschuldigen  zu  könneo  glaubt,  dass  der 
gute  Homer  wirklich  gegen  den  Schluss  seiner  grossen  und  mühevolles 
Aufgabe  geschlummert  (S.  191  Bd.  II.)! 

Nachdem  also  der  Verf.  durch  diese  ganze  Analyse  der  homerischen 
Gedichte  die  ältere  Ansicht,  welche  Ilias  und  Odyssee  in  ihrer  wesent- 
lichen Integrität  als  die  Schöpfungen  Bines  und  desselben  Dichters  be- 
trachtet, aufs  neue  begründet  und  ins  Licht  gesetzt  zu  haben  hofft,  geht 
er  in  der  Person  dieses  Dichters  mit  dem  achtzehnten  Capitel  über  (II, 
p.  192  ff.),  wobei  er  unter  den  verschiedenen,  über  Homers  Leben  auf 
uns  gekommenen  Resten  (die  Zusammenstellung  derselben  bei  Wester- 
maoo  scheint  der  Verfasser  nicht  zu  kennen)  demjenigen  den  Vorzug 
giebt,  was  uoter  des  Herodotus  Namen  als  angebliche  Biographie  des 
Romer  anf  uns  gekommen  ist,  „als  embodying  to  all  appearence  the 
oldest  as  well  as  the  most  comprehensive  stock  of  materials."  (Auch 
hier  scheint  der  Verfasser  mit  den  dieses  spätere  Machwerk  und  seinen 
Werth  betreffenden  Untersuchungen  der  neuerer  Zeit  wenig  bekannt  zu 
sein).  Das  Resultat  der  eigenen  Forschung  geht  nun  dahin,  dass  der 
Dichter  der  llias  und  Odyssee  iolischen  Ursprungs  gewesen  und  einer 
der  früheren  äolischen  Colonien  an  der  nordöstlichen  Küste  (wir  dächten, 


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Mure:  hislory  of  »hc  language  and  literatare  of  Grece,  383 


nordwestlichen)  Kleinasiens  angehöre  (II,  S.  199);  alle  anderen 
Ansprüche  auf  des  Dichters  Geburtsstütte  könnten  weder  in  Bezug  auf  Alter- 
thum noch  auf  Wahrscheinlichkeit  damit  in  einen  Vergleich  kommen  oder 
io  einen  Streit  eingehen  (II,  S.  201),  zumal  da,  wie  der  Verf.  weiter 
dartuthnn  versucht,  auch  alle  die  aus  den  Werken  Homers  abgeleiteten 
Data  mit  dieser  Tradition  in  Uebereinstimmung  seien  und  zn  ihren  Gun- 
sten sprächen  (II,  8,  203  IT.):  dagegen  wird  die  ganze  volle  Pflege  und 
Verbreitung  des  homerischen  Gesangs  nach  Jonien  verlegt  und  den  dort 
entstehenden  Dichterschulen  beigelegt  (II,  S.  227).    Unter  dem,  was  in 
diesem  Abschnitt  noch  weiter  über  die  Person  des  Dichters  und  seinen 
Charakter  bemerkt  ist,  machen  wir  insbesondere  aufmerksam  auf  die  von 
§.  13  an  laufenden  Bemerkungen  über  das,  was  eigentlich  den  Werth 
und  Vorzug  des  Homer  vor  andern  Dichtern,  namentlich  auch  der  neuem 
Zeit  ausmache,  und  wie  sich  sein  Verhältniss ,  von  diesem  rein  ästheti- 
schen Standpunkt  aus,  zu  den  Koryphäen  der  neuern  Poesie  gestalte: 
denn  h»er  sowohl  wie  auch  in  andern  Abschnitten  fehlt  es  nicht  an  Be- 
ziehungen auf  Shakspeare  und  Millen ,  wie  selbst  auf  Dante  und  andere 
Dichter  der  neueren  Zeit;  Shakspeare  und  Dante  gellen  Übrigens  dem 
Verf.  an   einer  andern  Stelle  dieses  Werkes  (II,  p.  126)  als  die  einzi- 
gen Dichter  der  neueren  Zeit,  die  sich  einigermassen  mit  Homer  in  eine 
Parallel.-  stellen  lassen.    Wenn  aach  diese  Dichter  in  einzelnen  Punkten 
dem  Sänger  der  Ilias  nnd  Odyssee  gleichstehen  oder  ihn  selbst  übertref- 
fen, so  hat  doch  keiner  derselben  alle  diese  Vorzüge  so  in  sich  ver- 
einigt, wie  der  alle  Homer,  der  darum  alle  andern  ttberragt.    Als  einen 
seiner  Hauptvorzüge  setzt  der  Verf.  au  erster  Stelle  die  allgemeine  An- 
lage und  Composition  der  beiden  unübertroffene» ,   edelsten  Muster  jeder 
heroischen  Epopöe;  an  zweiter  Stelle  erscheint  die  glückliche  Verbindung 
von  epischer  und  dramatischer  Behandlung;  an  dritter,  die  Zartheit  in 
den  Gedanken,  wie  die  Reinheit  des  Ausdrucks,  worin  selbst  Dante  und 
Shakspeare  weit  hinter  Homer  zurückbleiben;  der  vierte  Vorzug  der  ho- 
merischen Muse  ist  ihre  reine  und  ächte  Originalität  u.  s.  w.    Indem  der 
Verf.  bei  allen  diesen  charakteristischen  Punkten  der  homerischen  Poesie 
auch  auf  neuere  Epiker  Bezug  nimmt ,  fuhrt  ihn  diess  auch  zn  der  Frage 
Bich  der  modernen,  romantischen  oder  sentimalen  Richtung  der  neueren 
Poesie  und  deren  Ursprung;  er  entwickelt  dann  naher  die  Gegensätze,  in 
welchen  eben  dadurch  diese  Poesie  zu  Homer,  dem  diese  Richtung  völlig 
fremd,  ja  entgegengesetzt  ist,  steht.    Wir  empfehlen  diese  Bemerkungen 
eioer  nlheren  Beachtung,  die  sin  gewiss  verdienen.    Cap.  XIX  beschäftigt 
sieh  io  ziemlich  ausführlicher  Weise  mit  den  sogenannten  Cyclikern  und 


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284         Mare :  hislory  of  tbe  language  and  lilcratarc  of  Greece. 

deren  Werken,  von  denen  hier  nähere  Nachricht  gegeben  wird.  Der 
Verf.  beschliesst  diete  Uebersicht  mit  einer  Betrachtung  des  Verhältnisses, 
in  welchem  diese  Gedichte  zur  Ilms  und  Odyssee  stehen  und  erinnert  am 
Schlüsse  daran ,  wie  diese  Cycliker  keine  andern  als  dieselben  Homerideu 
seien,  welche,  nach  Wolfs  Schule,  als  die  Erweiterer  oder  als  die  In- 
terpolatoren  einer  mehr  oder  weniger  ganzen  Ilias  oder  Odyssee  erschei- 
nen, und  als  Verfasser  einer  Anzahl  der  trefflichsten  und  charakteristi- 
schen Stellen  oder  Episoden  beider  Gedichte.    Wie  kommt  es  nun,  fragt 
der  Verf.,  dass  diese  Dichter,  die  diese  herrlichen  Verse  gedichtet,  dann 
als  untergeordnete  und  mittelmässige  Dichter  und  selbst  als  Plagiarü  er- 
scheinen (?),  so  wie  sie  ihr  Talent  auf  die  Abfassung  eines  Ganzen,  eioes 
Originalgedichts,  z.  B.  der  Cypria  oder  einer  Aetbiopis  richten;  dieser 
Widerspruch  wird  noch  weiter  vom  Yerf.  hervorgehoben ,  um  auch  von  die- 
ser Seite  seine  Ansicht  von  der  Einheit  der  homerischen  Gedichte  und 
der  Person  ihres  Verfassers  zu  rechtfertigen  und  zu  wahren.    Cap.  XX 
hat  die  homerischen  Hymnen  und  einige  andere  dem  Homer  beigelegte 
Gedichte,  wie  die  Batrachomyomachie ,  den  Margites  u.  s.  w.  zum  Gegen- 
stande; Cap.  XXI  behandelt  die  hesiodeische  Poesie;  Cap.  XXII  bespricht 
dann  noch  einige  andere  verlorene  Epea  dieser  älteren  Zeitperiode  und 
schliesst  damit  den  zweiten  Band.    Dass  die  hesiodeische  Poesie  hier  nicht 
in  dem  Umfang  und  in  der  Ausdehnung,  wie  die  homerische,  bebandelt 
ist,  wird  Niemanden  entgehen:  im  Uebrigen  ist  der  Geist,  mit  welchem 
die  Untersuchung  auch  hier  geführt  ist,  derselbe  conservative  und  positive, 
den  wir  bei  der  Erörterung  der  grossen ,  Homerts  Gedichte  und  ihre  Bil- 
dung betreffenden  Fragen  allerwärt*  wahrgenommen  haben,  und  der  be- 
sonders gegen  die  kritischen  Bestrebungen  und  Ansichten  deutscher  Ge- 
lehrten gerichtet  ist.    Es  geht  zwar  der  Verf.  bei  dem  Namen  des  Hesiodos 
von  dem  gleichen  Salze  aus,  dass  wir  nemlich  bei  demselben  eben  so  gut 
wie  bei  dem  Namen  des  Homer  an  eine  zwiefache  Person  zu  denken  ha- 
ben, erstens  an  die  bestimmte  Person  eines  Dichters,  der  als  Haupt  und 
Gründer  einer  ganzen  Dichterschule,  durch  die  von  ihm  geschaffenen  Hu- 
sterwerke erscheint,  und  zweitens  an  diese  mit  dem  Namen  des  Meisters 
gewissermassen  bezeichnete  Schule  selbst  sammt  ihren,  unter  dem  Namen 
des  Heisters  bei  der  Nachwelt  verbreiteten  Produktionen.    Diesen  Heister 
lässt  der  Verf.  gleichfalls,  wie  den  der  andern  Sängerscbule,  von  Aeolien 
ausgehen,  und  bei  dem  ziemlich  gleichmäßigen  Charakter  der  Sprache 
wird  Homer's  Sprache  als  der  Aeolisch  -  Asiatische ,  Hesiod's  Sprache  aber 
als  der  Aeolisch  -Böotische  Zweig  des  alten  epischen  Dialekts  bezeichnet. 
Der  Verf.  hat  sich  in  eine  nähere  Charakteristik  dieser  hesiodeiseben 


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Mure:  historv  of  the  lansuagc  and  lilerature  of  Grecce.  285 

Poesie ,  in  ihrem  Verhaltniss  f ur  homerischen ,  so  wie  nach  ihren  beson- 
dem  Eigenthümlichkeiten  eingelassen,  und  hier  eben  so  sehr  die  "EpY* 
X-Hu.  wie  die  Theogonie  berücksichtigt,  wobei  er  gegen  die  kritischen 
oder  separatistischen  Ansichten  mancher  neuern,  'besonders  deut- 
scher Kritiker  mehrfach  in  ähnlicher  Weise  polemisirt ,  wie  dies«  bei  den 
Erörterungen  Uber  Homer  der  Fall  war.  Anch  die  Person  des  Hesiodns 
wird  in  Absicht  auf  die  angebliche  Lebenszeit,  der  des  Homer  weit  naher 
gerückt,  als  man  sonst  anzunehmen  gewohnt  ist.  Wir  beschränken  uns 
auf  diese  Andeutungen,  welche  genügen  werden,  die  Aufmerksamkeit 
derer,  welche  an  don  die  hesiodeische  Poesie  berührenden  Punkten  nä- 
heren Antheil  nehmen,  auf  diesen  Abschnitt  zu  richten,  welcher  auch  im 
Einzelnen  Gelegenheit  zu  manchen  weiteren  Controversen  bieten  wird,  wie 
z.  B.  um  wenigstens  Eiue  solche  Einzelheil  anzuführeu,  die  Behauptung 
S.  378,  dass  Ovid's  Metamorphosen,  allem  Anschein  nach,  angelegt  seien 
nach  dem  hesiodeischen  Muster  in  dem  KatccXoyoc  pvauaov.  Was  in 
den  diesem  Band  beigefügten  Appendrees  auf  Hesiodus  sich  bezieht 
(S.  501  ff.),  tragt  den  gleichen  Charakter  der  die  Vulgartradition  in 
Schutz  nehmenden  und  die  Integrität  der  hesiodeischen  Gedichte,  zunächst 
der  v£pT>  x*  ^  UIul  der  Theogonie,  vertheidigenden  Richtung  gegen 
manche  von  der  neueren  Kritik  erhobene  Anstände  und  Bedeuken.  Der 
dritte  Band ,  über  den  uns  noch  einige  kurze  Andeutungen  hier  vergönnt 
sein  mögen,  enthält  das  dritte  Buch  oder  die  Darstellung  der  lyrischen 
Poesie ,  eben  so  wohl  im  Allgemeinen ,  wie  in  ihren  besonderen  Zweigen 
und  deren  Eotwickelung ,  mit  den  in  jedem  einzelnen  dieser  Zweige 
hervortretenden  Dichtern ,  die ,  nach  den  in  den  beiden  ersten  Capp.  ge- 
gebenen allgemeinen  Bemerkungen,  in  de»  vier  folgenden  Abschnitten 
einzeln  behandelt  werden,  im  dritten  Cap.  Callinus,  Archilochns,  Simo- 
nides und  Tyrtäus,  im  vierten  Alcman,  Arion,  Stesichorus  und  einige 
Andere,  im  fünften  Alcäus,  Sappho,  Damophyla,  Erinna,  im  sechsten 
Mimner mus,  Solon  und  die  sogenannten  sieben  Weisen.  Das  siebente 
Cap.  behandelt  in  zwei  Abtheilungen  die  frühere  Geschichte  der  Schrift, 
ihre  Einführung  in  Griechenland,  wie  ihre  erste  Anwendung  zu  monu- 
mentalen Zwecken  u.  dgl.  Dass  Homer  uud  seine  Zeit  den  Gebrauch  der 
Schrift,  wenn  auch  noch  in  beschrankterer  Weise  kannte,  sucht  dor  Verf. 
auch  hier,  und  im  Gegensatz  zu  manchen  dahin  einschlägigen  Ansichten 
Woirs  und  seiner  Anhänger  zu  erweisen.  Aus  diesem  kurzen  Bericht 
über  den  Inhalt  dieser  drei  Bände  mag  der  geringe  Umfang  des  Verhan- 
delten im  Verhaltniss  zu  dem,  was  noch  aus  dem  umfassenden  Gebiete 
der  griechischen  Literatur  noch  fehlt,  bemessen  werden.    Soll  das  Werk 


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Mure:  bistory  of  the  language  and  literaturc  of  Greece. 


in  der  Weise  fortgesetzt  werden,  so  würde  es  schwerlich  zu  seinem 
Ende  gelangen,  andernfalls  aber,  wenn,  wie  schon  oben  angedeutet  wur- 
den, der  Verfasser  hier  einen  andern  Gang  einzuhalten  gedenkt,  dürfte 
eine  Ungleichheit  hervorgehen ,  die  unsere  oben  ausgesprochene  An- 
sicht, welche  in  diesen  drei  Banden  vorzugsweise  die  Studien  des  Ver- 
fassers über  die  älteste  Periode  der  griechischen  Coltur  und  die  Entwicke- 
lang der  Poesie  innerhalb  derselben,  zunächst  und  vorzugsweise  der  ho- 
merischen Poesie,  erkennen  will ,  nur  bestätigen  dürfte.  Noch  haben 
wir  zu  erwähnen,  dass  jedem  Hände  am  Schlüsse  eine  Anzahl  von  An- 
merkungen oder  Excursen,  unter  der  Aufschrift  Appendix,  beigefügt  ist, 
welche  Uber  einzelne  Punkte,  die  in  dem  Text  kurz  berührt  oder  nur 
angedeutet  sind ,  sich  in  grösserer  Ausführlichkeit  verbreiten  und  insofern 
mit  als  Belege  des  Textes  dienen  können.  Dem  ersten  Bande  sind  sieben 
solcher,  bald  kürzeren,  bald  lungeren  Appendices  beigefügt,  unter  denen 
wir  nur  auf  Appendix  F.  p.  512  ff.  aufmerksam  machen  wollen,  welcher 
auf  die  bei  Virgil,  Milton,  Cervantes,  Walter  Scott  und  andern  neueren 
Dichtern  vorkommenden  Widersprüche  im  Vergleich  zu  den  in  den  ho- 
merischen Gedichten  von  den  Gegnern  der  ursprünglichen  Einheit  derselben 
aufgebotenen  Widersprüchen  hinweist:  es  soll  damit  Hermanns  An- 
sicht, welche  auf  solche  Widersprüche  ein  besonderes  Gewicht  legt,  wi- 
derlegt und  gezeigt  werden,  wie  derartige  Widersprüche  bei  allen  grossen 
Dichtern  vorkommen ,  ohne  dass  es  desshalb  den  Kunstrichtern  unserer 
Tage  eingefallen,  die  betreffenden  Dichtungeu  von  einander  zu  legen  nnd 
in  eine  Mehrheit  von  poetischen  Bruchstücken  verschiedener  Verfasser  zn 
zersplittern.  So  beisst  es  (um  auch  hier  ein  Beispiel  anzuführen)  unter 
andern  S.  515:  es  ist  zu  bedauern,  dass  die  Professoren  Hermann  und 
Lachmann  ihre  geistreichen  Intersuchungen  in  der  Theorie  der  ho- 
merischen Widersprüche  nicht  auch  auf  Virgil  ausgedehnt  haben*,  sie 
würden  in  diesem  Fall  untrüglich  bewiesen  haben,  und  zwar  durch  die- 
selben conclusiven  Beweise,  welche  sie  hei  der  Ibas  angewendet  habe«, 
dass  die  Aeneis  ein  Cenlo  von  römischen  Volksgesüugeu  sei,  die  durch 
einen  Buchmacher  des  augusteischen  Zeitalters,  der  gemeinhin  als  der 
Dichter  der  ganzen  Aeneis  gelte ,  in  ziemlich  plumper  Weise  an  einander 
gereiht  und  zu  einem  Gauzen  verbunden  wordeo.  Ref.  theilt  nicht  die 
Ansicht  der  beiden  Gelehrten  Uber  die  Bildung  der  homerischen  Gedichte : 
aber  eine  solche  Albernheit  diesen  Mannern  aufbürden  zu  wollen,  kann 
nur  zeigen,  dass  der  Verf.  selbst  von  den  eigentlichen  Ansichten  dieser 
Männer  und  ihrer  Anschauungsweise  der  alteren  hellenischen  Poesie  gar 
Iceinen  Begriff  hat.  Iii  ähnlicher,  eben  so  unbilliger  und  verfehlter  Weise 
wird  in  Appendix  A.  p.  506  ff.  von  diesen  Münnern  gesprochen,  ihnen 
hier  Missbrauch  der  Kritik  in  jeder  Weise  vorgeworfen ,  ab  wenn  es  sich 
nicht  der  Mühe  lohne,  ihre  „Sunluties"  auf  diesem  Gebiete  zu  wider- 
legen. Der  Verf.  halle  freilich ,  che  er  an  die  Widerlegung  dieser  ver- 
meintlichen Subtililüten  denkt,  erst  daran  denken  sollen,  ciue  richtige 
Kenntniss  derselben ,  die  ihm  abgeht,  sich  zu  verschaffen.  Aehnliche  Dinge 
behandeln  noch  einige  Appendices,  wefche  in  der  Zahl  von  dreizehn  dem 
zweiten  Bande  betgefügt  sind.    Appendix  A.  bespricht  Widersprüche  der 


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Kraus*:  das  Thierreich  in  Bildern. 


287 


Art,  wie  sie  in  Dante'»  Di  vi  na  comedia  vorkommen,  im  Vergleich  zu 
Homer,  während  in  den  folgenden  Appendices  mehrere  die  angebliche 
Verschiedenheit  der  Ilias  und  Odyssee  betreffende  Paukte  noch  erörtert 
uod  in  dem  schon  oben  angedeuteten  Sinne  erledigt  werden.  Appendix  E. 
p.  510  ff.  sucht  die  Identität  der  Pbäaken  und  der  Phönicier  (<t>a»>,/s; 
und  (Potv.xs;)  zunächst  aus  Homer  selbst  zu  erweisen.  In  ähnlicher  Weise 
folgt  eine  Zwölfzahl  dieser  Appendices  dem  dritten  Bande,  von  welchen 
mehrere  eine  gleiche  polemische  Tendenz  haben.  Auch  ist  demselben 
Bande  ein  zu  allen  drei  Nauden  gehöriger  Index  beigefügt. 

Chr.  BÄhr. 


Das  Thierreich  in  Bildern  nach  seinen  Familien  und  Gattungen  darge- 
stellt ton  Professor  Dr.  Ferd.  Kr  aus  s,  Consertator  am  königl. 
Naturalien  -  Kabinet  in  Stuttgart.  Stuttgart  und  Esslingen ,  bei 
Schreiber  u.  Schill;  in  kl.  Folio.  I.  lind.,  Säugethier e  1851:  VJIJ  u. 
104  S.,  mit  43  kolorirten  und  7  schwarzen  Steindrucktafeln;  iu 
8  Ueff.  ausgegeben.    1848—1850.  (12  ß.  30  kr.) 

Dieser  Band,  der  soeben  vollendet  worden,  ist  ein  Theil  eine* 
grösseren  oaturhistoriseben  Atlasses,  welcher  in  etwa  200  Tafeln  das 
ganze  Thierreich  umfassen  soll ,  und,  hat  auch  die  Ungunst  der  Zeiten  nicht 
gestattet,  das  Unternehmen  so  rasch  zu  befördern,  als  es  beabsichtigt  ge- 
wesen uod  im  Prospectus  versprochen  war,  so  müssen  wir  wenigstens 
rühmend  anerkennen,  duss  er  den  dort  voraus  bezeichneten  Umlang  genau 
eingehalten  hat  und  daher  einen  gleichen  Erfolg  auch  für  die  Übrigen  Ab- 
theitungen des  Tbierreichs  iu  Aussicht  stellt,  wovou  die  Vögel  mit  CO, 
die  Amphibien  und  Fische  mit  30,  die  Kerbthiere  mit  30  und  die  Weich- 
und  Pflanzen  -  Thiere  ebenfalls  mit  30  Tafeln  bedacht  siud,  die  zu  15  kr. 
Jede  iiluminirte  Tafel  nobst  dem  zugehüreuden  Text  berechnet  werden  sollen. 

Die  Aufgabe  des  Unternehmens  ist,  jede  ausgezcichuele,  hinreichend 
begründete  Sippe  durch  eine  Abbildung  nach  der  Natur  oder  der  besten 
Originalzeichnungen  zu  versinnlichen  und  ihre  Charaktere  im  Text  kurz 
und  bindig  auszudrücken,  unter  Hinweisung  auf  Lebensart  und  geo- 
graphische Beziehungen:  eine  Aufgabe  mithin,  wie  sie  sich  etwa  in 
Frankreich  die  Uluslrirte  Ausgabe  vou  Cuvier  und  Guerin's  Iconographie 
gestellt  haben.  Zwar  besitzen  wir  einen  Versuch  von  Schinz  und  Brodt- 
mann,  der  sich  jedoch  auf  die  höheren  Thierklassen  beschränkt  und  sich 
nicht  sowohl  die  Darslelung  der  Sippen  als  der  Arten  zur  Aufgabe  gemacht 
hat,  für  die  charakteristischen  Theile  der  ersten  auch  eineu  meistens  zu 
kleinen  Maasstab  besitzt*,  einige  audere  Unternehmungen,  die  sich  nur  auf 
die  Sippen  bezieben,  beschranken  sich  doch  in  der  Regel  auf  die  wichtigsten 
darunter  uud  leiden  noch  in  weil  höherem  Grade  au  der  Kleinheit  ihres 
Masses,  welches  weder  eine  deutliche  Zoichnug  bezeichnender  Theile 
wie  Zehen,  Ohren,  Augen,  Zahne  u.  dgl.  gestattet,  noch  weniger  aber 
zum  Vorzeigen  beim  Unterrichte  hinreichend  ist. 

.» 


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268 


Kraus?:  das  Thierreich  in  Bildern. 


Io  welchem  Umfange  nun  der  Begriff  der  Sippe  hier  genommen 
ist,  wird  sich  ergeben,  wenn  wir  anführen,  dass  der  Text  von  Affen  21, 
von  Fledermäusen  18,  von  Raubthieren  42,  von  Beutellbieren  18,  von 
Nagern  53,  von  Zahnlosen  6,  von  Einhufern  1,  von  Dickhäutern  9,  von 
Wiederkäuern  29,  von  Ruderfüssern  5  und  von  Walthieren  13,  zusam- 
men 215  Sippen  aufzählt,  nach  Charakteren,  Lebensweise  und  Verbreitung 
beschreibt  und  durch  Abbildungen  von  238  Arten  erläutert,  wo  denn  eiuTheil 
dieser  Ueberzahl  wieder  Untersippen  zur  Grundlage  dient,  während  das  bis 
jetzt  vollständigste  „systematische  Verzeichnis  der  Süugethiere  von  Schinz" 
die  auf  mehr  als  2000  steigende  Anzahl  der  Arten  in  234  Sippen  ein- 
theilt.  Wenu  in  dem  Krauss'schen  Werke  die  Affeu,  Flederthiere, 
Raub-  ond  ISagc-Thiere  weniger  zerthcilt  sind,  als  bei  Sellins,  finden  wir 
hauptsächlich  die  Wiederkäuer  und  Wale  nach  den  Arbeiten  von  Sunde- 
^vall  und  Ks»  bricht  wciler  zerlegt,  übrigens  auch  andre  neue  Werke  früher 
und  später  zur  Ausarbeitung  bentttzt.  l'nd  wenn  absichtlich  nicht  überall 
alle  vorgeschlagenen  Sippen  aus  denselben  aufgenommen  worden  sind,  so 
finden  wir  doch  noch  manche  im  Texte  angedeutet,  zu  deren  Erläuterung 
eine  besondere  Figur  nicht  mehr  nöthig  schien.  Der  Text  ist  fleissig  be- 
arbeitet und  scheint  uns  seinem  Zwecke  sehr  angemessen  zu  sein. 

Was  die  Abbildungen  betrifft,  so  ist,  wie  schon  erwähnt,  ein  ziem- 
lich grosser  Maasstab,  verhältnismässig  grosser  für  die  kleinsten,  kleiner 
für  die  grössten  Arten  in  Anwendung  gekommen;  die  Figuren  sind  besser 
illuminirt ,  als  wir  sie  in  mehreren  verwandten  Werken  gefundeu ;  die  Stel- 
lungen manchfaltig,  ualürlich  und  lebendig,  wenn  sich  auch  in  einigen 
wenigen  Fallen,  wie  auf  Taf.  13  ein  Einwand  gegen  die  Gruppirung 
machen  lasst;  die  Thiere  sind  mit  einer  landschaftlichen  Dekoration 
umgeben,  welche  ihre  Lcbeusweise  zu  beleuchten  dient.  Von  sämmtlichen 
abgebildeten  Arten  sind  102,  oder  von  je  100  sind  45  Zeichuungen  nach 
der  Natur  angefertigt,  die  übrigen  aus  andern  Werken  entlehnt. 

Eine  willkommene  Zugabe  bildot  aber  die  Darstellung  der  Skelette 
und  Gebbse  von  88  Geschlechtern  aus  allen  Ordnungcu  auf  den  letzten  7 
Tafeln,  wozu  dann  S.  77  —  96  mit  engerm  Drucke  einen  guten  und  sehr 
ausführlichen  vergleichend-osteologischen  Text  nach  den  einzelnen  Ord- 
nungen liefert.  Es  ist  diess  eine  Zugabe,  welche  allen  andern  verwandten 
Werken  fehlt,  und  die  es  jedem,  welcher  nicht  Gelegenheit  noch  Beruf 
bat,  sich  in  Mitten  einer  anatomischen  Sammlung  zu  belehren,  möglich 
machen  wird,  sich  mit  der  vergleichenden  Osteologie  in  einem  hinrei- 
chenden Grade  vertraut  zu  machen. 

Ueberblick  uud  Gebrauch  des  Werkes  werden  sehr  gefordert  durch 
ein  systematisches,  sowie  ein  alphabetisches  Inhalts- Verzeicbuiss  und  eine 
Erklärung  der  Abbildungen. 

Wir  glauben  daher  eine  ebenso  wohlwollende  Aufnahme  dieser  Un- 
ternehmung erwarten,  als  ihr  einen  ruhigen  gesicherten  Fortgang  voraus- 
sagen zu  dürfen. 


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Ir.  19.  HEIDELBERGER  UN. 

JAHRBÜCHER  DIR  LITERATUR. 


» 


Kurze  Anzeigen. 


Journal  of  the  American  oriental  society.   toi.  I.    Boston  published  hy  the  society. 
1849.  8. 

Die  Amerikanisch-Orientalische  Gesellschaft,  welche  sich,  wie  ihre  Schwes- 
tern in  Europa ,  Beförderung  des  Studiums  der  asiatischen ,  afrikanischen  und 
polynesischen  Sprachen  und  Literatur  zur  Aufgabe  gesetzt  hat,  wurde  im  Ilerbslo 
1842  gegründet  und  hielt  im  April  des  folgenden  Jahres  ihre  erste  öffentliche 
Zusammenkunft  unter  dem  Vorsitze  des  H.  John  Pickering,  welcher  zur 
Gründung  dieser  Gesellschaft  das  Meiste  beigetragen  halte  und  daher  auch  ihn 
bis  zn  seinem  Tode  (1846)  fortzuführen  bestimmt  ward.  Seit  dieser  Zeit  wurde 
der,  auch  in  Deutschland  rühmlich  bekannte  H.  Ed.  Robinson  alljährlich  zum 
Präsidenten  gewählt.  Die  Anlage  einer  Bibliothek  und  die  Herausgabe  eines 
Journals  wurde  alsbald  beschlossen  und  vorliegender  aus  vier  Heften  bestehen- 
der Band  zeigt  uns,  dass  auch  in  der  neuen  Welt,  trotz  der  vorherrschenden 
materiellen  Interessen,  die  Zahl  und  Bedeutung  der  Mäuner,  welche  sich  der 
orientalischen  Philologie  hingeben,  täglich  wächst  uud  dass  wir  schon  in  man- 
chen Zweigen  derselben  auch  unsre  Kenntnisse  durch  die  hier  niedergelegten 
Resultate  ihrer  literarischen  Thätigkcit  bereichern  können. 

Unter  den  vielen  Aufsätzen  und  Abhandlungen,  welche  in  diesem  Bande 
enthalten  sind ,  verdienen  folgende  eine  besondere  Erwähnung : 

1)  Memoir  on  the  bislory  of  Buddhism ,  read  before  the  society  May  24, 
1844  by  Edward  E.  Salisbury  Professor  in  Yalc  College.  (79-136) 

2)  A  Treatisc  on  Arab  music ,  chiefly  from  a  work  by  Mikhaii  Mesml- 
kah,  of  Daroascus,  lianslated  from  the  Arabic  by  Eli  Smith.  (171-219) 

3)  >'otcs  on  Arakan  by  tho  late  rev.  G.  S.  Comstock,  American  baplist 
missiooary  in  that  counlry  from  1834  to  1814.  with  a  map  of  Ihe  province, 
drawn  to  aecompany  them :  by  rev.  L.  Stilson ,  missionary  companion  of  the 
autbor.  (219-259) 

4)  fomparative  vocabularics  of  some  of  the  principal  negro  dialects  of 
Africa,  by  rev.  John  Leighlon  Wilson,  missionary  of  the  American  board  on 
the  Gabun.  (337-360) 

5)  Ihe  Zulu  language,  by  Rev.  James  C.  ßryant,  missionary  of  theAme- 
rican4oard  among  the  Zulus.  (383-396) 

6)  The  Zulu  and  other  dialects  of  southern  Africa  by  rev.  Lewis  Grout, 
missionary  of  the  American  board  among  the  Zulus.  (397—435) 

6)  Et-Tabary's  conquest  of  Persia  by  the  Arabs,  translated  from  the 
Torkish  by  John  P.  Brown,  Esq.  Dragoman  of  the  anited  states  Legation  at 
Constantinople.  (435 — 507) 
XUY.  Jahrg.  3.  Poppelheft.  19 


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Kurse  Anzeigen.  f 


8)  On  the  Identification  of  the  signs  of  tbe  Persian  Coneiform  Alphabet, 
by  Edward  E.  Salisbury.  (517-561) 

9)  On  tlu'  present  condition  of  Ute  medical  profession  in  Syria,  by  rev. 
C.  V.  A.  van  Dyck,  M.  D.  Missionary  of  the  American  hoard  in  Syria.  (561 — 591) 

Da  liier  nur  eine  kurze  Anzeige  dieses  Journals  beabsichtigt  wird,  so 
gehen  wir  auf  den  nahem  Inhalt  desselben  nicht  ein  und  begnügen  uns  mit  eini- 
gen Bemerkungen  zu  Nr.  7. 

Der  türkische  Uebcrsetzer  Tabaris  ist,  nach  der  von  Herrn  Brown  mit- 
getheilten  Ansicht  des  Ottomanischen  Historiographen  Asad  Effendi ,  ein  gewis- 
ser Elias,  welcher  in  Konieh  unter  den  Seldjuken  lebte,  Diese  Ueberaelzung 
musste  jedenfalls  unter  Mohammed  II.  schon  verfertigt  gewesen  sein,  da  der 
genannte  Eflendi  gelesen  haben  will ,  dass  sie  die  Leetüre  einer  Tochter  dieses 
Sultans  bildete.  Mit  dieser  Behanptnng  stimmt  der  Styl  derselben  vollkommen 
überein.  Nichts  destoweniger  wird  diesem  Werke  eine  historische  Bedeutung 
beigelegt,  die  es  keineswegs  verdient.  Ref.  hat  schon,  als  er  den  ersten  Band 
seiner  Geschichte  der  Chplifen  schrieb,  mehrfach  nachgewiesen,  dass  der  per- 
sische und  türkische  Uebersetzer  des  Tabari  das  Original  nicht  nur  abgekürzt 
und  verstümmelt,  sondern  auch  durch  Zusätze  und  Entstellungen,  mitunter  so- 
gar durch  absichtliche  Fälschungen  glnzlich  verunstaltet  haben.  Seitdem  Ref. 
die  Werke  des  Beladori  und  Ibn  Kuteiba  über  die  ersten  Eroberungen  der  Ara- 
ber gelesen,  in  welchen  die  Angaben  Madaini's,  Wakidi's,  Ibn  Alkeibis  und 
Anderer,  die  dem  Original  werke  Tabaris  zu  Grunde  lagen,  in  Kürze  erwähnt 
werden,  ist  seine  Meinung  von  der  Unbrauchbarkeit  und  Unzuverläisigkeit  der 
türkischen  Uebersetzung  nur  noch  fester  begründet  worden.  So  wird  hier 
S.  465  der  ganze  Zug  des  Ala  Ibn  Alhadhrami  nach  der  Provinz  Fars,  wie  ihn 
Ref.  (Bd.  L  S.  87)  im  Auszuge  mitgctheilt,  vollständig  ohne  alle  Bemerkung 
wiedergegeben.  Ref.  hat  schon  an  genannter  Stelle  aus  reinen  Vernunftgründen 
die  Unwahrscheinlichkeit  dieser  Erzählung  dargethan,  nunmehr  ist  er  aber  voll- 
kommen davon  überzeugt,  da  man  bei  Beladori  ausdrücklich  liest,  dass  Isstacbr 
noch  im  Jahre  29  d.  II.  in  den  Händen  der  Perser  und  vergeblich  sowohl  von 
Abu  Musa  als  von  Orhman  Ibn  Abi-I-Aassi  belagert  worden  war.  Wir  halten 
es  für  überflüssig,  hier  noch  weitere  Beispiele  anzuführen  und  würden  diesen 
schon  mehrmals  besprochenen  Gegenstand,  unter  Andern  auch  in  diesen  Blät- 
tern, bei  der  Anzeige  der  Üeberselznng  Tabaris,  gar  nicht  mehr  berührt  haben, 
wenn  nicht  auch  die  Zeitschrift  der  deutsch  -  morgenlfindischen  Gesellschaft  einen 
längern ,  wenig  Neues  bietenden  Aufsatz  über  den  türkischen  Tabari,  und  einen 
Auszug  aus  demselben  enthielte,  in  welchem  gleichfalls  nicht  der  mindeste 
Zweifel  über  die  Glaubwürdigkeit  dieses  Werkes  geäussert  wird.  Wenn  wir 
daher  mit  H.  Salisbury  darin  übereinstimmen ,  dass  es  bis  jetzt  noch  nicht  ge- 
lungen ist,  eine  ausführliche  Geschichte  der  arabischen  Kriege  in  Syrien  und 
Fersien  im  ersten  Jahrhunderte  der  Hidjrah  zu  schreiben,  so  glauben  wir  nicht, 
dass  Materialien,  welche  so  unzweideutige  Spuren  späterer  Fabrication  an  sich 
tragen,  mit  Erfolg  dazu  benutzt  werden  können,  und  erst  wenn  einmal  der 
ganze  arabische  Tabari  aufgefunden  sein  wird,  dürfte  an  eine  solche  Arbeit  ge- 
dacht werden. 

Well. 


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29! 


Bibliotheca  Scriptonim  Graccorum  el  Romano  mm  Teubneiiana. 

Diese  neue  Sammlung  von  Ausgaben  Griechischer  und  Lateinischer  C'las- 
siker,  welche  mit  dem  Schlüsse  des  Jahres  1849  und  dem  Anfang  des  Jahres 
1850  begonnen,  in  rüstiger  Folge  vorwärts  schreitet,  und  zunfichst  für  den  Kreis 
der  Schale  bestimmt,  doch  am- Ii  noch  andere,  ausserhalb  dieses  Kreises  liegende, 
in  anderer  Hinsicht  wichtige  Autoren  befassen  soll,  kann  gewissermassen  als 
eiae  Erneuerung  und  Erweiterung  eines  früheren,  von  demselben  Verleger  aus- 
gesogenen Unternehmens  gelten ,  dessen  Zweck ,  wie  er  auch  damals  in  diesen 
Jahrbüchern  Jahrg.  1826  p.  225  ff.  angogeben  worden  ist,  „kein  anderer  war, 
»als  für  den  Schulunterricht,  wie  für  den  Gebrauch  bei  akademischen  Vörie- 
„rangen  und  für  das  Privatsludium  Aufgaben  zu  liefern ,  die  durch  einen  von 
»bischen  Lesarten  wie  von  Druckfehlern  gleich  gereinigten  Text,  durch  richtige 
,Iaterpunction  und  Orthographie,  durch  deutliche  Lettern,  guten  Druck,  durch 
»ein  angenehmes  Aeusserc  und  bilÜgen  Preis  allen  den  Forderungen  entsprechen, 
»welche  man  in  dieser  Hinsicht  zu  machen  gewohnt  ist."  In  wie  weit  die  ein- 
zelnen damals  erschienenen  Ausgaben  diesem  Zwecke  entsprechen,  ist  am  a.  0. 
gezeigt  und  durch  die  Erfahrung  bestätigt  worden.  Seit  dieser  Zeit  eines  Vier- 
tetjahrhanderts  ist  fast  bei  allen  allen  Schriftstellern,  zumal  den  nur  Schulen  ge- 
lesenen, mehr  oder  minder  eine  Revision  des  Textes  erfolgt,  der  Grundsatz  der 
urkundlichen,  diplomatischen  Ucberliefcrung  ist  nllerwärts  mehr  und  mehr  zur 
Gellung  gelangt  und  hat  sein  Recht,  unbeschadet  aller  Anforderungen  und  Rechte 
der  Conjccturalkrilik,  geltend  gemacht,  eben  dadurch  aber  auch  nähere  Unter- 
suchungen nach  den  ältesten  und  lautersten  Quellen  der  handschriftlichen  Ueber- 
lieferang  eines  jeden  Autors  hervorgerufen ,  um  damit  auch  den  Werth  der  übri- 
geo  Handschriften  zu  bestimmen  und  diesen  ihre  Bedeutung  und  Stellung  bin- 
»entlieh  der  Textesgestaltung  überhaupt  anzuweisen.  Neben  diesen  immer  mehr 
hervortretenden  Forderungen  der  Kritik  im  Allgemeinen,  hat  sich  auch  im 
Besonderen  für  die  Schulausgaben  die  Forderung  durchgängig  revidirter 
Texte  eben  so  sehr  herausgestellt:  die  Forlschritte  der  Kritik  im  Allgemeinen, 
and  das  Streben,  die  alten  Texte  möglich  getreu  nach  der  urkundlichen Ueber- 
lieferung  zu  geben,  konnte  und  durfte  nicht  ohne  Wirkung  auch  auf  die  Tür  die 
Schale  bestimmten  Ausgaben  bleiben.  Allein  diese  in  der  That  gerechte  und 
billige  Anforderung  ist  bisher  wenig  berücksichtigt  worden;  es  liegt  aber  darin, 
■ach  unserer  vollen  Ueberzeugiuig ,  nicht  blos  die  Rechtfertigung,  sondern  viel- 
mehr die  Notwendigkeit  eines  neuen  Unternehmens,  welches,  wie  das  vorlie- 
gende, die  Ergebnisse  der  Kritik  für  die  Schule  gleichsam  flüssig  machen  und 
mm  Nutz  und  Frommen  derselben  in  Anwendung  bringen,  mithin  gereinigte, 
auf  die  urkundliche  Ueberlieferung  zurückgeführte,  correcte  Texte  liefern  soll, 
lad  dass  dieser  Forderung  im  Einzelnen  auch  entsprochen  worden  ist,  wird 
demnächst  aus  dieser  Anzeige  im  Einzelnen  sich  herausstellen.  Dazu  kommt  die 
durch  äussere  Verhältnisse  hervorgerufene,  jetzt  immer  mehr  und  immer  stärker 
hervortretende  Forderung,  wie  nach  correcten  und  Druckfehler  freien,  so  auch 
»•besondere  nach  soleben  Abdrücken,  welche  die  Augen  nicht  angreifen,  also 
in  Druck ,  Papier  und  Lettern  denjenigen  Ansprüchen  genügen ,  welche  das  in 
nageschwächter  Kraft  der  späteren  Zeit  zu  fiberliefernde  Auge  des  jungen 
Zögling»  xu  stellen  berechtigt  ist,  und  endlich  die  in  der  neuesten  Zeit,  ebenfalls 

19* 


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Kurte  Anzeigen. 


in  Folge  der  äusseren  Ereignisse  sich  eben  so  sehr  geltend  machende  Forderung 
der  Billigkeit  des  Preises.  In  beiden  Beziehungen,  wir  stehen  nicht  an  es  hier 
gleich  auszusprechen,  wird  man  sich  durch  das  vorliegende,  noch  näher  in  sei- 
nen einzelnen  Theilen  zu  besprechende  Unternehmen  vorzugsweise  befriedigt 
finden:  die  Lettern  sind  ungleich  grösser  und  treten  durch  die  bessere  Schwirre 
mehr  hervor,  das  Papier  ist  ungleich  reiner  ausgefallen  und  der  Preis  (den  wir 
darum  auch  bei  jeder  einzelnen  Ausgabe  beizufügen  gedenken)  so  überaus  billig 
gestellt,  dass  die  gerade  in  dieser  Beziehung  und  auch  raeist  nur  ans  diesem 
Grunde  so  verbreiteten  Tauchnitzer  Abdrücke,  denen  wir  übrigens  nie  das  Wort 
geredet  haben,  wenn  es  sich  um  geeignete  Sculausgaben  handelte,  wirklich  zu- 
rücktreten müssen  und  somit  bei  diesem  neuen  Unternehmen  Alles,  was  man 
von  solchen  für  die  Schule  bestimmten  Abdrücken  verlangen  und  erwarten  darf, 
in  einer  Weise  und  in  einem  Grade  geleistet  ist,  wie  dicss  bei  keinem  der  bis- 
herigen Unternehmungen  der  Art  der  Fall  gewesen  ist.  Was  die  Frage  nach 
den  für  solche  Ausgaben  etwa  zulässigen  Anmerkungen  betrißt,  so  kann  Ref. 
aoeh  hier  seine,  schon  früher  mehrfach  ausgesprochene  Ansicht  nur  wiederho- 
len ,  wornach  ihm  für  den  eigentlichen  Scbulgebrauch ,  insbesondere  auf  den 
mittleren  Classcn  unserer  höheren  Lehranstalten,  diejenigen  Ausgaben  immer  als 
die  erspriesslichsfen  erscheinen,  welche  jeder  derartigen  Beigabe  von  Noten  oder 
Anmerkungen,  sie  seien  grammatischer  oder  erklärender  Art,  gänzlich  entbeh- 
ren und  sich  auf  Hinzufugung  von  Summarien  oder  Wortregistern  beschränken, 
so  dass  Alles  Andere  der  Schule  selbst  und  dem  mündlichen  Unterricht  über- 
lassen bleibt.  Man  mag  sich  einzelne  Ausnahmen  in  besondern  Fällen  gefallen 
lassen:  im  Ganzen  wird  die  Regel  fest  stehen  und  darum  werden  wir  auch  dem 
vorliegenden  Unternehmen  Beifall  geben,  welches  jeder  solchen  Zugabe  durch- 
aus entbehrt,  und  dabei  doch  der  Kritik  diejenige  gebührende  Rechnung  ge- 
tragen  hat,  die  wir  auch  bei  derartigen  Ausgaben  verlangen,  dass  nemlich  die 
Textesabweichungen  in  der  Kürze,  es  sei  am  Eingang,  also  bei  der  Präfatio 
oder  auf  einigen  Blättern  hinter  dem  Text  oder  auch  unter  demselben  sich  an- 
gemerkt  finden. 

Gehen  wir  nun  zu  den  einzelnen  Theilen  der  Sammlung ,  so  weit  sie  bis 
jetzt  erschienen  sind,  über,  so  finden  wir,  dass  dieselben  ausgegangen  sind 
theils  von  solchen  Gelehrten ,  welche  schon  bei  dem  früheren  Unternehmen  mit- 
gewirkt und  nun  die  von  ihnen  damals  schon  besorgten  Ausgaben  revidirt  haben 
und  in  dieser  Revision  dem  Publikum  vorlegen,  theils  aber  auch  von  Bolchen 
{j t- 1  c  1 1 r ( c  n  ^  \s  l  1 1  Ii c  sie  Ii  9p6Cidl  mit  i!c n  1. 1  r i  zclnc  ti  *\n  t  orc  n  I)  esc  litil  1 1  ^  t  ^  und  tlic 
Beweise  davon  mehr  oder  minder  in  grösseren  Arbeiten  oder  Ausgaben  bereits 
gegeben  haben:  denn  es  war  eben  das  Bestreben  des  Unternehmers,  für  jeden 
Autor  denjenigen  Gelehrten  zu  ermitteln,  der  durch  specielle  Beschäftigung  mit 
demselben  und  die  daraus  hervorgegangenen  Leistungen  auch  am  ersten  geeig- 
net  und  befähigt  zu  einer  solchen,  die  Zwecke  der  Schule  zunächst  berücksich- 
tigenden correcten  Ausgabe  des  Textes  erscheinen  konnte. 

Von  griechischen  Dichtern  sind  bisher  die  folgenden  erschienen: 
i.  Homeri  Carmina  ad  optimorum  librr.  fidem  expressa  curanfe  Guilielmo  Din- 

dorfio.    EdUio  tertia  correctior.  Upsiae  stantibus  et  tfpis  B.  G.  Teutmeri 

MDCCCL.  Vol.  I  Fan  I.  Uiadis  1-XIl.   Vol.  /.  Fan  11.  lliadi$ 


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293 


XU1 — XXIV.  XIV  und  504  S.  in  8.  (die  Seiten  laufen  durch  leide  Par- 
te* fort)    Vol.  II.  Odyssea.    XU  und  391  S.  (Der  Band  m  ßy^Sgr.) 

2.  Acschtjli  Tragoediae  ex  recentione  Ricardi  Portoni  passim  reßcta  a  Gui- 

lielmo  Vindorf  io.  Edilio  sc  nitida  correctior.  Lipsiae  etc.  282  S.  in  8. 
(10  Sgr.,  jedes  Stück  besonders  tu  3  Sgr.) 

3.  Sophoclis  Tragoediae.    Ex  recensione  Guilielmi  Dindorf  ii.  Editio 

secunda  correctior.  Lipsiae  etc.  MDCCCXL1X.  381  S.  in  8.  (12*1%  Sgr., 
jedes  Stück  besonders  su  3%  Sgr.) 

4.  Pindari  Carmina  cum  deperdUorum  fragmentis  selectis.    Relegit  F.  G. 

Schneiderin.    Lipsiae  etc.  MDCCCL.   240  S.  in  8.    (9  Sgr.) 

5.  Bucolici  Graeci.    Theocritus,  Bio,  Moschus.    Recensuit  Henricus 

Ludolf  us  Ahr  ens.    Lipsiae  etc.  MDCCCL.    IV  u.  144  S.  in  8.  (5  Sgr.) 
Es  ist,  wie  eben  im  Allgemeinen  bemerkt  worden,  keine  dieser  Ausga- 
ben mit  Noten  oder  Anmerkungen  irgendeiner  Art  ausgestattet,  indem  uns  blos 
die  griechischen,  neu  revidirten  Texte  geboten  werden.    Bei  Homer  sind  die 
lateinischen  Summarien  der  einzelnen  Gesänge  der  Ilias  und  Odyssee  dem  Texte 
derselben  vorausgeschickt,  die  Vorrede  der  früheren  Ausgabe  ist  nicht  wieder 
abgedruckt,  jedoch  sieht  man  bald,  dass  dieselben  Grundsätze,  die  damals  den 
Herausgeber  leiteten,  auch  jetzt  für  die  Gestaltung  des  Textes  in  gleicher  Gel- 
tang geblieben  sind,  und  überhaupt  die  ganze  Revision  des  Textes  im  Einzel- 
nen bestimmt  haben.   Dasselbe  gilt  von  Sophocles  nnd  Aeschylns,  bei 
welchen  Dichtern  die  griechischen  Hypotheseis  (und  sonst  Nichts)  dem  Texte 
vorangehen ,  und  jede  weitere  Annotatio  weggefallen  ist.   Wir  können  hier,  wo 
wir  blos  einen  einfachen  Bericht  über  das  ganze  Unternohmen  abzustatten  ge- 
denken ,  schon  des  beschränkten  Raumes  wegen  nicht  in  eine  Kritik  eines  jeden 
dieser  Autoren  eingeben,  aber  wir  wollen  doch  nur  an  ein  Paar  Beispielen 
zeigen ,  dass  wir  hier  keineswegs  blosse  Abdrücke  der  früheren  Ausgaben  vor 
uns  haben,  sondern  dass  wirklich  eine  Revision  vorgenommen  worden,  die 
auch  das  Neueste  auf  diesem  Gebiete  der  Kritik  in  Berücksichtigung  gezogen 
hat.   Bei  eioer  Vergleichung  des  Textes  des  aesehyleiseben  Prometheus  finden 
wir,  dass  z.  B.  in  der  kritisch  schwierigen,  viel  besprochenen  nnd  viel  ver- 
suchten Stelle  Vers  1056  und  1057  (1092  ff.  ed.  Blomf.)  in  der  vorletzten  An- 
sprache des  Hermes  an  den  Chor,  die  Lesart  der  ersten  Ausgabe:  tt  foep  eX- 
hLvM  |ti]  icopauaUtv  et  ö'euruXf)»  *t  XaXa  fiavtüv  verlassen  ist,  nnd  gewiss  mit 
allem  Recht,  da  [diese  Lesart  keinen  befriedigenden  Sinn  geben  kann.  Wenn 
aber  statt  des  anstössigen  et  o'tvtuXi)  gesetzt  wird  ?j  rou3e  r//r( ,  mit  Verschmä- 
hong  der  anderen  hier  von  verschiedenen  Gelehrten  vorgebrachten  Verbesse- 
ruogsvorschiäge ,  so  scheint  uns  doch  auch  diese  Lesart  noch  manchen,  selbst 
sprachlichen  Bedenken  zu  unterliegen ,  die  es  uns  fast  bezweifeln  lassen,  ob  man 
wirklich  sagen  könne:  q  rj/tj  eXXeiictt  u-tj  rcapanaUtv.    Beibehalten  ist,  und  wir 
glauben  mit  Recht,  die  auch  schon  in  der  früheren  Ausgabe  aufgenommene  Ver- 
besserung Elmsley's  Vs.  606  (627  ed.  Blomf.).  —  xixpjpov  o  «n  {ieTcaujuvei  na- 
&iv,  Tt  pi)Xap  (statt  des  malten  und  selbst  widersinnigen  tt      Xp^)  ^  Tt 
cipaazQv  vwoj.    Dagegen  Ys.  543  finden  wir  jetzt  eine  vom  Verfasser  in  der 
Zeitschrift  für  Altcrthuraswissenschaft  seiner  Zeit  gemachte  Verbesserung  in  den 
Text  aufgenommen :  Zfpa  yop  oü  Tpojtecov  autovw  yvtuaa  0^ei  #vaT0.j;  £yav  statt 
iU%  Twua,  welchem  Burney  und  nach  ihm  Blomfield  noch  ein  (unnöthiges)  tv 


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Karze  Anzeigen. 


vorsetzten.  Eben  10  ist  Ys.  426  jetzt  richtig  Aufgenommen :  —  aXXov  tv  itovoic 
ha\xivz  dJa^avTO^eTOic  Ttxdtva  Xu;iai;  eioiiojxav  diov 'AtXov,  wo  die  frühere 
Ausgabe  noch  mit  Schütz  und  Bothe  an  dem  fehlerhaften  axafiavtoSerotc 
festhielt.  Aber  an  der  Veränderung  Vs.  378  (386  ed.  Blomf.):  öpffjc  Csoüötjc 
eialv  laTf^ot  XojOt  statt  der  Vulgata  voaoJäTjc  haben  wir  ähnliche  Bedenken,  wie 
sio  auch  von  Schneidewin  (Gölt.  Gel.  Anz.  1844  p.  1533)  geäussert  worden  sind: 
wir  halten  die  Aenderung  für  unnötbig  und  die  Valgata  schon  durch  den  Ge- 
gensatz zu  tatpot  geboten  und  daher  nothwendig.  Als  eine  bessere,  und,  wie 
wir  glauben,  durch  den  Sinn  selbst  gebotene  Aenderung  betrachten  wir  es,  dass 
die  Verse  347  ff.  (355  ff.  ed.  Blomf.),  welche  noch  in  der  früheren  Ausgabe 
dem  Okeanos  beigelegt  waren,  hier  als  Worte  des  Prometheus  in  unmittelbarer 
Verbindung  und  Anknüpfung  an  die  vorhergehenden  Worte  desselben  erscheinen. 
Vs.  49  ist  ans  der  ersten  Ausgabe  noch  beibehalten:  ä-'/vt'  i  r.  p 6. '/  8  Tj  r./.rv 
dtoioi  xotpavetv.  Freilich  haben  so  alle  Ausgaben  und  Handschriften ;  aber  einen 
oinigermassen  nur  befriedigenden  Sinn  in  die  Stelle,  bei  Beibehaltung  dieser 
Lesart,  zu  bringen,  vermag  Ref.  in  der  That  nicht.  Und  so  mag  das  von 
Blomfield  und  Schümann  aufgenommene  und  auch  von  Andern  in  neuester  Zelt 
gebilligte  i7ia/ßfr  eine  Conjcclur  Stanley'«,  den  Voraig  verdienen,  indem  dann 
doch  ein  dem  Ganzen  entsprechender  Sinn  sich  herausbringen  lisst.  Bei  Pili- 
da r  hat  der  Herausgeber  die  von  ihm  unlängst  in  der  neuen  Bearbeitung  der 
Dissenchen  Atisgabe  gegebene  Revision  des  Textes  zu  Grande  gelegt,  und, 
was  wir  sehr  billigen,  unter  dem  Text  ganz  kurz  die  Abweichungen  seines 
Textes  von  dem  altern  der  Heyne'srhen  Ausgabe  bemerkt,  auch  jeder  Hymne, 
wie  diess  auch  bei  der  Dissenchen  Ausgabe  der  Fall  ist,  die  Angabe  des  Me- 
trums vorausgeschickt.  Dass  die  Mehrzahl  der  Fragmente  Pindars,  so  weit  sie 
aus  Einem  oder  mehreren  Versen  bestehen,  beigefügt  ist,  kann  der  Ausgabe 
nur  zum  Vortheil  gereichen. 

Bei  den  Bukolikern  (Tbeocritus,  Bio  und  Moschus)  erhalten  wir  den 
griechischen  Text  nebst  den  griechischen ,  dem  Ganzen  vorangestellten  Argu- 
menten. Eine  nähere  Erörterung  der  bei  der  Textesrevision  befolgten  Grund- 
sätze und  ihrer  Anwendung  in  den  einzelnen  Fällen  gedenkt  der  Herausgeber  in 
Schneidewin's  Philologus  zu  geben,  da  der  Zweck  und  der  Raum,  der  ihm  hier 
gestattet  war,  diess  nicht  erlaubte;  er  bemerkt  nur  so  Viel,  dass  eine  eonse- 
quentcre  Durchführung  des  Dialekts  ihm  nur  bei  Theocrit  I— XV,  XVIII,  XXV, 
-WM II  und  in  den  meisten  Epigrammen,  so  wie  bei  des  Moschus  Europa  und 
Mcgara  möglich  gewesen  sei,  bei  den  übrigen,  zum  Theil  sehr  verdorbenen 
thcocriteisciicn  Stücken,  wie  bei  den  übrigen  des  Moschus  und  Bio  er  weniger 
ängstlich  in  der  Aufnahme  von  Conjecturen  gewesen  sei;  Verderbnisse  in  ein* 
seinen  Versen  und  Worte  sind  durch  vorgesetzte  Sternchen  angedeutet. 

Von  griechischen  Prosaikeru  erschien: 
ii  Ilcrodoti  Hiitorianm  libri  IX.  Curatit  Henr.  Rudolph.  Dieitck,  Up- 

siae  sumtibus  ei  typis  B.  G.  T&tbneri  MDCCCL.     Vol.  I.  IV  *nd  382  8. 

Vol.  II.  346  S.  (Wfi  Sgr.) 
2.  Thucydides  de  beilo  Peloponnesiaco  libri  och).    Rtcognotit  Godofredv* 

Boehme.    Lipriae  etc.  MDCCCI.     Vol.  I.  Lib.  1-1K.    VI  und  322  S. 

in  8.  (9  Sgr.) 


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Kurze  Anzeigen. 


3.  Xenophontis  Expeditio  Cyri.    Recensuil  Ludovicus  Dindorfius, 

Ediuo  tertia  emendatior.  Ltpsiac  MDCCCLLX.  X  und  258  S.  I  '■<'  ,  Sgr.) 
Intlilmtio  Cyri  etc.  (me  vorher)  7V|  Sgr.  MDCCCL.  XU  und  336  S. 
Historia  Graeca.  Recognovit  Ludov.  Dindorfius.  Edith  secunda 
emendatior.  MDCCCL.  XVI  und  288  S.  (7V3  Sgr.)  CommenlariL 
Recognovit  etc.  (vie  vorher)  IV  und  146  S.  (3*U  %J  Script  Mi- 
no ra.   Recognont  etc.  XU  und  319  S.  (7 Vi  Sgr.) 

4.  Demosthenis  Orationes  ex  recensione  Guilielmi  Vindorf  ii.  Lip- 

siae  etc.  MDCCCL.  Bditio  secunda  correctior.  Vol.  I.  Orationes  I  XIX. 
336  S.  Vol.  IL  Orationes  XX— XL.  492  S.  m  gr.  8.  (der  Bd.  su  6  Sgr.) 
I.  Piatonis  Euthyphro,  Apologia  Socraiis,  Crito,  Phaedo.  Ex  re- 
eogmtione  Cmroli  Friderici  Hermanni.  Lipsiae  etc.  MDCCCLI.  156  S. 
m  8.  (6  Sgr.) 

Bei  H  er  odo  tu s  hatte  es  der  Herausgeber  nicht  darauf  abgesehen,  eine 
neue  Hecension  des  Textes  zu  liefern  —  wie  wäre  diess  auch  ohne  neue,  und 
xwar  namhafte  und  ältere  Handschriften,  als  die  bisher  bekannt  gewordenen, 
wenigen,  überhaupt  möglich?  —  er  wollte,  und  diess  war  allerdings  der  rieh« 
tigere,  bei  einer  Schulausgabe  einzuschlagende  Weg,  einen  Text  liefern;  „quae 
Titas  virorom  doctorum  sagacitati  demonstratis  atque  emendatis  careret;  quare 
qaamvis  religiöse  codicom  auetoritati  obsequendum  pularem,  tarnen  ubi  quae 
nollo  modo  ferri  possent  aut  scriptore  qualis  Herodotns  fnit,  indigna  exhibe- 
baat,  si  qaae  veri  similis  conjectura  inventa  esset,  cum  reeipere  non  dnbitavi.tf 
Ref.  kennt  kaum  einen  Schriftsteller ,  bei  welchem  die  urkundliche  Gestaltung 
des  Teiles,  wie  wir  sie  doch  verlangen,  grösseren  Schwierigkeiten  unterliegt, 
welche  hauptsächlich  durch  die  Mannichfaltigkeit  und  Unstetigkeit  der  dialekti- 
schen Formen  herbeigeführt  werden.  Diese  iu  eine  gewisse  Gleichförmigkeil 
xd  bringen,  indem  man,  wie  die  Versuche  der  Neuern  diess  meist  verlangen, 
oteh  der  Mehrzahl  von  Stellen,  in  denen  eine  bestimmte  Form  vorkommt,  die 
Minderzahl  von  Stellen,  in  denen  eine  Abweichung  davon  sich  findet,  zu  andern 
unternimmt,  führt  zu  einem  so  gewaltsamen  Verfahren,  dass  schon  Schüfer  bei 
«nem  derartigen  Versuche  mitten  inne  hielt ,  weil  er  erkannt  halte ,  welch*  eine 
ferahrliche  Bahn  er  betreten.  Hier  wird  am  Ende  doch  kaum  eine  andere 
Wthl  übrig  bleiben,  als  die  Annahme,  dass  Herodotns  in  Einem  und  demselben 
Fall  aoeh  verschiedene  Formen  zugelassen,  und  hier  entweder  durch  Rücksich- 
ten des  Tons  und  Klangs,  oder  durch  andere  nns  nicht  weiter  bekannte  Gründe, 
j»  im  Ende  auch  durch  Zufall  und  freies  Belieben  bestimmt,  bald  diese,  bald 
jene  Form  gewählt  hat.  Auch  wird  nie  vergessen  werden  dürfen,  dass  eine 
?entue  Collation  der  ältesten  herodoteischen  Handschrift  gerade  in  dieser  Bezie- 
mm*,  was  die  einzelnen  dialektischen  Formen  betrifft,  uns  noch  fehlt.  Es  war 
daher  gewiss  klug  von  dem  Herausgeber,  dass  er,  da  er  nun  einmal  für 
einen  verlüssigen  und  richtigen  Text,  wie  ihn  der  Bedarf  der  Schule  (aus 
der  wir  doch  wahrhaftig  darum  die  Leetüre  des  Vaters  der  Geschichte  nicht 
werden  verdrangen  wollen)  verlangt,  sorgen  musste,  sich  diesen  allerdings  ver- 
föhrerischen  Gleichheitsbestrebungen  nicht  hingab,  sondern  an  die  Grundlage 
des  von  Schweighäuser  und  Gaisford  gelieferten  Textes  im  Ganzen  sich  lieber 
fcdt,  dass  er  nur  hier  und  dort  in  dialektischen  Formen,  aber  mit  der  grössten. 
Vorsicht,  einzelne  Aenderungen  sich  erlaubte,  und  dadurch  einen  Text  lieferte, 


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Kurz*;  Anzeigen. 


wie  er  den  Bedürfnissen  der  Sehnte  entspricht  und  dadurch  (anrh  abgesehen 
von  den  Sasseren  Vorzögen  des  Druckes,  der  Lettern  and  des  Papiers)  den 
Vorzug  verdient  vor  andern,  namentlich  den  Berliner  Abdrucken  der  Jahre  1833 
and  1845.    So  hat  der  Herausgeber,  um  wenigstens  einige  Proben  hier  vorzu- 
legen, I,  8  statt  I  j  /tjc  6  Aacx-JXo-j,  nach  Dindorfs  Vorschlag  geschrieben  Aaa- 
xuXeio,  eben  so  I,  32  eitw/siv  für  eiuo/üiv »  eben  so  VII,  161  Meto  für  e&eou, 
VII,  163  Sjvtovtai  für  ?jv5(bvrcti ,  aber  I,  11  ist  er  ihm  nicht  gefolgt,  indem  er 
evSelv,  was  Dindorf  in  iviteiv  verwandelt  wissen  will  (ohne  hinreichenden  Grund, 
wie  wir  glauben),  im  Texte  beliess,  eben  so  I,  48,  wo  'iiu  geblieben  statt 
des  von  Dindorf  vorgeschlagenen  rfyt.    In  der  Stelle  I,  17:  ©5rt  tvti:iu>icpi) 
oore  ftjpa;  dfoceana,  Sa  Ik  xorra  Xwpr,v  fctou-eveu,  wo  Dindorf  tvsmjiitpa  and 
iordvat  liest,  hat  der  Herausgeber  nur  das  Letztere  aufgenommen,  das  Erster e, 
und  wir  glauben  auch  hier  mit  Grund ,  abgelehnt.  —  1 ,  27  wird  eben  so  is  vo> 
beibehalten,  also  Dindorfs  sv  vom  bei  Seite  gelassen,  und  in  demselben  Capitel 
die  Lesart  der  besseren  Handschriften,  die  durch  eine  Reihe  von  Conjecturen 
bekanntermassen  verdrangt  werden  sollte,  beibehalten,  auch  hier  mit  gutem 
Recht:  Xoßeiv  dpo>u.evot  A'jSouc  ev  daXaoag.    Dasselbe  ist  geschehen  I,  54  in 
Beibehaltung  der  Formen  Tcpouavriji'Tjv  xat  attXeirjV  xcü  icpotäptyv:  wenn  wir  aber 
II,  15  finden  Tapr/tjt etuv ,  statt  der  Vulgata  TofOCnf*»,  die  Dindorf  in  TaptX«V»v 
verwandelt,  so  mag  man  es  uns  zu  Gute  halten,  wenn  wir  die  Vulgata  dem 
Einen  wie  dem  Andern  vorziehen.    Richtiger  scheint  uns  das  II,  37  von  dem 
Verfasser  gesetzte  £ta«miovTec ,  wo  Dindorf  die  Vulgata  omauieuvwc  in  StaajAwvt« 
ändern  wollte.    Consequent  diesem,  wird  auch  gleich  nachher  geschrieben 
icpOTi|AtovTt;  statt  TcpoTiiuövre;  oder  rpotiuiojvrsc.    Dass  II,  13       ^  —  ervoftj 
statt  ei  {xt)  gegeben,  oder  viel  mehr  beibehalten  Ut,  wird  man  nur  billigen 
können.   An  mehreren  Stellen,  wo  frühere  Herausgeber,  insbesondere  auch 
Schweighäuser  Glosseme  vermuthelen,  hat  der  Verf.  darauf  Rücksicht  genom- 
men ,  indem  er  die  Worte  in  eckige  Klammern  einschloss,  wie  II,  11  (die  Worte 
'Apaßiov  tov  epXo^at  X*s«uv)  oder  I,  38  (die  Worte  Jie^ftapjjivov  -njv  axo^v)  oder 
I,  1  (das  Wort  X«»p*}  nach      t«  a).).Tj)  oder  VII,  145  (die  Worte  'EXxtjvo»  twv 
nach  Bekker's  Vorgang)  u.  dgl.  m.   Will  man  in  diesen  Stellen  wirkliche  Glos- 
seme  anuehmen,  dann  wird  man  aber  auch,  und  wie  wir  glauben,  seibat  mit 
mehr  Grund  in  der  Stelle  VII,  162  bei  den  Worten  ootoc  &  6  vöoe  touSs  toü 
pfjuioTo;,  to  iUXtt  Xsyeiv,  die  wir  nicht  einmal  für  alt -griechisch  halten,  ein 
Glossem  anzunehmen  und  also  die  Worte  in  eckige  Klammern  zu  setzen  haben, 
was  hier  nicht  geschehen  ist.    Bezweifeln  müssen  wir,  ob  in  der  Stelle  VII, 
145:  ipw  oe  itpöc  "rtvac  xa't  iXXouc  tyxE/p7]u,evot  seil,  tcoacjagi  ,  die  vom  Verf. 
aufgenommene  Aenderung  Reiske's:  e YxcxpT)|icvot  wirklich  eine  Verbesserang 
und  keine  Verschlimmerung  des  schwierigen,  vielleicht  verdorbenen  Wortes  eyxt- 
Xptjjjivoi  ist.   In  einem  Ähnlichen  Fall  VIII,  73,  wo  wir  auf  das  gleiche  Schwie- 
rigkeiten bietende  Wort  exieoto&urjvTat  stossen ,  hat  der  Verf.  ganz  wohl  ge- 
than ,  keine  Aenderung  —  denn  vorerst  wird  wohl  jede  solche  äusserst  unge- 
wiss bleiben  —  vorzunehmen,  sondern  die  Vulgata  beizubehalten;  in  einem 
andern  VII,  89:  ovtoi  piv  o'to»  ijtaXdoctTO,  was  kaum  richtig  sein  kann, 
hat  er  die  Verbesserung  von  Bekkcr  und  Dindorf  inaXaxo  aufgenommen.  In 
den  zwei  Stellen,  in  welchen  der  Verfasser  allein  eine  eigene  Vermuthang  in 
den  Text  aufgenommen  hat,  will  uns  die  eine  nicht  recht  zusageu.   I,  189: 


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oT/.tfMKtvu;  oe  ott£o2ot  travt«  Tpwtov  oS&v  sXouct  Sti  tftv  yuvatxow  sollen  wir  statt 
öStöv  lesen  osaitnv,  riit  Herodotus  numerum  viarum  pro  numero  mulierum  varium 
faisse  tignificaret."  Eher  möchten  wir  mit  Schweighäaser  ö$<ov  für  ein  Glossen 
ansehen  and  ginzlich  tilgen ;  denn  o&ov,  wie  ElU  vorgeschlagen,  will  uns  eben« 
sowenig  gefallen.  Ansprechender  wird  die  Veränderung  V,  34  erscheinen:  xal> 
oira  xat  icotoc  xata  rd/o?  eaa;avro  statt  der  Yulgata  xat  Tt!X<K,  in  welcher 
schon  Valckenar  •///'  in  rö  änderte,  dem  einige  neuere  Herausgeber  folgten,  wah- 
rend Andere  diese  Worte  für  verdächtig  ansahen  und  in  Klammem  einschlössen. 

Aach  die  Ausgabe  des  Thucydides  sucht  sich  auf  gleichem  Mittelwege 
zu  halten,  indem  sie  sich  zwar  möglichst  an  die  handschriftliche,  hier  in  der 
That  auch  besser  als  bei  Herodotus  bestellte,  Ucbcrlieferung  hält  und  nur  in  den 
Fallen  abgeht,  wo  offenbare  Verderbnisse  der  Handschriften  eine  Abweichung 
nötbig  machen,  die  durch  den  Zweck  einer  Schulausgabe  allerdings  geboten 
schien.  So  schliesst  sich  dieser  Text  zunächst  an  den  von  Poppo  und  Kruger  ge- 
gebenen an;  die  Stellen,  in  welchen  der  Verf.  denselben  verlassen  hat,  sind  in 
der  Vorrede  aufgeführt,  die  in  sofern  als  die  Rechenschaftsablage  dieses  kriti- 
schen Verfahrens  gelten  kann,  dessen  Prüfung  auf  diesem  Wege  einem  Jeden 
leicht  möglich  ist.  Die  unter  Marcellinus  Namen  gehende  Biographie  des  Thucy- 
dides ist  mit  etwas  kleinerer  Schrift  vorangestellt,  worauf  der  Text  der  vier  ersten 
Bücher  folgt,  mithin  noch  ein  zweiter  Band,  welcher  den  Rest  bringt,  zu  er» 
warten  steht. 

Bei  der  von  L.  Dindorf  besorgten  Ausgabe  der  verschiedenen  Schriften 
Xenophons,  die  hier  in  einer  zweiten  und  dritten  Revision  erscheinen,  sind 
Noten  und  Einleitungen  oder  Vorreden  gänzlich  weggefallen ,  dagegen  jedem 
Bande  lateinische  Suminarien  der  einzelnen  Schriften ,  welche  in  denselben  ent- 
halten sind,  und  am  Schlüsse  lateinische  Register  über  die  Eigennamen  (Index 
Nominum)  beigefugt ;  der  l'yropädie  vornngedrtickt  ist  auch  das  Leben  Xeno- 
phon's  ans  Diogenes  II,  48 If.  Einen  ebenso  revidirten  Text',  wie  diess  durch 
die  neuern  Bearbeitungen  von  Bekker,  Vömel  und  den  Züricher  Gelehrten  er- 
möglicht war,  bringt  die  Ausgabe  des  Demosthenes  von  Wilhelm  Dindorf. 
Auch  hier  sind  die  griechischen  Argumente  jeder  einzelnen  Rede  vorausgeschickt; 
Der  Abdruck  der  Reden  selbst  reicht  in  beiden  Bänden  bis  zu  Nr.  XL.  oder 
der  Rede:  irpoc  Bomdtöv  itjoi  -rpor/öc  ;j.TjTp«n  ac  p.  1026  der  Reiske  sehen  Ausgabe, 
deren  Seitenzahlen  durchweg  am  Rande  beigefügt  sind. 

Auf  die  mit  der  ersten  Abtheilung  begonnene  Ausgabe  der  Schriften 
Plato's  dürfen  wir  wohl  insbesondere  die  Aufmerksamkeit  Aller  derer  richten, 
die  sich  für  diesen  Schriftsteller  und  einer  Verbreitung  seiner  Werke,  innerhalb 
des  nächsten  Kreises  der  Schule  wie  ausserhalb  desselben,  interessiren.  Dazu 
fordert  uns  schon  der  Name  des  Herausgebers  auf,  der  hier  vor  Allem  bestrebt 
war,  der  urkundlichen  Autorität  ihr  Recht  widerfahren  zu  lassen  und  demge- 
mäss  noch  konsequenter  als  seine  nächsten  Vorgänger,  die  Lesarten  der  ältesten 
Handschrift  (des  Codex  Clarkianus  oder  Bodlejanus)  durchzuführen,  ohne  jedoch 
dabei  die  Aushülfe  zu  verschmähen,  welche  in  verdorbenen  Stellen  oder  bei 
offenbaren  Fehlern  dieser  Handschrift  andere  Codices  an  die  Hand  gebeu,  oder 
diejenigen  Aenderungen  abzuweisen ,  die  durch  die  Sprache  oder  den  Sinn  des 
Ganzen  geboten  waren.  Wir  haben  also  hier  eine  Revision  des  platonischen 
Textes,  der  möglichst  auf  seine  urkundliche  Grundlage  zurückgeführt,  auch  für 


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die  Lektüre  des  Pinto,  es  sei  auf  Schulen  oder  Universitäten  oder  bei  Privat- 
studien, eine  sichere  Grundlage  bietet.  Dabei  sollen  die  Abweichungen  des 
Textes  in  den  jedem  Volumen  beizugebenden  Prolegomencn  ihre  Rechtfertigung 
erhalten,  so  dass  also  auch  vou  dieser  Seile  Nichts  vennisst  wird,  was  man  von 
der  Gewissenhaftigkeit  des  Herausgebers  erwarten  konnte.  Die  in  diesem  Bild- 
chen enthaltenen  vier,  auch  sonst  oft  mit  einander  verbundenen  Stucke  (Euthy- 
phro,  Apologia  Socratis,  Crito,  Phacdo)  bilden  die  erste  Ablheilnng  des  ersten 
Volumen;  die  zweite  soll  den  Cratylus  und  Theätct,  die  dritte  den  Sophistes  und 
Politicus  enthalten,  und  das  Ganze  baldigst,  noch  vor  Ostern,  im  Drucke  been- 
digt sein ;  Volumen  II.  in  drei  Abtheilungen  wird  den  Parmenides  und  Philebus, 
das  Convivinm  und  den  Phädrus,  Alcibiades  I.  und  II.  nebst  Hipparchus,  Erastä 
und  Thcages  befassen;  Vol.  III.  in  vier  Abtbeilungen  den  Charmides,  Lache«, 
Lysis,  den  Euthydemus  und  Protagoras,  den  Gorgias  und  Mcno,  den  Hippias  I.  IL 
nebst  Jo,  Mcnezenus,  Clitophon;  Vol.  IV.  in  zwei  Abtbeilungen  wird  die  Politia 
bringen,  dann  den  Timäus,  Critias,  Miuos;  Vol.  V.  die  Lcges  nebst  Epinomis; 
Vol.  VI.  die  Briefe  und  die  verschiedenen  unachten  Schritten,  dann  die  Einlei- 
tungen und  Vitae  Platon's  von  Alciuous,  Albinus,  Olympiodorus  n.  A. 

Ausser  den  Fortsetzungen  der  noch  nicht  vollendeten  Autoren  haben  wir 
demnächst  das  Erscheinen  der  unter  der  Presse  befindlichen  Argonautica  des 
Apollonius  (von  R.  Merkel)  und  des  Arrianns  (die  Ezpeditio  Alexandri  von 
R.  Geyer)  zu  erwarten. 

Von  lateinischen  Schriftstellern  sind,  bei  völlig  gleicher  äusserer  Aus- 
stattung, bisher  die  folgenden  erschienen,  und  zwar  zuvörderst  Dichter: 
f.   P.  Virgilii  Maronis  Opera  omnia.  Ex  recensione  Joanni  Ckristiani 

Jahn.  Editio  qwuia.  Lipsiae:  sumptibus  et  typt  s  B.  0.  Teubneti.  MDCCCL. 

XXXVI.  und  384  S.  in  8.    (W  4  Sgr.) 

2.  Q.  Hot  aii i  Flacci  Opera  omnia.  Ex  recensione  Jon.  Ckristiani  Jahn. 

Editio  quarta.    Lipiae  etc.  XU.  und  262  S.  in  8.    <7«/t  Sgr.J 

3.  T.  Macci  Planti  Comoediae.    Ex  recognitione  Alfreds  Fleckeiseni. 

Tmnus  I.  Amphilruonem  Captitos  Müttern  Gbriosum  Rüden  km  Trinummurn 
compleclens.  Praemism  est  Epistula  erUica  ad  Fridericum  Mische lium. 
Lipsiae  etc.  XXX.  und  332  S.    (12  Sgr.J 

4.  P.  Ovidius  JSaso.    Ex  recognitione  lludolphi  Merkeiii.    Lipsiae  de 

Tom.  II.  Metamorphoses.  XIV.  und  317  S.  (7%  SgrJ  Tom  III.  Trts- 
tia.  Ibis.  ExPontolibri.  Fasti.  Halieulica.  lipsiae  etc.  MDCCCLI. 
X.  und  342  S.    {10  Sgr.) 

5.  Lex.  Propertii  Elegiae.  Edidit  Henricus  Keil.  Lipsiae  etc.  MDCCCL. 

IV.  und  Iii  S.   (6  Sgr.) 

6.  Phaedri  Augusii  liberti  Fabulae  Aesopiae  quam  tetercs  tum  novae  alque 

restitulae.  Ad  optimorum  librorum  ßdem  recognotit  alque  de  poetae  vila  et 
fabulis  praefatus  est  Chrislianus  Timotheus  Dressler.  Lipsiae  etc. 
VIII.  und  84  S.  in  8.    (2\  z  Sgr.) 

Die  Ausgaben  des  Virgilius  und  Horatius,  die  wir  einst  von  der 
Hand  des  seligen  Jahn  erhalten  haben,  verbreitet  bereits  in  drei  Ausgaben,  ha- 
ben hier  einen  vierten  Abdruck  erhalten,  dem  die  gleich  gunstige  Aufnahme, 
wie  wir  hoffen,  nicht  fehlen  wird,  da  der  correkte  Text,  die  besonnene  Kritik, 
wie  sie  dieser  erfabreno  Schulmann  nnd  Gelehrte  geübt  hatte,  diese  Ausgaben 


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auch  besonders  für  die  Bedürfnisse  der  Schule  geeignet  macht.  Gelt  es  doch 
bei  dieseo  Autoren  nicht  sowohl  die  Herstellung  eines  urkundlich-getreuen  Tex- 
tes auf  neu  gewonnener  Grundlage,  sondern  vielmehr  die  Bewahrung  der  ur- 
kundlichen Ueberlieferung  gegen  eine  Willkür,  welche  nach  rein  subjektiven 
Ansichten  beliebig  die  Texte  gestallen  und  so  gewissermassen  zu  Produkten  eigner 
Thätigkeit  umzuwandeln  sucht.  Gegenüber  einem  solchen  Verfahren  hatte  der 
selige  Jahn  in  der  auch  hier  wieder  abgedruckten  Vorrede  zu  Horatius  vom 
1.  Oktober  des  Jahres  1846,  die  gesunden  und  richtigen  Grundsitze  der  Hora- 
zischen  Kritik  in  einer  Weise  dargestellt,  der  kein  besonnener  Kritiker  seine 
Billigung  wird  versagen  können.  Bei  Virgilius  ist  auch  die  fntroduetio,  welche 
eise  gründliche  und  vollständige ,  durch  Nachwcisungen  jeder  Art,  darunter  auch 
manche  neu  hinzugekommene,  unterstützte  Skizze  von  dem  Leben  und  den  Schrif- 
ten des  Dichters  enthält,  wieder  abgedruckt,  was  gewiss  nur  zu  billigeu  ist. 

Wenden  wir  uns  zu  Plautus,  so  weiss  Jeder,  dass  für  die  Texteskritik 
dieses  Autors  eine  neue  Epoche  begonnen  hat,  die  zuuächst  an  die  kritischen 
Forschungen  RiUchl's  geknüpft,  auch  diesen  Schriftsteller  uns  in  einer  möglichst 
auf  seine  urkundliche  Grundlage  zurückgeführten  Gestalt  zu  bieten  sucht.  In 
die  gewöhnlichen  Ausgaben,  wie  sie  der  Schulbedarf  erfordert,  ist  aber,  wenn 
wir  von  den  kleineren  Ausgaben  der  von  Ritsehl  besorgten  Stücke  absehen, 
doch  im  Ganzen  bis  jetzt  nur  Weniges  von  dieser  neuesten  Forschung,  die  uns 
den  Text  der  piautinischen  Stücke  jetzt  mit  ganz  andern  Augen  ansehen  lässt, 
übergegangen,  so  dass  wir  wohl  diese  Ausgabe  als  die  erste  bezeichnen  dürfen, 
welche  uns  den  Text  des  Plautus  in  dieser  seiner  urkundlichen  Grundlage  nahe 
gebrachten,  aus  den  Forschungen  der  neuesten  Zeit  hervorgegangenen  Gestalt 
liefert.  Für  zwei  der  in  diesem  Band  enthaltenen  Stücke  (Miles  gloriosus, 
Trioumnius)  lagen  Ritscbl's  Ausgabeu  bereits  vor;  schwieriger  war  die  Gestal- 
tung des  Textes  der  übrigen  drei  Stücke,  die  jedenfalls  nach  den  für  die  Kritik 
des  Plautus  überhaupt  jetzt  gewonnenen ,  massgebenden  Grundsätzen  durchzu- 
führen war.  liier  war  nun  der  Herausgeber  so  glücklich,  durch  Vermittelung 
des  Hrn.  Direktor  Halm,  von  Hrn.  Schwarzmann  eine  genaue  Collalion  des  zu 
Rom  beGndli  eben  Vetus  Codex  zu  erhalten,  der  bekanntlich,  wenn  man  von  dem 
Ambrosianischcn  Palimpsest  absieht,  mit  seinem  Bruder,  dem  in  Heidelberg  zu- 
rückgebliebenen oder  vielmehr  dabin  wieder  zurückgekehrten  Codex  Decurtatus, 
die  letzte  Quelle  des  plautinischen  Textes  bildet.  Wir  können  hier  nicht  in  das 
Einzelne  der  Kritik  des  Textes  eingehen,  verweisen  desshalb  auf  die  dreissig 
eng  gedruckte  Seiteu  füllende  Epistoln  critica,  in  welcher  der  Herausgeber  sein 
ganzes  Verfahren  in  der  Behandlung  des  Textes  entwickelt  und  insbesondere 
über  einzelne  Abweichungen  sich  naher  ausgesprochen  hat. 

Die  Revision  des  Textes  der  Metamorphosen  des  Ovidius,  welche 
den  zweiten  Band  der  Opera  dieses  Dichters  bilden,  ist  zunächst  gebaut  auf 
drei  der  ältesten  Handschriften,  welche  sich  durch  die  Eigenschaften  des  Allers, 
der  Treue  und  der  Sorgfalt  gegenseitig  in  einer  Weise  unterstützen  und  ergan- 
**u,  dass  nur  selten  eine  Herzuzichung  anderer  Handschriften  nöthig  ward  und 
zugleich  bei  der  Gestaltung  des  Textes  ein  festes  und  konsequentes  Verfahren 
durchgeführt  werden  konnte;  es  sind  diess  die  zwei  Florentiner  Handschriften 
des  eilften  Jahrhunderts  (Marciauus  und  Laurentianus),  die  freilich  beide  nicht 
vollständig  sind,  indem  bei  der  einen  Buch  XV.  fehlt,  und  die  andere  mit 


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Buch  XII.  280  schliefst,  aber  nach  Versicherung  von  Hrn.  Keil,  der  beide  Hand- 
schriften verglich,  als  die  älteste  unter  allen  ovidischen  Handschriften  in  Italien 
gelten  kann;  zu  diesen  kommt  die  Erfurter,  vom  Herausgeber  selbst  verglichene 
Handschrift  des  zwölften  Jahrhunderts. 

Ueber  den  Charakter  dieser  ältesten  Textesquellen  und  ihre  Benützung  für 
den  Text  der  vorliegenden  Ausgabe  spricht  sieb  die  Präfatio  in  einer  solchen 
Weise  aus,  dass  wir  das  ganze  Verfahren  des  Herausgebers  daraus  näher  kennen 
zu  lernen  im  Stande  sind.  Dasselbe  ist  der  Fall  auch  bei  dem  dritten  Bande, 
der  die  oben  bezeichneten,  in  die  Zeit  des  ovidischen  Exils  fallenden  Schriften 
befasst,  bei  deren  Herausgabc  dieselben  Grundsätze  festgehalten  wurden.  Die 
Libri  Trist iuui  und  Ibis  sind  schon  im  Jahre  1837  in  einer  grösseren,  für 
den  gelehrten  Gebrauch  bestimmten  Ausgabe  des  Verfassers  erschienen:  er  be- 
dauert für  den  vorliegenden  Abdruck  nicht  mehr  die  Florcntinische  Handschrift 
des  X.  oder  XI.  Jahrhunderts,  von  der  er  zu  spät  Nachricht  erhielt,  benutzt  zu 
haben;  bei  den  Büchern  Ex  Ponto  leistete  eine  Hamburger  Handschrift  des 
XI.  Jahrhunderts,  die  in  der  Vorrede  näher  beschrieben  wird,  erwünschten  Bet- 
atand. Die  libri  Fastorum  erscheinen  in  einer  „legitime  recognitio",  welche 
auf  zwei  römische,  durch  Hrn.  H.  Keil  verglichene,  Handschritten  begründet  ist, 
die  eine  stammt,  nach  der  Versicherung  dieses  Gelehrten,  aus  dem  zehnten  Jahr- 
hundert und  war  einst  im  Besitzthum  der  Königin  Christina  von  Schweden, 
ffr.  170^,  die  andere,  nicht  minder  ausgezeichnete  ist  eine  vatikanische,  schön 
geschriebene,  in  den  Abkürzungen  der  bemerkten  Hamburger  ähnliche,  Nr.  3263. 
In  den  Halieuticis,  welche  den  Schluss  des  Bandes  einnehmen,  und  auch 
dem  Herausgeber  als  ein  unvollendet  hinterlassenes  Gedicht  erscheinen ,  hält 
Derselbe  Vers  49—81  für  ein  fremdartiges  Einschiebsel,  „nisi  poeta  (wird  hin- 
zugefugt) revera  de  piseibus  et  feris  opus  condidit,  ut  librarii  inscripserunt." 

Die  Ausgabe  der  Elegien  des  Propertius  schliesst  sich  zun  liehst  an 
Lachmann's  Recension  an,  aber  mit  grosser  Vorsicht,  die  sich  auch  in  der  Auf- 
nahme von  Conjckturen,  die  der  handschriftlichen  Beglaubigung  entbehren,  durch- 
weg erkennen  lässt,  so  dass  wir  auch  hier  der  Forderung  eines  auf  die  ur- 
kundlichen Grundlagen  (insbesondere  des  Codex  Groninganus  und  Neapolitanus) 
zurückgeführten  Textes  Geniige  geleistet  sehen.  Dasselbe  lässt  sich  auch  von 
der  Bearbeitung  der  Fabeln  des  Phädrus  sagen;  sie  ist  mit  einer  Abhandlang 
versehen,  welche  in  einer  gedrängten  Zusammenstellung  die  wesentlichsten  Punkte 
aus  dem  Leben  des  Phädrus  bringt,  und  verbindet  mit  dem  Abdruck  des  Textes 
der  fünf  Bücher  des  Phädrus  in  drei  Appendiccs  auch  die  übrigen  bisher  be- 
kannt gewordenen  Fabelreste;  in  der  ersten  die  32  Fabeln  aus  der  Sammlung 
des  Perollus,  in  den  beiden  andern  die  von  Romulos  u.  A.  in  Prosa  umgesetzten 
und  dann  von  Neueren  wieder  auf  ihre  metrische  Gestalt  zurückgeführten  Fabeln. 

Von  den  Schriftstellern  in  Prosa  sind  bis  jetzt  die  folgenden  erschienen: 

1.  Co melii  Nepolis  Uber  de  excelientibus  dueibus  exlcrarum  gentium  cum  mtis 

Calonis  et  Allici  ex  libro  de  historicis  Lalinis  et  aliis  Excerpüs.  Recognoeil 
Rudolph  ut  Diel  geh.  Hpsiae,  sumptitna  et  typis  B.  G.  Teubneri  MDCCCL. 
106  S.  8.    (2'/,  Sgr.) 

2.  C.Salusti  Crispi  Calilina  elJugurlha.  Revognovil  R.  Dielt ck  EdUis 

secunda  corrcclior.    Hpsiae  etc.  38  und  74  S.  8.    (38/4  Sgr.) 


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3.  Caji  Julii  Caesar  is  Commeniarii  cum  supphmenlis  A.  Hirtii  et  Alur- 
rum.  Recognovit  Franciscus  Oehler.  Lipiiae  etc.  VIII  und  460  S. 
(«Vt  Sgr.) 

1  Titi  Livi  ab  urbe  condtta  liLrt.  Recognovit  Willi.  IV et  sstnborn ,  Lipsiae 
elc.  Pars  1.  Lib.  L— VI  tmd  354  S.  Pars  II.  It6.  VII  -X.  £ftom. 
Lio.  XI-XX.  Lib.  XXI-XXIU.  A'A'  und  372  S.  Pars  UI.  Ii*.  -UTK 
—  A  VA.    Lipsiae  MDCCCXL  XXIV  und  368  S.    (Der  Band  m  9  Sgr.) 

5.  0.  Cur  Iii  Ruft  de  gestis  Alexandri  Magni  Regit  Macedomm  libri  gui  su- 

persunt  octo.  Recognovit  Henricus  Eduardus  Foss.  Lipiiae  etc% 
XXIII  und  211  S.  (10  Sgr.) 

6.  Cot  n  eli  i  Taciti  Opera  qua e  supersutit.    Ex  recognitione  Caroli  Halmii. 

Tomus  prior  Annales  continens.  Lipsiae  MDCCCL.  \W\iu.330  S.  (SSgr.) 

7.  Evlropii  Breviartum  histonae  Romanac  Editionem  primam  curavit  Dell, 

C.  G.  Baumgarten  -  Crusius ,  alteram  Henricus  Rudolf  us  Dietsch, 
Lipsiae  etc.  MDCCCXLDL   VIII  und  96  S.   (21/!  Sgr.) 

8.  M.  Tut  Iii  Ciceronis  Scripta  quae  tnanserunt  ontnia.    Recognovit  Rein- 

koldus  Kl olt.  Partis  I.  Vol.  I.  continens  libros  IV.  ad  C.  Uerennium 
et  libros  II.  de  Invcntione.  Lipsiae  MDCCCLI.  XXXVIII  u.  207  S.  (12  Sgr.) 
Bei  Cornelius  ISepos  hat  der  Heransgeber  die  gebührende  Hucksicht 
auf  Alles  das  genommen,  was  in  der  letzten  Zeit  von  verschiedenen  Seiten  her 
zur  besseren  Textesgestaltung  und  richtigeren  Würdigung  dieser  Reste  beigesteuert 
worden  ist,  insbesondere  aber  anf  Nipperdey*  neueste  Ausgabe;  denn  diesem 
Gelehrten  gebührt  nach  des  Herausgebers  offener  Erklärung  das  Meiste  von  dem, 
was  Neues  sich  in  dieser  Ausgabe  findet.  Indessen  fehlt  es  doch  auch  nicht  an 
Stellen,  wo  der  Verf.  der  eigenen  Ansicht  folgte,  worüber  er  nähere  Auskunft 
an  einem  andern  Orte  zu  geben  verspricht.  Bei  Sallustius  hielt  sich  der 
Herausgeber  meist  an  die  grössere,  von  ihm  bearbeitete,  auch  in  diesen  Blattern 
setner  Zeit  nach  Verdienst  gewürdigte  Ausgabe;  indess  hat  auch  hier  die  sorg- 
sam nachbessernde  Hand  Einzelnes  geändert  oder  berichtigt,  was  diese  Aus- 
gabe (die  sich  auf  einen  blossen  Text  beschränkt),  allerdings  als  eine  „correc- 
tioru  erscheinen  lässt.  Auch  bei  Cäsar  ward  Nipperdcy's  Ausgabe  zu  Grunde 
gelegt;  die  Stellen,  in  welchen  der  Herausgeber  davon  abgewichen,  und  einer 
andern  Ansicht  gefolgt  ist,  sind  in  der  Vorrede  sorgfaltig  angegeben,  wodurch 
die  kritische  Prüfung  wesentlich  erleichtert  wird.  Auch  vereinigt  die  Ausgabe 
Alles,  was  unter  Casars  tarnen  auf  uns  gekommen  ist;  den  Commentaren  über 
den  Gallischen  Krieg  und  über  den  Bürgerkrieg  reihen  sich  die  übrigen  Auf- 
sitze über  den  Alexandrinischeu,  Afrikanischen  und  Spanischen  Krieg  an,  und 
darauf  folgen,  damit  Nichts  zur  Vollständigkeit  des  Ganzen  vermisst  werde,  auch 
die  Fragmente  der  verlorenen  Schriften  Casars. 

Wenn  bei  diesen  Schriftstellern  allerdings  namhafte  Verbesserungen  dei 
Textes  im  Einzelnen,  wie  wir  diess  den  Bemühungen  der  letzten  Decenoien 
i,  stattgefunden,  und  der  Text  in  allen  Einzelnhciten  eine  schärfere 
und  Al> rundung  erhalten  hat,  so  befinden  wir  uns  bei  Livius  in 
einem  andern  Falle.  Hier,  moss  der  .frühere  Standpunkt,  auf  welchem  noch 
der  früher  bei  demselben  Verleger  in  derselben  Sammlung  erschienene,  von 

besorgte  Abdruck  sich  gehalten  hatte,  bei  aller 
von  diesem  Gelehrten  wie  von  Andern  theilweUe 


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geben  und  ein  anderer  Weg  eingeschlagen  werden,  wie  ihn  zuerst  Aischefski 
in  seiner  leider  noch  nicht  vollendeten  grösseren  Ausgabe  auch  wirklich  einge- 
schlagen hat,,  indem  er  die  für  jeden  Theil  des  livianischen  Werkes  zu  Grunde 
zu  legenden  ältesten  Quellen  des  Textes  zu  ermitteln ,  und  hiernach  diesen 
selbst  zu  gestalten  versuchte,  wobei  freilich  noch  Manches  einer  näheren  Prü- 
fung zu  unterstellen  war,  was  bei  diesem  ersten  Versuch  noch  nicht  zur  völli- 
gen Sicherheit  und  Bestimmtheit  gebracht  werden  konnte.  Der  Herausgeber 
hat  sich  auf  diesen  sichern  Grund  bei  seiner  Revision  des  Textes  gestellt  und 
auf  diesem  weiter  schreitend ,  aurh  alles  Das  zu  Käthe  gezogen  und  benutzt, 
was  von  andern  Gelehrten  in  der  neuesten  Zeit  thetls  im  Einzelnen,  theiU  im 
Allgemeinen,  zur  Feststellung  eines  sicheren  kritischen  Verfahrens  und  der  Durch- 
führung fester  Principien  bei  der  Gestallung  des  Textes,  bemerkt  worden  ist, 
um  so  seinem  Texte  den  Charakter  einer  urkundlichen  Treue  und  der  möglich- 
sten Annäherung  an  das  Original  auch  bis  in  alle  einzelnen  Formen  o.  s.  w. 
zu  verschaffen:  ein  Streben,  das  nicht  unbelohot  geblieben  ist  und  seiner  Aus- 
gabe einen  Werth  und  eine  Bedeutung  gibt,  die  den  meisten  bisherigen  Ab- 
drücken des  livianischen  Textes,  zumal  den  auf  Srhulcn  bisher  verbreiteten, 
nicht  zuerkant  werden  kann.  Dass  es  übrigens  an  manchen  Abweichungen  von 
der  Ausgabe  Alschefski's  nicht  fehlt,  wird  man  begreiflich  finden;  die  wesentlich- 
sten derselben  sind  in  der  einem  jeden  der  drei  Bando  vorausgeschickten  Prae- 
fatio  berührt ;  somit  ist  es  dem  Kritiker  möglich  gemacht,  dem  Verfahren  des  Her- 
ausgebers auch  in  seinen  Einzelnheiten  näher  nachzugehen  und  dasselbe  sorg- 
fältig zu  prüfen. 

Die  Ausgabe  des  Curtius,  erleichtert  eben  sowohl  durch  die  frühere 
Ausgabe  Mützell's  wie  durch  die  spatere  von  Zuiupt,  ward  naeh  den  Grund- 
sätzen eingeleitet,  welche  der  Herausgeber  schon  im  Jahre  1845  in  der  an 
Mülzell  gerichteten  Zuschrift  aufgestellt  halle,  und  es  versichert  derselbe  auch 
jetzt,  nach  der  Bekanntmachung  der  Florentiner  Collationcn  bei  Znmpt  in  der 
in  diesem  Briefe  ausgesprochenen  Ansicht  nur  bestärkt  worden  zu  sein.  Wir 
finden  demnach  in  dieser  Ausgabe  eine  Anwendung  der  Grundsätze,  welche  durch 
die  besonderen  Verhältnisse  des  Textes  und  den  Charakter  der  zahlreich  be- 
kannt gewordenen  Handschriften,  bestimmt  werden;  denn,  wenn  wir  auch 
eine  bessere  und  allerdings  zu  bevorzugende  Klasse  derselben  anerkennen  müs- 
sen (wie  dicss  auch  der  Verfasser  gethan  hat,  indem  er  vorzugsweise  deo 
Handschriften,  welche  für  die  besten  gelten  —  Leidcnsis,  Vossianus  1.,  Bernensi«  A., 
Florentius  A.  B.  —  folgte),  so  wird  diese  doch  keineswegs  ein  so  ausschliessliche« 
Vorrecht  hier  ausüben,  welches  die  Benutzung  anderer,  selbst  schlechterer  Hand« 
Schriften  überflüssig  machen  oder  geradezu  abweisen  könnte.    Ohnehin  leiden 
alle  bisher  bekannten  Handschriften  des  Curtius  an  namhaften  Verderbnissen, 
Lücken  n.  s.  w.,  die  insofern  allerdings  auf  eine  gemeinsame  Urquelle  hinwei- 
fen, und  eben  desshalb  in  keinem  Fall  Einer  Handschrift  eine  ausschliessliche 
Bevorzugung  ciaräumen.    Bei  einer  solchen  Beschaffenheit  der  handschriftlichen 
üebeHieferung  wird  aber  auch  die  Sprache  des  Curtius  doppelte  Berücksich- 
tigung erfordern,    lieber  diese  bat  der  Herausgeber  ein,  wie  uns  scheint,  aebr 
richtiges  Unheil  gefällt,  das  wir  hier  desshalb  mitzatheilen  keinen  Anstand  noh- 
n^©ii  •  ^ u r 1 1 k  o r3 1 1 o ^  c|  u l tu {j u 8 m  1 1 m d 1 3 ^     n os \& ^  siiljtili5  8tcju©  ä^J^s^^  jJÄC^r^#  b&I&ixs  ä^^* 


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303 


pari  sermonis  consuetudinem  aequc  remota  illa  a  laeta  ubertate  Ciceronis  atque 
ab  auslera  Taciii  brevitate.  Mullac  igitur  codicum  vel  omnium  vel  optimorum 
lecliones,  quac  apud  Tacitum  ferri  posscni ,  apud  Curtium  rejiciendne  sunt  atque 
emendandac  etc.u  Der  Herausgeber  ist  bei  der  Gestaltung  des  Textes  im  Ein- 
zelnen mit  vieler  Sorgfalt  und  Gewissenhaftigkeit  verfahren;  diese  hat  ihn  auch 
bestimmt,  diejenigen  einzelnen  Worte,  die  in  den  Handschriften  fehlen,  aber  von 
ihm  oder  auch  von  Andern  in  den  Text  zur  nöthigen  Ausfüllung  der  Lücken 
gesetzt  worden  sind,  in  eckige  Klammern  einzuschliessen ;  während  die  Vorrede 
alle  diejenigen  Stellen  bespricht,  in  welchen  der  Heransgeber  eigene  Conjcktu- 
ren  oder  auch  Vermuthungen  Anderer,  die  seinen  Beifall  gefunden,  in  den  Text 
aufgenommen  hat;  über  andere  Acnderungen  oder  Verbesserungen  des  Textes 
gedenkt  der  Herausgeber  in  einem  demnächst  erscheinenden  Scholprogramme 
nähere  Auskunft  zu  ertheilen. 

Die  Ausgabe  der  Annalen  des  Tacitus,  von  einem  durch  zahlreiche 
Beiträge  für  die  Kritik  dieses  Schriftstellers  rühmlichst  bekannten  Gelehrten  ver- 
anstaltet, hält  sich  auf  dem  Grunde  der  Orelli'schcn  und  der  dieser  Ausgabe  selbst 
zu  Grunde  liegenden  medieeischen  Handschriften,  jedoch  nicht  ohne  [einzelne 
Abweichungen,  wozu  eigenes  Urtheil,  zumal  in  den  noch  immer  ziemlich 
zahlreichen,  verdorbenen  oder  verdächtigen  Stellen ,  den  Herausgeber  geführt 
hatte.  In  dem  Vorwort  finden  sich  diese  Abweichungen  aufgeführt,  andere  von 
Verfasser  hier  und  dort,  oder  auch  von  Andern  gemachte  Verbesserungsvorschläge 
sind  ebenfalls  in  diese  Zusammenstellung  aufgenommen.  Das  eigene  Verfahren 
des  Herausgebers  bezeichnen  hinreichend  die  auch  hier  zu  wiederholenden  Worte 
der  Praefatio:  „Ceterum  malui  in  locis  miscre  corruptis  emendationem  utconque 
dubiam  amplecti  quam  nimia  obclorum  multitudine  legentium  enrsum  rclardare, 
cum  in  editione  apparatu  critico  carentc  magis  crimen  ignaviao  quam  temeritatis 
extimescendum  viderelur." 

Bei  Eutropius,  dessen  Ausgabe  eigentlich  die  Erneuerung  der  im  Jahre 
1824  von  Baumgarten-Crusius  besorgten  Ausgabe  bildet,  finden  wir  eine  durch- 
gängige Revision  des  Textes,  von  der  kundigen  Hand  des  neuen  Heraus- 
gebers veranstaltet,  welcher  in  den  auf  den  Text  folgenden  Anmerkungen  sein 
Verfahren  im  Einzelnen  hinreichend  gerechtfertigt  und  in  der  von  ihm  einge- 
führten Interpunktion  gewiss  eine  richtige  und  verständige  Mitte  eingehalten  hat 
Die  Herausgabe  der  Werke  Cicero 's,  von  der  nns  hier  das  erste 
Bindchen  vorliegt,  ist  in  die  Hände  eines  Mannes  gelegt,  der,  wie  Wenige  an- 
ter den  jetzt  Lebenden,  durch  seine  gründlichen  Leistungen  in  der  Kritik  und 
Erklärung  dieses  Autors  gewissermassen  ein  Vorrecht  dazu  ansprechen,  jedenfalls 
vor  Anderen  dazu  berufen  erscheinen  konnte.    In  den  rhetorischen  Schriften, 
welche  dieser  erste  Band  enthält,  musste  der  Herausgeber  sich  natürlich  auf  die 
neueste  Reccnsion  derselben  in  der  (zweiten)  Züricher  Ausgabe  stützen;  indes- 
sen würde  man  sich  doch  sehr  irren,  wenn  man  einen  blossen  Wiederabdruck 
des  Züricher  Textes  hier  erwartete ;  im  Gcgcntheil ,  wir  finden  hier  eine  voll- 
ständige Revision  desselben  eingeleitet,  welche  zu  manchen  und  selbst  zahlrei- 
chen Abweichungen  geführt  hat,  die,  soweit  diess  bei  dem  beschränkten  Raum 
möglich  war,  in  den  Proocmium  Ediloris  angegeben  sind.  Auf  dieses  Proömiura 
folgt  als  eine  sehr  zweckmässige  Zugabe:  Memorabili«  Vitae  Ciceronis  per  an- 
om  digesta.  Ch.  »Ahr. 


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304  Kurze  Anzeigen. 

Erklärung  des  Briefes  an  die  Hebräer.  Nach  dem  handschriftlichen  Nachlasse  des 
L.  Stengel,  ehemaligen  Professors  der  Theologie,  von  Dr.  Joseph  Beck. 
Karlsruhe,  Druck  und  Verlag  der  G.  Braun'schen  Buchhandlung.  1849. 
VIU  und  238  S.  gr.  8. 

Bei  der  Bearbeitung  der  vorliegenden  Schrift  befolgte  der  Herausgeber 
dieselben  Grundsätze,  welche  für  die  Ausgabe  des  Römerbriefes  (Commentar 
über  den  Brief  des  Apostel  Paulus  an  die  Römer.  Aus  dem  handschriftlichen 
Nachlasse  des  L.  S  t  e  n  g  e  1  etc.  Freiburg  1836)  ihm  massgebend  waren.  Ersuchte 
die  zerrissene  Form  eines  Collegienhcftes  in  die  Gestalt  eines  Buches  zusammen  zu 
bringen,  und  zwar  in  einer  Weise,  wie  er  glaubte,  dass  sie  dem  Sinn  und  Geist 
des  Verewigten  am  meisten  entsprechend  wäre.  Er  schied  darum  manches  Un~ 
nöthige  und  Ueberflüssige  aus,  entwickelte  Anderes  zu  kurz  Behandelte,  nirgends 
aber  wurde  etwas  Wesentliches  geändert  oder  entfernt,  und  zwar  in  Bezug 
auf  Inhalt  uud  Darstellung.  Dabei  nahm  er  jedoch  Rücksicht  auf  die  neuesten 
Erklärungen. 

Stengel,  welcher  an  der  Universität  Freiburg  im  Breisgau  über  das 
Alte  und  Neue  Testament  und  hebräische  Grammatik  las,  hielt  das  wissenschaft- 
liche Studium  der  Bibel  für  die  Basis  der  Theologie  und  war  der  festen  Ueber- 
zeugung,  dass  vorzüglich  von  diesem  Wege  eine  Wiederherstellung  des  religiö- 
sen und  kirchlichen  Lebens  ausgehen  müsse  und  werde.  Da  jedoch  die  Sten- 
gel'sche  Schrift  vor  jetzt  bereits  zwanzig  Jahren  entworfen  worden  und  Man- 
ches antiquirt  war,  so  musstc  der  Herausgeber  freier  und  unabhängiger  arbeiten, 
als  bei  dem  Römerhricfc. 

Der  Auslegung  des  Briefes  selbst  geht  eine  Einleitung  (S.  2—52)  voran. 
Diese  handelt  gründlich  und  ausführlich  über  die  ursprüngliche  Sprache,  den 
Inhalt  und  Zweck  des  Briefes,  sowie  über  dir  Lage  der  Judenchristen  in  und 
ausser  Palastina,  über  den  Kreis  der  Leser,  über  Ort  und  Zeit  der  Abfassung 
und  den  Verfasser  des  Briefes  und  der  Schluss  der  Einleitung  gibt  eine  Ge- 
schichte der  Bcarbeiluog  des  Briefes.  Darauf  folgt  (S.  52—237)  die  Erklärung 
des  Briefes  selbst. 

Der  Raum  gestattet  uns  nicht  auf  Einzelnes  einzugehen.  Wir  begnügen 
uns  daher  im  Allgemeinen  anzugeben,  dass,  wahrend  ein  Tbcil  der  neuern  Exe- 
geten  mehr  nach  philologischer  Gründlichkeit  in  Erforschung  der  Form  strebt, 
und  ein  anderer  nach  tieferer  Auflassung  des  Inhaltes,  Stengel,  bei  seiner  vor-* 
zugsweise  speculativen  Richtung,  mehr  zu  der  letzten  Classc  gehört. 

Sollen  wir  nun  angeben,  was  das  Wesentliche  dieses  Commenlars  ist, 
so  besteht  es  darin,  dass  derselbe  unabhängig  ist  von  jeder  kirchlichen  und  con- 
fessionellen  Färbung,  dass  die  Erklärung  lediglich  das  Interesse  der  Wissenschaft 
oder,  was  hier  gleich  viel  ist,  der  Wahrheit  verfolgend,  den  Sinn  der  heiligen 
Schrift  aus  ihr  selbst  zu  cruiren  sucht.  Nur  auf  diese  Weise  wird,  nach  der 
Ueberzeugung  des  Verfassers,  ein  parteiloses  Verständniss  der  Quellen  des  Chri- 
stenthums erreicht. 

Möge  die  vorliegende  Arbeit,  welche  eine  Frucht  jahrelanger  Studien  ist, 
bei  den  Freunden  der  theologischen  Wissenschaft  die  güustige  Aufnahrae  finden, 
welche  ihr  mit  Recht  gebührt. 

( Schluss  folal.) 


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fc  20.  HEIDELBERGER  1J51. 

JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR. 


I 
k 


Kurze  Anzeigen. 


(Schluss. ) 

/.  Der  ÄecA^tmfemcÄf  in  oVr  VoJAs-  nnd  fcftera  ßüromcMe.  Eine  JficWos 
fortschreitende  Reihe  ton  Fragen  und  Aufgaben.  Von  Karl  Gruber.  Elfte 
Auflage.  Karlsruhe,  G.  BrauWsche  llofbuchhandlung.  1850.  IV  und 
102  S.  gr.  8.    {Preis  30  kr.) 

U.  Ausführliche  Anleitung  sunt  Gebrauche  des  „Rechenuntenichts  in  der  Volks- 
und  hohem  Bürgerschule",  nebst  der  Beantwortung  der  in  diesem  Buche 
enthaltenen  Fragen  und  Aufgaben.  Für  den  Lehrer  bearbeitet  ton  Karl 
G ruber.  Dritte,  bedeutend  vermehrte  Auflage.  Karlsruhe,  Druck  und 
Veilag  der  G.  Braun'schen  HofbuchJutndlung.  1851.  XVUl  u.  289  S.  gr.  8. 
(Preis  1  fl.  45  Ar.) 

Beide  Schriften  wurden  bereits  im  vorigen  Jahre  in  diesen  Jahrbüchern 
besprochen  (1850.  S.  302  bis  304).  Indem  wir  das  damals  ausgesprochene  gün- 
stige Urlheil  wiederholen ,  freuen  wir  uns,  dass  seitdem  auch  der  Katholische 
Oberkirchenratb  diese  Schriften  zur  Einführung  in  den  Volksschulen  und  der 
Grossherzoglichc  Oberstudienrath  zur  Einführung  in  den  höhern  Lehranstalten 
empfohlen,  und  dass  zugleich  das  schnelle  Erscheinen  der  neuen  Auflagen  be- 
wiesen bat,  dass  unsere  Schulmänner  tüchtige,  den  Unterricht  wahrhaft  for- 
dernde Lehrbücher  zu  würdigen  wissen. 

Die  Schrift  Nr.  I.  hat  durch  eine  V.  Stufe,  welche  sich  den  vier  vorher* 
gehenden  ergänzend  anschlicsst,  eine  nicht  unbedeutende  Erweiterung  gewonnen. 
Wir  finden  in  dieser  V.  Stufe:  Praktische  Aufgaben  in  zebntheiligen  Brüchen, 
Yergleichung  der  badiseben  Masse,  Gewichte  und  Münzen  mit  den  französischen, 
Aufgaben  über  Masse  und  Gewichte,  über  das  verhaltnissmässige  Gewicht  der 
Körper,  über  das  Miinzwesen  nnd  Wechselrechnungen.  Der  Verf.,  Direktor  der 
höheren  Bürgerschule  in  Euenheim,  versteht  es,  den  Schüler  auf  leichte,  einfache 
Weise  in  die  Sache  einzuführen  und  ihn  zum  sclbststfndigen  Rechner  zu  bilden. 
Wir  finden  hier,  wie  in  allen  Schriften  des  Verf.,  Klarheit,  Gründlichkeit  nnd 
Meisterschaft  in  der  methodischen  Behandlung;  daneben  aber  auch  die  sorgfäl- 
tigste Beachtung  der  gegenwärtige  Verhältnisse,  nirgends  Veraltetes  oder  Un- 
brauchbares, was  namentlich  in  den  Münz-  und  VYechselrechnungen  wohlthuend 
anspricht.  So  bezichen  sich  z.  B.  viele  VYechselrechnungen  auf  den  Frankfurter 
Karszettel  vom  6.  Mai  1850. 

Mit  der  Erweiterung  der  Schrift  Nr.  I.  hat  auch  des  Werk  Nr.  II.  an 
Aasdehnung  genommen,  nnd  selbst  in  den  4  ersten  Stufen  manche  Zusätze  er- 
halten, wie  z.  B.  S-  15  e,  §.  23  b  und  c  u.  a.  w. ;  ausserdem  wurden  die  De- 
cüaalbrücbe  mit  grösserer  Ausführlichkeit  behandelt  und  die  nothwendig  aufzu- 
stellenden Regeln  durch  Römische  Zahlzeichen  besonders  hervorgehoben.  Die 
XUV,  Jahr*  Z.  Doppelheft.  29 


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3Q$r  j  Kurze  Anzeigen,  .72  . 

Aufstellung  von  Regeln  hall  der  Verfasser  sowohl  in  untcrrichtlichcr  als  in  er- 
ziehlicher Beziehung  Tür  nolh wendig,  was  er  schon  io  den  früheren  Auflagen 
ausgesprochen  hat.  Er  gibt  in  der  Vorrede  zur  neuen  Auflage  eine  ausfuhrliche 
Begründung  hiefür,  auf  welche  wir  strebsame  Schulmänner  hiermit  aufmerksam 
zu  machen  uns  erlauben.  In  Bezug  auf  die  Schulen,  in  welchen  man  besondern 
Werth  darauf  legt,  die  Schüler  fortwährend  in  ihren  Auflösungen  auseinander  zu 
halten,  und  in  denen  man  es  verschmäht,  bis  zur  Kegel  aufzusteigen,  sagt  der 
Verf.  S.  XI:  „Die  Lehrer,  welche  das  Rechnen  nach  Regeln  für  verwerflichen 
Mechanismus  halten,  sollten  doch  bedenken,  dass  sie  auf  diese  Weise  das  Sa- 
chen selbständiger,  abgetrennter  Wege,  das  in  unserer  Zeit  ohnehin  zur  Krank- 
heit geworden  ist,  steigern  und  nähren,  und  eines  der  wichtigsten  Bildungsele- 
mente  unbenutzt  liegen  lassen.  Denn  der  Unterricht  ist  vorzüglich  dann  bildend, 
wann  er  befähigt,  sich  von  dem  Einzelnen  zu  allgemeinen  Gesetzen  und  Wahr- 
heiten zu  erheben,  und  das  Schulleben  hat  nur  Werth ,  wenn  sich  der  Schüler 
als  Glied  einer  Gemeinschaft  fühlt  und  sich  allen  in  dieser  Gemeinschaft  gelten- 
den Gesetzen  zu  unterwerfen  gewöhnt  wird.  Die  Hauptbedeutung  der  Schule 
beruht  darin,  dass  in  ihr  ein  Leben  in  der  Gemeinschaft  müglich  ist.  Wenn  die 
Schule  dieses  Leben  nicht  fördert  und  pflegt,  so  gibt  sie  sich  in  ihrer  Wesen  - 
haftigkeit  und  Notwendigkeit  auf.  So  verwerflich  es  daher  ist,  wenn  der 
Schüler  nicht  an  ein  umsichtiges  und  selbständiges  Arbeiten  gewöhnt,  wenn  er 
Alles  in  der  Form  lernen  rauss,  in  der  es  ihm  von  dem  Lehrer  übergeben  wird ; 
so  wenig  kann  es  •  gutgehe jssen  werden,  wenn  sich  die  Schule  nicht  eines  jeden 
Unterrichtes  als  eines  Erziehungsmittels  bedient,  um  den  Zögling  zum  sittlichen 
und  verständigen  Handeln  in  seiner  k  aal  Ii  gen  Lebensstellung  geneigt  und  be- 
fähigt su  wichen."  . 

Da  diese  Schriften  sowohl  für  die  Volksschule  als  auch  für  die  hübern 
Lehranstalten  bestimmt  sind,  so  ist  mit  steter  Berücksichtigung  der  Schüler  und 
den  von  diesen  zu  lösenden  Aufgaben  genau  das  Gebiet  abgesteckt  und  allseitig 
begräncit  *uf  welchem  sich  eines  Theiles  der  Lehrer  der  Volksschule,  andern 
T heiles  der  Lehrer  der  höhern  Bürger-  und  Gelehrtenschulen  mit  seinem  Un- 
terrichte bewegen  soll.  Eben  so  ist  über  Lehrgang  und  Lehrform  im  Buche 
selbst  das  Kötbige  gesagt  worden.  Der  Verf.  verlangt,  dass  in  der  Volksschule 
und  in  den  Elementarklasseo  der  höheren  Lehranstalten  sich  fast  alle  Irl  heile 
und  Schlüsse  unmittelbar  an  die  Anschauung  ansch  Ii  essen.  Der  Elementar-  und 
Volksschüler  braucht  daher  nicht,  nach  der  gewiss  richtigen  Ansicht  des  Verfa», 
wie  der  Zögling  der  höheren  Lehranstalten,  die  Salze  und  Regeln  in  ihrer  Alt- 
gemeinheit auszusprechen,  es  genügt  bei  ihm ,  wenn  dieselben  in  ihrer  Fassung 
nur  für  den  vorliegenden  Fall  Geltung  haben;  auch  hat  der  Elementar*  und 
Yolksschüler  die  Richtigkeit  der  ausgesprochenen  Regeln  nur  an  einzelnen  Bei- 
spielen anschaulich  zu  machen,  während  dem  Zöglinge  der  hohem  Bürger-  nad 
Gelehrtenschule,  die  allgemeinen  Beweise  hiefür  nicht  su  erlassen  sind.  Bs  wird 
diese  Ansicht  durch  Beispiele  ausführlich  deutlich  gemacht, 
n  .  'f  Wir  scbliessen  diese  Anzeige  mit  der  Ueberzeugung,  dass  der  Verf.  durch 
diese  Schriften  einen  wichtigen  Beitrag  geliefert  bat,  wie  der  Unterriehl  ein 
Mittel  zur  Erziehung  sein  könne  und  solle,  und  wünschen,  dass  die  Methode 
und  die  pädagogischen  Grundsätze  desselben  sich  in  immer  weiteren  Kreisen  Aar« 
erhenaiinf  fwebatfen. 

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Kurze  Anzeigen. 


307 


LmcJUe  über  die  MiUheilungen  von  Freunden  der  Natoneisscnschaf ten  in  Wien; 
gesammelt  und  herausgegeben  ton  Wilhelm  Haidinger,  V.  Bd.  8.281. 
1849.  —  VI.  Bd.  8.  183.  1850;  bei  Wilhelm  Braumüller,  k.k.  Hofbuch- 
händler. 

m  t 

Die  vorhergehenden  Bände  und  der  Zweck  des  ganzen  Unternehmens 
worden  bereits  in  einem  früheren  Jahrgang  dieser  Blatter  ausführlich  besprochen. 
Beide  Bande  sind  reich  an  interessanten  Mittheilungen,  von  welchen  wir  nur 
Einiges  hervorheben  wollen.  f 

Vogel,  über  die  Adelsberger  Grotte,    In  neuerer  Zeit  darf  die 
berühmte  Höhle  nur  in  Begleitung  geschworener  Führer  betreten  werden,  weil 
die  KrystallscbäUe  derselben  durch  Fremde  und  Einbeimische  allzusehr  ausge- 
beutet wurden.    Die  Adelsberger  Grotte  nimmt,  wie  bekannt,  unter  den  deut- 
sehen Höhlen  eine  der  ersten  Stellen  ein;  ihre  bis  jetzt  gangbar  gemachten, 
vielfach  verzweigten  Gänge  messen  gegen  3000  Klafter  Länge;  „den  interes- 
santesten Anblick  gewahrt  dieselbe,  wenn  sie  durch  Tausend  und  Tausend  Lich- 
ter erhellt,  wie  von  zahllosen,  in  den  verschiedensten  Farben  glänzenden  Edel- 
steinen ausgekleidet  erscheint.   Das  magische  Schauspiel  einer  solchen  Beleuch- 
tung wird  alljährlich  am  Pfingstmontage  veranstaltet  und  hierboi  in  einer  der 
Felsenhallen,  im  sogenannten  Turnier-  oder  Tanzsaale  ein  Ball  abgehalten.  Ab 
jenem  Tage  besuchen  vier  bis  fünftausend  Menschen  die  Höhle,  von  denen  Viele 
aas  fernen  Landern  hinreisen."    Beachtung  verdienen  die  bohlen  Stalactiten,  die 
wahrscheinlich  in  Folge  von  Unebenheiten  der  Gewölbe-Decke  entstanden  sind. 
Kotiz  über  die  Grafl.  Münstcrsche  Petrefacten-Sammlung.  Die- 
selbe wurde  von  der  Universität  München  summt  der  auf  3000  fl.  rbein.  ge- 
schätzten Bibliothek  des  zu  Bairculh  verstorbenen  Grafen  Munster  um  3500  fl. 
rheinisch  erkauft.    Die  Sammlung,  vorzüglich  reich  an  Petrefacten  der  filteren 
geognostischen  Formationen,  wird  auf  60,000  Exemplaren  geschätzt.  —  Mei- 
ling, über  die  Gegend  von  Kaibol.    Porphyre  von  ausgezeichneter 
Schönheit,  von  Conglomcraten  begleitet,  treten  im  Kaltwasser-Tbale  bei  Raibel 
auf.   Kach  den  Beobachtungen  Meilings  sind  sie  jünger ,  als  das  dortige  Ju- 
ra-Gebirge, denn  der  Kalkstein  des  letzteren  erscheint  in  der  Nähe  des  Poryhyra 
doloroitisch,  blascnreicb,  gewisse  Schiefer-Schichten  haben  starke  Biegungen  er- 
litten. —  Morlot,  über  eoconc  Fossilien  in  Untersteinmark.  *— 
Haidinger,  Theorio  der  Bildung  der  PolnrisationsbüscheL  — 
Freyer,  über  Proteen  aus  Krain.  —  In  technischer  Beziehung  interes- 
sant ist  die  Miltbeilung  Hauer  s  über  dio  Schieferbrüche  in  Nordwales;  dort 
werden  im  Thüle  von  Llanberris  täglich  360  Tonnen  dieses  Materials,  und  jähr- 
lich 80,000  L.  St.  gewonnen.    Auf  einer  Eisenbahn,  die  mit  Locomotiven  be- 
fahren wird,  bringt  man  die  Schiefer  an  die  Meeresküste  nnd  von  der!  worden 
sie  nach  allen  Theilen  von  Grosabritanien,  nach  allen  Häfen  des  baltischen  Mee- 
res, bis  nach  Nordamerika  verführt.  -r-  Haidt  n  gor,  Braun  -  Ebenstem,  pfeendo- 
Jnorph  nach  Gyps.  —  Heer,  über  dio  Fauna  von  Radoboj.  —  Fridau, 
aber  den  Ankerit.  —  Freyer,  eher  die  Schwefe Igrnben  von  Ra- 
doboj.  Die  Entdeckung  derselben  fallt  in  die  neuere  Zeit;  sie  wurde  durch 
Hirten  herbeigeführt,  welche  ein  Feuer  anmachten  und  bei  dieser  Gelegenheit 
cht  aasbeisseadei  Schwofelflötz  entzündeten/  Frey  er  im  geneigt,  dein  Schwefel 

80* 


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von  Radoboj  eioon  vulkanischen  Ursprung  zuzuschreiben;  ei^ent  humliche,  im 
Franzensslollen  aufgeschlossene  Schichten  -  Störungen ,  durch  welche  eine  S  för- 
mige Biegung  der  Schichten  hervorgcl» rächt  wurde,  so  dass  das  Dachgestein 
unter  dem  Mittclgeslein  und  dieses  unter  dem  unteren  Plötz  erscheint,  bezeich- 
nen seiner  Meinung  nach  die  Kratcröflnung  des  ehemaligen  Schlarara-Vulkanes. 
—  Simony,  Über  den  Dachstein-Gletscher.  Auffallend  ist  die  Ver- 
minderung der  Gesammt- Masse  des  Dachstein-Gletschers,  von  welcher  der  be- 
kannte Alpenwanderer  berichtet;  sie  erklärt  sich  wahrscheinlich  aus  der  gerin- 
gen Schneemenge  des  Winters  1847 — 48  und  dem  darauf  folgenden  heissen 
Sommer.  —  Morlot,  Aber  die  Geologie  von  (Jntersteyer.  Krystallini- 
aches  Schiefer-  nnd  Massengebirge  setzt  das  für  sich  bestehende  Bacher-Gebirge 
zusammen;  in  der  östlichen  Halflc  herrscht  Glimmerschiefer,  in  der  westlichen 
Granit;  Gneiss  erscheint  nur  untergeordnet.  Der  Glimmerschiefer  enthalt  ver- 
einzelte 1  ager  von  körnigem  Kalk ,  auch  kommt  schöner  Eklogit  und  Serpentin 
vor.  Thonschiefer  findet  sich  am  Westabhang  des  Bachers  und  bei  Windtsch- 
gratz.  Der  bunte  Sandslein  tritt  am  nordwestlichen  Fuss  des  Bachers  auf.  Von 
jüngeren  Gebilden  ist  die  eocene  und  miocene  Formation  entwickelt.  —  Key- 
serling, Aber  Nummuliten.  —  Favre,  Ursprung  d e s Dol om ites. — 
ltforlot,  Ober  Dolomit.  —  Haidinger,  Uber  Datolith;  eine  höchst  in- 
teressante Mittheilnng  über  ein  neues  Vorkommen  des  Minerals.  Es  ist  die 
schönste,  bis  jetzt  bekannle  Varietät  dieser  Spccies,  vollkommen  klar  und  durch- 
sichtig; sie  kommt  auf  Gangtrümmern  in  Serpentin  vor,  in  Gesellschaft  von 
Analcim,  Prehnit,  Chabasie,  Kalkspath  und  Caporcianit.  Bei  dem  Umstände, 
dass  die  Mincralspecios ,  welche  Borsäure  in  etwas  grösserem  Menge- Verhältnisse 
enthalten  —  so  bemerkt  ilaidingcr  —  eigentlich  nur  von  wenigen  Fundorten 
bekannt  sind,  zeigte  sich  bei  Vergleichung  der  geographischen  Lage  der  euro- 
päischen, dass  sie  fast  alle  in  einer  von  der  Meridian -Richtung  nicht  sehr  ab- 
weichenden Zone  liegen,  die  nahe  zehnmal  so  lang  als  breit  ist,  nimlich  die 
Borsäure  selbst  in  Volcano  und  Sasso,  ferner  der  Datolith  in  Monte  Catini, 
Togginna,  Theiss  bei  Claussen,  Geiss  bei  Sonthofen,  Niederkirchen  bei  Wolf- 
stein, Andreasberg,  hierauf  der  Borazit  zu  Stassfurt,  Lüneburg,  Segeberg,  end- 
lich wieder  der  Datolith  und  Botryolilh  in  Arendal.  Nur  der  Datolith  von  Utön 
lind  von  Salisbury  Craigs  bei  Edinburgh  bezeichnen  Elemente  einer  Querlinie. 
Endlich  ist  noch  bemerkenswert!!,  dass  die  ältesten  Localitäten  dem  geologischen 
Alter  nach  die  nordöstlichsten  sind,  Arendal  und  Utön  aof  Magneteiscn- Lager- 
stätten im  Gneiss.  Unterbrochen  durch  die  Borazit -Localitäten  im  Steinsalzge- 
birge folgen  sich  dann  die  Diorit- Localitäten  des  Datolith«  (Edinburgh  einge- 
schlossen) Andreasberg,  IViederkirchen ,  Sonthofen,  Theiss.  Darauf  folgt  der 
Datolith  in  dem,  den  Tertiärgebilden  angehörigen  Serpentin  von  Toggiana,  Monte 
Catini.  Endlich  die  der  gegenwärtigen  geologischen  Periode  ab  abnorme  Ge- 
bilde angehörigen  Gasquellen  der  Soffioni  von  Sasso,  die  gegenwärtig  fast 
aämmtlicbe  im  Handel  vorkommende  Borsäure  liefern  und  die  Borsäure  de« 
Kraters  von  Volcano. —  Gassner,  bo  tonische  Notizen  über  dcnHoch- 
wari  im  Judenburger  Kreise  in  Steyermark.  —  Pleas,  Bemer- 
kungen über  Krystallisation.  —  Fridau,  über  den  Trachy  t  der 
Gegend  von  Gleichenberg  in  Steyerma rk.  Fridau's  Bemerkungen  lie- 
fen einen  ergänzenden  Beitrag  zu  den  früheren  Schilderungen  von  L.  r.  Bach, 


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.  !  Kurie  Anzeigen; 


ra  den  neueren  von  Partoch  nnd  Ünger.  —  Simony,  Temperatur  der 
Quellen  im  Salakammergute.  —  Kaiser,  Geologie  der  Umgegend 
reo  Triest.  •  »• 

Nicht  minder  reichhaltig  ist  der  sechste  Band  der  Berichte;  nnter  den 
besonders  interessanten  Bemerkungen  and  Aufsätzen  sind  zu  nennen:  Zeuach- 
aer,  über  den  Nerineen-Kal  k  yon  Inwald  und  Roczny;  der  pol- 
nische Geolog  beweist,  gestützt  auf  seine  paläentologischen  Forschungen,  das* 
der  genannte  Kalkstein  als  ein  Aequivalent  des  von  Thurmanu  als  Calcaire  i 
Nerinees  im  schweizerischen  Jura  bezeichneten  Gesteins  anzusehen  sei.  —  Un- 
ger,  Verzeichniss  fossiler  Pflanzen  der  österreichischen  Ter- 
tiirbecken.  -  Heei,  fossile  Insecten  vonRadoboj;  eine  Haupt- 
rolle unter  denselben  spielen  die  Ameisen,  die  in  Radoboj  ungemein  häufif 
gewesen  sein  müssen.  Heer  hat  bis  jetzt  64  Arten  beschrieben.  —  Hauer, 
über  die  Gegend  tob  Neustadt  und  Neunkirchen.  Die  Untersuchun- 
gen dieses  thffttgen  Geologen  galten  hauptsächlich  der  Frage,  ob  hier  Nummu- 
Ihen  zugleich  mit  Kreide-Petrefacten  der  Gösau -Formalion  vorkommen.  Hauer 
bemerkt,  dass  wirkliche  Nummuliten  gänzlich  fehlen,  dass  alle  früheren  Anga- 
ben über  ihr  Vorkommen  auf  Verwechselung  mit  den  ähnlich  gestalteten  Orbi- 
uliten  beruhen.  Die  Gesteine,  in  welchen  letztere  sich  finden,  bilden  dio 
oberste  Etage  der  Gösau  -  Schichten ,  sie  lassen  sich  am  besten  dem  Kreidetuff 
von  Mastricht,  also  der  obersten  Abtheilung  der  Kreide-Formation  gleichstellen. 

-  Werdmüller  von  Elgg,  über  Luftspiegelung;  Steiner,  meteo- 
rologische Beobachtungen  in  Gratz;  Tanzmann,  über  Gobirgs- 
arten  von  Jdachimst  hal.  Den  neuesten  Nachrichten  zufolge  verspricht  der 
Bergbau  für  die  Zukunft  ein  sehr  günstiger  zu  werden.  -  Ueber  DiHnit 
und  Agalmatolith  von  Hutzelmann.  Der  Dillnitt  findet  sich  zu  Schemnit* 
in  unregelmässigen  Trümmern  auf  der  Grenze  von  Diorit  und  Kalkstein  auf  einer 
Grube.  Ein  früher  als  Pimelith  bezeichnetes,  den  Diaspor  begleitendes  Mineral 
stimmt  in  chemischen  und  anderen  Eigenschaften  mit  dem  Agalmatolith  überein. 

-  Köggerath,  über  Achat-Mandeln  in  den  Melaphyren.  (Wir  haben 
bei  einer  früheren  Gelegenheit  in  diesen  Blauem  der  Untersuchungen  Nogge- 
raüTs  gedacht.)  -  Morlot,  über  die  Niveau-Verhältnisse  der  Mio- 
con-Formation  in  den  östlichen  Alpe  n.  —  Haidinger,  überPseu- 
domorp  hosen  von  Monzoni.  Grosse  Krystalle  von  sogenanntem  Pyrgont 
oder  Fassait  zusammengesetzt  aus  ganz  kleinen,  im  frischen  Zustand  aus  dem 
genannten  Mineral  und  aus  weissem  Speckstein,  im  frischen  aus  Ophit  und  licht- 
braune  ni  Speckstein  bestehend,  denen  noch  die  Form  des  Fassaita  eigen.  „Ich 
habe  Gelegenheit  gehabt  —  so  bemerkt  Haidinger  —  mehrere  dieser  Pseudo- 
morphoseu  näher  zu  betrachten,  und  kann  die  sonderbare  Structar  der  grossen 
frystalle  nicht  deutlicher  beschreiben,  als  durch  die  Voratellung:  man  hatte  aua 
den  erwähnten  Kry  stallen  einen  festen,  trockenen  Teig  gebildet ,  aus  diesem  ein 
Blatt  gewalzt  und  zusammengerollt  und  daraus  dann  die  grossen  Krystalle  mit 
einem  schneidenden  Instrumente  geschnitten."  Unstreitig  gehört  dieses  Vorkom- 
men zu  dem  Merkwürdigsten  in  dem  Bereiche  der  Pseudomorphoaen.  —  Altb, 
geologisch.  Beachreibnng  der  Umgegend  von  Lemberg.  —  Sy- 
stematisches Verzetchnise  der  Land-  nnd  Fl uss-Conchy Ii en  im 
Eriaerzogihum  Oesterreich,  vonParreyaa.  —  Zepharovich,  über 


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eine  Pieudomorphose  von  Weissblelerz  nach  Bleiglanz,  von  Be- 
resowsk  in  Sibirien.  —  Koriatka,  über  den  Einflnss  der  Hohe  und 
der  geometrischen  Beschaffenheit  des  Bodens  anf  den  Erdmag- 
netismus. —  Morlot,  Andeutungen  über  die  geologischen  Ver- 
h|ltni«*e  des  südlichsten  Theile«  von  Unlersteycr. .  —  Peltko, 
über  den  erloschenen  V  ulkaa  Zapolenka  bei  Schern  nitz.  Auf  der 
mittleren  Höhe  des  Berges  Kojatin  beobachtete  Petlko  einen  deutlichen,  wohl 
erhaltenen  Krater,  dessen  Breite  etwa  40  bis  50  Klafter  betrögt.  Auch  finden 
sich  zwei  Eruption*- Kegel.  Der  Zapolenka  besteht  aus  einem  eigenthömlicnen 
Porphyr,  der  Krystalle  von  glasigem  Feldspath  und  Blütlchen  schwarzen  Glim- 
mer*, so  wie  Hornblende  umschließt.  Auf  den  Abhängen  des  Vulkans  finden 
sich  Bimsstein-Blöcke. 

j  *..•.'.. 
Tiatuncissentchaftliche  Abhandlungen,  gesammelt  und  her  ausgebe»  eoit 

Wilhelm  Haidinger,    Drittel-  Band.  In  zwei  Abheilungen.  Mit  XXXI II 

Tafeln.    Wien,  18ö0.    Bei  Wilhelm  Bianmulkr,  Buchhändler  des  K  K 

Ho/es  und  der  kaiserlichen  Academie  der  Wissen  schaffen,   gr.  4.   &  XXL 

L  169.  II,  284.    (Preis  20  (L.  CL  JhV)    ,  , 

Auch  von  dem  ersten  und  »weiten  Bande  der  «nalorwiasenichaMiche« 
Abhandlungen"  war  bereit«  in  früheren  Jakrgßngen  dieser  Blätter  die  Red«. 
Wir  wollen  diesmal  eine  Uebersicht  des  Inhaltes  geben ,  und  nur  bei  selchen 
Aufsätzen  verthoilen,  aus  denen  sich  einzelne  Daten  hervorheben  lassen. 

J.  Abthcilnng.  ft,  Fr.  v.  Hauer,  über  neue  Cephalopoden  nna 
den  Marmor-SchichCen  von  Uallstadt  undAossce.  Mit  VI  lithogra- 
phirten  Tafeln.  -  2.  Lipoid,  g  eegn ostischc  Beschreibung  der  Pri- 
vatherrschaft Nadwurn  a  iu  Galizieh;  mit  einer  geognostischen  Karte. 

—  3.  Reusa,  die  fossilen  E ntomostrn reen  des  österreichischen 
TertUrbeckens.  Ein  Beitrag  zur  Kenntnis«  der  fossilen  Faüna  desselben. 
Mit  vier  lithographirten  Tnreln.  Die  Verdienste  von  Keoss  im  die  geologischen 
Verhilloifsc  verschiedener  Theile  dia  österreichischen  Kaiserstaates  sind  bekannt. 
Vorliegender  Aufsatz  liefert  einen  neue«  Beweis  von  der  Thaligkcit  de*  Ver- 
fassers, der  früher  Brunnonarzt  zu  Bilin,  jetzt  Professor  der  Mineralogie  in  Prag. 

—  4  lieber  die  Aehat-M  andcla  in  den  Äletaphyreu;  von  J.  Süg- 
gerath. Wir  hatten  in  dem  vorigen  Jahrgang;  dieser  Ktütter  Gelegenheit  von 
einem  besonderen ,  durch  den  Verfasser  uns  zogekötnmcnen  Abdruck  des  Auf- 
satzes Bericht  zu  erstatten.  —  5.  Metallurgische  Betrachtungen  über 
den  Sphärosiderit  der  Karpathen,  von  Ludwig  lloheneggcr.  — 
(>.  Blatter- Alidrucke  aus  dem  Sc h w c f cl  -  Fl ö tze  von  Swosso- 
avice  in  Gallizien,  beschrieben  von  F.  Hufe r.  Mit  awei  lithographirten 
Tafeln.  Die  genannten  Blätter-Abdrucke  finden  sich  in  einem  lichtgrauen  Mer- 
gel, auf  allen  Klüften  mit  Schwefel  bedeckt.  Nach  Unfrer's  Untersuchungen 
stinit.it  die  fossile  Flora  von  Swoaaowiee  am  meisten  mit  jener  der  Wetter*«/ 
von  Bilm,  Parschlug  überein,  weniger  mit  jener  von  Kadeboj.  Zwei  Pflanzen, 
die  der  Tertiär- Flora  von  ganz  Europa  angehören,  nämlich  Carpinus  macrop- 
tera  und  Ceanothus  polymorphus  fehlen  auch  hier  nicht,  ohne  jedoch  bezeich- 
nend zu  sein.  Als  charakteristisch  rar  das  Aller  der  Schichten  von  Swoaaovrien 
gilt  wohl  Acoritc*  intcgerriaia,  eine  ffanic,  die  nur  den  plioeenen  Schichten 


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zukommt,  wonach  lieh  also  die  Swoszowiccr  Schwefel -Formation  als  gleich« 
xeitig  mit  den  Subapeuninen-Ablagerungen  erweist.  —  7.  Ueber  die  Conge- 
ria  Partschii,  von  Johann  Czjck.    Mit  einer  lithographirten  Tafel.  — 

8.  Gcognostische  Beschreibung  des  Nerineen-Kn Ikes  von  In- 
wild  und  Roczyny,  von  L.  Zenschner.  Mit  zwei  lithographirten  Tafehr. 
Dieser  Aufsatz  enthalt  namentlich  ein  Verzeichniss  der  Versteinerungen ,  welch« 
sieb  in  dem  Nerineea-Kalke  Finden,  und  der  verschiedenen  darunter  liegenden 
Glieder  des  Jurakalkes,  die  an  den  Ufern  der  Weichsel  bei  Krakau  entwickelt 
sind,  nimlich  des  Coralrag  oder  weissen  Kalksteines  mit  Feuerstein,  des  weissen 
Mergels  und  Kalksteines  und  endlich  des  braunen  Kalksteines.  Die  beiden  ersten 
Glieder  gehören  der  oberen  oder  weissen  Etage  des  Jurakalkes  an ,  so  wie  der 
Neriaeen-Kalk;  das  dritte  aber  dem  braunen  Jura  oder  der  mittleren  Etage.— 

9.  Ueber  die  Achat-Mandeln  in  den  Melaphyren;  zweites  Sendschrei- 
ben Nöggerath's,  mit  zwei  lithographirten  Tafeln.  —  10.  Tnbicanlis  von 
Ilia  bei  Schemnitz,  von  J.  V.  Pettko.  Mit  einer  Tafel.  —  11.  Geogn<w 
■  tische  Beschreibung  des  Sch wefel la ger s  von  Swoazowifce  bei 
Krakau;  von  L.  Zenschner.  Das  erwähnte  Schwcfellagcr  nimmt  seine  Steiler 
mitten  im  tertiären  Gebirge  ein;  es  besteht  aus  einer  Mergel- Ablagerung  von 
etwa  240  Fuss  Mächtigkeit,  in  der  parallele  Lager  von  Gyps  und  Schwefel 


fL  Abtheilung.  1.  Versteinerungen  des  Kreidemergel»  votf 
Lemberg  und  seiner  Umgebung,  von  Prof.  R.  Kner;  mit  fünf  lithograV 
phirtea  Tafeln.  Es  liefert  vorliegender  Aufsatz  einen  trefflichen  Beitrug  zu  den 
früheren  Arbeiten  von  Puach,  v.  Lill  und  Zetischer  Aber  die  in  Gelicien  so  sehr 
verbreitete  Kreide -Formation.  —  2.  Note  Ober  die  iwei weirthfgett 
Functionen,  von  S.  Spitzer.  —  3.  Ueber  die  krysta HiniacK* 
Stroctnr  des  Metoreisens  von  Braunau,  von  J.  Ifeumann.  Mit  einer 
lithographirten  Tafel.  —  4.  Höhenmessungen  in  den  noriachen  und 
rhätiseben  Alpen,  von  WerdmQller  vonElgg.  Gewährt  einen  schätz- 
baren Beitrag  zu  den  von  den  Brüdern  Schlaginlweit  neuerdings  in  verschiede- 
nea  Alpen -Gegenden  vorgenommenen  Messungen.  -  5.  Versdch  einer 
Darstellung  des  Vegetations-Charakters  der  Umgebung  von 
Übe;  von  Dr.  C.  Schiedermayr.  Enthält  eine  höchst  fleissige  und  vefr- 
rtadige  Aufzählung  der  Flora  von  Linz ,  die  namentlich  für  die  Pflanzen-Geo-' 
grapbie  des  österreichischen  Kaiserstaates  von  hohem  Werth  ist.  -  6.  Ucbct 
die  Summe  der  Körper- Win kel  an  Pyramiden,  von  Riedl  von 
Leaenstern;  mit  einer  Figurentafel.  -  7.  Aufsuchung  der  reellen 
aad  imaginären  Wurzeln  einer  Zahlen-Gleichung  höherenGra- 
des,  von  S.  Spitzer.  —  8.  Gesetze  in  den  höheren  Zahlen-Glci- 
changen  mit  einer  oder  mehreren  Unbekannten,  von  S.  Spitzer. 
-  9.  Gfjognostisch-päläontologische  Beschreibung  der  näch- 
sten Umgebung  von  Lemberg,  von  Dr.  Alth;  mit  fünf  lithographirten 
Tafeln.  Gibt  namentlich  eine  sorgfältige  und  reiche  Uebersicht  der  in  Lemberga 
Umgebungen  vorkommenden  Petrefacten. 


die  weder  Kunst  noch  Wissenschaft  hold ,  haben  die  „naturwissenschaftlichcir 
Abhandlungen'  «ich  dennoch  einer  günstigen  Aufnahme  erfreut,  und  werden 


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dies  gegenwärtig  noch  mehr.  Auch  fernerhin  soll  das  geneckte  Ziel  verfolgt 
werden:  E  r  weite»  ueg  der  Naturwissenschaften.  Auf  das  praktische  Lehen  sich 
begehende  Arbeiten,  Uebersiclilen ,  Anzeigen  wissenschaftlicher  Werke,  Aus- 
säge aus  solchen  werden  in  den  „naturwissenschaftlichen  Abhandlungen,4*  wio 
früher,  keine  Stelle  finden.  —  Die  Ausstattung  des  vorliegenden  Bandes  ist  eine 
uDcrsu£  iriänzcntic* 

Der  wasserreiche  artesische  Brunnen  im  alpinischen  Diluvium 
des  oberschwäbischen  Hochlandes  tu  Jsnyn  in  geognottisch-  hy- 
drographischer und  construcliter  Hinsicht,  hiebst  einem  Bei/rage  *>ur  Kcnnt- 
niss  der  DiUmal-Geriillc  der  Bodcnscc-Gegcvd%  ton  Dr.  A.  E.  Bruck- 
mann. Mit  einer  lithographirten  Gebiigsdurchschnitls-Zcichuung.  Stuttgart. 
E.  Schwcittrbart'schc  Verlagshandlung  und  Druckerei.    i85U    S.  HO. 

,  Der  Verfasser  hat  sich  sowohl  in  seinem  Fache,  so  wie  als  Schriftsteller 
einen  ehrenvollen  Namen  erworben;  wir  erwähnen  unter  seinen  früheren  Wer- 
ken nur:  vollständige  Anleitung  sur  Anlage,  Fertigung  und  neueren  Nutzan- 
wendung der  gebohrten  oder  sogenannten  artesischen  Brunne*,  eine  Schrift, 
welche  im  Jahre  1833  erschien  und  sich  bereits  1838  einer  zweiten  Auflage 
erfreute. 

Das  Streben  Bruckmanns  bei  seinen  Unternehmungen  stets  auf  wis- 
senschaftliche Principien  gestützt,  zu  Werke  au  gehen,  kann  nur  dankbar  an- 
erkannt werden.  Zu  oft  hat  in  neuerer  Zeit  Erfahrung  gelehrt,  dass  die 
Anlegung  von  Bohrbrunnen ,  um  Kosten  zu  ersparen,  in  die  Hönde  Unkundiger 
gelegt  wurde,  denen  kaum  der  Unterschied  zwischen  einem  artesischen  Brun- 
nen und  einem  Bohrloch  bekannt  war;  dass  in  manchen  Gegenden  Bobrversucho 
angestellt  wurden ,  wo  man  unter  keinem  Umstände  ein  günstiges  Resultat  hof- 
fen konnte.  Wenn  anf  solche  Weise  namhafte  Summen  verloren  gingen,  wenn 
sich  allmählig  ein  gewisses  Misslrauen  gegen  artesische  Brunnen  einschlich,  wenn 
man  in  den  letzten  Jahren  wenig  davon  hörte,  darf  daher  nicht  befremden.  Mit 
Recht  macht  Bruck  mann  auf  diese  verschiedenen  Uebelstande  aufmerksam, 
nnd  bemerkt  ausdrücklich:  „ein  erfahrener  Sachkundiger  wird  sich  nicht  wei- 
gern, die  Hauptbelohnung  nur  au  d<is  Gelingen  seiner  Werke  zu  knüpfen,  und 
somit  die  Ausführung  derselben  finaneiell  zu  erleichtern,  worauf  ich  selbst,  da 
mir  nunmehr  eine  Reihe  von  Beobachtungen  und  Erfahrungen  zur  Seite  stehen, 
in  neuerer  Zeit  einzugehen,  nicht  den  mindesten  Anstand  nehme." 

Vorliegende  Schrift  zerfallt  in  zwei  Haupt-Abihcilungen.  Die  erste  eot- 
bält  die  Beschreibung  eines  seit  zehn  Jahren  bestehenden  Bohrbrunnens  zu  bny. 
Die  genannte  Stadt  liegt  bekanntlich  im  südüsthehen  Theile  des  Königreiche* 
Würterobcrg,  im  sogenannten  Allgau,  in  einer  Meereshöhe  von  2146,5  pariser 
Fuss.  Der  Brunnen  hat  bei  unbedeutender  Tiefe  in  dieser  hoch  gelegenen  Ge- 
gend ein  überraschend  günstiges  Resultat  geliefert;  in  einer  Stunde  fliessen 
24840  Maas  Wasser  aus,  welches  von  vorzüglicher  Güte  ist.  Innerhalb  vier 
Monaten  wurde  der  artesische  Brunnen  zu  Stande  gebracht ,  und  kostete  in  Allein 
1300  Gulden  rheinisch.  Manche  Schwierigkeiten  bot  die  Gebirgsforniation  um 
Isny,  das  alpinische  Diluvium,  welches  theils  als  iosos  Gevölle,  Ihcils  als  Sand, 
Lehm  oder  Conglomerat  der  Molasse  aufgelagert  ist.   Wie  bekaunt,  bieten  Di- 


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laVuA- Ablagerungen  bei  Erbohrung  artesischer  Bronnen  vielerlei 
and  machten  schon  manches  Unternehmen  scheitern. 

Die  zweite  Abtheilung  schildert  die  geologischen  Verbältnisse ,  die  wahr- 
scheinliche Transport- Weise  und  Abstammung  der  in  Oberschwaben  verbreiteten 
alpiniichen  Gerolle  und  gewahrt  somit  einen  Beitrsg  zur  Kenntnis«  der  Diluvial- 
Ablagerangen ,  in  welchen  der  artesische  Brunnen  tu  Isny  steht.   Der  Verf.  gibt 
eine  genaue  und  ausführliche  Uehersicht  der  Gerölle,  welche  die  ganze  Boden- 
flache  Oberschwabens  bedecken.    Sie  sind  ihrer  Nalur  nach  von  den  in  den 
Gebirgen  Würtembergs  vorkommenden  Felsarlen  gänzlich  verschieden, 
öfters  kleine  randliche  Hügel  und  reichen  zu  Höhen  hinan ,  bis  zu  welchen 
tiges  Tages  die  YYssser  nicht  mehr  steigen  (1560  Fuss  in  den  Umgebungen  von 
Stocknch  und  Meersburg).    Die  Gerölle  sind  meist  stark  abgerundet,  und  in 
Grosso  sehr  verschieden;  sie  wechselt  von  der  eines  Hirsekornes  bis  zu  Kopf- 
Grösse.    Die  eigentliche  Mächtigkeit  dieser  Ablagerungen  ist  noch  nicht  ermit- 
telt; sie  mag  an  manchen  Stellen  200  Fuss  und  darüber  beiragen.    Nur  selten 
bemerkt  man  unter  den  Diluvial  -Geröllen  noch  einzelne  erratische  Blöcke  in 
den  Thilern  und  an  den  Bergabhtiogen ,  da  die  Industrie  solche  seit  lai 
Zeit  zu  technischen  Zwecken  ausheutet,  wodurch  ihre  Zahl  alljährlich 

im  Bodensee  ,  in  ganz  Ohcrschwahen  bis  gegen  SchafThausen  hin 

/' « r /i  1 1 £>     Ii n*>j>r- Ii  t  r it  in      ilirnr     Knc/-Ii  o ffnnttA i I     n>w>li    iimi    G«»li1nM       #1  nCfl 

\jcruiie    u«.  r«i  iiii^lii    mn  r    nt.  s<  ii.hu  mieii   m.m  11  zum  öiihuij;»,  u 

ans  den  östlichen  Alpen .  namentlich  aus  Graiibundten  und  Vorarlberg 
die  Richtung,  in  welcher  die  Geschiebe  auf  inren  jetzigen 
Vermnthen  nach  von  Südost  nach  Nordwest. 
Brack  mann  gibt  in  der  zweiten  Abtheilimg  einen  schätzbaren  Beitrag 
der  Diluvial  -  Ablagerungen  des  südwestlichen  Deutschlands,  na- 
der früheren  Schrift  von  Fromherz  „geognostisehe  Beobachtungen 
aber  die  Diluvial-Gebilde  des  Schwarzwaldes"  (Frcibnrg,  1842),  und  dessen 
Anfeatz:  „plpinische  Diluvial -Bildungen  im  Bodensee  -  Becken  (Jahrb. 
1850,  S.641  ff).  —  Da  Bruckmann's  Schrift  von  vielseitigem 
lateresse,  nicht  nnr  für  Ingenieure,  Architecten  und  Landwirthe,  sondern  auch 
für  Geognosten ,  so  wird  dieselbe  auch  ein  grosses  Publikum  finden.  Die  Aus— 
stattung  des  Werkes  ist  eine  geschmackvolle. 

.*        i  ?,.z 

{Jeher  das  schweizerische  Nummuliten-Ttrretin,  mit  besonderer  Be- 
rücksichtigung des  Gebirges  wischen  dem  Thmter-Sec  vnd  der  Emme.  Von 
L.  R  v t i ms  y  er.    Bern ,  Slätnpfiische  Buchdrvcherei.  18ö0.  S.120. 

Seitdem  die  Alpen  von  den  Geologen  durchstreift  wurden  —  so  bemerkt 
der  Verfasser  —  boten  sie  denselben  eine  Hauptschwierigkeit  dar,  deren  Weg— 
fallen  das  Studium  anderer  Lander  sehr  begünstigte,  nämlich  das  Fehlen  und 
die  schlechte  Erhaltung  der  organischen  Reste,  an  deren  Stelle  die  Alpen-Geo- 
logen nur  die  von  den  Paläontologen  selten  im  Vollwcrth  aufgenommenen  mi- 
neralogischen und  petrographischen  Charaktere  der  Gesteinsschichten  als  Ersatz 
hatten.  Ein  neues  Hülfsmittel  ist  den  ersteren  eröffnet  worden  durch 
der  mieroscopischen  Organismen  der  Vorwelt ,  deren  Kenntniss 
duren  nie  Arnencn  ocs  ncKanmen  oemner  uciennen  so  vteii  zraic— 
ist,  dass  das  Microseop  dem  Alpen  -  Geologen  wichtiger  geworden,  als 

ihafte  Vorkommen  und  selbst  die  Kleinheit  nnd  Zartheit 


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314  Kurze  Anzeigen. 

diezer  Thierüberreste  machen  es  möglich ,  dieselben  in  den  diebtesten  Gesteinen 
zn  entdecken ,  in  welchen  das  Dasein  derselben  bisher  nicht  geahnt  wurde.  Wir 
wollen  versuchen ,  aas  den  Mittheilungen  des  Verfnssers ,  die  von  hohem  geo- 
logischem and  palttontologischem  Interesse,  das  Wichtigste  kurz  hervorzuheben. 
Das  Gebirge  zwischen  dem  Thnner  See  und  der  Emme  besteht  ausschliesslich 
aus  neplunischen  Gebilden.  Als  ältestes  Gestein  ist  ein  schwarzer  Kalkstein  zu 
betrachten,  der  zwischen  Nasthal  und  Leerau  auftritt,  und  durch  Ammenites 
Bucklandi  (Sow.)  charakterisirt  wird;  er  gehört  zum  Lias,  und  liegt  am  Thuner 
See  unmittelbar  anter  Kreideschichten.  In  vereinzelten  Parthieen  erscheint  am 
Fass  der  Rnlligslöcke  eine  kleine  Ablagerung  von  Jurakalk,  der  sogenannte 
Chatelkalk,  der  seinen  organischen  Resten  gemfiss  zum  Coralrag  zu  rechnen  ist. 
Ziemlich  weit  verbreitet  zeigt  sich  die  Kreide-Formation,  mit  mehreren  deut- 
lich charakterisirten  Abtheilungen.  Die  Basis  aller  Ketten  bildet  der  schwarze 
Kalk  und  Schiefer,  in  welchen  Studer  and  andere  Schweizer  Geologen  den  für 
das  unterste  Glied  der  Kreide-Gruppe  so  überaus  bezeichnenden  Spatangus  re- 
tusus  (Goldf)  gefunden  haben.  Auf  dem  Spetangen-Kalk  liegt  der,  dem  Neo- 
comien  supeneur  entsprechende  Radisten-Kalk.  —  Die  Nummoliten- Formation 
nimmt  die  oberste  Stelle  der  Kalkalpen  ein.  Die  Petrefacten,  welche  sich  in 
der  Schweizerinnen  Nummuliten-Formation  finden ,  sind  besonders  Cerithien  von 
tertiärem  Aussehen,  Neritinen,  zumal  aber  Orbituliten  und  Foramiaiferen ,  unter 
welchen  Ntimmuüten  die  hervorragendste  Rolle  spielen.  Wie  bekannt,  hat  man 
in  neuerer  Zeit  dem  Auftreten  der  Nummuliten  in  den  tiefsten  Schichten  des 
Tertiär  -  Gebirges  ( eoceae  Schichten )  besondere  Aufmerksamkeit  geschenkt 
Murchiaon  hat  in  seiner  Schrift  „über  den  Gebirgsbau  in  den  Alpen4  die  hohe 
Wichtigkeit  der  Numinuliten  mit  vieler  Lebendigkeit  geschildert,  da  sie  zur 
Auffindung  gewisser  Tertiir-Schichten ,  zur  Unterscheidung  derselben  von  Kreide- 
Ablagerungen  dienen.  Zigno,  der  italienische,  mit  den  geologischen  Verhält« 
nissen  der  Vene 'inner  Alpen  wohl  vertraute  Geolog,  hat  erst  neuerdings  aus- 
drücklich bemerkt,  dass  er  aUe  Schichten,  in  denen  Noromuliten  vorkommen, 
in r  tertiär  halte. 

In  der  zweiten  und  grösseren  Abtheilung  seiner  Schrift  gibt  Rütim eye r 
eine  Uebersicht  der  Foraminiferen  des  schweizerischen  Nummulften-  Terrains, 
welcher  er  eine  sorgfältige  Zusammenstellung  der  alteren  und  neueren  Literatur 
vorausschickt;  jene  reicht  bis  in  das  Jahr  1565  zurück.  Rütimeyer's  Werk 
wird  von  fünf  Tafeln  begleitet;  die  erste  ist  eine  geologische  Karte  des  Gebirges 
zwischen  dem  Thuner  See  und  der  Emme;  die  zweite  stellt  Profile  dar,  and  auf 
den  drei  übrigen  sind  eine  grosse  Anzahl  von  Foramiaiferen  des  schweizerischen 
ISummuIiten-Gebirges  abgebildet. 

V er gleich  ende  Vebersicht  urweltlicher  Or§anism.*ttt  besonder* 
nach  ihrem  inneren  Zusammenhang  mit  denen  der  jetzt  le- 
benden Schöpfung.  Dargestellt  von  Friedr.  Rolle.  Stuttgart,  E. 
Schtceiierbart'schc  Verhgshandiung  und  Druckerei.  1851.  &  IV  N,  171, 

Die  vorliegende  Schrift  ist  mehr  für  den  Anfanger,  für  den  Studirenden, 
als  für  den  mit  der  Wissenschaft  Vertrauten  bestimmt.  Die  Entwicklung  der 
Pctrefacten-Kunde  war  in  den  letzten  Jahren  eine  so  bedeutende,  jeder  Tag  fast 
brachte  neue  Entdeckungen,   so  dass  selbst  der  Fachmann  der  Fülle  von 


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315 


MtTttWftnm  gewachsen  war.  Was  zwei  grössere,  treffliche,  mit  zahlreichen 
Kupfer-Tafeln  ausgestattete  Werke  —  Bronne  Lethaea  geognostica  und  Geinit* 
Veralcinerungskunde  —  in  umfassender  Weise  geben ,  sehen  wir  hier  auszugs- 
weise in  einem  Rahmen  von  kaum  acht  Druckbogen  zusammengedrängt. 

Der  Ucbersicht  der  versteinert  vorkommenden  Orgauismen  schickt  der 
Verfasser  einige  ein  leiten  de  Bemerkungen  über  Entstehung,  horizontale  und 
Vertikale  Verbreitung  der  Petrefacten  u.  s.  w.  voraus.  Die  organischen  Reste 
zerfallen  in  zwei  Haupt-  Abheilungen ,  in  pflanzliehe  und  thierische.  Wie 
bekannt  spielen  in  dem  Gebiet  der  Petrefakten-Kunde  die  fossilen  Pflanzen  eine 
weit  geringere  Rolle  als  die  tbierische»  Ucberreste;  sie  erheben  sich  nur  in  und 
von  der  Steinkohle  an  zu  einiger  Bedeutung.  Man  kennt  gegenwärtig 
gegen  2000  Arten  fossiler  Pflanzen.  Die  Flor«  der  Jctztwelt  betrügt  etwa 
80,000  Arten. 

Das  viel  mannigfaltigere  Thier  reich  zerfällt,  wie  bekannt,  in  vier  Haupt- 
Ahlheilungen  I  Strahl thier e  ,  Weich thiere,  Gliederlhiere,  Wirbellbiere) ,  in  wel- 
chen eine  Annäherung  vom  Unvollkommeucn  zum  Vollkommenen  auf's  Entschie- 
denste sich  kund  gibt.   Mit  vieler  Genauigkeit  auf  dem  beschränkten  Räume 
zählt  der  Verfasser  dio  einzelnen  Classen  und  Ordnungen  der  vier  Reiche  nach 
einem  zoologischen  System  auf,  und  fuhrt  stets  an ,  für  welche  Formationen  und 
Schichten-Glieder  einzelne  Thier-Familien  sich  charakteristisch  zeigen.  —  Wir 
wünschen  und  glauben,  dass  Roll  es  »vergleichende  Ueh  ersieht  der  urweltti- 
chen  Organismen"  als  eine  fleissige,  gedrängte  und  zugleich  praktisch-nützliche 
Zusammenstellung  eine  gute  Aufnahme  linden  werde. 

Jahrbuch  der  k.  k.  ytologi&cken  Reichsa  nstalL  1$5U.  U  Jahrgang* 
Nr.  2.  April,  Mai,  Juni.  Wien.  Aus  der  k,  k.  Hof-  und  Staats- 
Druckerei.  Bei  Wilhelm  Braumüller,  Buchhändler  des  k.  k.  Hofes  und  der 
kais,  Academis  der  Wissenschaften,    S.  181—388.  # 

Die  einzelnen  Abtheilungen  der  unlängst  ins  Leben  getretenen  „Jahr- 
Luche r  der  geologischen  Reicbsanstalt"  folgen  rasch  aufeinander,  denn  vorlie- 
gendes Heft  ist  bereits  das  zweite  in  kurzer  Frist  und  das  dritte  wird  in  weni- 
geu  Wochen  erscheinen.  An  Reichhaltigkeit  und  Mannigfaltigkeit  steht  dasselbe 
hinter  dem  früheren  nicht  zurück.  Wir  wollen  versuchen,  eine  Uebersicht  des 
Inhaltes  der  verschiedenen  Aufsätze  zu  gehen  und  nur  bei  einigen,  wo  es 
thunlich,  verweilen.  »• 

1.  Uebersicht  der  geschichteten  Gebirge  der  Veuetlani- 
scheu  Alpen,  von  A.  v.  Zigno.  Die  Arbeit  des  Verfassers  dient  als  Er- 
gänzung zu  dem  wichtigen  Werke  Muschifons,  über  den  Gebirgsbau  in  den 
Alpen.  Alle  Beobachtungen,  dio  Zigno  anzustellen  Gelegenheit  hatte,  bestätigen 
die  früheren  Untersuchungen  des  englischen  Geologen:  es  gelang  ihm  nament- 
lich, mit  Hülfe  der  Versteinerungen,  die  verschiedenen  Etagen  der  Formationen 
in  einer  vom  Glimmerschiefer  bis  zu  den  neuesten  Formationen  gleichförmig  ge- 
lagerten Reihe  von  Schichten  zu  unterscheiden;  auf  diese  Weise  konnte  Zigno 
die  Grenzen  der  Trias  bezeichnen  und  in  der  Oolith- Formation  die  nntere  und 
mittlere  Abtheilung,  so  wie  Sparen  der  oberen  unterscheiden.  In  der  Kreide« 
Gruppe  gelang  ns  demselben,  den.  ifcocomian  und  Albien  nachzuweisen,  so  wie 
jene  beiden  Abtheilungen  der  Kreide,  die  d'Orbigny  mit  dem  Kamen  der 


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81«  Kurze  Anzeigen. 

turonischen  and  senonischen  Formation  bezeichnete.   Endlich  Klärte  Zigno  man- 
chen Irrt h um  hinsichtlich  der  Tertiär- Gebilde  auf;  er  unterschied  eoceno  und 
miocene  Schichten,  und  wies  nach,  wie  die  so  ausgedehnte  Nammuliten-For- 
malion  der  eocenen  Periode  angehört.  —  2.  lieber  das  hohe  Alter  des 
Kapferbergbaues  am  Mitterberg  in  Salzburg,  von  A.  v  Morlot. 
Aller  Wahrscheinlichkeit  nach  bauten  die  keltischen  Urbewohner  des  Landes, 
welche  vor  achtzehn  Jahrhunderten  in  Hallstadt  mit  Werkzeugen  von  Serpen- 
tin, von  Bronce  und  seltener  von  Eisen  den  Salzbergbau  betrieben,  zu  gleicher 
Zeit  am  Mitterberge  auf  Kupfererze.  —  3.  Ueber  die  Spuren  eines  be- 
festigten römischen  Eisenwerkes  in  der  Wochein  inOberkrain, 
von  A.  v.  Morlot.  —  4.  Der  Adelsvorschub  am  Heinzenberg  und 
Kleinkogl,  von  J.  Trinker.    Ein  interessanter  Beilrag  zur  Physiographie 
der  besonderen  Lagerstätten  Nordtirols.  (Adelsvorschub,  ein  in  der  bergmänni- 
schen Sprache  wenig  gebrauchtes  Wort,  bedeutet  die  von  der  Streichens  -  und 
Fall-Richtung  der  dortigen  Lager  und  Gänge  abweichende,  andauernde  Fort- 
setzung bauwürdiger  Mittel.)  -  5.  Die  Resultate  aus  Karl  KreiTs,  Di- 
rectors  der  S  lern  warte  zu  Prag,  Bereisungen  des  österreichi- 
schen Kaiserstna  tes.  —  (Tabellarische  Mittheilungen.)  6.  Ueber  die  Ver- 
schiedenheit der  Entstehung  der  S  alsablagerungen  in  denKar- 
pathen  und  in  den  Salzburger  Alpen,  von  Ludwig  Zeuschner. 
Der  polnische  Geolog  zieht  den  Scbloss,  dass  das  sporadische  Hervortreten  des 
Steinsalzes  im  Salzburgischen ,  das  dort  in  Spalten  oder  als  stockartige  Ausfül- 
lung erscheint,  die  parallelen  Thonstreifen  im  Steinsalze,  die  vielen  eingeschlos- 
senen Bruchstücke  von  Kalkstein ,  der  Mangel  an  Petrefactcn  beweisen ,  dasa  es 
als  ein  wässeriger  Brei  aus  dem  Erdinnern  hervorbrach.    Anders  ist  der  Cha- 
rakter der  karpathischen  Salrablagerungen;  sie  bilden  ausgedehnte,  viele  Mee- 
re«-Muscheln  enthaltende  Niederlagen,  und  man  kann  daher  von  ihnen  anneh- 
men, dass  sie  von  einem  ausgedehnten  Meere  ihren  Ursprung  haben.  — 
7,  Ueber  die  Entwicklung  der  oberen  Glieder  der  Kreide-For- 
mation nördlich  von  Krakau,  von  L.  Zeuschner.  —  8.  Ueber  die 
geologischen  Verhältnisse  von  Raibl;   von  A.  v.  Morlot.  Dieser 
Aufsatz  reiht  sich  in  würdiger  Weise  den  früheren  Bemerkungen  von  L.  v.  Buch, 
Boue,  Meiling  über  die  interessante  Gegend  von  Raibl  an.  —  9.  Ueber  die 
geologischen  Verhaltnisse  von  Radoboj  in  Kroatien,  von  A.  v. 
Morlot.    Die  Entdeckung  des  Schwefellagers  von  Radoboj  fallt  in  das  Jahr 
Jahr  1841.    Abgesehen  von  ihrer  technischen  Wichtigkeit  verdienen  die  Umge- 
bungen von  Radoboj  wegen  ihres  grossen  Rcicbthums  an  Petrefacten  der  Ter- 
ttär-Zeit  Beachtung.  —  10.  Ueber  die  Regen  Verhältnisse  der  Alpen, 
von  H.  Schlagintweit.   Entnommen  aus  dem  grösserem  Werke  der  beiden 
Brüder  H.  und  A.  Schlagintweit  „Untersuchungen  über  die  physikalische  Geo- 
graphie der  Alpen",  welches  wir  in  diesem  Jahrgang  S.  139  If.  zu  besprechen 
bereits  Gelegenheit  fanden.  —  11.  Unt ersnch ungen  über  die  Isogeo» 
thermen  der  Alpen,  von  A.  Schlagintweit.  —  12.  Berichtigung 
einiger  Angaben  Sch  lagi nt  weit's  in  Betreff  der  Tsogcotkermen 
der  Alpen,  von  0.  Sendtner.  —   13.  Ueber  den  Dopplerit,  Bericht 
von  G.  A.  Kengoit.   Eine  Torf-artige  Substanz,  welche  sich  im  Torf  bei 
,   »  .  •  '.«.'.'  I*       a  if  , 


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31? 


Aussee  im  Salzkammergate  und  nach  neueren  Angaben  auch  in  Torflagern  beim 
Bade  Goolen  unfern  Appenzell  in  der  Schweiz  findet.  —  14.  Die  neuesten 
Forlschritte  der  Geologie  in  Russland,  von  G.  v.  Helmersen.  — 
15.  Uebersicht  der  Production  und  Gel  d  geba  hrung  des  Przi  Lim- 
mer Hauptwerkes.  (Tabellarische  Mittheilungen.)  —  16.  Bemerkungen 
*a  den  „trigonometrischen  Höhenbestimmungen  im  Troppauer 
und  Teschner  Kreise  in  Schlesien"  von  A.  Heinrich.  —  17.  lieber 
Salpeterbildung  und  Gewinnung.  Die  Frage  über  Salpetergewinnung 
war  in  letzten  Jahren  (wo  man  leider  allzuviel  von  der  Substanz  gebrauchte!) 
vielfach  Gegenstand  von  Erörterungen.  Drei  einander  folgende  Aufsitze  be- 
treüea  den  Salpeter;  der  erste,  einige  Bemerkungen  über  Sarpeter-Erzeugung 
tod  v.  Reichenbach,  untersucht  vorzüglich  die  Theorie  der  Bildung  der  Salpe- 
tersäure; der  zweite  von  J.  Szabo  gibt  ein  Bild  des  Vorkommens  und  der  Ge- 
winnung des  Salpeters  in  Ungarn;  der  dritte  enthält  die  Berichte  Mosers,  frü- 
her Mitglied  einer  nach  Ungarn  zur  Untersuchung  der  ungarischen  Salpeter« 
Districte  abgesendeten  Comraission.  —  18.  Analyse  der  Bleispeise  von 
Oeblarn  in  Obersteyermark,  von  G.  Schcnzl. 

Ausserdem  enthält  das  vorliegende  Heft  des  „Jahrbuches  der  k.  k.  geo- 
logischen ReichsanstAlt"  noch  zahlreiche  Bemerkungen  über  die  Sitzungen  der 
Gesellschaft,  Verzeichnisse  eingesendeter  Mineralien,  Petrefacten  u.  s.  w.,  auch 
fünf  Tafeln,  worunter  besonders  eine  schöne,  zu  dem  Aufsatze  Morlot's  gehö- 
rige, geologische  Karte  der  Umgegend  von  Raibl. 

Ct.  Leonhard. 


Die  Vorstellungen  der  alten  Griechen  und  Römer  über  die  Erde  alt  Himmelskör- 
per. Von  Dr.  Ludwig  Oetlinger,  Gr.  Bad.  Hofrath  und  Professor  der 
Mathematik.  Freiburg  1850.  Verlag  der  Vniversifätsbuchhandlung  ton  Jt 
DiermfeUner.    Vill  m.  116  8.  in  gr.  4. 

Der  Terfasser  dieser  Schrift  hat,  wie  das  Vorwort  bemerkt ,  es  versucht, 
darin  eine  Zusammenstellung  der  Vorstellungen  der  Alten  über  die  Gestalt,  den 
Ort,  die  Bewegung,  die  Stellung  und  Grösse  der  Erde  zu  geben.  Indessen 
würde  man  sich  doch  irren,  wenn  man  hiernach  Nichts  weiter  als  eine  trockne 
Zusammenstellung  aller  der  einzelnen,  üher  die  bemerkten  Punkte  aus  dem  Al- 
terthum uns  zugekommenen  Nachrichten  erwarten  wollte;  wir  erhalten  viel- 
mehr ein  vollständiges  und  zusammenhängendes,  dabei  wohlgeordnetes  Bild  der 
Anschauungsweise  des  gesummten  Altert  hu  ms,  in  seinem  inoern  Zusammenhang 
und  nach  seinen  verschiedenen  Stufen  und  Periodeo  der  Entwickelung  hin- 
durchgeführt,  wie  diess  auch  nur  von  einem  Gelehrten  zu  erwarten  möglich 
war,  der  eine  gründliche  philologische  Bildung  mit  denjenigen  Studien  der 
Physik,  Mathematik  und  Astronomie  verbindet,  die  zur  Erörterung  dieser  Punkte 
noth wendig  sind.  Dadurch  erhält  die  Schrift,  zumal  bei  der  Klarheit  der  gan- 
zen Entwickelung  und  der  Schärfe  der  Darstellung,  eine  besondere  Bedeutung 
pd  last*  in  ihr  die  wüjwcbenawcrthe  Ergänzung  eines  Gegenstandes  erkennen, 


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Sioli  in  den  £C w (i Ii n I ic lic ii  Ifsncilbuchcrn  d  ci  h 1 1 c n  d c o p p ti ic  noch  nicht  f n 
der  Weise  behandelt  findet.  Wer  die  Schwierigkeiten  aller  derartigen  Unter- 
suchungen,  insbesondere  den  Mangel  an  umfassenden  oder  klaren  Nachrichten, 
mithin  das  Unzureichende  der  Quellen,  die  um  hier  meist  nicht  einmal  aus  er« 
»ier  Hand,  sondern  durch  manche  Uebergänge  getrübt  zukommen,  kennt,  der 
wird  dem  Verf.  doppelt  dankbar  sein  müssen  für  eine  Erörterung,  welche,  so 
weit  es  überhaupt  jeut  möglich  ist ,  die  in  Frage  stehenden  and  hier  bespro- 
chenen Punkte  au  ihrer  Erledigung  gebracht  lim.  Dass  zum  besseren  Verständ- 
nis* und  zur  richtigen  Würdiguag  der  Vorstellungen  des  Alterthums  der  Verf. 
zuerst  einen  Ueberblick  der  Lehren  giebt,  welche  wir  den  Bemühungen  der 
neueren  Zeit  über  diese  Punkte  verdanken,  wird  man  nur  billigen  können,  und 
so  wenden  wir  uns  sogleich  zu  §.  5—9,  worin  der  erste  Abschnitt:  „GestaK 
dar,  Erde"  enthalten  ist.  Der  Verfasser  unterscheidet  hier  eine  erste  Periode, 
wiche  bis  auf  Aristoteles  reicht  und  die  Ansichten  dar  jonischen  Philosophen, 
des  Pythagoras  und  seiner  Schule,  der  attischen  Philosophen  u.  s.  w.  befasst. 
Es  tritt  hier  die  Vorstellung  von  der  kreisrunden  Scheibenform,  der  länglich 
ruudcn  Scheibenform,  der  DiscusfOrm ,  der  Cylindcrform ,  der  Tympenonferm, 
der  Würftlgesialt  und  Cyliudergestalt  mit  zwei  ebenen  Grundflächen  hervor. 
Die  zweite  Periode  beginnt  mit  Aristoteles,  der  des  schwankenden  Ansichten 
ein  Ende  machte ,  indem  er  aus  Gründen  der  Theorie  und  der  Erfahrung  zeigte, 
dass  die  Erde  nur  die  Kugelgestalt  haben  könne.  Mit  vollem  Recht  betrachtet 
daher  der  Verf.  diesen  Philosophen  als  den  wahren  Begründer  der  Lehre  von 
der  Kugelgestalt  der  Erde.  Was  nach  ihm  in  der  griechischen  und  römischen 
Welt  darüber  gelehrt  ward,  führt  §.  8  uns  des  Kälteren  vor,  während  wir  zu- 
gleich aufmerksam  gemacht  werden  auf  die  Verschiedenheit  dieser  Aristoteli- 
schen Ansicht  von  der  Lehre  eines  Huygcns  und  Newton,  so  wie  der  neuesten 
Forschung.  Im  zweiten  Abschnitt  §.  10  und  11  werden  die  Ansichten  der  Al- 
ten über  den  Ort  der  Erde  besprochen  und  ebenfalls  nach  Perioden  unterschie- 
den. Die  erste  Periode,  bis  auf  Anaximandor,  l>etrachtet  die  Erde  als  eine 
vom  Wasser  umgebene  und  auf  einer  Uuterlage  ruhende  Ebene,  auf  welche 
das  feste  Himmelsgewölbe  in  Gestalt  einer  Halbkugel  sich  stützt.  Die  zweite 
Periode,  bis  Arbtotelos,  nimmt  das  Universum  als  eine  Sphäre,  in  deren  Mit- 
telpunkt die  Erde  frei  schwebt.  Die  dritte  Periode,  von  Aristoteles  bis  Coper- 
nicas,  setzt  die  Erde  in  den  Mittelpunkt  des  Weltalls,  wohin  sie  durch  eine 
inwohnende  Kraft  getrieben  und  dort  festgehalten  wird;  der  Begriff  der  Schwer- 
kraft bildet  sich.  Auch  im  nächsten  dritten  Abschnitt,  welcher  uns  die  An- 
sichten der  Alten  von  der  Bewegung  der  Erde  bringt,  ist  es  wieder  Aristo- 
teles, der  dem  Schwankenden  der  früheren  Ansichten  und  Lehren  ein  Ende 
macht,  und  die  Ansicht  feststellt,  dass  die  Erde  durch  Naturgesetze  in  den 
Mittelpunkt  der  Sphäre  getrieben  werde  und  dort  unbeweglich  ruhe.  Ab- 
schnitt IV  $.  14  bespricht  die  Vorstellungen  über  die  schiefe  Stellung  der  Erd- 
ain; Abschnitt  V  $.  15  iL  die  Grösse  der  Erde.  Die  Resultate  dieser  erschöp- 
fenden Untersuchung  werden  am  Schluss  §.  18  zusammengestellt;  sie  zeigen, 
dass  die  im  Alterlhum  vorkommenden  Bestimmungen  über  die  Grösse  der  Erde 
nichts  weiter  als  annähernde  Schützungen  waren,  von  welchen  die  des  Ent- 
tosthenea  (252,000  Stadien)  sich  noch  am  Meisten  auf  das  Gebiet  der  That- 


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ttcbett  slcWte.  Eine  weitere  Fortsetzung  dieser  Forschungen  über  andere  damit 
zusammenhängende  Funkle,  über  die  Zonen,  die  Wohnorte,  die  Climale,  die 
Jahreszeiten  u.  dgl.  würde  nur  erwünscht  sein  können. 


Kritische  BeUräp  zur  Geschichte  und  Alterthumshmde  Tirols.    Von  Mathias 
Koch.    37  S.  in  gr.  &'  " 

Diese  Schrift  eines  Mannes,  der,  wenn  es  sich  um  Gegenstände  der 
Landeskunde  Oestreicbs,  alter  und  neuer  Zeit  handelt,  wohl  vor  Andern  seine 
Stimme  abzugeben  berechtigt  Ut,  hat  eine  polemische  Tendenz:  denn  sie  ist 
gerichtet  gegen  die  in  neuester  Zeit  wieder  auftauchende,  aelbst  mit  gewissen 
politischen  Bestrebungen   zusammenhängende  Behauptung,    welche  den  alten 
Etruskern  eine  Ausdehnung  über  ganz  Tirol  giebt,  und  in  ihnen  das  Urvulk 
dieses  Landes,  in  seinem  Gesammtumfang ,  erkennen  will.    Es  musste  eine 
solche  Behauptung,  wie  sie  sogar  der  neueste  Geschichtschreiber  dieses  Landes, 
freilich  ohne  alle  nähere  Prüfung  und  ohne  alles  tiefere  Eingehen  in  die  Sache 
selbst,  auszusprechen  gewagt  hat,  um  so  mehr  auffallen,  als  besonnene  und 
gründliche  Forscher  der  Geschichte  Tirols  längst  den  Satz  aufgestellt  hatten, 
dass  die  erste  Bevölkerung  dieses  Landes,  so  weit  die  Geschichte  rückwärts 
reicht,  nur  in  Kelten  zu  suchen  sei,  die  anerkanntermassen  auch  für  die  an- 
stoßenden deutschen  Provinzen  Oestreichs,  für  In  nc  r  Ost  reich  so  gut  wie  für 
Ober-  und  Niederöstreich  wie  für  Salzburg,  als  die  Urbevölkerung  gelten  müssen. 
Der  Verf.  der  vorliegenden  Schrift  hat  nun  die  ganze  Streitfrage,  so  weit  sie 
das  Land  Tirol  betritft,  auf's  Neue  in  Untersuchung  genommen  und  das  Grund- 
lose der  unlängst  ausgesprochenen  Behauptung  in  einer  89  schlagenden  Weise 
dargethan,  dass  wir  wohl  hoffen  dürfen,  damit  die  Sache  für  alle  folgenden 
Zeiten  abgemacht  zu  sehen.    Wohl  mögen  zersprengte  Elruskcr  bis  zu  den 
südlichen  Abhängen  der  Alpen  —  also  im  heutigen  Welschtirol  —  gelangt  sein 
and  hier  sich  auch  niedergelassen  haben;  aber  in  die  Alpen  selbst  haben  sie  sich 
nie  verstiegen,  sie  sind  vielmehr  da,  wo  sie  unter  Kelten  an  den  Abhängen 
der  Gebirge  sich  niedergelassen,  unter  diesen  aufgegangen  und  spurlos  ver- 
schwunden.   Piess  ist  das  Resultat  einer  gründlichen  Prüfung,  die  wir  eben 
so  wohl  auf  die  Zeugnisse  alter  Schriftsteller,  wie  auf  andere  Beweise,  selbst 
der  sprachlichen  Forschung,  die  uns  das  Keltische  in  manchen  Ortsnamen  noch 
jetzt  nachweist,  gestützt  finden.   Uud  gerade  was  den  letzten  Punkt,  die  Orts- 
namen, betrifft,  so  zweifelt  Ref.  kaum,  dass  Manches  von  dem,  was  darüber 
ein  geistreicher  Forscher  der  rhätischen  Alpengcbiete  vor  einiger  Zeit  schon 
vorgebracht  hat,  indem  er  in  so  manchen  Ortsnamen  des  heutigen  Graubündtena 
(namentlich  des  romanischen  Engadin's)  und  der  angranzenden  Striche  Tirol'« 
etroskische  Laute  erkennen  und  damit  eine  Verwandtschaft  der  iiitesten  Bewoh- 
wohner  Rhatiens  mit  den  Etruskern  begründen  will,  thcils  auf  verdorbene  ro- 
manische Laute,  thcils  auf  keltische  hinausläuft. 

Noch  auf  Einen  Punkt  müssen  wir  am  Schlüsse  dieser  Anzeige  hinwei- 
sen: er  betrifft  die  vom  Verfasser  dieser  Schrift  hervorgehobene  Verdrängung 


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Kurze  Anzeigen. 

des  deutschen  Elements  in  Sudtirol.  Wenn  in  dem  gemischten  Schleswig 
die  dänische  Regierung  in  den  Schulen  dänisch  lernen  hisst,  so  schreien  alle 
Zeitungen  Über  die  Tyrannei  der  Dänen;  wenn  man  aber  vernimmt,  mit  wel- 
chen reissenden  Schritten  die  Verwelschung  Tirols,  namentlich  in  dem  Kreise 
von  Trient  (und  von  dieser  Stadt  aus  hauptsächlich  betrieben)  vorwärts  schrei- 
tet, wie  sie  bereits  Bolzen  erreicht  hat,  welche  Stadt  schon  im  Jahr  1845  die 
Anforderung  stellte,  in  der  HaupUcbule  den  gemischten  Unterricht  einza fuhren, 
wenn  man  liest,  wie  in  manchen  Gemeinden,  in  denen  noch  vor  wenigen  Jah- 
ren deutsch  gesprochen  ward ,  die  deutsche  Zunge  jetzt  ganz  verstummt  ist 
und  nur  die  italienische  Sprache,  die  in  der  Schule,  auf  der  Kanzel  und  in  der 
Beichte  ausschliessliche  Geltung  erlangt  hat,  vernommen  wird,  da  schweigen 
unsere  Teutomanen,  ja  sie  erheben  sogar  ihre  Stimme  gegen  eine  Regierung, 
welche  das  deutsche  Element,  das  ihren  Kern  bildet,  zu  schützen,  tu  erhalten 
und  zu  wahren  sucht  gegen  italische,  slavische  und  madjartsche  Invasion!  Und 
diesi  nennt  man  deutsche  Gesinnung ,  deutschen  Patriotismus! 


flistoire  des  Germains  depuis  les  temps  les  plus  recules  jusqiCä  Charles  Magne, 
pour  servir  d'introduction  ä  Vhittoire  de  r Empire  Germanique,  par  M.  de 
Ring,  membre  de  plusieurs  socüles  sarantes  etc.  Strasbiwg,  Treutlel  et  WurU 
Libraires  Grand'  me  15.    1850.    Vlll  und  191  S.  in  gr.  8. 

Der  VerfHsser  hat  zunächst  für  Frankreich  sein  Werk  bestimmt,  um  den 
Gebildeten  dieses  Landes  eine  richtige  Ansicht  von  dem  Lande  zu  geben,  aus 
welchem  das  Frankenreich  Karls  des  Grossen  hervorgegangen  ist.  Er  schildert 
daher  in  einer  klaren  und  ansprechenden  Weise  die  Zustände  des  alten  Germa- 
nien! von  der  Zeit  an,  wo  es  zuerst  in  der  Geschichte  auftaucht,  und  fuhrt  uns 
dann  die  verschiedenen  Ereignisse,  welche  dasselbe  betroffen,  die  verschiedenen 
Züge  und  Wanderungen  der  germanischen  Volker,  wie  die  Kämpfe  mit  Rom, 
dann  die  Niederlassungen  jener  Völker  in  verschiedenen  Thcilen  des  römischen 
Reiches  und  die  hier  von  ihnen  gegründeten  Reiche,  insbesondere  das  in  dem 
nlteh  Gallien  gegründete  und  dessen  Geschicke  unter  den  Merovingcrn,  die 
Kämpfe  Karl  Martell's  und  das  Reich  Pipin's  vor,  um  mit  dem  Auftreten  Karls 
des  Grossen,  womit  eine  neue  Gestaltung  und  eine  neue  Ordnung  beginnt,  seine 
Darstellung  zu  selilicssen,  der  wir  mit  aller  Befriedigung  gefolgt  sind.  Eine 
sehr  schöne  Charte  ist  beigefügt. 


•  •  • 


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Nr.  21  HEIDELBERGER  1851. 

JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR 


Die  Universität  Cambridge, 

geschildert 
von 

Dr.  *J.  a.  Tiarh99 

Prediger  an  der  deutsch  -reforrairten  Kirche  in  London. 


Erster  Artikel:  Die  Colleges. 

*  •  .  ■  ■  ■ 

Vorwort.  Die  nachfolgende  Schilderung  der  Universität  Cam- 
bridge tritt  nicht  in  der  Form  auf,  welche  die  in  neuerer  Zeit  allein  ge- 
bräuchliche in  diesen  Jahrbüchern  ist:  in  der  Form  einer  Recension.  Es 
wäre  nicht  schwer  gewesen ,  sie  durch  Voranstellung  einer  andern  Schrift 
Uber  den  nämlichen  Gegenstand  und  durch  einige  Bezugnahmen  darauf  in 
diese  Form  zu  bringen.  Allein,  wozu  eine  solche  Erkünstelung  ohne  in- 
nere Wahrheit?  Wir  glauben  den  Aufsatz  aach  in  der  Gestalt,  in  wel- 
cher er  vorliegt,  getrost  zur  Aufnahme  in  diese  kritische  Zeitschrift  em- 
pfehlen zu  können.  Enthält  er  auch  nicht  die  Bcurtheilung  eines  Buches, 
so  enthält  er  doch  die  Uberall  zum  Urtheil  und  zur  Vergleichung  auffor- 
dernde Darstellung  einer  grossen  wissenschaftlichen  Anstalt,  die  wahrlich 
wichtiger  ist,  als  ein  einzelnes  literarisches  Product.  Durch  die  ins  Einzelne 
gehende  Genauigkeit,  Treue  und  Anschaulichkeit  wird  die  Schilderung  für 
jeden  wissenschaftlichen  Mann,  namentlich  für  den  Philologen,  Historiker 
und  Theologen  in  hohem  Grade  anziehend  und  belehrend  sein,  und  indem 
ans  in  der  Charakteristik  einer  der  beiden  alten  Hauptuniversitäten  Eng- 
lands ein  Bild  des  englischen  Universität*-  und  Bildungswesens  überhaupt 
dargeboten  wird,  veranschaulicht  sich  uns  zugleich  auf  die  lebendigste 
Weise  der  Unterschied  zwischen  diesem  und  dem  deutschen,  und  wir 
können  nicht  umhin ,  sehr  bedeutsame  Parallelen  zwischen  beiden  zu  ziehen. 

Auch  durch  ihren  würdigen  Verfasser  hat  diese  Darstellung  ein  ge- 
wisses Anrecht  an  die  Jahrbücher  unserer  Hochschule.  Herr  Tiarks,  seit 
mehreren  Decennien  deutscher  Prediger  in  London ,  hat  früher  auf  unserer 
Universität  Theologie  studirt,  ist  spater  von  der  hiesigen  philosophischen 
Pacultat  mit  der  Doctorwürde  beehrt  worden  und  steht  fortwährend  mit 
mehreren  Lehrern  der  stets  von  ihm  dankbar  geehrten  Anstalt  in  geistiger 
XLIV.  Johrg,  3.  Doppelheft.  21 


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322  Tiarks:  Die  Universität  Cambridge. 

uudjnteriirischer  Gemeinschaft.  Gegenwärtig  nun  beiludet  sich  ein  Sohn 
des  Herrn  Dr.  Tiarks  als  Studierender  im  St.  Johns  College  zu  Cambridge ; 
dadurch  ist  er  zu  wiederholten  Besuchen  dieser  Universität  veranlasst 
worden,  und  so  ist  ans  unmittelbarer  Anschauung  und  lebendigem  Inte- 
resse ohne  irgendwelche  Absichtlicbkeit  der  nachfolgende  Aufsatz  entstan- 
den,  der  schon  in  einer  kürzeren  Skizze  die  Thcilnahme  von  Freunden 
im  Vaterlande  des  Verfassers,  Jever,  erregte,  jetzt  aber  in  vollständi- 
gerer Ausführung,  wie  wir  hoffen,  auch  in  einem  grosseren  Kreise, 
wohlwollende  Aufnahme  finden  wird. 


Die  Universität  Cambridge  nmfasst  17  Colleges  oder  Halls:  1.  Tri- 
nity College  (in  1850  525  Studenten);  2.  St.  Johns  College  (345); 
Cujus  College  (HO);  Christi  College  (52);  Queens  College  (93); 
Emmanuel  College  (93);  Corpus  Christi  College  (08);  St.  Katharina 
HaU  (79);  St.  Peter's  College  (50);  Cläre  Hall  (50);  Jesus  College 
(59);  Magdalene  College  (61);  Trinity  Hall  (48);  Sidney  College 
(31);  Kings  College  (12);  Penibroke  College  (23);  Downing  Col- 
lege (11). 

Die  Zahl  der  Studenten  ist  demnach  in  1850:  1742.  Colleges  und 
Halls  sind  in  Cambridge  von  gleicher  Bedeutung.  Die  meisten  liegen  in 
der  längsten  und  sohönsten  Strasse  von  Cambridge  in  Trumpington  Street, 
und  hinter  denen,  die  an  der  einen  Seite  der  Strasse  liegen,  befinden 
sich  hübsche  Anlagen  mit  schönen  Spaziergängen.  Die  andern  liegen  zer- 
streut in  der  Stadt,  st.  Peters  ist  von  allen  das  älteste,  gestiftet  1257. 
Jedes  College  hat,  gleich  einem  Kloster,  einen  oder  mehrere  Höfe  in 
der  Milte,  und  Thore,  die  jeden  Abend  geschlossen  werden.  Um  diese 
Höfe  herum  siud  die  Wohnung  des  Master,  der  Fellows  und  der  Under- 
graduates,  die  Kapelle,  das  Speisezimmer  und  die  Bibliothek  des  College. 
Die  Zahl  der  Undergraduates  in  Trinity  und  St.  John's  ist  so  gross,  dass 
Die  alle  im  Collego  Wohnung  erhalten  können,  und  die  Studenten  des 
ersten  Jahres  müssen  sich  Zimmer  in  der  Stadt  miethen.  Alle  Colleges 
(mit  Ausnahme  von  King's,  das  besondere  Privilegien  hat)  stehen  unter 
den  Gesetzen  der  Universität,  von  welchen  hernach  die  Rede  sein  wird; 
aber  jedes  College  hat  wiederum  seine  eignen  Statuten  und  Gesetze.  An 
der  Spitze  eines  jeden  College  steht  als  Haupt  ein  Master  (der  von  King's 
wird  Provost  und  der  von  Queen  s  President  genannt).  Dieser  hält  keine 
Vorlesungen  in  seinem  College;  er  kann  zugleich  Professor  der  Univer- 


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Tiarks:  Die  Universität  Cambridge.  323 

«tat  sein;  er  führt  nur  Oberaufsicht  in  seinem  College  und  vertritt  das- 
selbe bei  der  Universität.  Jedes  College  hat  eine  gewisse  Anzahl  Fel- 
lows, von  denen  hernach  noch  weiter  geredet  werden  muss.  Ans  den 
Fellows  werden  die  College  Tutors  oder  Lehrer  gewählt,  die  aber  selten 
eine  Professur  haben,  die  Examinatoren  wie  auch  der  Dean  nnd  die 
ihrigen  Beamten ,  der  Kassenführer,  der  Verwalter,  der  Bibliothekar  n.  s.  w. 
Die  Studenten  oder  Unlcrgraduates  sind  dreierlei.  I.  Fellow  Commoners, 
diese  sind  gewöhnlich  Söhne  adeliger  Persouen,  oder  bejahrte,  bemittelte 
Leute,  die  sich  erst  spät  zum  Studium  entschlossen  haben,  und  sie  heis- 
ren so,  weil  sie  mit  den  Fellows  an  Einem  Tische  essen,  haben  aber 
auch  diese  Ehre  tbeuer  au  bezahlen.  Die  Zahl  der  Fellow  Commo- 
ners ist  nie  gross.  St.  John's  College  bat  jetzt  nur  4.  2.  Pensioners, 
diese  machen  den  grüssten  und  bedeutendsten  Tbeil  der  Studenten  au?, 
and  werden  nach  dem  Lateinischen ,  pernio  Zahlung ,  so  genannt ,  weil  sie 
für  Mittagslisch,  Zimmer,  Unterricht  u.  s.  w.  zum  Vollen  bezahlen, 
a.  Siaars ,  von  diesen  giebt  es  in  jedem  College  nur  eine  bestimmte  Zahl. 
In  St.  JowVs  College  sind  in  jedem  Jahre  wenigstens  14  Vacanzen.  Zu 
diesen  melden  sich  gewöhnlich  zwischen  40  und  50  neue  Studenten,  und 
aas  diesem  werdeu  nach  vorhergegangenem  Examen  die  14  besten  in  die 
racantea  Stellen  gewühlt.  Im  ersten  Jabre  bezahlen  die  Sizars  nur  obn- 
gefahr  die  Hälfte  von  dem,  was  die  Pensioners  zu  bezahlen  haben.  Am 
Ende  des  ersten  Jahres  werden  ans  diesen  wiederum  die  besten  ausge- 
wählt, welche  dann  proper  Sizars  heissen  und  fast  alles  ganz  frei  haben. 
Die  Zahl  dieser  ist  in  Triniry  College  16,  in  St.  John's  9.  Das  Wort 
Siiir  iat  veraltet.  Es  kommt  von  einem  alten  Substantiv,  size,  Portion, 
dem  Verb  to  size,  in  Portionen  anstheilen.  Arme  Studenten  erhielten  in 
alten  Zeiten  z«  Mittag  eine  bestimmte  Portion  unentgeltlich,  daher  der 
Name.  Shakespeare  gebraucht  das  Substantiv  Size  in  diesem  Sinne  im 
King  Lear :  it  is  not  for  you ,  to  cut  my  Sizes  short  (es  ist  nicht  deine 
Sache,  mir  meine  Portionen  zu  verkürzen.  Daher  wird  eine  dürftige 
Kost  auch  noch  heutiges  Tages  short  commons  genannt).  Die  Aufwartung 
am  Tische  der  Fellows,  die  früher  den  Sizars  oblag,  hat  schon  längst 
aufgehört.  Sie  essen  auch  jetzt  noch  erst  dann,  wenn  die  Fellows  und 
Pensioners  gegessen  haben,  aber  nicht  nach  bestimmten  Portionen,  son- 
dern nach  ihrem  Appetit:  und  daher  bewerben  sich  auch  nur  unbemittelte 
Studenten  um  diese  Sizarhips.  Masters,  Fellows  und  Undergraduates  ha- 
ben ihre  caps  (Mützen)  and  gowns  (Talare),  ohne  welche  sie  selten 
aus  dem  Hause  gehen.  Kein  Undergradnate  darf  ohne  cap  nnd  gown  in 
der  Stadt  umhergehen.    Begegnet  ein  Undergraduate  anf  der  Strasse  dem 

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Jiarks:  Die  Universität  Cambridge. 


Vice  -  Chan cellor,  oder  irgend  einem  Master,  von  welchem  College  es 
euch  sein  mag,  oder  einem  Proctor,  oder  einem  Fellow  seines  College 
im  Universität*- Ornat,  so  muss  er  die  Mütze  vor  ihm  abnehmen;  aber  er 
bat  nicht  nöthig ,  von  irgend  einem  Notiz  zu  nehmen ,  der  ohne  Ornat  in 
gewöhnlicher  Kleidung  einhergeht.    Ich  kann  nicht  umhin,  hier  eine  kleine 
charakteristische  Anekdote  einzuschalten.    Der  Master  von  —  College  ist 
nicht  sehr  beliebt  bei  den  Studenten.    Er  spazierte  eines  Taget  in  ge- 
wöhnlicher Kleidung  in  den  schönen  Anlagen  hinter  Trinity,  St.  Johns 
und  Cajus  College.    Ein  Undergraduate  eines  andern  College  gebt  an  ihm 
vorbei,  ohne  die  Mütze  abzunehmen.    Der  Master  ruft  ihn  zurück  und 
fragt  ihn:  do  you  know  who  I  am  (Wissen  Sie,  wer  ich  bin?)  Der 
Student  antwortet:  if  you  had  your  cap  ond  gown  on,  I  shonld  say  you 
were  the  master  of  —  (Hatten  Sie  Ihre  Mütze  auf  und  ihren  Talar  an, 
so  würde  ich  sagen ,  Sie  seien  der  Master  von  — ) ;  der  Master  darf 
nichts  sagen.    Die  im  Gesetz  bestimmte  Studienzeit  umfasst  elf  Terms 
(Termine).    Jedes  Jahr  hat  drei  1)  Michaeimas  Term,  Michaelis  Termin, 
vom  10.  October  bis  zum  16.  December;  2)  Lent  Term,  Fasten-Termin, 
Tom  1 3.  Januar  bis  zum  Freitag  vor  dem  Palmsonntage ;  3)  Easter  Term, 
Oster-Termin ,  vom  2.  Mittwoch  nach  Ostern  bis  Ende  Juni.  Allein  jeder 
Student,  dessen  Name  vor  dem  Ende  des  Oster-Termins  ins  Buch  des 
College,  in  das  er  zu  gehen  gedenkt,  eingetragen  worden  ist,  bekommt 
einen  Term  auf  seine  Rechnung,  oft  ohne  Cambridge  gesehen  zn  haben, 
und  fängt  sein  oeade  misch  es  Jahr  am  10.  October  an.    Wer  in  ein  Col- 
lege aufgenommen  zu  werden  wünscht,  wird  entweder  von  dem  ersten 
Tutor  und  einigen  andern  Officianten  des  College  examinirt,  oder  er  sen- 
det an  den  ersten  Tutor  ein  Empfeblungs-Schreiben  von  einem  Master  of 
Arts,  der  seine  Studien  früher  in  demselben  College  gemacht  hat,  und 
der  sich  für  seine  Tüchtigkeit  verbürgt    Wird  er  zugelassen,  so  hat  er 
gleich  Caulion-money  (Sicherheit  zur  Deckung  gewisser  Ausgaben)  zu 
bezahlen,  und  dieses  ist  für  einen  Fellow  Commoner  L.  25,  für  einen 
Pensioner  L.  15  und  für  einen  Sizar  L.  10.    Ist  dieses  Geld  bezahlt,  ao 
wird  sein  Name  auf  eine  grosse  im  College  hängende  Tafel  gemalt,  und 
er  ist  ein  Mitglied  desselben.    Die  Universitäts-Matriculation  aller,  die 
ihre  academische  Laufbahn  im  October  angefangen  haben,  findet  erst  im 
November,  am  ersten  Tage  der  zweiten  Hälfte  des  Michaelis-Termins  statt. 
Mit  einem  Tutor  an  der  Spitze  ziehen  sie  an  demselben  Tage  und  zur 
seihen  Zeit  aus  ihren  verschiedenen  Colleges  ins  Senalhaus,  wo  der  Vicc- 
Cbancellor,  die  Proctors  (Procura  tores)  und  der  Registrator  sich  versam- 
meln.  Die  Colleges  werden  aufgerufen  Eins  nach  dem  andern,  nach  der 


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Tiarks:  Die  Universität  Cambridge. 


325 


Zahl  der  Studenten,  erst  Trinity ,  dann  St  JoWs  u.  s.  w.  Der  Name 
eines  jeden  wird  ins  Universitätsbuch  eingetragen,  und  nachdem  er  das 
gteicfafolgende  Versprechen  gegeben  hat,  händigt  der  Registrator  ihm 
einen  gedruckten  Auszog  aus  deo  Statuten  ein ,  die  sich  auf  seine  Pflich- 
ten beziehen. 

Professio  in  matriculatione. 
CanceRario,  procancellarioque  academiae  Cantabrigiensis ,  quatenus  jus 
fasque  est  et  pro  ordine  in  quo  fuerim ,  quamdiu  in  bac  repnblica  degam, 
comiter  obtemperabo;  leges,  statuta,  mores  approbatos  et  privilegia  Can- 
tabrigiensis academiae,  quantum  in  me  est,  observabo;  pietatis  et  booa- 
rom  literarum  progreasum  et  hujns  academiae  s  tat  um,  honorem  etdigni- 
tatem  tuebor,  quoad  vivam,  meoque  suffragio  atque  consilio  rogatus  et 
uon  rogatus  defendam. 

Haec  omnia  in  me  recipio  et  polliceor  me  fideliter  esse  prae- 

Der  Tutor  eines  jeden  College  bezahlt  für  seine  Studenten  die  Ma~ 
Iriculations  -  Gebühren ,  und  jeder  Student  findet  diese  aufgerührt  in  der 
College  -  Rechnung ,  die  er  um  Weihnachten  erhält. 

Weil  die  Hasters  der  Colleges,  die  Professoren  der  Universität, 
Fellows  des  einen  oder  des  andern  College  gewesen  sein  müssen,  und 
weil  nur  diejenigen  zu  Fellows  erwählt  werden,  die  sich  in  den  Exami- 
nibos  ihres  College  und  dem  zweiten  Universitäts-Examen  besonders  aus- 
gezeichnet haben,  so  scheint  es  am  passendsten,  hier  zuerst  einen  Be- 
richt über  die  Studien  folgen  zu  lassen.  Die  Studien  der  Universität  sind 
unbedeutend  und  die  eigentlichen  Professoren  haben  wenig  zu  thun,  ob- 
gleich neulich  eine  kleine  Veränderung  gemacht  worden  ist,  wodurch 
einige  Professoren  einen  etwas  grössern  Wirkungskreis  erhalten  haben. 
Die  College- Studien  sind  die  Hauptsache,  und  da  die  Studenten  aller 
Colleges  zwei  Universitäts -  Examina  zu  bestehen  haben,  in  welchem  ihnen 
dieselben  Sachen  vorgelegt  werden,  so  sind  diese  Studien,  mit  kleinen 
Abweichungen,  ihrem  Wesen  nach  in  allen  Colleges  dieselben.  Bekannt- 
lich wird  in  Cambridge  auf  Mathematik  ein  bedeutendes  Gewicht  gelegt. 
Ausserdem  werden  die  klassischen  Studien  gründlich  getrieben ,  wie  her- 
nach gezeigt  werden  wird.  Auch  das  Neue  Testament  wird  vorgenom- 
men, jedoch  so,  dass  das  meiste  dem  Privatfleiss  überlassen  wird,  wie 
überhaupt  bei  jedem  Gegenstände  der  Tutor  von  Jedem,  der  etwas  ler- 
nen will  und  im  Examen  gut  zu  besteben  wünscht ,  nicht  wenig  erwartet. 
Biblische  Geschichte  und  Kirchengeschichte  muss  Jeder  studiren,  denn  er 
wird  darin  zu  seiner  Zeit  examinirt.    Aber  es  werden  darüber  in  den 


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Tiarks:  Die  Universität  Cambridge. 


Colleges  eben  so  wenig  Vorlesungen  gehalten ,  als  über  Profan- Geschichte. 
Die  Fragen  jedoch,  die  im  Examen  Ober  klassische  Literatur  vorgelegt 
werden,  und  die  schriftlich  ohne  alle  Hulfsmiltel  in  Gegenwart  des  Exa- 
minators beantwortet  werden  müssen,  zwingen  einen  Jeden  wenigstens 
die  alte  Geschichte  fleissig  und  sorgfältig  zu  studiren.  Mit  Paleys  Evi- 
dences  of  the  Christian  religion ,  Paleys  moral  Philosophy  und  einem  Aus- 
züge aus  Locke  on  the  human  understanding  muss  auch  Jeder  vertraut 
sein.  Dogmatik  und  Moral,  wie  diese  auf  unsere  Universitäten  vorge- 
tragen werden ,  kommen  hier  nicht  vor.  Keiner  ist  gezwungen  Hebräisch 
zu  lernen,  nnd  noch  vor  zwanzig  Jahren  gab  es  unter  den  Predigern  der 
Englischen  Kirche  äusserst  wenige,  welche  auch  nur  die  ersten  Elemente 
gelernt  hatten.  Manche  Bischöfe  kennen  kaum  die  Buchstaben.  Seit  eini- 
gen Jahren  scheinen  aber  Manche  die  Wichtigkeit  dieses  Studiums  erkannt 
zu  haben,  und  es  fängt  an,  etwas  mehr  getrieben  zu  werden.  Zwei 
oder  drei  Bischöfe  wollen  keinen  Candidaten  ordiniren ,  der  nicht  etwas 
Hebräisch  versteht.  Die  meisten  jedoch  verlangen  auch  jetzt  noch  keine 
Kenntniss  desselben.  Der  alle  liebenswürdige,  vor  anderthalb  Jahren  ab- 
geschiedene Bischof  von  Nor  wich,  Dr.  Stanley,  mit  dem  ich  vor  5  oder 
6  Jahren  im  Hause  des  Preussischen  Gesandten,  Dr.  Bunsen,  eine  lange 
und  angenehme  Unterredung  hatte,  sagte  mir,  dass  er,  wenn  seine  Stn- 
dirzeit  nicht  vorüber  wäre,  besonders  Deutsch  und  Hebräisch  studiren 
würde,  und  dass  er  sich  vorgenommen  hätte,  keinen  Candidaten  zu  or- 
diniren, der  nicht  etwas  Hebräisch  verstehe,  eben  weil  er  selbst  den 
Mangel  der  Kenntniss  desselben  so  schmerzlich  fühle.  Es  fehlt  auch  in 
Cambridge  durchaus  nicht  an  Gelegenheit  und  Aufmunterung  zu  diesem 
Studium,  und  es  ist  gar  nicht  unwahrscheinlich,  dass  es  mit  der  Zeit  für 
diejenigen,  die  sich  dem  Dienste  der  Kirche  widmen,  zum  Zwangstudium 
gemacht  wird. 

Die  Studenten  eines  jeden  College  werden,  was  ihre  Studien  be- 
trifft, eingetheilt  in  first  year's  men  (genannt  Freshmen),  second  year's 
men  (junior  Sophs),  third  year's  men  (senior  Sophs).  Im  ersten  Jabro 
haben  alle,  die  demselben  College  angehören,  dieselben  Studien  zu  trei- 
ben, wenn  auch  in  den  grössern  Collegen  unter  der  Leitung  von  meh- 
reren Tutors,  und  alle  sind  gezwungen,  die  Stunden  der  für  sie  be- 
stimmten Tutors  zu  besuchen.  In  der  Mathematik  wird  im  ersten  Jahre 
nur  Euclid,  Trigonometrie  und  Algebra  vorgenommen.  Eine  Lady  Sedier 
vermachte  im  Jahr  1710  ein  Kapital,  aus  dessen  Zinsen  in  jedem  Col- 
lege ein  Lecturer  über  Algebra  besoldet  werden  sollte.  Der  Master  eines 
jeden  College  schlägt  zu  dieser  Stelle  einen  Fellow  vor,  der  dann  von 


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Tiarks!  Die  Universität  Cambridge, 


einem  Professor  der  Mathematik  exominirt ,  und  wenn  er  gut  besieht,  als 
Sadlerian  Lectorer  in  seinem  College  angestellt  wird.  Der  von  Emma- 
nuel College  erhBlt  L  60,  die  von  den  andern  Colleges  jeder  L.  40 
jährlich.  Dafür  giebt  jeder  ohngefähr  40  Stunden  im  Laufe  der  3  Terms 
des  ersten  Jahres. 

In  St.  John's  College,  iu  welchem  mein  Sohn  ist,  hatten  die  Stu- 
denten des  ersten  Jahres  im  Laufe  des  nun  vergangenen  academischen 
Jahres  das  dritte  Buch  der  Annalen  des  Tacitns,  Sophoclis  Electra  und 
das  Evangelium  Matlhäi.  Jeder  Tutor  gab  in  der  ersten  Lection  über 
jeden  dieser  Gegenstände  seinen  Schülern  eine  Uebersicbt  von  dem,  was 
im  Examen  von  ihnen  erwartet  würde,  und  empfahl  ihnen  die  Bücher, 
aus  welchen  sie  die  ihnen  nötbige  Belehrung  erhalten  konnten.  Die  Sacho 
wurde  dann  ohngcfiibr  betrieben  wie  bei  uns  in  einem  philologischen 
Seminar.  Der  Tutor  Hess  irgend  einen,  bald  diesen,  bald  jenen,  einen 
kurzen  Abschnitt  übersetzen,  corrigirte,  wenn  entweder  falsch  oder  nicht 
elegant  übersetzt  wurde,  knüpfte  Fragen  an  die  Ubersetzte  Stelle  und 
nachte  seine  grammatischen ,  historischen  und  antiquarischen  Bemerkungen. 
Am  Ende  des  ersten  Termins  wurde  au  vier  auf  einander  folgenden  Ta- 
gen Examen  abgehalten  über  das,  was  im  Laufe  des  Termins  abgehan- 
delt worden  war,  und  am  Ende  des  dritten  Termins,  mit  welchem  das 
erste  Jahr  sich  schliesst,  wieder  an  vier  Tagen  über  die  andern  Gegen- 
stände,  die  erst  im  weiten  und  dritten  Termin  vorgenommen  waren.  In 
vielen  Colleges,  auch  selbst  in  Trinity,  findet  nur  Ein  Examen  am  Ende 
des  Jahres  Statt.  In  St.  John's  und  einigen  andern  macht  man  diese 
Theilnng ,  um  die  Gegenstände  nicht  zu  sehr  anzuhäufen.  Das  Examen 
ist  scharf  und  durchaus  unparteiisch,  theils  viva  voce,  theils  schriftlich. 
Was  jetzt  folgt,  bezieht  sich  blos  auf  die  Studenten  des  ersten  Jahres, 
und  zwar  nur  auf  die  in  St.  John's  College,  weil  ich  nur  über  diese 
specialia  habe  erfahren  können.  Am  Ende  des  ersten  Termins  wurde  in 
Gegenwart  des  Masters,  Dr.  Talharn,  und  einiger  andern  Officianten  vivfi 
voce  examinirt  über  die  ersten  4  Bücher  des  Euclid,  über  Paleys  Evi- 
dences,  und  über  Stellen  aus  dem  Tacitns.  Ein  Student  musste  nach  dem 
andern ,  so  wie  er  aufgerufen  wurde^  vor  den  Examinator  treten.  Aus 
dem  Eoclid  musste  er  zwei  Probleme,  die  ihm  angedeutet  wurden,  ohne 
Buch  aus  dem  Kopfe  lösen,  zwei  Fragen  über  Paley  beantworten,  zwei 
ßtellen  ans  dem  Tacitus  übersetzen  nnd  auf  zwei  Fragen  Antwort  geben. 
Fflr  jedes  Problem ,  das  er  ganz  richtig  löseto ,  für  jede  Frage ,  die  er 
richtig  beantwortete,  für  jede  Stelle,  die  er  richtig  übersetzte,  wurde 
eine  gewisse   Anzahl  Zeichen  hinter  seinen  Namen  gesetzt.  \"  Aber  dag 


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328  Tiarka:  Die  Universität  Cambridge. 

♦ 

allergeringste  Versehen  machte  dieser  Zeichen  verlustig.  Alle  werden  am 
Ende  des  Examens  in  4  Klassen  getlieilt,  und  diese  Klassen  werden  ge- 
ordnet nach  der  Zahl  der  Zeichen,  die  Jeder  bekommeu  hat. 

Von  viel  grösserer  Bedeutung  war  aber  das  schriftliche  Examen. 
Alle  versammelten  sich  in  einem  grossen  Zimmer,  setzten  sich  an  langen 
Tischen  nieder,  auf  welchem  sie  Papier,  Federn  und  Dinte  vorfanden. 
Die  Examinatoren  legten  Jedem  ein  gedrucktes  Papier  vor,  das  21  al- 
gebraische und  arithmetische  Aufgaben  enthielt.  Zur  schriftlichen  Lösung 
derselben  wurde  ihnen  dritlhalb  Stuuden  vergönnt.  Nun  ging's  Schreiben 
los.  Nichts  wurde  gehört  als  die  Federstriche.  So  wie  die  vergönnte 
Zeit  verstrichen  war,  musslen  alle  Federn  niedergelegt  werden,  und  die 
Examinatoren,  welche  die  Zeit  Uber  zugegen  gewesen  waren,  nahmen 
die  angefüllten  Papiere ,  mit  den  Namen  der  Schreiber  bezeichnet,  zu  sich. 
Für  jede  Aufgabe,  die  jeder  Einzelne  richtig  und  vollständig  gelüsel  hatte, 
kamen  diesem  wieder  eine  gewisse  Zahl  Zeichen  zu  Gute.  Es  würde 
vielleicht  manchen  Mathematikern  nicht  uninteressant  sein ,  solche  alge- 
braische und  arithmetische  Aufgaben  zu  sehen.  Aber  ich  wage  es  nicht, 
die  in  diesem  Examen  gegebenen  hier  mitzutheileti ,  weil  sie  zu  viel  Raum 
einnehmen  würden,  und  die  Zahl  derjenigen,  die  sich  dafür  interessiren, 
doch  nur  klein  sein  möchte.  Sie  sind  selten  ganz  leicht.  Die  Herrn  in 
Cambridge  haben  eiue  gewaltige  Fertigkeit,  immer  neue  aufzufinden.  Weil 
alle  Aufgabeu  gedruckt  werden,  so  kommen  die  einmal  gegebenen  nie 
wieder  vor.  An  einem  andern  Tage,  an  welchem  sie  sich  wieder  zu 
der  ihnen  bestimmten  Stunde  an  ihre  Tische  gesetzt  hatten,  wurde  Jedem 
ein  gedrucktes  Blatt  vorgelegt,  das  eiue  Stelle  aus  einem  alten  histori- 
schen Buche  enthielt.  Dieses  musste  ius  Lateinische  übersetzt  werden, 
wozu  ihnen  wiederum  dritthalb  Stunden  vergönnt  wurden.  In  jedem  Col- 
lege giebt  es  immer  manche,  die  sich  besonders  auf  Mathematik  legen, 
und  deren  Sache  das  Lateinschreibeu  eben  nicht  ist.  Diese  liessen  hier 
die  Augen  Uber  das  ihnen  vorgelegte  Papier  laufen,  warfen  es  auf  den 
Tisch,  setzten  ihre  Mütze  auf  und  gingen  davon.  Ultra  posse  nemo  ob- 
ligatur,  dachten  sie  vielleicht  mit  Justinian,  und  die  Examinatoren  konn- 
ten nichts  weiter  thun,  als  hinter  ihren  Namen  schreiben,  nichts  gelie- 
fert, keine  Zeichen.  Die  Fragen  über  das  dritte  Buch  der  Annalen,  die 
in  diesem  Examen,  womit  der  erste  Termin  sich  schloss,  vorgelegt  und 
die  schriftlich  beantwortet  werden  mussten ,  theile  ich  vollständig  mit,  um 
zu  zeigen,  wie  viel  erwartet  wird,  und  weiche  Kenntnisse  diejenigen 
haben  müssen,  welche  den  Erwartungen  entsprechen  können.  Die  Ab- 
fassung der  Fragen  wird  von  den  Vorgesetzten  des  College  einem  Fellow 


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Tinrks:  Die  Universität  Cambridge 


329 


aufgetragen ,  gewöhnlich  einem  solchen ,  der  mit  dem  Unterricht  nichts  zu 
thon  gehabt  hat,  um  Parteilichkeit  zu  vermeiden,  indem  der  Unterricht 
in  den  grösseren  Colleges  von  mehreren  Tutors  in  verschiedenen  Klassen 
gegeben  wird.  Einige  andere  Fcllows  werden  zu  Examinatoren  bestellt, 
welche  die  gelieferten  Arbeiten  genau  zu  untersuchen  und  einem  Jeden 
die  für  seine  gelieferte  Arbeit  verdienten  Zeichen  zu  geben  haben. 

Die  folgenden  Fragen  und  Aufgaben  wurden  von  Rev.  John  Spicer 
Wood  M.  A.  abgefasst,  während  Rev.  A.  M.  Hoare  II.  A.  und  Rev.  J. 
Field  M.  A.  Tutors  gewesen  waren.  Weil  Niemand  ein  Bnch  bei  sich 
haben  durfte,  so  waren  die  zu  Ubersetzenden  Stellen  ohne  Angabe  der 
Capitel  des  Buches  abgedruckt,  werden  aber  hier  nur  angezeigt,  indem 
Jeder,  der  auf  die  Sache  einzugehen  wünscht,  leicht  seinen  Tacitus  zur 
Haod  nehmen  kann. 

Taciti  Anualium  Lib.  III. 
St.  John's  College  Dec.  1849. 
1.  Welcheu  Bericht  giebt  Tacitus  von  der  Clandischen  Familie? 
Was  war  ihr  allgemeiner  Charakter?  Zeige  vermittelst  eines  Stamm- 
baums die  Verbindung  der  verschiedeneu  Claudischen  Kaiser,  und  des 
Geroianicus  und  der  Agrippina  mit  dem  Augustus  und  miteinander?  Gieb 
eise  kurze  Skizze  von  den  mit  dem  Tode  des  Germanicus  verbundenen 
Begebenheiten,  und  erkläre  die  gegen  Piso  vorgebrachte  Beschuldigung: 
—  petitam  armis  rem  publicam,  utque  reus  agi  posset,  acie  vietnm. 
Uebcrsetze  cap.  XX. 

a)  Was  war  das  Wesen  des  imperiuiu  währeud  der  Republik?  der 
lex  curiata  de  imperio?  Wie  unterschied  sich  der  Titel  Imperator  unter 
den  Kaisern  von  dem  frühern  Titel?  War  der  von  Tacitus  erwähnte  Fall 
des  Blaesus  denen  ganz  gleich,  die  wahrend  der  Republik  vorkamen? 
Erkläre:  nrbe  egressus  repetendis  auspieiis. 

b)  Wie  war  der  Zustand  Deutschlands  zur  Zeit  des  Augustus  und 
Tiberiiis,  sowohl  innerlich,  als  auch  im  Yerbältniss  zu  Rom?  Gieb  die 
Geschichte  des  Maroboduus.  Wo  lag  sein  Reich?  Wie  weit  erstreckte 
es  sich?   und  was  war  das  Wesen  nnd  der  Zweck  seiner  Institutionen? 

3.  Uebersetze  cap.  XXIX.  Welchen  Titel  und  welches  Geschäft 
halten  die  Mitglieder  des  Vigintiviratus?  uud  welche  Veränderung  machte 
Angostus  darin?  Wann  durfte  Jemand  unter  den  Kaisern  per  legis  quaes- 
toram  petere  ?  Wie  wurden  die  Gesetze  genannt,  worauf  angespielt  wird, 
und  welche  Tendenz  battteu  sie?  Was  bedeutet  dignitas  in  der  Angabe 
des  Tacitus :,  dignitatem  nostram  a  Vespasiano  inchoalam,  a  Tito  auetam, 
■  Domitiane»   longius  provectam  non  abnuerim?    Verbinde   dieses  mit 


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S30 


» 

Tiarks:  Die  Universität  Camaridge. 


•ädern  Aussagen,  um  dem  Gebortsjahr  des  Tacitus  aaf  die  Spnr  zu 
Konifocn. 

4.  Sora  Asiae  in  eum,  qui  consolarinm  Maluginensi  proximus  erat, 
collata. 

Wie  thetlte  Augustus  die  Provinzen  ein ,  und  nach  welchem  Grund- 
salze? Wie  waren  die  Provinzen  Asiens  nnd  Afrika*  von  den  übrigen 
verschieden?  Was  meint  Tacitus  mit  der  Phrase,  domi  retinere,  ange- 
wandt auf  die  Verwaltung  Aegyptens?  Aus  welchen  Gründen  hat  man 
vorgeschlagen,  in  der  folgenden  Stelle  praetorem  in  proconsulem  za  ver- 
ändern: nec  multo  post  Granium  Marcellum  praetorem  Bithyniae  quaestor 
ipaius  Caepio  Crispinus  majestatis  poslulavit? 

s  Wie  wurden  die  Provinzen  vertheilt?  Worauf  gründet  Maluginen- 
ais  seine  Ansprüche,  und  was  wurde  dogegen  erhoben? 

üebersetze  cap.  XXXII. 

a)  Was  bedeutet  concordia?  Gieb  mit  Daten  die  Schrille  an,  die 
flrmandae  concordiae  bis  zur  Erbauung  des  Tempels  Concordiae  genom- 
men wurden.  Gieb  die  Umstände  an,  welche  zur  Errichtung  dieses  Tem- 
pels führten? 

b)  Erkläre  deutlich  die  Natur  des  ager  publicus  und  der  possessio 
und  erläutere  es  durch  neuere  Analogien.  Was  war  der  allgemeine  Zweck 
der  Leges  Agrariae?  Gieb  deutlich  die  Uehel  an,  welche  T.  Gracchus  zo 
hejlen  wünschte,  und  was  er  zu  dem  Ende  vorschlug?  Erkläre  vollstän- 
dig die  Verhandlungen,  auf  welche  in  den  Worten  nec  minor  largitor 
nomine  senatns  angespielt  wird. 

c)  Erkläre  das  Verhällniss,  in  welchem  die  Italier  vor  dem  Social- 
Kriege  zu  Rom  standen.  Gieb  ganz  genau  mit  Daten  die  Begebenheiten 
•o,  welche  zu  diesem  Kriege  führten,  den  Forlgang  und  das  Ende 
desselben. 

d)  Gieb  die  Geschichte  der  Lex  Julia  und  Papia  Popp  aea,  wie  such 
einige  von  ihren  Hauptverordnungen.  Wann  wurden  die  Beschränkungen 
der  Coelibes  aufgehoben?    üebersetze  und  erkläre 

Natorum  mihi  jus  trium  roganti 
Musarum  pretium  dedit  mearum 
Solus  qui  poterat:  valebis  uxor 
Non  debet  Domini  perire  munus.  (Marlial.) 
Sedere  in  equitum  liceat  an  tibi  scamnis 
Videbo,  Didyme;  non  licet  maritorum.  (Martini.) 
6.  üebersetze  cap.  XXXIII. 


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331 


a)  Gieb  einen  Beriebt  über  die  Leges  Sumptuariae.  Was  sagt Ta- 
cilus  ron  der  Abnahme  des  Luxus  zu  Rom? 

b)  Was  isl  die  leitende  Idee  im  Gebrauch  des  Coejunctivs  ?  Zeige 
dieses  in  der  eben  gegebenen  Steile.  Fuhre  Stelleu  an ,  in  welchen  Ta- 
cilus  von  frühern  Schriftstellern  im  Gebrauch  dieses  Modus  abweicht. 
Verteidige  das  Tempus  in  der  folgenden  Stelle:  tantumque  severitate  pro- 
feclum,  ut  vexillum  veteranorura ,  non  amplius  quingenti  numero,  easdem 
Tacfarinatis  copias  praesidium  aggressas  fnderint. 

7.  Uebersetze  cap.  LXVII. 

■3  Unterscheide  zwischen  interrogentur  und  inferrogarenfnr  ? ' 

b)  Erkläre  die  Bedeutung  des  Worts  majestas.  Wie  ging  es  ru, 
dass  es  so  gebraucht  wurde,  wie  es  im  Texte  gebraucht  ist?  Aufweiche 
Vergehungen  bezog  sich  die  lex  majestatis  wahrend  der  Republik?  und 
wie  wnrde  es  unter  den  Kaisern  ausgedehnt?  Zeige  durch  Ausdrücke 
and  Stellen ,  die  in  diesem  Buche  vorkommen ,  die  weite  Ausdehnung  der 
Wirksamkeit  dieses  Gesetzes. 

c)  Was  versteht  man  unter  actor  publicus  und  maneipium?  Gieb 
die  Form  an,  wodurch  maneipium  bewirkt  wurde.  Zeige  deutlich,  was 
der  Zweck  der  oben  erwähnten  Verhandlung  war, 

•  •* . 

Zur  Uebersetsung  dieser  Stellen  und  zur  schriftlichen  Beantwortung 
dieser  Fragen  wurden  drei  Stunden  vergönnt.  Es  wird  freilich  niemals 
erwartet ,  dass  irgend  Jemand  in  dieser  Zeit  alle  diese  Fragen  beantworte. 
Man  will  aber  gerne  sehen,  wer  die  ausgebreitetste  und  geläufigste  Kennt- 
nis» hat.  Ehe  die  Studenten  die  Feder  ansetzen,  lesen  sie  gewöhnlich 
das  ganze  Papier  durch  und  fangen  damit  an,  worin  sie  sich  am  besten 
in  Hanse  fühlen,  um  so  viel  als  möglich  zn  thun,  und  arbeiten  fort,  bis 
ihre  Zeit  abgelaufen  ist ,  und  ihre  Arbeit  ihnen  weggenommen  wird.  Viele 
übersetzen  zuerst  alle  Stellen,  und  sehen  dann  zu,  welche  Fragen  sie 
beantworten  können.  Auf  die  Quantität  und  Qualität  des  Gelieferten  wird 
gesehen ,  nicht  auf  die  gegebene  Ordnung.  Nach  der  Quantität  nnd  Qua- 
lität werden  die  Zeichen  gegeben.  Als  das  ganze  Examen  vorbei  war, 
werden  alle  Zeichen,  die  Jeder  an  den  4  Tagen  erhalten  hatte,  addirt, 
und  die  Klassen  geordnet.  Das  zweite  Examen  fand  Statt  am  Ende  des 
dritten  Termins,  also  am  Schlüsse  des  ersten  Jahres.  In  der  Mathematik 
die  Übrigen  Bücher  des  Euclid,  Trigonometrie,  mündlich  und  schriftlich, 
wie  zuvor,  algebraische  und  arithmetische  Aufgaben,  den  erstem  ähn- 
lich, aber  schwerer.  Statt  Paleys  Evidences,  Locke  on  Che  human 
understanding.    Statt  des  lateinischen  Exercitiums  mnsste  eine  Stelle  aus 


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Tiarks:  Die  Universität  Cambridge. 


einem  englischen  Dichter  in  griechische  Jamben  übersetzt  werden.  Aber 
die  Zahl  derer,  die  es  wagten  die  Feder  anzusetzen,  war  nicht  sehr 
gross.  Dazu  gehört  Talent  und  Uebung,  und  wer  nicht  auf  der  Schule 
eine  Fertigkeit  darin  sich  erworben  hat,  findet  wenig  Zeit,  sich  noch 
darin  zu  üben.  Die  Versmacherei  wird  in  den  meisten  Schulen  stark 
getrieben. 

Von  grösserer  Bedeutung  war  wiederum  das  schriftliche  Examen 
Uber  Sophocles  Electra  und  Ober  das  Evangelium  Matlhäi.  Auch  die  in 
diesem  Examen  vorgelegten  Aufgaben  tbeile  ich  vollständig  mit,  um  io 
der  Angabe  der  Studien  des  zweiten  und  dritten  Jahres  kurz  sein  zu 
können. 

Sophoclis  Electra. 

St.  John's  College.    Mai  1850. 

1.  Uebersetze:  Tij;  TCOif)os<uc  rj  jiev  dia  fnu,fjo£o>c  SXt]  ionv, 
waitep  O'j  Xevai;,  tporroio'ta  ts  xa»  xo>uxt>dta,         dC  aTtocft&ias  du- 

TOD   T0$    7lO'.T}TOU  —  eSpOl{   3'  Sv    Gt'JTTjV   fJLoAlOTa   TTOU    h  dlftüpa/lßoi; 

Plat.  Rep.  III.  p.  394.  Erkläre  die  Anspielung  in  dieser  Stelle.  Zeige  den 
Ursprung  und  die  Entwickeloug  des  tragischen  Dialogs.  Welche  Regel  bat 
nach  Hermanns  Vermuthung  bei  der  Anordnung  und  Verbindung  der 
Schauspiele  geleitet,  welche  eine  Trilogie  bilden.  Erläutere  dieses  durch 
die  Oresteia.  Wer  war  der  TpaYu>äoö'tokaaxotXo;  ?  Welche  Schritte  tbat 
ein  Dichter,  um  ein  neues  Stück  auffuhren  zu  lassen? 

2.  Wann  wurden  die  Pythischen  Spiele  eingeführt?  Gieb  die  an- 
dern Panhellenischen  Feste  an.  Welche  ahnliche  Feierlichkeit  riefen  die 
Athener  wieder  ins  Leben?  und  wann?  Wie  wurde  das  Ende  der  Per- 
sischen Invasion  in  der  nächst  folgenden  Feier  der  Olympischen  Spieler  be- 
zeichnet? Gieb  die  politischen  Wirkungen  an,  welche  durch  diese  Pan- 
hellenischen Feste  hervorgebracht  wurden.  Beschreibe  die  Lage  von 
Delphi  und  Cressa.  Was  war  die  Ursache  und  der  Erfolg  des  ersten 
heiligen  Krieges?  Wie  gab  er  den  Vorwand  zum  zweiten  an  die  Hand? 
Gieb  eine  Skizze  von  den  Hauptbegebenheiten  des  letztern. 

3.  Uebersetze  v.  42.  ou  r«p  3e  —  48 

a)  Warum  lässt  Sophocles  den  Boten  angeben,  dass  er  von  Pha- 
noteus  komme?  Welche  Idee  ist  verleiblicht  in  der  Gegenwart  des  Py- 
lades?  Wie  ist  dieses  von  Aeschylus  ausgeführt,  und  von  Euripides  nicht 
berücksichtigt? 

B)  Erklare  vollständig  den  Gebrauch  von  oü  julvj  und  gieb  Beispiele. 
Ist  die  Leseart  G7ioirciuaü)Otv  in  v.  43  zulässig? 

4.  Ueberselze  v.  899  a><  Sb.  —  915  Taw.Ttuia. 


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Tiarks:  Die  Universität  Cambridge.  333 

d)  Warum  wird  u.rfA  gebraucht  in  911?  Ueb  ersetze :  Xfltl  taut' 
hc  otxiav  IXtouv  kl  &WWOV,  oT  jirj&e  ßa&C«v  i$rjv  a&T(i>.  Demosth. 

Mid.  §.21  aoch:  xor  ot  foopurcaTOi  To$e6ftaotv  Ix  «oXXou  £x0VT€C 

ÄXxjjv,  oi;  fii]£&  STie/.DcV;  ts  ijv.  Thuc.  IV.  32.  In  y.  914  liefet  Brun ck 
IXav&av  av ;  zeige,  dass  diese  Veränderung  unnöthig  ist. 

ß)  Zeige  die  Abstammung  der  Wörter  tayM  und  iptvuc  Welche 
Ideen  waren  damit  verbunden?  Wem  lag  nach  der  frühem  griechischen 
Ansicht  die  Pflicht  ob,  Blut  tu  rächen?  Wie  konnte  die  Rache  abge- 
wendet werden  und  in  welchen  Fallen? 

5.  Leb  ersetze  v.  720  xeivo;  6°  oV  auxYjv.  735  <p£pü>v. 

a)  Beschreibe  die  vornehmsten  Kämpfe  bei  den  griechischen  Spie- 
len, und  erkläre  die  Ausdrücke,  welche  oben  vorkommen.  Was  ver- 
sieht Herodot  unter  otxuz  TeftpuntOTpd<pc<;? 

p)  Gieb  ganz  genau  die  Bedeutungen  der  Präposition  Ix  an,  und 
erläutere  sie  durch  Beispiele.  Gieb  Stellen  an,  in  welchen  Sophoclea 
transitive  Verba  als  intransitive  gebraucht.  Was  ist  die  gewöhnliche  Be- 
deutung der  Verba  in  —  etvü>-uvo>  und  —  aivw? 

6.  Erkläre  die  folgenden  Constructionen. 

Hier  folgen  6  Stellen,  deren  Construction  etwas  ungewöhnliches 
hat.  Zur  schriftlichen  l .'Übersetzung  dieser  Stellen  und  zur  Beantwortung 
der  Fragen  wurden  wieder  drei  Stunden  vergönnt. 

Das  Evangelium  Mattbäi.    Cap.  I— XVIII. 
St.  John's  College.    Hai  1850. 

1.  Gieb  einen  kurzen  Bericht  von  den  vornehmsten  noch  vo Hin- 
deren Handschriften  des  griechischen  Testaments,  sammt  ihrem  wahrschein- 
lichen Alter.  Gieb  die  Geschichte  der  Septuaginta.  Wie  kann  man  es 
sich  erklären,  dass  die  Citationen  im  N.  Testament  und  in  frühem  Kir- 
chenvätern nicht  völlig  mit  den  Worten  der  Septuaginta  Übereinstimmen? 
Schreibe  nieder,  was  du  von  der  Hexapla,  der  Vulgate  und  dem  Textus 
Recentns  weisst. 

2.  Was  weiss  man  vom  Matthäus  aus  seinem  Evangelio?  Wie 
reden  die  andern  Evangelisten  von  ihm?  Wie  können  wir  uns  von  der 
Authenlicität  dieses  Evangeliums  überzeugen?  Welche  Kotzer  früherer 
Zeit  corrumpirten  das  ursprüngliche  Evangelium? 

3.  Warum  giebt  Matthäus  die  Genealogie  des  Joseph  und  nicht  die 
der  Maria?  Wie  gebt  es  aus  dieser  hervor,  dass  Jesus  von  David  ab- 
stammte?   Wie  weicht  er  von  Lucas  ab?  v 

Uebewetzc  Cap.  1,  22—25. 


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334 


Tiarks:  Wo  Universität  Cambridge. 


Wann  wurde  dies«  Weissagung  gegeben  ?  Zeige ,  wie  nichtig  die 
Bemühungen  der  Juden  aind,  diese  Weissagung  anders  iu  deuten.  Er- 
kläre genau  den  letzten  Vers,  und  beantworte  die  Einwürfe,  welche  gegen 
die  Anwendung  des  Titels  äsircapftivoc  auf  die  Jungfrau  Maria  gemacht 
worden  sind.  Welche  Weissagung  führt  'Bischof  Pearson  an  zur  Bestä- 
tigung der  Ueberzeugung  der  Kirche  in  allen  Zeiten? 

4.  Uebersetie  Cap.  U,  6. 

Gieb  <4ie  Worte  Aiicua's ,  und  erklare  die  scheinbare  Verschieden- 
heil.  Wer  waren  die  Magi?  Wo  kommt  das  Wort  wieder  im  N.  T. 
vor,  und  in  welcher  Bedeutung?  Welche  symbolische  Bedeutung  hat 
man  aus  ihren  Gaben  ableiten  wollen? 

5.  Uebersetze  Cap.  VIII ,  28—32. 

Vergleiche  dieses  mit  der  Nachricht  im  Marcus  and  Lucas?  Wie 
lüsst  sich  die  Verschiedenheit  erklären?  Was  war  der  wahrscheinliche 
Zweck  des  Wunders?  Führe  andere  ähnliche  an.  Erkläre  ~i  tjuiv  xat 
ooi.    Wie  ist  diese  Redensart  verschieden  von  xt  rjuac? 

6.  Uebersetze  Cip.  XII,  31.  32. 

Erkläre,  was  mit  dieser  Blasphemie  gemeint  ist.  Citire  den  Ar- 
tikel :  Of  Sin  alter  Baptism.  Beweise  aus  dieser  Stelle  die  göttliche  Per- 
sönlichkeit des  heiligen  Geistes.  Welche  Ketzer  leugneten  die  Lehre,  und 
auf  welcher  allgemeinen  Kircheaversammlung  wurde  diese  Ketzerei  ver- 
dammt? Welcher  Zusats  wurde  auf  dieser  Kirchenversammlung  zu  Einem 
von  den  Glaubensbekenntnissen  gemacht? 

7.  Gieb  des  Herrn  Antwort  auf  die  Frage:  warum  redest  du  zu 
ihnen  durch  Gleichnisse?  Zeige,  wie  man  den  verschiedenen  Zweck,  den 
Matthäus  und  Lucas  bei  der  Abfassung  ihrer  Evangelien  hatten,  in  den 

von    iedem    milpetheillen    Gleichnissen    erkennen    kann      Ciph    lettre  rfpn 

Hauptunterscbied  an ,  der  in  der  Moral  des  Gleichnisses  vom  Unkraut  und 
vom  Netze  Statt  findet,  und  zeige,  wie  beide  zu  demselben  Zweck  miss- 
braucht worden  sind. 

8.  Uebersetze  S.  Cyril.  Hierosol.  Catech.  XVII,  85. 

Gieb  ganz  genau  den  Unterschied  an  zwischen  Xourpov  fieTOVOt«; 
und  Xotrrpov  TzoÜJ.tfsveriaz. 

Wie  weit  ist  die  allegorische  Interpretation  historischer  oder  pro- 
phetischer Schriften  durch  apostolisches  Beispiel  gerechtfertigt?  Welche 
Stelle  aus  Pauli  Episteln  verdrehten  die  Mystiker,  M  Gunsten  ihrer  Aus- 
lcgungsweise? 

So  viel  Uber  die  Studien  des  ersten  Jahres.  Alle,  die  durch  die 
Zahl  ihrer  Zeichen  in  die  erste  Klasse  kommen,  erhalten  Belohnungen. 


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Tiarks:  Die  Universität  Cambridge  33 1 

Jeder  voi  ihnen  kann  sieb  Bücher  wählen ,  die  mit  dem  Einbände  nicht 
über  zwei  Pfand  Sterling  kosten.  In  St.  John's  wird  gewöhnlich  150 
Pfand  jährlich  dazu  ausgesetzt.  Die  Examina  in  den  andern  Colleges 
werden  auf  eben  die  Weise  gehalten,  obgleich  die  Gegenstände  fast  in 
jedem  College  verschieden  sind.  Denn  die  Wahl  hängt  von  dem  Master 
und  deo  ältesten  Fellows  eines  jeden  College  ob.  In  der  Mathematik 
ffelit  es  in  jedem  College  so  ziemlich  gleichen  Schrittes  von  Termin  zu 
Termin  vorwärts.  ;  . 

Ehe  ich  zu  deo  Studien  des  zweiten  Jahres  tibergehe,  muss  ich 
etwas  vorgreifen,  und  ein  Wort  über  die  beiden  Universitats- Examina 
sagen,  weil  diese  einen  Einfloss  auf  diese  Studien  ausüben.    Alle,  die 
fünf  volle  Termine  hinter  sieh  haben,  haben  das  erste  Universitflts-Exa- 
men  zu  bestehen.    Dieses  Examen  heisst  tbe  previoos  Examina  tion ,  die 
Studenten  nennen  es  aber  the  little  Go  (der  kleine  Gang  ins  Senatshaus, 
wo  dieses  Examen  gehalten  wird).    Die  Examinatoren  werden  vom  Se- 
nat ans  den  FeUows  verschiedener  Colleges  erwählt,  und  die  Anfgabea 
werden  schon  im  Laufe  des  ersten  Jahres  in  jedem  College  durch  einen 
geschriebenen  Anschlag  bekannt  gemacht.    Die  Aufgaben  für  dieses  Exa- 
men, das  im  April  1851  Statt  finden  wird,  sind  folgende:  1)  das  Evan- 
gelium Marci,  2)  Paleys  Evidences,  3)  die  Geschichte  des  Alten  Testa- 
menls.  Piatos  Apologie  und  Crüo.    Horotius  Ars  Poetica.  Eecjids  erstes 
und  zweites  Buch,  AJgebra  und  Arithmetik.    Diejenigen,  welche  gut  be- 
steben, kommen  in  die  erste,  diejenigen,  welche  nur  bestehen,  in  die 
zweite  Klasse.    In  ihren  Klassen  werden  sie  aber  nur  alphabetisch  ge- 
ordnet.   Die  Namen  aller,  welche  durchgekommen  sind,  werden  öffent- 
lich bekannt  gemacht,  und  erscheinen  immer  in  den  fünf  Haupt-Zeitungen 
Londons.    Von  dem,  dar  durchfallt,  sagen  die  Studenten  he  bas  been 
plucked  (er  ist  gepflückt  worden).  Diejenigen ,  welche  durchlallen,  kön- 
nen sich  xu  einem  zweiten  Examen  stellen,  das  im  folgenden  October 
gehalten  wird.    Dieses  Examen  nennen  die  Studenten  the  post  mortem 
examinatioo.    Kommen  sie  in  diesem  durch,  so  verlieren  sie  nichts,  fal- 
len sie  aber  auch  hier  durch,  so  verlieren  sie  ein  Jahr,  indem  Niemand 
zum  zweiten  Examen  zugelassen  wird ,  der  nicht  durch' s  erste  gekommen 
ut   Nach  Ablauf  des  eilften  Termins  im  Januar  findet  das  zweite  Uni* 
versitäts-Examen  für  diejenigen  Statt,  welche  ihr  erstes  Examen  best  an- 

grosse  Gang}.  Diejenigen,  welche  in  diesem  Examen  bestehen,  werden 
unmittelbar  darauf  zu  Balchelors  of  Arts  (baccalaurei  Artium)  gemacht, 
auf  eine  Weise,  die  ich  hernach  ausführlicher  beschreiben  muss  und  genau 


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336  Tiarki:  Die  Universität  Cambridge. 

beschreiben  kann,  indem  ich  im  vorigen  Jänner  Augenzenge  davon  ge- 
wesen bin.    Das  Examen  ist  ein  zweifaches,  und  es  steht  einem  jeden 
gänzlich  frei,  zu  welchem  von  beiden  er  sich  stelle»  will.    Das  Eine  ist 
für  Candidates  for  Honors,  das  Andere  für  solche,  die  sich  mit  einem 
ordinary  degree  begnügen.    Die  letzten  werden  Poll-men  genannt  (ot 
rcoAAöQ ,  die  ersten  honor-men.  Gewohnlich  entschliesst  Jeder  sich,  wenn 
nicht  schon  früher,  am  Anfange  seines  zweiten  Jahres ,  auf  welches  Exa- 
men er  sich  vorbereiten  will ,  und  darnach  werden  von  da  an  seine  ma- 
thematischen Studien  geordnet,  indem  von  den  honor-men  sehr  viel,  von 
den  Poll-men  verhältnissmässig  wenig  erwartet  wird.    Von  da  an  heisst 
ea  von  dem  Einen  he  reads  for  honors,  von  dem  Andern  he  reads  for 
the  Poll.    Die  Candidates  for  honors  haben  erst  an  drei  auf  einander 
folgenden  Tagen  ein  schriftliches  Examen  in  den  mathematischen  Wissen- 
schaften zu  bestehen.    Von  dem,  der  durch  dasselbe  nicht  kommt,  sagt 
man  he  hns  been  gnlphed,  und  ein  solcher  bat  dann  die  Wahl,  in  den 
Poll-men  überzugehen  und  sein  Glück  unter  diesen  zu  versuchen,  oder 
bis  zum  nächsten  Jahre  zu  warten.  Diejenigen ,  welche  über  die  drei  Tage 
glücklich  hinauskommen,  werden  dann  an  sieben  auf  einander  folgenden 
Tagen  wiederum  in  der  Mathematik  und  Astronomie ,  in  Kirchengeschichle, 
in  der  Apostelgeschichte  und  einer  der  längeren  oder  zweien  der  kür- 
zern Epistel  und  Paleys  natural  philosophy  examinirt.  Die ,  welche  durch- 
kommen, werden  in  drei  Klassen  eingeteilt,  je  nachdem  sie  bestehen. 
Die  der  ersten  Klasse  beissen  Wranglers,  die  der  zweiten  senior  opti- 
nies  (der  englische  Plural  von  optima),   die  der  dritten  junior  optimes. 
Der  erste  Wrangler  heisst  senior  Wrangler,  und  bat  nicht  allein,  wie 
hernach  gezeigt  werden  wird,  grosse  Ehre,  sondern  wird  auch  bald  zu 
einem  Fellow  seines  College  erwählt    Den  untersten  der  Wrangler  nen- 
nen die  Studenten  the  golden  Spoon  (den  goldenen  Löllel),  den  unter- 
sten der  senior  optimes  the  silver  Spoon  (den  silbernen  Löffel)  und  den 
untersten  der  junior  optimes  the  wooden  Spoon  (den  hölzernen  Löffel) 
Die  letzten  zwölf  der  junior  optimes  nennen  sich  die  zwölf  Apostel.  Die 
Poll-men    werden  nach  überstandenem  Examen  in  vier  Klassen  getheilt. 
Aus  den  Poll-men ,  welche  durchfallen ,  wählen  die  Examinatoren  oft  noch 
zwei  oder  drei  ans  Mitleiden  aus,  wenn  ihre  Aufführung  während  ihrer 
universiiaihLeit  gut  gewesen  ist  una  lassen  sie  mu  üurcniouieu.  uieso 
werden  the  elegant  extracts  (die  eleganten  Auszüge)  genannt. 

(FortseUmg  folgt.) 

* 


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Nr.  22.  HEIDELBERGER  1851: 

JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR. 

TlurkHi  Die  Vnlverflltut  Cambridge. 


(PorUeUung.) 

Die  andern  Durchgefallenen  können  sich  im  October  noch  einmal 
(post  mortem  examination)  examiniren  lassen,   und  kommen  sie  dann 
durch,  10  erhallen  sie  ihren  Grad  und  werden  Bachelors  of  Arts,  wo 
nicht,  so  müssen  sie  bis  zum  nächsten  Jahre  warten.    Nicht  selten  trifft 
es  sich,  dass  einige  lustige  Bursche  sich  mit  Fleiss  pflücken  lassen,  um 
nur  länger  auf  der  Unirersilät  im  College  bleiben  zu  können.    Im  liltlo 
Go  Examen  kommen  noch  dann  und  wann  komische  Sachen  vor.  Wenn 
solche  rostige  Bursche  (fast  men  werden  sie  genannt,  wahrend  die  fleis- 
sigen  reading  men  licissen)  im  Laufe  des  Examens  deutlich  sehen,  dass 
sie  durchfallen  werden,  machen  sie  noch  gern  einen  Spass,  ehe  sie  ab- 
gewiesen werden.    Im  letzleu  Examen  wurde  Einer  gefragt:  which  wero 
the  names  of  the  twelve  Apostles?  (wie  heissen  die  zwölf  Apostel.)  Er 
antwortete:  the  first  was  Clay,  and  the  secood  was  Craigh,  but  I  do 
not  remember  the  names  of  the  olher  ten  (der  erste  war  Clay,  der 
iweite  Craigh ,  aber  ich  erinnere  mich  uicht  der  Namen  der  andern  zehn). 
Er  dichte  an  die  letzten  zwölf  junior  optimes  dieses  Jahres.    Ein  ande- 
rer antwortete  auf  eine  ihm  vorgelegte  Frage:  I  have  <io  idea  of  what 
it  tan  be,  bnt  I  hope  you  will  be  so  kind  as  to  give  me  some  Infor- 
mation on  the  subject;    it  might  be  useful  to  me  in  afler-life  (ich 
habe  keine  Idee  davon,  was  es  sein  kann,   über  ich  hoffe,  Sie  wer- 
den die  Gttte  haben,  mir  einige  Belehrung  darüber  zu  geben,  es  könnte 
mir  im  nachherigen  Leben  nützlich  sein).    Vier  Wochen  nach  diesem 
great  60 ,  nachdem  schon  der  Grad  des  B.  A.  ertheilt  worden  ist,  folgt 
noch  ein  Universitats- Examen  in  der  klassischen  Literatur.    Zu  diesem       *  ' 
wird  Niemand  gezwungen.    Bis  zu  diesem  Jahre  konnten  nur  Honor-men, 
Wringlers  senior  und  junior  Optimes  sich  dazu  stellen,  welche  im  Poll 
in  der  ersten  Klasse  erschienen.    Dieses  Examen,  wie  auch  das  des  Poll, 
wird  hernach  näher  angegeben  werden.    Es  wurde  hier  nur  darauf  hin- 
bedeutet ,  um  es  verständlich  zu  machen,  warum  die  Studien  derjenigen, 
die  ihre  academische  Laufbahn  zur  selben  Zeit  angetreten  haben,  von  dem 
tweiten  Jahre  an  in  manchen  Stücken  von  einander  abweichen.  Die 
XLIY,  Jahrg.  3.  Doppelheft.  22 


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338  -  Tiarks:  Die  Universität  Cambridge. 

•    «  - 

■     »  * 

Candidates  for  honors,  die  nur  fUr  Mathematik  Sinn  und  Geschmack  ha- 
ben und  Wranglers  zu  werden  wünschen ,  bereiten  sich  der  Mehrzahl  nach 
nur  auf  die  klassischen  Aufgaben  vor,  die  im  Utile  Go  Examen  vorkom- 
men ,  und  sobald  sie  dieses  hinter  sich  haben ,  werden  die  Klassiker  an 
den  Nagel  gehängt.  Diejenigen,  welche  die  Klassiker  der  Mathematik 
vorziehen,  suchen  in  der  letztern  oft  nur  so  weit  zu  kommen,  dass  sie 
ihre  Stelle  unter  den  Honor-men  oder  in  der  ersten  Klasse  der  Poll-men 
zu  Anden  hofTen  dürfen.  Fleissigen  und  talentvollen  jungen  Leuten  ge- 
lingt es  manchmal,  in  beiden  eine  hohe  Stelle  einzunehmen;  Wranglera 
zu  sein  und  in  der  ersten  Klasse  im  klassischen  Examen  zu  erscheinen, 
ist  keine  unbedeutende  Ehre.  Auch  trifft  es  sich,  dass  diejenigen,  die 
nur  so  weit  in  der  Mathematik  zu  kommen  suchen,  dass  sie  Honor-mea 
zu  werden  hoffen ,  sich  betrogen  finden.  Am  Ende  der  drei  ersten  Tage 
heisst  es  von  manchen  gulphed.  Mit  diesen  sieht's  dann  Übel  aus.  Auf 
das  Poll  Examen,  das  unmittelbar  auf  das  andere  folgt,  sind  sie  nicht 
vorbereitet,  und  haben  wenig  Hoffnung  in  die  erste  Klasse  zu  kommen. 
Auf  diese  Weise  wird  ihre  Hoffnung,  im  klassischen  Examen  hoch  zu  ste- 
hen, oft  gänzlich  vereitelt. 

Viele  von  denen,  welche  Candidates  for  Honors  zu  werden  geden- 
ken, nehmen  schon  im  ersten  Jahre  Privat  -  Unterricht  bei  einem  Fellow, 
aber  fast  alle  im  zweiten  Jahre ,  entweder  in  der  Mathematik  oder  in  den 
Klassikern,  oder  in  beiden.  Die  besten  Fellows,  die  keine  Tutors  sind, 
aber  in  ihrem  Examen  hoch  gestanden  haben,  sind  wahrend  eines  Terra 
oft  den  ganzen  Tag  mit  Privalstunden  beschäftigt,  wofür  anständig  be- 
zahlt wird.  Für  L.  14  per  Term  geben  sie  täglich  Eine  Stunde,  für 
L.  7  per  Term  drei  Stunden  wöchentlich.  Einen  solchen  Privat-Lehrer 
nennen  die  Studenten  a  coach  (eine  Kutsche)  und  von  dem,  der  einen 
solchen  bat,  heisst  es  he  has  a  coach  (er  hat  eine  Kutsche),  oder  he 
is  Coaching  with  so  and  so  (er  kutschirt  mit  dem  und  dem). 

Um  zum  Studium  der  klassischen  Literatur  zu  ermuntern,  findet  in 
St.  Johns  College  gleich  nach  dem  little  Go  im  April  eines  jeden  Jahres 
ein  voluntary  classical  Examina tion  Statt.  Zu  diesem  können  die  Männer 
des  zweiten  und  dritten  Jahres  sich  stellen,  wenn  sie  wollen.  Die  Ge- 
genstunde  des  Examens  werden  schon  früh  durch  einen  schriftlichen  An- 
schlag bekannt  gemacht.  Für's  nächste  Examen,  im  April  1851,  sind  fol- 
gende bestimmt: 

1.  Cicero'*  de  oratore  erstes  Buch.  2.  Die  Wespen  des  Aristo- 
phanes.  3.  Das  achte  Buch  des  Thucydides.  Das  Examen  ist  schriftlich 
und  mündlich  denen  des  ersten  Jakes  üluilich.   Zugleich  werden  auch 


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Tiarks:  Die  Universität  Cambridge. 


339 


Uebersetzunflren  ins  Lateinische  und  Griechische  in  Prosa  und  Versen  ire- 
fordert  Alle ,  die  in  die  erste  Klasse  können ,  erbitten  Belohnungen  an 
schönen  Büchern. 

Nach  diesen  einleitenden  Bemerkungen  kann  ick  mich  über  die 
Studien  des  zweiten  und  dritten  Jahres  kurz  lassen. 

Die  Poll-meo  gehen  nicht  Uber  die  Gegenstände  hinaus,  die  in 
iwlwtt  a&JLdU€D  York  oro  Iii  öd  |  u  o  ei  Dohiucn  1/11  zw  t  cd  Jshf  o  d  ur  so  den 
mathematischen  Vorlesungen  Theil,  in  welchen  diese  Gegenstände  abge- 
handelt werden.  Diese  sind,  ausser  dem  Euclid,  Algebra  und  Arithme- 
tik, Mechanics  und  Hydrostatics.  Die  Honor-men  dagegen  gehen  weiter 
und  treiben  sammt  Mechanics  und  Hydrostatics  auch  Conics,  Statics,  Dy- 
namics und  Newtons  prineipia,  und  zwar  nicht  allein  in  den  College  Ver- 
lesungen, sondern  sie  bereiten  sich  auf  diese  unter  der  Leitung  eines 
Privatlehrers  vor.  Die  eben  angegebenen  Gegenstände,  die  in  dem  so- 
genannten liiile  go  Examen  vorkommen ,  werden  in  jedem  Jahre  in  allen 
Colleges  mit  den  Studenten  des  zweiten  Jahres  durchgenommen.  Weil 
es  aber  iu  jedem  College  Manche  giebt ,  die*  im  Lateinischen  und  Grie- 
chischen nicht  besonders  beschlagen  sind,  so  gehen  die  Tutors  nicht  be- 
sonders tief  in  diese  Gegenstände  ein,  sondern  sorgen  nur,  so  viel  als 
möglich,  dafür,  dass  auch  die  schlechtesten  durch 's  Examen  kommen. 
D it*s c  \orIcsuu^cn  ^cwülircn  d&licr  such  doli  B ö^sc rn  ^\  co  i  ^  Nutt^cn^  uod 
wenn  diese  sich  zu  den  Vorlesungen  über  die  oben  genannten  Gegen- 
stände des  voluntary  classieal  Examen,  die  in  jedem  Jahre  gehalten  wer- 
den, melden,  so  wird  es  ihnen  vergönnt,  die  erstem  nicht  an  besuchen. 
Sie  haben  sich  jedoch  privatim  auf  jene  Gegenstände  vorzubereiten,  weil 
im  Examen  darüber  keine  Rückzieht  darrauf  genommen  wird,  ob  sie  diese 
w^rÄc ä u o ^ c w  l)  es  u c h t  litt L) c u  ö d ©■r  ßicii t «  ^^^us  den  S iuderitcn  dos  ä^tV^ Ii 01 
Jahres  viel  zu  schaffen  macht ,  und  von  wenigen  mit  Lust  und  Liebe  ge- 
trieben wird ,  ist  Paleys  nsoral  Pbilosophy.  Wer  aber  die  dafür  im  Exa- 
men gegebenen  Zeicbeu  nicht  verlieren  will,  mnss  sich  nolens  volens 
daran  machen.  Denn  ausser  dem  Universitäts  Utile  go  Examen  findet  für 
die  Studenten  des  zweiten  Jahres  auch  noch  ein  College  Examen  Statt 
Uber  die  im  Laufe  des  Jahres  abgehandelten  Gegenstände,  und  zwar  auf 
dieselbe  Weise  wie  im  ersten  Jahre,  und  diejenigen,  welche  wiederum 
in  die  erste  Klasse  kommen,  erhalten  anch  wiederum  ihre  Bücher-Preise. 

Die  Poll-men  gehen  auch  im  dritten  Jahre  nicht  über  die  erwähn- 
ten mathematischen  Gegenstände  hinaus,  haben  aber  die  Vorlesungen  zu 
besuchen,  welche  über  die  lateinischen  nnd  griechischen  Schriftsteller  und 
die  Bicher  des  N.  Test,  gehalten  werden ,  die  f ür  s  Poll  Examen  bestimmt 

»3! 


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840 


Tiarks:  Die  Universität  Cambridge. 


worden  sind.  Diese  sind  für  1851  Euripides  Medea,  und  das  44.  Bach 
des  IM»,  im  N.  Test  die  letzten  14  Capitel  der  Apostelgeschichte  und 
der  erste  Brief  an  die  Coriotber.  In  den  beiden  letztem  werden  auch 
die  Honoremen  examinirt  und  haben  sich  desswegen  auch  darauf  vorzu- 
bereiten, aber  mit  den  beiden  erstem  brauchen  sie  sich  nicht  zu  beschäf- 
tigen, wenn  sie  nicht  wollen;  und  keiner  von  ihnen  thut  es,  der  sich 
vor  dem  obengenannten  gulphed  ziemlich  sicher  fühlt.  Die  Honor-men, 
die  sich  nur  auf  das  Eiue  der  letzten  Universität  -  Examina  vorbereiten, 
beschuftigen  sich  im  dritten  Jahre  ganz  besonders  mit  den  höhere  mathe- 
matischen Wissenschaften  und  der  Astronomie,  und  diejenigen,  welche 
auch  ins  klassische  Examen  zn  gehen  gedenken,  studiren  die  Klassiker 
besonders  unter  der  Leitung  eines  Privatlehrers.  In  den  langen  Sommer- 
ferieu,  die  vom  Anfang  Juni  bis  zum  zehnten  October  dauern,  bleiben 
viele  von  den  Honor-men,  besonders  die  des  letzten  Jahres,  die  meiste 
Zeit  Über  im  College ,  um  unter  der  Leitung  eines  Privatlehrers  ihre  Stu- 
dien fortzusetzen.  Für  Honor-men,  die  eine  hohe  Stelle  einzunehmen 
wünschen,  ist  dieses  unumgänglich  nothwendig.  In  St.  Jobn's  College 
herrscht  ein  solches  Streben,  dass  von  den  345  Studenten  im  August  die- 
ses Jahres  über  100  sich  im  College  aufhielten,  um  ihre  Studien  fortzu- 
setzen. Fanllenzer  werden  in  den  Ferien  in  keinem  College  geduldet, 
dürfen  sich  überhaupt  nicht  in  Cambridge  aufhalten.  Diejenigen,  welche 
zu  bleiben  wünschen,  müssen  am  Ende  des  dritten  Termins  um  Erlaubniss 
ansuchen,  und  diese  wird  nur  solchen  gegeben,  von  welchen  die  Tutors 
überzeugt  sind ,  dnss  sie  arbeiten  werden. 

Der  letzte  elfte  Termin,  der  dem  letzten  Examen  unmittelbar  vor- 
hergeht, wird  zur  Repetition  aller  Gegenstände  angewandt,  Uber  die 
Examen  gehalten  wird,  und  von  welchen  jetzt  eine  allgemeine  Ueber- 
sicht  folgt. 

1)  Das  Examen  der  Honor-men. 

Jan.  2.    Donnerstag  Morgens      von  9  —12  Euclid  and  Conics. 

Nachmittags  von  1 J — 4    Arithmetic,   Algebra  and 

Plane  Trigonometry. 

Jan.  3.    Freitag       Morgens      von  9  — 12  Statics  and  Dynamics. 

Nachmittags  von  1} — 4    Hydrostatics  and  Optics. 

Jan.  4.    Sonnabend    Morgens      von  9  —12  Newton  and  Astronomy. 

Nachmittags  von  1J— 4    Problems  in  all  the  pre- 

ceediug  subjects. 

Dieses  sind  die  oben  erwähnten  ersten  drei  Tage ,  an  welchen  ent- 
schieden wird,  ob  diejenigen,  die  sich  einstellen,  honors  verdienen  oder 


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Tiarks!  Die  Universität  Cambridge."  341 

Bichl    Wer  keine  honors  verdient,  wird  jetzt  abgewiesen,  he  \*  gnU 
phed.    Für  die  derselben  würdig  befundenen   folgen  dann  noch  sie- 
ben Tsge.  / 
Jio.  13.  Montag     Morg.  von    9  —12  Natural.  Philosophy. 

Nachm.  „     1» —  4  Pure  Hatbematioa.         ,   .  . 

14.  Dienstag  Morg.  „     9  —12  Problems. 
Nachm.  „     i\ —  4  Natural  Philosoph^! .  s  ;  :  * 

15.  Mittwoch  Morg.  „     9  — 12  Problems. 
Nachm.  „             4  Pure  Mathematics.     .  i 

16.  Donnerst.  Morg.  „     9  —  12  Problems.          "  -  •  m 
Nachm.  „     1J—  4  Pure  Mal  Lemmies  and  Natural 

Philosoph*.      :  \  ' !  ' 

17.  Freitag     Morg.      „     9  —12  „  V  ' 
Nachm.    „     1i—  4 

18.  Sonoabd.  Morg.     „     9—12  Paley  and  Ecclonastical  Hiitory. 
Nachm.    „     1{—  4  Acts  and  Epistles.  f 

19.  Montag    Morg.     „     9  —12    „      M       ;  • 

Nachm.    „   124— 34  Paley  and  EccIeeiasticalHistory. 

i*i       ••  .• » 

2)  Das  Examen  der  PoU-raen.         ...  ....     : .  , 

Jan.   8.  Mittwoch    Morg.    von    9  —12  1.  Division  Euclid.         ,  , 

Nachm.    n   12{— 34  2.  Div.  Arithmetic  and  Algebra- 
a     9.  Donnerst.  Morg.      „     9  — 12  i.  Div.       „  n 

Nachm.    „   12|—  34  2.  Div.  Enclid. 
,    10.  Freitag     Morg.     B     9  -12  l.Div.  Mechanics  and  Hydro- 

statics, 

Nachm.    „   12^ —  34  2.  Div.        „  w  . .  / 

„    11.  Sonnabd.   Morg.     „     9  — 12  l.Div.  Latin  Subjecl. 

Nachm.    „   124— 34  2.Div.  Greek  Subject. 
„    18.  Sonnabd.  Morg.     „     9  —12  l.Div.  Paley  and  Ecclesiasti- 

cal  History. 

Nachm.    H   12J— 34  2.  Div.  Acts  and  Epistles.  . 
„    20.  Montag      Morg.      n     9  —12  l.Div.    n   '  *     •  [ 

Nachm.    „  124—34  2.  Div.  Paley  and  Ecelesiaati- 

c«l  Uitlof»  m>. 

„   21.  Dienstag    Morg.     „     9  —12  l.Div.  Greek  Subject. 

Nachm.    4   124—34  2.  Div.  Latin  Subject.  ! 

Am  nächst  folgenden  Freitage,  also  am  25.  Jan.,  wird  das  Resul- 

ötTentlich  durch  einen  Anschlag  bekannt  gemacht. 


342  Tiarks:  Die  Universität  Cambridge. 

Die  Ilonor-men  bilden  drei  Klassen,  Wranglers,  Senior  optimes,  Junior« 
optimal,  die  Poll-men  vier,  erste,  zweite,  dritte  und  vierte  Klasse;  und 
in  den  verschiedenen  Klassen  werden  sie  nach  Verdienst,  nach  der  Zahl 
der  Zeichen,  die  jeder  bekommen  hat,  geordnet.  Schon  am  folgenden 
Tage,  8m  Sonnabend  den  25.  Jan.,  wird  dann  allen,  die  durchgekom- 
men Bind,  der  Grad  eines  Bachelor  of  Arts  ertheitt  auf  eine  Weise,  die 
ich  {etat  zuerst  angeben  will. 

Um  diese  Ceremonie  mit  eignen  Augen  anzusehen,  ging  ich  im 
vorigen  Januar  nach  Cambridge.  Obgleich  das  Senatshaus,  wo  die  Ce- 
remonie Statt  findet,  nie  vor  10  Uhr  Morgens  geöffnet  wird,  so  war  es 
doch  schon  um  halb  10  Uhr  von  Herrn  und  Damen  belagert,  die  einen 
guten  Platz  zu  haben  wünschen.  Der  untere  Theil  des  Hauses  fasst  eioige 
Tausend  Menschen,  und  alle  Mitglieder  der  Universität,  Fcllows,  Masters 
of  Arts  und  selbst  Fellow  -  Commoners  haben  das  Recht ,  Freunde  oder 
Bekannte,  Herren  und  Damen  dort  einzuführen.  Oben  zieht  sich  eine 
ziemlich  breite  Gallerie  um  das  ganze  Zimmer.  Hier  haben  die  Under- 
graduates  und  das  Publikum  Zutritt.  Als  die  ThUre  sich  anfthat,  entstand 
ein  solches  Gedränge  unter  denen,  die  nach  langem  Warten  zuerst  hin- 
einzukommen suchten,  dass  ich  meinem  Freunde,  der  mich  einführte,  zu- 
rief: „man  glaubt  zu  schieben,  und  man  wird  geschoben",  und  in  we- 
nigen Minuten  war  das  Zimmer  gedrängt  voll.  Nach  einigen  Ceremooien, 
die  in  einem  andern  Zimmer  abgemacht  wurden,  wurde  der  Vice-Chan- 
cellor,  von  den  Proctors  und  einigen  Masters  of  Colleges  begleitet,  von 
den  Bedells  nach  seinem  Throne  geführt,  alle  in  vollem  Ornat.  Der 
erste  Bedell  rief  den  Vätern  der  verschiedenen  Colleges  zu,  ihre  Söhne 
in  Bereitschaft  zu  haben.  Der  senior  Wrangler  hat  die  Ehre,  von  dem 
Vater  seines  College  erst  ganz  allein  dem  Vice- Chancellor  vorgestellt  zu 
werden.  St.  Jobu's  College  hat  vier  Jahre  hinter  einander  die  grosse 
Ehre  gehabt,  den  senior  Wrangler  zu  produziren.  Der  Vater  (ein  Fel- 
low und  Tutor  seines  College)  nimmt  seinen  ausgezeichneten  Sohn  bei 
der  rechten  Hand  und  stellt  ihn  dem  Vice  -  Chancellor  mit  diesen  Worten 
vor:  Mgnissime  Domino,  Domine  Pro* Cancellarie,  et  tota  Universitär, 
praesento  Vobis  hunc  juvenem,  quem  scio  tarn  moribus  quam  doctrina 
esse  idoneum  ad  respondendum  quaestioni,  idque  tibi  fide  mea  praesto 
totique  Academiae. 

Der  senior  Wrangler  legt  dem  folgenden  Eid  ab: 
I  do  sincerely  promise  and  swear,  that  I  will  be  faitbful  and  beer 
true  allegiance  to  her  Majesty  Queen  Victoria,  So  help  me  God.    I  do 
sweer,  that  1  do  Crom  my  beert  abbor,  detest,  and  ahjure  es  impious 


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i  Tiarki:  Die  Universität  Cambridge.  $43 

and  heretical  that  damnable  doctrine  and  position;  Thal  princes  cxcom- 
municated  or  deprived  by  the  Pope  or  any  authority  of  the  See  of  Rome> 
may  be  deposed  or  mardered  by  tbeir  subjects  or  any  other  whotsocvcr. 
Aod  I  do  declare,  that  no  foreign  prince,  person,  prekite,  State  or  po- 
tentate  halb  or  ought  to  have  any  Jurisdiction,  power,  superiority,  pre- 
eminence  or  anthority  ecclesiastical  or  spiritual  within  this  realm.  So» 
neip  nie  uua. 

Darauf  lieset  der  älteste  Praetor ,  der  zur  Linken  des  Vice-Chan- 
cellors  steht,  ihm  folgende  Erklärung  vor: 

Affirmabis,  quod  nihil  ex  iis  omnibus  sciens  volens  praetormisisti, 
qoae  per  leges  et  comprobatas  consuetudines  hujus  Academiae  ad  hunc 
gradum,  quem  ambis,  adipiscendum  aut  peragenda  aut  persolvenda  re- 
quiruntur,  nisi  quatenus  per  Gratiam  ab  Academiae  concessam  tecum  dis- 
pensatus  fueris. 

Dabis  fidem,  quod  Cancellario  et  Pro-Cancellario  nostro  comiter 
obtemperabis;  et  quod  Statuta  nostra,  Ordinationes  et  Consuetudines  ap- 
probatas  observabis. 

Dabis  fidem,  quod  in  Bibliothecam  publicam  et  Museum  honoratis- 
simi  Domini  Vico-Comilis  Fitzwilliam  admissus,  jure  isto  ita  uteris,  ut 
quaotom  in  te  est,  nihil  inde  detrimenti  capiat  vel  Bibliotheca  vel  Ha- 
seum  praedictum. 

Dabis  fidem  etiam,  quod  Compositionem  inter  Academiam  et  Colle- 
gium  Regale  factam,  sciens  volens  non  violabis.  In  haec  autem  verba 
jurabis  secundum  tenorem  senatusconsulti  in  cautelam  jurantium  facti. 
Ita  le  Deus  adjuvet  et  saneta  Dei  evangelia. 

Nachdem  der  senior  Wrangler  darauf  geantwortet  hat:  Ita  afTirmo 
el  tla  do  fidem,  kniet  er  vor  dem  Vice  -  Cbancellor  nieder,  legt  seine 
ausgestreckten  Hände  auf  dessen  Kniee.  Der  Vice  -  Cbancellor  fasst  beide 
Hände  und  spricht  folgende  Worte :  Auctoritate  mihi  commissa  admilto  te 
ad  respondendum  quaestioni  in  nomine  Patris  et  Filii  et  Spiritus  Sancti. 
Amen,  und  nimmt  die  Mütze  ab.  Der  senior  Wrangler  ist  dann  fertig. 
Dann  folgen  zuerst  die  Väter  von  Kings,  Trinity  nnd  St.  Jobn's  Colleges 
mit  ihren  Sühnen;  jeder  Vater  stellt  aber  nur  fünf  von  diesen  zugleich 
vor,  immer  mit  den  Worten:  Praesento  vobis  hos  jnvenes,  quos  scio  etc. 
Dann  folgen  die  kleineren  Colleges  nach  der  Seniorität  der  Väter  and 
thuo  dasselbe.  Wenn  alle  vorgestellt  worden  sind,  stellen  sie  sich  wie- 
des  in  Parteien  von  fünfzehn  nach  ihren  Klassen,  Wranglers,  senior  Op- 
times,  junior  Optimes,  erste,  zweite,  dritte  und  vierte  Klasse  der  Poll- 
men,  in  der  Ordnung,  in  welcher  sie  auf  der  Liste  der  Examinatoren 


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Tiarkf:  Die  Universität  Cambridge, 


stehen ,  in  einem  Halbkreise  um  den  Vice  -  Cliancellor.  Der  erslo  von 
jeder  Partei  legt  im  Namen  Aller  der  Königin  den  Eid  der  Treue  ab, 
aber  jeder  Einzelne  muss,  während  fünf  ein  ihnen  vom  Bedell  gereichtes 
Testament  fassen,  die  Betheurungsworte  wiederholen  und  das  Testament 
küssen.  Wenn  dieses  geschehen  ist,  spricht  der  iiiteste  Proctor:  eadem 
juramenta,  quae  praestitit  Uenricua  Guilielmus  Besant  (senior  Wraugler 
dieses  Jahres}  in  sua  persona,  vos  quoque  praestabitis  in  vestris  perso- 
nis.  Dann  wird  die  genze  Formel  wiederholt.  Affirmabis  etc.  und  alle 
fünfzehn,  einer  nach  dem  andern,  sprechen  i In  olTirmo  et  ita  do  fidem. 
Darauf  kniet  dann  Jeder  einzeln  vor  dem  Vice  -  Chaucellor  nieder,  und 
wird  mit  denselben  Worten  gerade  wie  der  senior  Wrangler  aufgenom- 
men, auetoritate  mihi  commissa.  Diese  Partei  entfernt  sich,  die  nächst- 
folgende wird  vom  Bedell  aufgerufeu,  und  dieselbe  Ceremonie  wird  wie- 
der durchgemacht.  So  geht  es  fort,  bis  Alle  aufgenommen  worden  sind. 
Der  Anfangs  ganz  gefüllte  Saal  wurde  gegen  das  Ende  ziemlich  leer,  und 
als  die  unterste  Klasse  daran  kam,  blickte  man  vergebens  nach  einem 
andern  Zuschauer  um.  In  der  letzten  Abtheilung  der  untersten  Klasso 
erschienen  ein  paar  Männer,  die  gewiss  Uber  40  Jahre  alt  waren.  Es 
ist  nämlich  nichts  Ungewöhnliches,  dass  Männer,  die  ein  Geschäft  treiben, 
Lust  bekommen,  Prediger  zu  werden.  Einige  von  diesen  ziehen  mit  Frau 
und  Kindern  nach  Cambridge,  wohueu  dort  in  ihren  gemielheteo  Häu- 
sern, lassen  sich  in  ein  College  aufnehmen  und  gehen  durch  den  vorge- 
schriebenen Cursns.  Aber  ihre  Köpfe  sind  gewöhnlich  zu  alt,  und  sie 
kommen  desswegen  auch  oft  nicht  über  die  unterste  Klasse  hinaus.  Sie 
erhalten  ihr  B.  A  sowohl  als  die  andern  und  können  sich ,  sobald  sie  eiue 
Stelle  bekommen  können,  beim  Bischof  melden  und  sich  von  dessen  Caplan 
examiniren  lassen.    Das  allerdrolligste  bei  der  ganzen  Sache  ist  dieses. 

Während  dieser  Ceremonie  werden  die  Studenten  oben  auf  der 
Gallerie  laut  und  erlauben  sich  die  stärksten  Ausdrücke  des  Wohlgefallens 
oder  des  Missfallens  über  hohe  und  niedere  Personen,  z.  B.  Einer,  der 
dem  Kanzler,  Prinzen  Albert,  gewogen  ist,  schreit  mit  lauter  Stimme: 
three  cbeers  for  Prince  Albert  (drei  Hurrahs  für  den  Prinzen  Albert), 
seine  Gönner,  fichreien  Hurrab,  aber  sejne  Gegner  sucheu  ihre  Hurrahs 
durch  Zischen,  Brummen  und  Heulen  zu  erstioken.  Dann  ertönt  wieder 
aus  einer  andern  Ecke  eine  Stimme;  three  $toans  for  Lord  John  Kussel, 
Die  mit  einer  starken  Stimme  Begabten  brummen  und  beulen  wie  Bären 
und  Wölfe.  Der  Herzog  von  Wellington  war  der  Einzige ,  der  lauter 
cbeers  bekam.  Die  Proctors  und  ihre  Gehulfen,  welche  die  Studenten 
Bullenbeisser  (bul  dogs)  nennen ,  sind  als  Wächter  Uber  Ordnung  bei  den 


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Tiarks!  Die  Universitiit  Cambridge. 


345 


lustigen  Burschen  gewöhnlich  sehr  verhasst ,  und  dos  three  groans  for  tbe 
Proctors  and  their  bulUdogs,  bleibt  selten  aus.  Einige  Damen  hatten 
sich  bis  zum  Ellbogen  des  zur  Linken  des  Vice  -  Chancellors  stehenden 
Proctors  gedrängt,  um  den  admittendis  ins  Angesiebt  schauen  zu  können« 
Mit  einem  Male  Hess  sich  eine  Bramorbassstimme  hören:  three  cheers  for 
Ladies  near  the  Proctors.  Zwischen  Trinity  und  St.  John's  College  ist 
grosser  Wetteifer,  nicht  ohne  Neid,  indem  Trinity  sich  in  den  Klassi- 
kern, St.  Johns  in  der  Mathematik  gewöhnlich  auszeichnet.  Ruft  ein 
Johnian:  three  cheers  for  the  Master  of  St.  John's,  so  stimmen  alle 
Johnians  ein ,  aber  die  Trinitarians  zischen  und  heulen  und  so  vice  versa. 
Ist  irgend  «in  Professor,  Master  oder  Tutor  eines  College  hei  den  Stu- 
denten besonders  beliebt,  so  bekommt  er  an  diesem  Tage  seine  cheers; 
ist  er  aber  verhasst,  seine  groans.  Während  dieses  Lärms  setzen  der 
Yice- Chancellor ,  die  Proctors  und  der  Bedell  ganz  ruhig,  ohne  sieb 
an  etwas  zu  kehren ,  ihr  Geschäft  fort.  Als  die  Damen  beschämt  durch 
ihre  cheers,  sich  aas  der  Is'übe  des  Proctors  entfernt  hatten,  schob  ich 
mich  an  ihre  Stelle  und  hielt  aus,  bis  der  Vice -Chancellor  die  Sitzung 
schloss. 

Vier  Wochen  nach  der  Ertbeilung  des  B.  A.  Grades,  findet  dann 
noch  ein  Examen  in  den  Klassikern  Statt,  wozu,  wie  gesagt,  nur  Ho- 
nor-men  und  Poll-men  erster  Klasse  sich  einstellen  dürfen,  aber  es  nicht 
brauchen,  wenn  sie  keine  Lust  dazu  haben.  Diejenigen,  welche  durch 
dieses  Examen  kommeu,  werden  auch  iu  drei  Klassen  getheilt,  und  die 
Gesammtzahl  nennt  man  the  classical  Tripos.  Dieses  Examen  wurde  erst 
in  1821  in  Cambridge  eingeführt,  scheint  aber  mit  jedem  Jahre  grösse- 
res Interesse  zu  erregen,  und  alle  Colleges  suchen  das  klassische  Stu- 
dium zu  befördern.  Es  wird  auch  schriftlich  gehalten  auf  eine  ganz  ähn- 
liche Weise,  wie  die  oben  angegebenen  College  Examen,  nur  mit  dem 
Unterschied,  dass  die  Examinandi  auch  nicht  im  Entferntesten  wissen, 
worüber  sie  examinirt  werden  sollen.  Ohne  Buch,  ohne  Schreibmateria- 
lien gehen  die  Candidaten  ins  Senatshaus,  wo  ihnen  ihre  Aufgaben  ge- 
druckt vorgelegt  werden. 

Da  ich  oben  ein  solches  Examen  genauer  beschrieben  habe,  wiU 
ich  hier  nur  die  Stellen  angeben,  weiche  die  Candidaten  im  letzten  Exa- 
men zu  übersetzen  hatten.  An  jede  Stelle  knüpften  sich  natürlich  wie- 
der manche  Fragen,  die  aber  hier,  um  Weitlau ftigkeit  zu  vermeiden, 
weggelassen  werden, 

Montag  den  17.  Februar  musiten  von  U— 11$  Uhr  26  Zeilen  aus 
einem  englischen  Dichter  in  griechische  Jamben  übersetzt  werden,  von 


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Tiarki:  Die  Universität  Cambridge. 


121—34  Cie.  in  Q.  Caeciliura  Divinatio  XVII.  Cic.de  Legg.  II.  26.  Tac. 
Hiat.  V.  13.  Säet  Vit.  An*;.  LXXIV.  . 

Dienstag  den  18.  Febr.  von  9—11}  Uhr  40  Zeilen  ans  Middle- 
ton'a  Life  of  Cicero  in  lateinische  Prosa  -,  von  12  } — 3}  eine  kurze  Stelle 
aus  Homers  II.  XII.  421  sqq.;  aus  Hesiods  Theog.  847  sqq.;  aus 
Soph.  Trach.  503;  aus  Aristopb.  Plut.  265  sqq. 

Mittwoch  den  19.  Febr.  von  9— 11}  14  Zeilen  aus  Spencer  it 
lateinlache  elegische  Verse;  12  Zeilen  aus  Shakespeare  in  lateinische  ly- 
rische Vera«. 

Donnerstag  den  20.  Febr.  von  9— 11}  30  Zeilen  aus  Arnold'* 
römischer  Geschichte,  und  20  Zeilen  aus  einem  Buche,  betitelt:  Modem 
*  Pafaters,  in  griechische  Prosa;  von  12}— 3}  Thucyd.  IV.  60.61.  Plalo's 
Parmen.  $.  14.  15.  Arist.  Etb.  Nie.  III.  Dem.  c.  Timocr.  §.  183—185. 

Freitag  den  21.  Febr.  von  9—11}  18  Zeilen  aus  Juv.  Sat.  VI.; 
13  Zeilen  aus  Luc.  Phars.  IL  ;  15  Zeilen  aus  Stat.  Theb.  VII.  Aescb.  Af. 
1178—1107.  Pindar.  Nem.  IV.  1-22.  Theoc.  Id.  145—149;  von  12 
—3}  20  Zeilen  aus  Plautus.  Lucretius  IV.  96—108.  Aeneid.  XI.  140— 
169.  Hör.  Lib.  II.  Sat.  VII.  75—94.  Fasti  III.  135—150. 

Sonnabend  den  22.  Febr.  von  9—12  Liv.  XXII.  10.  Caesar  B. 
Civ.  IL  32.  Cie.  Epp.  ad  All.  V.  21.  Herod.  VI.  53—55.  Isaeus  Ttspl  to» 
Atx.  xXrjpoo  16. 

Die  Zahl  der  Wrangler  war  in  diesem  Jahre  37,  die  der  senior 
optimes  45,  die  der  junior  optimes  39.  In  der  ersten  Klasse  des  clas- 
sieal  Tripos  12,  in  der  z weiten  7,  in  der  dritten  10. 

Am  31.  October  1848  verordnete  der  Senat  noch  einen  dritten 
bonor-Tripos ,  genannt  the  Moral  Sciences  Tripos.  Dieser  tritt  aber  erst 
In  1851  ins  Leben,  und  es  ist  noch  ziemlich  ungewiss,  ob  viele  sich 
zu  diesem  Examen  stellen  werden.  Nur  solche  dürfen  sich  stellen,  die 
achon  Bachelors  sind.  Die  allgemeinen  Gegenstande,  über  welche  ext- 
minirt  werden  wird,  sind:  Moral  Philosophy,  Polilical  Economy,  Modern 
History,  General  Jurisprudence,  the  laws  of  England. 

Dazu  kommen  noch  folgende  speciellen:  1)  Plato's  Cbarmides. 
Protagons.  Rep.  I.  2)  Aristoteles  Nie.  F.th.  3)  Cicero  de  Finibus. 
4)  Grotius  de  jure  Bell,  et  Pae.  I.  1.  5)  Stewards  Outlines  of  Moral 
Philosophy.  6)  Of  Things  Allowable.  Die  Examinatoren  aind  lauter  Pro- 
fessoren. Der  Zweck  dieses  dritten  bonor-Tripos  ist,  diejenigen  zur  Er- 
weiterung ihres  Studienplans  aufzumuntern ,  welche  nicht  geneigt  sind,  die 
sauren  angreifenden  Studien  zu  treiben,  welche  die  Vorbereitung  auf  den 
mathematischen   oder  klassischen  Tripos  unumgänglich  nölbig  machen. 


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Titrkf!  Die  Universität  Cambridge.  .  347 

» 

Diese  mussten  sieb  bisher  mit  dem  Poll  begnügen,  und  ohne  hooors  die 
Universität  verlassen.  Aber  die  nöthigen  Vorbereitungen  auf  das  Poll- 
men  Examen  nimmt  die  Zeit  derjenigen  bei  weitem  nicht  in  Ansprach, 
welche  gut  vorbereitet  zur  Universität  gehen  und  mit  ziemlicher  Leich- 
tigkeit arbeiten.  Der  Zweck  ist  gewiss  löblich,  ob  er  aber  den  Erwar- 
tungen entsprechen  wird,  ist  noch  ziemlich  nngewiss.  Unter  den  gegen- 
wärtige« Studenten  scheint  er  keinen  besonderen  Anklang  gefunden 
zu  heben. 

Hier  ist  nun  vielleicht  der  passendste  Ort,  einige  Worte  über  da« 
Üben  der  Studenten  einzuschalten.  Bf  ist  schon  erwähnt  worden,  das* 
in  den  grosseren  Colleges,  besonders  in  Trinity  und  St.  John's,  bei  wei- 
tem nicht  alle  Wohnung  erhalten  können,  und  dass  die  Studenten  de« 
ersten  Jahres  sich  gewöhnlich  in  der  Stadt  Zimmer  mietben  müssen.  Aber 
sie  dürfen  nur  bei  solchen  Leuten  wohnen,  welche  vom  Vice-Chancellor 
die  Erlanbniss  erhalten  haben,  Zimmer  an  Studenten  zu  vermieden,  und 
nur  solchen  Leuten  wird  diese  Brlaubniss  gegeben,  an  denen  kein  Makel 
klebt.  Jeder,  der  Zimmer  au  einen  Studenten  vermiethet,  ist  verpflichtet, 
ein  Bach  zn  halten,  und  jeden  Abend  darin  zu  verzeichnen,  um  welche 
Zeit  der  bei  ihm  wohnende  Student  nach  Hause  gekommen  ist.  Eine 
Abschrift  davon  muss  am  Ende  eines  jeden  Monats  dem  Dean  des  Col- 
lege, zu  welchem  der  Student  gehört,  zugeschickt  werden,  und  wer 
überführt  wird ,  ein  falsches  Verzeichnis  gemacht  und  eingesandt  zu  he- 
ben, verliert  die  Licenz,  Zimmer  zu  vermiethen.  An  zwei  Abenden  in 
der  Woche  darf  ein  Student  bis  12  Uhr  aus  dem  Hause  sein,  aber  an 
den  andern  Abenden  nicht  nach  10  Uhr,  und  daher  ist  es  nach  10  Uhr 
in  den  Strassen  von  Cambridge  fast  todtenstille.  In  den  Colleges  haben 
die  Pförtner  dieses  Verseichniss  zu  lialton.  Die  Wohnungen  in  den  Col- 
leges sind  mehrentheils  geräumig  und  beqncm.  Jeder  Student  hat  drei 
Zimmer,  ein  Studienzimmer,  Bettzimmer  und  eine  Kammer  für  Kessel, 
Kaffee-  und  Theetopf,  Teller,  Tassen  u.  s.  w.  Die  Zimmer  enthalten  die 
nötbigen  Möbeln;  und  sobald  ein  Student  seine  Zimmer  bezieht,  werden 
diese  von  einem  vom  College  bestellten  Manne  taxirt,  und  der  Betrag 
wird  auf  seine  Rechnung  gesetzt.  Nach  zwei-  oder  dreijähriger  Be- 
nutzung erhält  er  aber  bei  seinem  Abgange  zwei  Drittel  von  dem  aus- 
gelegten Geld«  zurück.  Es  steht  natürlich  einem  Jeden  frei ,  sich  seine 
Zimmer  zn  verschönern  und  bequemer  einzurichten ;  aber  will  er  die  an- 
geschafften Sachen  zurücklassen,  so  muss  er  sich  mit  dem  vom  Taxirer 

• 

bestimmten  Preise  begnügen.  Die  Miethe  für  solche  Zimmer  ist,  je  nach- 
dem sie  gelegen  sind,  zwischen  12  und  24  Pfund  Sterling  des  Jahres. 


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» 

Tiarks:  Die  ünivewitit  Cambridge. 


Die  Aufwartung  ist  mir  dürftig-.    Jedes  College  stellt  die  nöthige  Anzahl 
alter  Weiber  an,  die  in  der  Stadt  wohnen  und  einen  guten  Ruf  haben. 
Diese  kommen  frUh  am  Morgen,  reinigen  die  Zimmer,  xünden  das  Feuer 
an,   stellen  das  Geschirr  zum   Frühstück  auf  den  Tisch   und  machen 
das  Bett.    Des  Nachmittags  kommen  sie  bloss,  um  das  Theezeug  anf  den 
lisch  zu  stellen.    Sie  erhalten  dafür  von  jedem  Studenten  ein  Pfand  Ster- 
ling per  Term.    Alles  Uebrige  hat  der  Student  selbst  zu  Ihno,  und  läset 
er  im  Winter  am  Tage  sein  Feuer  ausgehen,  so  hat  er  es  selbst  wieder 
anzuzünden,  oder  muss  im  kalten  Zimmer  sitzen.    Intime  Freunde  besu- 
chen sich  oft  zum  Thee  auf  ihrem  Zimmer.  Alle,  auch  diejenigen,  welche 
in  der  Studt  wohnen,  müssen  im  College  zu  Mittag  essen.    Die  Tutort, 
Fellows  und  Fellow-Commonera  sitzen  an  einem  erhöhten  Quertische,  die 
Pensionen  an  iangeu  Tischen  längs  der  Halle,  die  Sizars  an  einem  Ne- 
bentische.   Das  Essen  ist  einfach,  aber  sehr  gut  und  nicht  übermässig 
theuer.    Weis  wird  selbst  von  den  Tutors  und  Fellows  nicht  am  Tische 
getrunken.    Wer  Bier  zu  haben  wünscht ,  hat  besonders  dafür  zu  zahlen. 
Hat  der  Dean  oder  ein  Tutor  irgend  einem  Studenten  etwas  Besonderest 
mitiutbeilen ,  sei  es  Angenehmes  oder  Unangenehmes,  so  geschieht  es 
gewöhnlich  bei  Tische  durch  einen  besonders  dazu  bestellten  Mann,  z.  B. 
bat  Jemand  zwei  Mal  eine  Vorlesung  versäumt,  so  kommt  der  Mann, 
klopft  ihm  auf  die  Schulter  und  sagt:  Herr  N.  N.  wünscht  Sie  za  sehen, 
und  er  mm  sich  einstellen,  wenn  er  nicht  Gefahr  laufen  will,  relegirt 
10  werden.    In  jedem  College  wird  de*  Morgens  um  7  Uhr  und  des 
Abends  um  6  Uhr  Gottesdienst  in  der  Kapelle  des  College  gehalten. 
Einer  von  den  Tutors  oder  Fellows ,  welche  ordinirt  sind ,  lesen  die  Mor- 
gen- und  Abendgebete  aus  dem  Common  -  Prayer  book  und  die  Studen- 
ten des  zweiten  Jahres ,  Jeder  eine  Woche  lang ,  Einer  den  für  den  Tag 
bestimmten  Abschnitt  sus  dem  Alten,  ein  Anderer  den  aus  dem  Neuen 
Testamente.    Ein  solcher  Gottesdienst  dauert  eine  halbe  Stunde.  Alle, 
die  im  College  wohnen,  müssen  wenigstens  9  Mal  die  Woche,  Sonntag 
eingerechnet ,  und  die  in  der  Stadt  wohnen ,  wenigstens  7  Mal  dem  Got- 
tesdienste beiwohnen.    An  der  inneren  Thüre  der  Kapelle  steht  ein  Mann, 
der  eine  Liste  aller  Studenten  des  College  bat,   und  ein  Zeichen  hinter 
dem  Namen  dessen  macht,  der  in  die  Kapelle  tritt.    Dieser  Mann  muss 
am  Ende  der  Woche  dem  Dean  darüber  Bericht  erstatten,  und  ist  Je- 
mand ohne  Ursache  zu  oft  abwesend  gewesen,  so  erhält  er  einen  Ver- 
weis vom  Dean,  welcher  nicht  unbeachtet  bleiben  darf.    An  den  Sonn- 
tagen und  einigen  andern  Festtagen  erscheinen  Alle  in  einem  weissen, 
einem  weiten  und  langen  Hemde  ähnlichen  Gewände,  genannt  surptice. 


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Tiarks:  Die  Universitär  Cambridge. 


An  den  andern  Tagen  erscheinen  sie  in  ihrem  gewöhnlichen  gown,  aus- 
ser denen,  die  zu  lesen  haben.  Diese  müssen  immer  weiss  gekleidet 
sein.  Einigen  sind  freilich  diese  Gottesdienste  lästig;  aber  sehr  Vielen 
gewahren  sie  grossen  Genuss,  und  diese  lassen  es  bei  der  vorgeschrie- 
benen Zahl  nie  bewenden ,  und  es  ist  auch  nicht  zu  bezweifeln ,  dass  diel 
schönen  Gebete  des  Common-Prayer  book  und  die  vorgelesenen  Ab- 
schnitte des  Wortes  Gottes  bei  Vielen  eine  gesegnete  Wirkung  haben, 
und  dass  dadurch  in  manchen,  die  ohne  Sinn  und  Gefühl  für  Religion 
kommen ,  ein  religiöser  Sinn  erweckt  wird ,  der  im  nachherigen  Leben 
schöne  Früchte  trügt.  In  Deutschland  bespöttelt  man  diese  Einrichtung 
der  englischen  Colleges  zu  leicht  und  zu  viel.  Aber  sie  verdient  das 
wahrlich  nicht.  Ich  habe  mehrmals  einem  solchen  Gottesdienste  mit  Freu- 
den beigewohnt.  An  jedem  Sonntage  wird  in  der  Universitäts-Kirche, 
welche  dem  Senatsbause  gegenüber  liegt ,  des  Nachmittags  um  2  Uhr 
gepredigt,  und  zwar  abwechselnd  von  Mitgliedern  der  Universität,  die 
ordtnirt  und  wenigstens  M.  A.  sind.  Auch  dieser  Gottesdienst  wird  von 
den  Masters,  Tutors  und  Fellows,  wie  auch  vou  den  Studenten  fleissi£ 
besucht.  Aber  sehr  Viele  beschränken  sich  nicht  darauf,  sondern  besu- 
chen auch  noch  des  Morgens  oder  des  Abeods  eine  Kirche  in  der  Stadt. 

Obgleich  es  auch  in  Cambridge  nicht  an  solchen  fehlt,  welche  ein 
Instiges  Leben  dem  Studium  vorziehen,  und  sich  lieber  in  einem  Billard- 
zimmer als  in  ihrem  Studierzimmer  aufhalten,  so  ist  doch  im  Allgemeinen 
das  Leben  der  Studenten  sittlich  und  ordentlich.  Commersche  und  Trink- 
gelage, Paukereien,  wie  sie  auf  deutschen  Universitäten  Statt  finden, 
giebt  es  hier  nicht,  und  den  meisten  Studenten  fällt  es  nie  ein,  in  ein 
Wein-  oder  Bierhaus  zu  gehen.  Kartenspiel  ist  streng  verboten.  Die 
Haaser  in  der  Stadt,  in  welche  die  lustigen  Bursche  sich  gern  begeben, 
werden  von  den  Proctors  und  ihren  Geholfen  nie  aus  den  Augen  verlo- 
ren. Ein  Proctor  bat  das  Recht,  irgend  ein  Haus  in  Cambridge  zu  jeder 
Stande  des  Tages  und  der  Nacht  zu  durchsuchen  oder  durchsuchen  zu 
lassen,  und  sollte  ein  Student  in  einem  Hause  von  üblem  Rnfo  ertappt 
werden,  so  würde  Relegation  die  Folge  davon  sein.  Die  Hauplvergatt- 
gungen  nnd  Erholungen  der  Studenten  sind:  lange  Spaziergänge  in  der 
Mitte  des  Tages,  die  nicht  leicht  von  Einem  versäumt  werden.  Freunde 
gehen  natürlich  gern  zusammen;  das  berühmte  englische  Cricket- Spiel, 
an  welchem  selbst  Tutors  und  Fellows  nicht  seilen  Theil  nehmen,  und 
das  Rndern  in  kleinen  Böten  auf  dem  kleinen  Flusse  Cam,  der  durch  diu 
Garten  der  Colleges  fliesst ,  ja  durch  St.  John's  College ,  von  welchem  ein 
Hof  durch  eine  Brücke  mit  den  beiden  andern  in  Verbindung  steht.  Dia 


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350  Tiarks:  Die  Universität  Cambridge. 

Studenten  nennen  diese  Brücke  den  Isthmus  von  Suez.  Ueber  eine  ta 
grosse  Beschränkung  der  Freiheit  hat  noch  nie  ein  Student  Klage  erho- 
ben, der  ein  Leben  zu  führen  wünscht,  wie  es  sich  für  einen  gebildeten 
und  sittlichen  Menschen  geziemt  im  Geaentheil.  sie  freuen  sich  dieser 
ernsten  Disciplin,  durch  welche  sie  nichts  verlieren,  aber  viel  gewinnen. 
Denn  sie  werden  dadurch  vor  den  Neokereien  und  Störungen  der  zur 
Rohheit  und  Uusiltlicbkeit  Geneigten  sicher  gestellt.  Wie  viel  manche 
jüngere  Studenten  auf  den  deutschen  Universitäten  von  den  filtern  rohen 
und  wüsten  oft  zu  leiden  haben,  und  wie  sie  von  diesen  in  ihren  Stu- 
dien gestört  werden,  weiss  Jeder,  der  Student  gewesen  ist,  und  die  Zahl 
derjenigen,  welche  in  spätem  Jahren  ein  solches  Treiben  billigen  oder 
\  6 r 1 1) c j tl i ^ 6 o  ^  ist  ^^^^  ÄÄa?  zu  lvCJiicr  y^ci t  sc<lir  ^^ross#  Io  keinem  LöocIc 
Iii  essen  die  Quellen,  aus  welchen  unbemittelte  und  fleissige  Studenten 
Unterstützung  erhalten  können,  in  solchen  Strömen  als  in  England.  Fast 
alle  öffentlichen  Schulen  baben  Stipendien,  welche  Exhibilions  genannt 
werden,  von  10  bis  80  Pfand  jährlich.  Diese  werden,  ohne  Unterschied 
des  Standes  denjenigen  Schülern  verliehen,  welche  sich  besonders  ans- 
zeicbnen  und  die  Universität  beziehen  wollen.  Wenn  sie  die  Universität 
bezogen  haben,  erhalten  sie  am  Schlüsse  eines  jeden  halben  Jahres  das 
ihnen  bewilligte  Stipendium,  müssen  aber  jedes  Mal  ein  von  den  Vorste- 
hern ihres  College  ausgefertigtes  Certificat  einliefern,  dass  sie  wahrend 
des  halben  Jahres  ihre  Pflichten  erfüllt  und  ein  ordentliches  Leben  geführt 
haben.  Sie  bleiben  entweder  drei  oder  fünf  Jahre  im  Genuss  desselben. 
So  erhielt  mein  Sohn  bei  seinem  Abgange  von  der  Schule  der  Mereers- 
Company  in  London ,  in  welcher  er  zehn  Jahre  unentgeltlichen  Unterricht 
erhalten  hatte  und  drei  Jahre  primus  in  ordine  gewesen  war,  ein  Sti- 
pendium von  fünfzig  Pfund  Sterling  jährlich  auf  fünf  Jahre,  wird  ea 
wenigstens  noch  anderthalb  Jahre  über  seine  Universitäts-Zeit  hinaus 
niessen.  Die  Zahl  solcher  Schulstipendien  ist  sehr  gross ,  die  meisten  sind 
von  woblthätigen  Privatpersonen  gestiftet. 

Mehrere  von  den  Corporalionen  der  Stadt  London  haben  auch 
Stipendien  von  drei  bis  dreissig  Pfind  jährlich  zu  verschenken, 
erhalten  jedoch  nur  unbemittelte  Studenten,  die  den  Beweis  liefern 
nen,  dass  sie  zur  Vollendung  ihrer  Studien  Unterstützung  nötbig  haben. 
Die  bedeutendsten  dieser  Corporalionen  sind:  die  Goldsmiths  Company, 
Marcers  Company,  Merchant  Taylors  Company,  Slonmongers  Company, 
Fishmongers  Company.  Die  Mitglieder  des  Verwaltungs-Ausschusses  ha- 
ben darüber  zu  verfügen.  Diese  Stipendien  werden  gewöhnlich  auf  drei 
Jahre  verliehen. 


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Tiarks*  Die  Univer&itiit  Cambridge. 


Aber  noch  viel  bedeutender  sind  die  Scholarships  und  Exhibitions 
der  College«.  Jede»  College  bat  deren  viele,  aber  von  sehr  verschie- 
denen Wert  he,  von  fünf  bis  hundert  Pf  und  jahrlich,  gestiftet  von  rei- 
chen und  wohlthatigen  Personen ,  die  mit  dem  College  verbunden  waren, 
oder  von  dem  College  selbst.  St.  John's  College  z.  B.  bat  hundert  und 
vierzehn  Scholarships  nnd  manche  Exhibitions.  Der  1839  verstorbene 
Dr.  Wood ,  Master  dieses  College  und  Dean  von  Ely ,  stiftete  neun  Ex- 
hibitions, jede  von  40  Hund  jährlich,  für  fleissige  und  ordentliche  Stu- 
denten, welche  Unterstützung  nöthig  haben.  Diese  werden  gewöhnlich 
den  proper  Sisars  gegeben.  Die  Scholarships  sind  verschiedener  Art, 
viele  bloss  für  Studenten,  die  in  besonderen  Schulen  erzogen  worden 
sind,  andere  für  nahe  und  entfernte  Verwandten  der  Stifter,  andere  für 
solche,  die  in  gewissen  Grafschaften  geboren  sind,  und  einige,  die  unter 
keiner  Restriction  stehen.  Alle  werden  auf  fünf  Jahre  gegeben,  und  in 
jeden  Jahre  wird  eine  gewisse  Anzahl  vacant.  Der  Master  und  die  se- 
nior Fellows  wählen  nach  vorhergegangenem  Examen  in  die  vacanten 
S Icll c q,  W^cr  ein  ^cliolursiiij)  crliult^  hört  o u f  sPtMisioncr  zu  soid  ti  d  d 
wird  Scholar.  Kein  Sizar  kann  Scholar  werden.  Bei  der  Verleihung  der 
Scholarships ,  welche  unter  den  oben  genannten  Restrictionen  stehen,  haben 
der  Master  und  die  senior  Fellows  oft  keine  Wahl,  und  nicht  selten  er- 
halten diese  solche,  welche  sich  keineswegs  auszeichnen  und  sie  auch 
nicht  wurden  erhalten  haben ,  hatten  der  Master  und  die  Fellows  völlige 
Freiheit  in  der  Wahl  gehabt.  Wo  sie  diese  haben ,  geben  sie  die  Scho- 
larships denen ,  die  in  den  College  Examinibus ,  wie  auch  in  dem  beson- 
dern Examen  für  dieselben  am  höchsten  standen,  aber  sehr  wenige  er- 
halten sie  vor  dem  Anfange  ihres  dritten  Jahres.  Weil  sie  fünf  Jahre 
Scholars  bleiben  und  die  damit  verbundene  Einnahme  ziehen,  so  ist  es 
ziemlich  einerlei,  ob  sie  im  ersten,  zweiten  oder  dritten  Jahre  erwfchit 
werden.  Die  Vorsteher  des  College  sind  aber  der  Meinung,  dass  die 
Aufschiebung  der  Wahl  bis  zum  Anfang  des  dritten  Jahres  Vielen  wah- 
rend der  beiden  ersten  Jahre  zum  Sporn  dient,  nnd  lassen  desswegen 
gewöhnlich  bis  dann  warten .  obgleich  sie  sich  niemals  bestimmt  darüber 
aassprechen.  Daher  kommt  es  dann  auch,  dass  in  St.  Johns  College 
nor  40  Uodergraduates  Scholars  sind ,  wahrend  74  schon  B.  A.  geworden 
nnd  das  College  verlassen  haben.  Die  Gesetze  und  Einrichtungen  wegen 
dieser  Scholarships  sind  nicht  in  allen  Colleges  dieselben,  weichen  aber 
in  der  Hauptsache  so  wenig  von  den  angegebenen  ab,  dass  es  nicht 
nöthig  ist,  von  den  andern  etwas  zu  sagen.  Manche,  die  sich  schon  auf 
der  Schale  ein  Stipendium  erworben  haben,  und  dann  auch  noch  ein 


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Tiarks:  Die  Universität  Cambridge. 


Scholarship  erhalten,  können  ihre  Ausgaben  mit  dem  Ertrag  derselben 
völlig  bestreiten,  einige  sollen  sogar  noch  etwas  übrig  behalten.  Denn 
wer  aich  einschränkt,  in  den  Ferien  nach  Hause  geht  und  sich  mit  den 
College  Vorlesungen  begnügt,  ohne  unter  der  Leitung  eines  Privatlehrers 
zu  studiren,  kann,  besonders  in  den  kleineren  Colleges,  mit  80  Pfund 
jährlich  auskommen.  Wer  aber  das  ganze  Jahr  hindurch  einen  Privat- 
lehrer  hat,  aich  in  den  langen  Sommer-Ferien  im  College  aufhält  und 
aeine  Bibliothek  zu  vergrössern  wünscht,  giebt  ganz  leicht,  ohne  im  ge- 
ringsten Aufwand  zu  machen,  jährlich  150  Pfund  aus.  Der  Unterricht  in 
den  Colleges  ist  sehr  billig.  Fürs  ganze  Jahr  zahlt  der  Sizar  nur  drei 
Pfund,  der  Pensioner  zehn,  der  Fellow- Commoner  zwanzig,  der  Edel- 
mann, d.  h.  der  Sohn  eines  Peers  vierzig.  Die  oben  erwähnten  Matri- 
kulationskosten  sind  für  einen  Sizar  1  Pfund  und  5  Schillinge ,  für  einen 
Pensioner  2  Pfund  und  10  Schillinge,  für  einen  Fellow  -  Commoner  5  Pf. 
und  für  einen  Edelmann  10  Pfund. 

Ausser  den  College  Scholarships  und  Exhibitions  giebt  es  noch 
viele  University  Scholarships  und  Belohnungen  für  gekrönte  Preisschriften. 
Einige  sind  nur  für  solche,  die  schon  B.  A.  geworden  sind,  aber  noch 
nicht  M.  A.  (Master  of  Ans )  werden  können,  nndere  für  Undergraduates, 
einige  für  beide.  Der  Chancellor,  jetzt  Prinz  Albert,  giebt  jedes  Jahr 
zwei  goldene  Medaillen,  jede  15  Pfund  an  Werth,  die  im  classical  Tri- 
pos  am  höchsten  stehen,  wenn  sie  zugleich  im  malhematical  Tripos 
Wranglers  oder  senior  Optimes  gewesen  sind.  Die  beiden  Parlamente 
glieder  für  die  Universität  Cambridge  geben  zusammen  jährlich  GO  Gui- 
neen.  Von  diesen  erhalten  zwei  Bachelors  und  zwei  Undergraduates 
jeder  15  Guineen  für  die  beste  Dissertation  über  einen  gegebenen  Gegen- 
stand. Sir  William  Brown  bestimmte  im  Jahre  1775  drei  goldene  Me- 
daillen, jede  fünf  Guineen  werth,  für  drei  Undergraduates,  eine  für  den 
Verfasser  der  besten  griechischen  Ode,  eine  für  den  Verfasser  der 
besten  lateinischen  Ode,  und  eine  für  den  Verfasser  des  besten  lateini- 
schen und  griechischen  Epigramms.  Der  Marquis  Camden  giebt  jährlich 
eine  goldene  Medaille  für  den  Verfasser  des  besten  lateinischen  Gedichts 
in  Hexametern. 

(Schluss  fotyt.) 


« 


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Nr.  23.  HEIDELBERGER  1851. 

JAHRBOGHER  DER  LITERATUR. 


Tlark8t  Die  Universität  Cambridge. 


(Schluss.) 

Rev.  Robert  Smith  D.  D.,  vormals  Moster  of  Trioity  College,  ver- 
machte ein  Capital,  hinlänglich,  um  jährlich  von  den  Zinsen  zwei  an- 
gebenden Bachelors,  die  sich  in  den  mathematischen  Wissenschaften  aus- 
zeichnen, jedem  25  Pfund  zu  geben.  Die  höchsten  Wrangler  erhalten 
diese  Preise  ganz  gewöhnlich.  Rev.  John  Hube ,  B.  A.  of  St.  Jobn'e 
College,  vermachte  ein  Capital,  das  100  Pfund  Zinsen  tragt,  wodurch 
der  Verfasser  der  besten  theologischen  Abhandlung  in  englischer  Sprache 
aber  einen  bestimmten  Gegenstand  jährlich  belohnt  wird.  Um  diese  Be- 
lohnung können  Undergraduates  sich  eben  so  wohl  bewerben  als  Bache- 
lors. Aber  Undergraduates,  wenn  sie  auch  die  Fähigkeit  haben,  eine 
solche  theologische  Abhandlung  zu  schreiben ,  können  unter  gewöhnlichen 
Umstanden  selten  die  dazu  nöthige  Zeit  finden ,  und  desswegen  trägt  ge- 
wöhnlich ein  Bachelor  diesen  Preis  davon.  Die  Abhandlung  muss  der 
Verfasser  auf  seine  Kosten  drucken  lassen. 

Die  Freunde  des  General-Lieutenants  Sir  P.  Maikland  sammelten  im 
Jahr  1845  tausend  Pfund,  schenkten  diese  der  Universität  Cambridge  und 
verordneten,  dass  alle  drei  Jahre  die  Zinsen  dieses  Capitata  zu  Ehren 
ihres  verdienstvollen,  verstorbenen  Freundes  verwendet  werden  sollten, 
um  den  Verfasser  der  besten  Abhandlung  über  einen  mit  der  Ausbreitung 
des  Christentums  durch  Missionstbätigkeit  verbundenen  Gegenstand  zu  be- 
lohnen. Um  diesen  Preis  dürfen  nur  Bachelors  sich  bewerbeo.  Die  ge- 
krönte Abhandlung  muss  der  Verfasser  nicht  allein  auf  eigne  Kosten 
drucken  lassen,  sondern  auch  150  Exemplare  davon  dreien  Inatituten, 
zweien  Missions- Gesellschaften  und  einer  Schule  in  Madras  unentgeltlich 

Riebard  Burney,  M.  A.  of  Christes  College,  vermachte  im  J.  1848 
der  Universität  3500  Pfund,  angelegt  zu  3  Procent  in  den  englischen 
Fonds,  und  bestimmte  die  Zinsen  dieses  Capitata  für  den  Verfasser  der 
besten  englischen  Abhandlung  über  einen  moralischen  oder  metaphysischen 
Gegenstand,  über  Gottes  Dasein,  Wesen  und  Eigenschaften,  oder  über 
die  Wahrheit  der  christlichen  Religion.  Kur  Bachelors  des  ersten  Jahres 
XLIY.  Jahrg.  3f  Doppelheft,  23 


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Titrks:  Die  Universität  Cambridge. 


dürfen  sich  um  diesen  Preis  bewerbeo.  Die  gekrönte  Abhandlung  wird 
auf  Kosten  des  \  Hassers  gedruckt. 

Rev.  C.  W.  Le  Bas  M.  A.,  vormals  Fellow  of  Trinily  College,  war 
30  Jahre  Lehrer  an  dem  College  der  Ostindischen  Gesellschart  zu  Hai- 
leybury.  Seine  zahlreichen  früheren  Schüler  sammelten  vor  einigen  Jah- 
ren ein  Capital  von  1920  Pfund  und  legten  es  an  in  den  3  Procent 
Zinsen  tragenden  englischen  Fonds,  und  bestimmten,  dass  zu  Ehren  ihres 
geliebten  Lehrers  mit  den  Zinsen  dieses  Capitals  der  Verfasser  der  besten 
Abhandlung  Uber  einen  Gegenstand  der  allgemeinen  Literatur,  dann  und 
wann  mit  Bezug  auf  das  jüdische  Reich ,  alljährlich  belohnt  werden  solle- 
Auch  um  diesen  Preis  dürfen  sich  nur  Bachelors  bewerben. 

Die  Scholarships ,  worüber  die  Universität  zu  verfügen  hat,  siod 
folgende:  1)  Cravens,  fünf  Schotars,  von  welchen  jeder  jährlich  75  Pf. 
•rb»m  2)  Batties,  ein  Scholar,  mit  einer  jährlichen  Einnahme  von 
30  Pfund ;  3)  Browue's,  ein  Scholar,  jährlich  21  Pfund;  4)  DaViea\ 
ein  Scholar,  30  Pluud  jährlich;  5)  Beils,  acht  Scholars,  jeder  50  Pf. 
jährlich;  6)  Pitts,  ein  Scholar,  50  Pfund  jährlich.;  7)  Porton' s,  ein  Scho- 
lar, 60  Pfund  jährlieh;  8)  Tyrwhitfs,  bloss  für'a  Hebräische,  sechs 
Scholars,  von  welchen  drei  jährlich  30  Pfund  und  drei  jährlich  20  Pf. 
erhalten;  9)  Crossens,  drei  Scholars,  jeder  20  Pfund  jährlich. 

Diese  Scholarships  werden  auf  sieben,  fünf  oder  drei  Jahre  ge- 
geben, und  ist  die  Zahl  der  Scholars  drei  oder  darüber,  so  findet  ge- 
wöhnlich jedes  Jahr  eine  neue  Weh»  Statt.  Die  Examinatoren  sind  ent- 
weder von  den  Gründern  der  Scholarsbips  bestimmt  worden,  oder  Werden 
von  dem  Vice-Chanceilor  ernannt.  Gewöhnlich  sind  es  Professoren  oder 
Masters  dieser  oder  jener  Colleges.  Von  diesen  werden  auch  die  Auf- 
gaben bestimmt,  und  da  diese  ein  tüchtiges  Studium  erfordern,  so  haben 
diese  Scholarsbips  auf  Tausende,  die  sich  darum  bewerben,  einen  be- 
deutenden Einfluss  fürs  Lebeu,  wenn  auch  die  Wissenschaft,  im  deut- 
schen Sinne  des  Worts,  dadurch  nicht  besonders  gefördert  wird. 

Es  ist  wohl  kaum  nölhig  zu  erwähnen,  was  aus  dem  Gesagten 
ziemlich  von  selbst  hervorgeht,  dass  das  Studium,  das  in  den  Colleges 
getrieben  wird,  kein  eigentliches  Fach-Studium  ist.  Alle,  welchem  Fache 
sie  sich  auch  widmen  wollen ,  treiben  grösstenteils  dieselben  Studien, 
wenn  auch  Einige  auf  diese,  Andere  auf  jene  mehr  Zeit  und  grösseren 
Fleiss  verwenden,  und  nicht  wenige  gehen  uach  Cambridge,  ohne  zu 
wissen,  welches  Fach  sie  ergreifen  wollen.  Am  besten  ist  unstreitig  für 
Theologen  und  Schulmänner  gesorgt.  Die  oben  genannten  Hooor-raca 
künuea  ohne  weitere»  Studium  in  gelehrten  Schulen  als  Lehrer  auftreten, 


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Tiarks:  Die  Universität  Cambridge.  355 

and  wenn  sie  sich  dem  Schalamte  widmen  wollen,  so  sichert  ihr  Stand 
im  Universitäts-Examen  ihnen  auch  eine  baldige  gute  Stelle.  Diejenigen, 
die  sich  dem  Dienste  der  Kirche  widmen  wollen,  erhalten  durch  ihre 
College -Stadien  und  die  Vorlesungen  einiger  Professoren,  wovon  uoch 
etwas  gesagt  werden  wird,  solche  Vorkenntnisse  und  Anleitung  zum 
selbststandigen  Studium,  dass  selbst  solche,  deren  Talent  nnr  mittelmäs- 
sig  ist,  sich  leicht  und  sehr  bald  die  zum  Eintritt  in  ein  Kirchenamt  nö- 
thigen  Kenntnisse  erwerben.  Obgleich  in  drei  Colleges,  Cajus,  trinity 
Hall,  Downing,  etwas  Jurisprudenz,  wie  es  scheint,  gelrieben  wird,  so 
erhalten  doch  die  Jurisien  für  ihr  Fach  nichts  als  allgemeine  Bildung  und 
Geistesstärke.  Und  doch  ist  die  Zahl  derjenigen ,  die  sich  der  Jarispru- 
denz  widmen  wollen,  stets  bedeutend  in  Cambridge,  und  wenn  es  wahr 
ist,  was  Lord  Brougham  diesen  Sommer  im  Ober-Hause  erwähnte,  nem- 
lich,  dass  die  grössten  und  vorzüglichsten  Richter  Englands  Cambridge 
Wrangters  gewesen  seien,  so  ist  es  kaum  zu  bezweifeln,  dass  ihre  ma- 
thematiscbeir  Studien  ihnen  eine  besondere  Kraft  nnd  Schärfe  des  Geistes 
gegeben  haben,  und  Ruhuken  hatte  gewiss  nicht  unrecht,  als  er  im  Elo- 
gium  Tib.  Ifemsterhusii  schrieb :  Geometria  animum  a  sensibus  ad  ea,  quae 
menfe  contnemur,  intelligendu  traducit  aeuitque  in  vero  judicando.  Et 
qoisqoam  dnbitabit,  quin,  qui  hac  diseiplina  ingenium  subegerit,  etiam  in 
lileris  oostris  acutius  cernat  iis,  qui  nunqum  attigefint  pulverem  eruditam? 
Hemsterfiasio  quid  Gemetria  profuerit,  sciunt,  qai  vel  scripta  ejus  cogno- 
rint  vel  sermones.  Quicquid  ex  ore  exibat,  quiequid  literis  mandabalur, 
etiam  in  critico  gencre,  facile  prodebat  ingenium  adsnetum  geometricae 
snbttliUti.  Nihil  samebat  temere,  sed  a  certo  cognitis  et  perspieuis  via  et 
ratiooe  progrediebatur  ad  ea ,  quae  inde  necessaria  conseentione  effice- 
rentur.  Merkwürdig  ist  es  auch,  dass  viele  der  vorzüglichsten  Prediger 
Englands  Cambridge  Wranglers  gewesen  sind.  Der  berühmte  Henry  Mel- 
vill,  der  vielleicht  jetzt  von  allen  im  höchsten  Rufe  steht,  war  im  Jahre 
i93i  der  zweite  Wrangler.  Obgleich  Herr  Melvill  Vorsteher  des  Col- 
lege der  Ostindischen  Gesellschaft  zu  Haleybury  ist,  nnd  ats  solcher  eine 
bedeutende  Einnahme  hat,  wurde  er  18 19  zu  einer  Stelle  in  der  City 
erwählt,  die  ihn  verpflichtet,  jeden  Dienstag  Morgen  zu  predigen,  wofür 
er  jährlich  500  Pfund  erhalt.  Ein  Verleger  schickt  jeden  Dienstag  einen 
Schnellschr eiber  in  die  Kirche,  der  die  Predigt  wörtlich  niederschreibt, 
die  dann  sogleich  gedruckt  wird,  und  wenigstens  6000  Exemplare  wer- 
den wöchentlich  davon  verkauft,  ein  Beweis,  in  welcher  hohen  AchtuBg 
der  Mann  steht.  Die  Juristen  müssen  sich  in  England  durch  ein  saures 
mühevolles  Privat -Stadium  der  englischen  Gesetze  die  ihnen  nüthigea 

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Tiarks:  Die  Universität  Cambridge. 


Kenntnisse  zu  erwerben  suchen ,  und  dieses  Stadium  fangen  sie  erst  nach 
vollendetem  Universitäts-Cursus  an.  Die  Mediciner  slndiren  eigentlich  in 
den  Hospitälern,  in  welchen  Vorlesungen  über  alle  Theile  der  Hedicin 
und  Chirurgie  aufs  schönste  mit  der  Praxis  verbunden  sind. 

Humanitatis  Studium  ist  es  besonders,  was  in  den  Colleges  der 
englischen  Universitäten  getrieben  wird  und  gefördert  werden  soll.  Gerade 
wie  Hemsterhuis  und  Huhnken  es  haben  wollten,  wie  es  aber  schon  zu 
ihrer  Zeit  in  Holland  und  Deutschland  aufgehört  zu  haben  scheint.  Dono 
Ruhnken  sagt  in  jenem  Elogium:  Hic  locus  me  admonet,  ut  justum  meum. 
vel  Hemsterbusii  potius,  dolorem  et  querelam  eflundam.  Veteres  hoc 
humanitatis  Studium  sapientissimo  consilio  tarn  late  patere  voluerunt,  ut  et 
mathematicas  artes  et  pbilosophiam  omnem  complecteretur.  Veterum  auc- 
toritatem  secuti  sunt  viri  immortales ,  qui  seculis  deeimo  quinto  et  deeimo 
sexto,  pulsa  harbarie,  pristinam  bonis  literis  dignitatem  restituerunt  Ve- 
rum brevi  post  exorti  sunt  literalores,  qui,  finibus  Ulis  latioribus  per 
summ  am  ignaviam  contrahendis,  sibi  servarent  Grammaticos ,  Oratores, 
Poetas,  Historicos,  valere  juberent  Mathematicos  et  Philosopbos.  Sic  hu- 
manitatis diseiplina,  rebus  magnam  parlem  ex  ea  sublatis,  prope  tote 
facta  est  diseiplina  verborum.  Ex  eo  tempore  philosophi  ejusmodi  Ute— 
ratores  cum  arte  sua  contemserunt;  liferat ores  de  bumaniorum  literarum 
conlemtione  ad  ravim  usque  declamarunt,  ne  illud  quidem  intelligentes, 
sua  culpa  literarum  dignitatem  concidisse.  Hos  si  ad  majorum  insiituta 
revocare  conemur,  forsitan  operam  perdomus.  Sed  profecto,  si  reclis 
eonsiliis  locum  dare  velint,  una  superest  ratio,  qua  et  literas  et  semet- 
ipsos  a  contemtu  vindicare  queant.  Revellant  terminos  humanitatis,  quoa 
ignavia  constituit,  reeipiant  in  artium  chornm,  quas  inde  ejecerunt,  et 
Hemsterbusii  exemplo,  literarum  Studium  cum  Mathesi  et  Philosophie  con- 
jungant.  Ob  das  richtig  ist  oder  nicht,  Uberlasse  ich  andern  au  ent- 
scheiden. In  Cambridge  halt  man  es  für's  Richtige,  und  meine  Absicht 
ist  hauptsächlich  zu  referiren ,  was  in  Cambridge  geschieht.  Schölling  und 
Hegel  kennt  man  freilich  in  Cambridge  nicht,  aber  Plato,  Aristoteles  und 
Locke  werden  nicht  vernachlässigt.  Auch  wird  wohl  nicht  leicht  Jemand 
leugnen,  dass  ohne  Plato  und  Aristoteles  Niemand  ein  gründlicher  Philo- 
soph je  geworden  ist,  und  es  ist  auch  gewiss  etwas  Wahres  in  den 
folgenden  Worten  Ruhnkeu's  enthalten:  Ceterum  in  Metaphysica ,  quae 
vera  certaque  sint,  et  in  quibus  firme  consistere  possis,  apud  Veteres  se 
reperisse  omnia  dicebat.  Novarum  opinionum  subtilitatem  ut  facile  ag- 
noscebat,  sie  earum  le vitalem  et  inconstantiam  vel  hoc  argumenta  de- 


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Tiark«:  Die  Universität  Cambridge.  857 

monstrabat,  qnod  quotiescunque  novus  Metaphysicus  existat,  toties  prior 
loco,  quem  tenuit,  pellatur. 

» 

Bis  zum  Jahre  1849  war  keio  Undergraduate  gezwungen,  irgend 
eine  Vorlesung  eines  Professors  der  Universität  zu  besuchen.  Die  Col- 
lege-Studien waren  für  Jeden  völlig  hinreichend,  um  Bachelor  of  Arte 
zu  werden,  und  die  meisten  Professoren  kündigten  ihre  Vorlesungen  ver- 
gebens an.  Jetzt  sind  alle  gezwungen ,  wenigstens  einige  Vorlesungen 
der  Professoren  zu  besuchen.  .  Diese  neue  Verordnung  wird  in  einem 
zweiten  Artikel  über  die  Universität  näher  angegeben  werden,  in  wel- 
chem zugleich  alles  das,  worauf  hier  nur  hingedeutet  werden  konnte, 
ausgeführt  werden  soll. 


Die  Pönitentiaranstalt  St.  Jakob  bei  St.  Gallen,  in  ihrem 
Wesen  und  Wirken ,  mit  Vorschlägen  tu  einer  verbesserten  Straf- 

Systeme.  Von  W.  F.  Moos  er,  Direktor  der  Anstalt.  Mit  acht 
lühogr.  Tafeln.  St.  Gullen.  ScheiÜin  t#.  ZoUikofer.  1851.  VI  u. 
344  S.  gr.  8. 

Ueber  den  rechtlichen  und  sittlichen  Erfolg  und  Werth  der  Strafe 
entscheidet  die  Antwort  auf  die  Frage:  Was  aus  der  durch  Gesetz  und 
Urtheil  benannten  und  angeordneten  Strafe  in  der  Anwendung,  also  in 
der  lebendigen  Wirklichkeit,  erfahrungsmässig  wird  —  Was  sie  wirkt 
und  ihrer  Gesammtbeschaffenheit  nach  wirken  kann.  Das  Gewicht  dieser 
Frage  für  die  ganze  Rechtsgesellschaft  kann  kein  Denkender  verkennen 
und  es  fängt  allmählich  an  auch  von  den  Recbtsfachmännern  erkannt  zu 
werden,  die  lange  genug  ihrem  Beruf  völliges  Genüge  gethan  zu  haben 
glaubten,  wenn  sie  nur  nach  dem  todlen  Buchstaben  des  Gesetzes  den 
Verbreebern  die  Rechnung  gemacht  hatten  und  nicht  im  Mindesten 
danach  fragten,  ob  dieselbe  nicht  ohne  den  Wir  Iii  gemacht  sei  d.  h.  ob 
im  Zuchthause  demnächst  im  rechten  Geist  Gesetz  und  Urtheil  vollzogen, 
ob  also  mittels  der  Strafe  wirklich  dem  Recht  und  Staat  von  Seiten 
der  Verbrecher,  und  umgekehrt  den  Verbrechern  von  Seiten  des  Rechts 
und  Staats,  zu  Theil  werde  Was  ihnen  gebührt  und  förderlich  ist  oder 
nicht.  Leider  war  Beides,  Was  untrennbar  zusammenhängt,  bisher  in  der 
Regel  nicht  der  Fall.  Jeder  Beitrag  zur  Beleuchtung  des  rechten  Wegs 
zu  einem  erfreulicheren  Ergebniss  muss  willkommen  sein  und  wir  be- 
grfissen  als  einen  solchen  auch  die  lichtvolle  und  verständige  Darstellung 


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358         Mooier*  I)ie  PfoitenÜaranslaU  Bl  Jakob  bei  St.  Gallen. 

4es  Verf.  Auf  diese  aufmerksam  zu  machen,  cinzeles  besonders  Merkens- 
werte auszuheben  auch  für  Solche,  denen  die  Schrift  nicht  zur  Iiand 
ist  und  gelegentlich  ein  Bedenken  auszusprechen  um  der  guten  Sache 
willen,  ist  der  Zweck  dieser  Zeilen.  Wir  knüpfen  zunächst  an  die 
Schlüsse  au ,  die  der  Verf.  selbst  aus  seiner  zehnjährigen  Verwaltung  der 
neuen  s.  g.  AupunTscben  Strafanstalt  St.  Jakob  gezogen  und  zumeist  im 
letzten  (10.)  ^8P*  &  325  IT.  als  „Ansichten  über  das  AubunTsche  und 
Peunsylvanische  Strafsystem  und  Vorschlüge  zu  einer  yerbesserlen  Straf- 
rechtspflegeu  ausgesprochen  hat,  und  worauf  sich  der  Wunsch  stutzt, 
den  er  in  der,  seine  Schrift,  als  Bericht  an  den  Kantonsrath  von  St.  Gal- 
len,  eiuleilenden  Ansprache  kund  gibt:  „dass  der  Kantonsrath  sich  dar- 
aus  Uberzeugen  möge,  dass  dessen  Ziel  durch  Erbauung  dieser  Strafan- 
stalt und  die  Befolgung  dieses  Strafsystems  nicht  völlig  erreicht  worden 
sei  und  auf  dem  Wege  nimmer  erreicht  werden  könne,  ja  dass  die 
ganze  Strafrechtspflege  in  ihrem  jetzigen  Bestände  nie  nnd  nimmer  zu 
einem  die  Rechte  der  Bürger  möglichst  sichernden  Ziele  führe.*  Wie 
die  Kantonsregierung  und  der  Verf.  dieses  Ziel  aufgefasst  haben ,  erhellt 
aus  Folgendem.  Ein  Bericht  des  kleinen  Raths  (S.  13  ff.)  Uber  die  Straf- 
weise in  den  früheren  Haftörtern  des  Kantons,  zu  St.  Leonhard  und  im 
s.  g.  grünen  Thurm  (der  die  Kettcnstrbflinge  aufnahm),  sagt:  „Die  Be- 
nhandlung der  Sträflinge  stimmt  ganz  Uberein  mit  der  anderer  Staaten, 
„wo  man  sich  keine  Rechenschaft  vom  Zweck  der  Strafe  gibt  und,  ge- 
dankenlos oder  durch  die  Oertlichkeit  gezwungen,  die  Uebung  fortbe- 
stehen lösst,  die  man  von  den  Vorfahren  kennen  gelernt  hatu  —  — 
„daher  kommt  es  denn  auch,  dass  die  Sträflinge  das  Zuchthaus  in  der 
„Regel  schlechter  verlassen  als  sie  es  betreten  haben"  —  „das  Schellen- 
„haus  bleibt  eine  Schnle  des  Verbrechens  für  Diejenigen,  die  bei  ihrem 
„Eintritt  noc|i  leicht  hallen  gebessert  werden  können"  —  „Sühne  fUr 
„das  Verbrechen  ist  nicht  einziger  Zweck  der  Strafe,  Besserung  ist  ein 
„ebenso  wichtiger  Zweck,  den  der  Staat  nie  bei  Seite  setzen  darf,  und 
„die  bürgerliche  Gesellschaft  hat  ein  Recht  zu  fordern ,  dass  ihr  der  Ver- 
brecher wenigstens  nicht  schlechter  wieder  gegeben  werde  als  sie  ihn 
„früher  ausgestossen  hatte. u  Auch  der  Verf.  sieht  den  Strafzweck 
(S.  325)  in  Sühnung  begangener  und  Vermeidung  künftiger  Verbrechen 
entweder  durch  sittliche  Besseruug  oder  Einschüchterung;  die  Strafe  soll, 
ihm  zufolge,  als  Heilmittel  für  sittlich  Kranke,  alle  diese  Gefallenen  auf- 
richten, sie  zur  Einsiebt  ihrer  Schuld  und  der  Gerechtigkeit  der  Strafe 
(d.h.  ih  rer  Notwendigkeit  und  Wohlthätigkeit  für  sie  selber  wie  für  das 
Ganze  Ref.)  bringen,  sie  aussöhnen  mit  Gott,  Nebenmenschen  nnd  ihrem 


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Mooser:  Die  Ponitcnliaranstalt  St.  Jakob  1>oI  St.'  Gallen.  859 

Schicksal,  ihre  geistige  Wiedergeburt  bewirken  (S.  25) ,  dabei  den  Men* 
sehen  im  Verbrecher  möglichst  schonen  und  als  Selbsteweck  ehren 
(S.  29  f.);  er  verlangt  klares  Aussprechen  des  Strafzwecks  im  Gesetz 
und  innigen  Zusammenhang  desselben  mit  der  Strafanwendung 
in  dem  Hinwirken  auf  das  gleiche  Ziel;  er  fodert,  wie  Jeder  der  dal 
Üben,  zumal  von  Verbrechern,  kennt,  dass  die  Strafe  ihrem  Zweck  an* 
gepasst,  nicht  dieser,  also  der  Geist,  dem  starren,  todten  Buchstaben 
geopfert  werde.  Dass  Diess  nur  geschehen  könne  mit  Rücksicht  auf 
das  während  der  Strafliaft  wirklich  Erreichte  oder  nicht  Erreichte,  ver- 
steht sich  von  selbst.  Auch  der  Verf.  verlangt  also,  wie  alle  verstän- 
digen Strafanstaltvorsteher,  die  wir  je  kennen  gelernt  haben,  diese  Rück- 
sichtnahme. Er  sagt  z.  B.  (S.  267):  Gnade,  ohne  vorheriges  Gntacbteo  des 
Vorstandes,  das  auf  unzweifelhafte  sittliche  Umwandlung  lautet,  wirke  nnr 
schädlich,  da  darin  ein  Mittel  der  Strafkürzung  liege,  ohne  dass  der 
Sträfling  seinen  bösen  Sinn  geändert,  also  sie  verdient  zu  haben  brauche. 
Er  bemerkt  dabei  sehr  richtig,  wie  höchst  unrecht  und  die  Besserang 
hemmend,  ja  vereitelnd,  das  unzeitige  HolTnnngmachen  auf  Gnade  sei, 
weil  sich  dann  hierrauf  alle  Gedanken  richten;  er  fügt  aber  ohne  allen 
Grand  hinzu ,  dass  Rückfällige  n  i  e  begnadigt  werden  sollten.  Hat  doch 
er  selbst  aufgefodert,  man  solle  billiger  Weise  eine  gänzliche  Um- 
änderung eingewurzelter  böser  Neigungen  bei  Niemanden,  vollends  nicht 
bei  Verbrechern,  in  kurzer  Zeit  verlangen.  Was  ist  nun  Rückfall  andere 
als  ein  Beweis,  dass  eine  solche  Aenderung  —  gewöhnlich  sogar  durch 
Mitschuld  des  Staats  und  seiner  Strafanstalt  — -  noch  nicht  eingetreten, 
dass  also  noch  ferner  darauf  hinzuwirken  sei,  batd  kürzer,  bald  län- 
ger, aber  doch  wahrlich  nicht  gerade  immer  in  der  alles  Rechtsgrandes 
baren  geometrischen  Progression,  wonach  das  Gesetzbuch  von 
St.  Gallen  die  Rückfalle  gestraft  wissen  will !  —  Ebenso  findet  der  Verf. 
richtig  Gnade  am  Ort,  wo  nach  dem  Wortlaut  des  Gesetzes  der  Richter 
barter  urtheilen  roasste ,  als  das  Verbreohen  nach  heutigen  Rechtsbe- 
griffen es  fodert  uod  wo  „eine  Verletzung  der  Hechtssicherheit  nicht  mehr 
zo  befürchten  ist4*  (m.  a.  W.  wo  schon  anfangs  der  Ansatz  einer  so 
langen  Strafzeit  unnölhig  war  oder  hin  tenn ach  als  onnötbig  sich  er- 
wiesen hat  Ref.}.  S.  244  wird  erzählt,  dass,  in  Folge  eines  Berichts 
des  Verf.  über  die  schlechte  Aufführung  eines  Sträflings  (der  durch  einen 
Merkwürdig  schlauen  Betrug  sich  oftmals  ins  Krankenzimmer  zu  bringen 
gewusst  halte),  die  Antwort  erfolgt  sei:  »dnss  auf  diesen  Bericht  die 
Regierung  sich  bewogen  gefunden,  die  Strafzeit,  die  in  dem  gefällten 
Unheil  auf  wenigstens  zwei  Jahre  festgesetzt  sei,  um  ein  Jahr  zu  ver- 


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860 


Mooser:  Die  PönitcminrarJstalt  SL  Jakob  bei  St.  Gallen, 


längern«,  —  eine  Verlängerung,  die  geholfen  habe,  zumal  da  die  Aus- 
lieht auf  abermalige  Verlängerung  im  Hintergrund  gestanden.    Der  Verf. 
schlägt  in  diesem  Sinn  als  wesentliche  „Ergänzungsschule"  der  „Straf- 
besserungsanstalttt  (  wie  er  nicht  Übel  Pönilentiaranstalt  verdeutscht)  eioe 
besondere  „Bewahr-  und  Versorgungs  (!)- Austalttt  vor,  worin  er  „auf 
unbestimmte  Zeit"  1)  alle  solchen  entlassenenen  Zuchthaus -Sträflinge  unter- 
gebracht („versorgt")  wissen  will,  —  gleichsam  zufolge  einer  still- 
schweigend mit  jedem  Strafurlheil  verknüpften  Bedingung  — ,  die  keine 
rechtliche  Aufführung  in  der  Freiheit  hoffen  lassen  oder  sich  seitdem  deren 
unwerth  gezeigt  haben  (und  die  bisher  in  St.  Gallen  leider  vom  Schatz- 
aufsichtverein in  die  Gemeindearmenhäuser  empfohlen  nnd  unter  die  Ge- 
meindepolizei gestellt  worden  seien),  2)  —  und  zwar  im  Verwaltungs- 
wege, alle  solchen  wirklich  gefährlichen  oder  (!)  öffentlicher  Unterstützung 
bedürftigen,  ganz  verwahrlosten,  liederlichen  Müssiggünger,  Taugenichtse 
und  Verführer,  die  nicht  einer  Verbrechcustrafe  verfallen  wären.  Aus 
dieser  Anstalt  sollten  die  Gebesserten  auf  Vorschlag  des  Vorstandes  „auf 
Wohlverbalten  hin",  d.  h.  donec  se  bene  gesserint,   entlassen  werden. 
Erst  dünn  gebe  es  für  die  Sträflinge  keine  Hoffnung  als  durch  Besserung. 
So  unsweifelhaft  Diess  aacb  ist,  so  werden  sich  dennoch  die  Meisten 
noch  lange  gegen  alle  Dem  ähnlichen  Vorschläge  wehren,  weil  diese  zu 
hart  Verstössen  gegen  die  Vorurtheile,  die  leider  noch  herrschend  sind. 
Zugleich  müssten  nach  dem  Verf.  die  Arbeithäuser  für  Korrektionelle, 
zwischen  welchen  ond  den  Verbrechern  ohne  Unrecht  doch  eine  Gränze 
nicht  zu  ziehen  sei,  aufgehoben  werden  (namentlich  das  St.  Gallische  zu 
St.  Leonhard),  zumal  da  sie  meist  nur  neue  Auflagen  der  alten  „Uu- 
zuchthäuser«  und  Verbrecherschuleu  seien,  wie  z.  B.  die  42%  Rückfäl- 
lige aus  St.  Leonhard  bewiesen,  die  nur  allein  wieder  ebendahin  oder 
nach  St.  Jakob  gebracht  worden  seien,  die  andern  ungerechnet  Ebenso 
müsse  in  St.  Gallen  die  einfache  Gefangenschaft,  die  noch  jetzt  viel  ärger 
sei  als  Zuchtbaus  (wegen  arbeitlosen  Zusammensperrens  mit  Strolchen, 
ohne  Rath  und  Trost  in  unge wärmte,  schlechte  Gefängnisse)  umgestaltet, 
von  6  auf  höchstens  einen  Monat  beschränkt,  endlich  aber  auch  vor 
Allem  die  Schändlichkeit  der  lebenlangen  Ehrlosigkeit  der  Züchtlinge 
beseitigt  werden  (S.  343  f.),  bei  welcher  die  Aussicht  auf  Uhren  Wie- 
derherstellung nur  ein  elender  Trost  sei.    Wie  oft  wird  doch  diese  ein- 
fachste Foderung  des  Rechts  und  der  Meuschlichkeit  noch  laut  und  nach- 
drücklich geltend  gemacht  werden  müssen,  bis  alle  Gesetzgebungen  uns- 
rer  Zeit  ihr  entsprochen  haben!  —  In  St.  Gallen  fand  der  alte  Volks- 
wahn, dass  jede  Berührung  mit  peinlich  Bestrallen  die  Ehre  beflecke, 


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Mooser:  Die  TÄnilentiaranstalt  St.  Jakob  bei  St.  Gallen.  361 


(reuen  Ausdruck  und  voll  sie  Nahrung  im  70.  Satz  des  G.  B.  von  1819, 
der  sie  sogar  ausschliesst  „von  jeder  Zusammenkunft  oder  Gesellschaft 
ehrlicher  Leute/1  Diese  Ehrlosigkeit  alten  Stils,  die  ein  liebloses  Zurück- 
flössen durch  alle  Welt  habe  mit  sich  bringen  müssen,  wie  der  Verf.  mit 
Recht  bemerkt,  ist  «war,  sammt  Pranger  und  Scbandsäule,  durch  das 
neoe  Gesetz  über  die  Strafgatlungen  von  1838  beseitigt  und  die  bürger- 
liche Ehre  lebt  nun  von  selbst  auf  mit  Ablauf  der  Strafzeit,  mit  Aus- 
nahme des  Rechts  der  Stimm-  und  Wahlfähigkeit  sowie  des  Zeugnisses, 
das  erst  10  Jahre  spüler  aufleben  soll!  (S.  34).  Ebenso  sind  seitdem 
(Kap.  3.)  Öffentliche  Zwangarbeilen  und  Ausstülpungen  abgeschafft  und 
letxtere  durch  die  (nichtöffentliche)  Strafe  von  15—  60  Stockschlagen  (I) 
ersetzt  (wie  in  Russland  die  Knute  durch  die  Peitsche  Ref.),  die  Landes- 
verweisung ist  auf  Fremde  beschränkt ,  die  Geldstrafe  auf  den  Betrag  von 
100  bis  3000  (I)  Gulden,  die  Todesstrafe,  die  nur  einfach  sein  darf, 
auf  den  Fall  vollbrachten  Mordes;  die  Freiheitstrafe  aber  hat  die  grosse 
Ausdehnung  von  3  Monateu  bis  zu  einem  Jahr  erhallen  und  zwar,  im 
Gegensatz  sur  früheren  Uebung,  mit  steter  Aufsicht  und  Arbeit  in  der 
Anstalt,  Schlafen  in  Einzelzellen,  Stillschweigen  bei  Tage,  Einschränkung 
der  Lebensbedürfnisse  auf  das  Unentbehrliche;  den  entlassenen  Kantonsan- 
gehörigen aber,  die  ein  Vierteljahr  bis  zu  3  Jahren,  gleich  Bevogteten, 
unter  einen  Schutzaufseber  gestellt  werden,  muss  fortan  jede  Gemeinde 
die  Niederlassung  gestalten. 

lo  früherer  Zeit  war  zwar  (nach  Kap.  1.)  hn  Gebiet  des  jetzigen 
Kantons  Gefaugnissstrafe  schon  vor  dem  16.  Jahrhundert  üblich,  ward 
aber  meist  durch  ürfede  abgekürzt  und  schwere  Verbrecher  schickte  oder 
verkaufte  der  Fürslabt  oft  nach  Venedig  auf  die  Galeere,  Was  auch 
im  Rheinthal  noch  1689  geschoben  sei.  Dem  Ref.,  der  nur  wu9ste,  dass 
die  Galeerenstrafe  in  Venedig  selbst  sehr  bäaflg  gewesen,  weil  man  dort 
Ruderknechte  in  Menge  brauchte  und  sie  am  Liebsten  umsonst  hatte,  war 
diese  Mittbeilung  merkwürdig.  Der  Verf.  berichtet  ferner  in  seiner  ge- 
schichtlichen Einleitung,  das  erste  Zuchthaus  in  St.  Gallen  habe  Fürstabt 
Beda  1781  gestiftet,  die  Gesetze  von  1807  und  1819,  deren  letzteres 
Aenderungeo  des  ersten  keineswegs  im  Sinne  der  Menschlichkeit  anordne, 
enthielten  noch  für  den  ersten  Rückfall  bedingte,  für  den  dritten  unbe- 
dingte Todesstrafe ,  die  Freiheitstrare  sei  seltner  und ,  zumal  bei  Fremden, 
durch  Pranger,  Brandmark  und  Prügel,  auch  wohl  (bei  Landstreichern) 
durch  Lebenstrafe  ersetzt,  die  gesetzliche  Sonderung  der  Sträflinge  nur 
hinsichtlich  des  Geschlechts  und  der  rückfälligen  Weiber  durchgeführt 
worden.    Einem  „Zuchtmeister"  habe  Alles  obgelegen,  Pflege,  Aufsicht 


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362  Mooscr:  Die  Pönllentiaranstalt  St.  Jakob  bei  St.  Gallen. 

(an  der  die  Slriflioge  selbst  Tbeil  hatten),  Arbeit  der  Züchtlinge,  da- 
her es  an  Allem  fehlte,  Zusammenschlafen  und  alle  Greuel  der  alten 
Unzucbtbäuser  im  Schwange  waren ,  die  Rückfälligen  die  Hälfte  und  drü- 
ber ausmachten  etc.    Diess  Alles  änderte  sich  seit  Beiiehung  der  Straf- 
anstalt St*  Jakob,  die  für  Gemeinschaft  bei  Tage,  Vereinzelung  bei  Nacht 
l>erecbeet,  für  etwa  111,000  Gulden  bei  St.  Gellen  im  Ganten  sehr 
zweckmässig  erbaut  und  eingerichtet  ward.    Das  2.  Kap.  gibt  die  nähere 
Beschreibung,   die  durch  eine  Anzahl  guter  Baurisse  verdeutlicht  wird. 
Ilit  dem  Mittelbau  in  panoptischem  Zusammenhang  stehen  drei  Flügel,  da- 
xwischen sind  in  Garten  verwandelte  Spazierböfe.    Der  vorliegende  Be- 
richt ihres  Vorstandes  Uber  das  dort  Geleistete  während  der  10  Jahr« 
vom  Anfang  1840  an  bis  zu  Ende  1849,  wo  die  Zahl  der  Gefangenen 
93  betrug,  ergibt  eine  Gesammtznbl  von  518  (darunter  93  Weibern), 
wovon  71   dort  starben,   also  etwa  8°/0  (!).    Diese  ausserordentliche 
Sterblichkeit  hatte  nach  dem  Verf.  ihren  Hauptgrund  darin,  dass  in  den 
ersten  Jahren  nicht  gehörig  gegen  Feuchtigkeit  gewirkt  war  und  eine 
ganz  misslungene  Luftheizung  bestand,  bei  der  selbst  Pflanzen  zu  Grunde 
gingen  und  die  seitdem  durch  eine  höchst  gelungene  Dampfheizung  «od 
Lufterneuerung  ersetzt  ist;  dass  ferner  Viele  eine  lange  Untersuchungshaß 
in  schlechten  Gefängnissen  ohne  Bewegung  durchgemacht,  zudem  vorher 
«ein  wüstes  Ubeu  geführt  hatten,  endlich  in  ansteckenden  Krankheiten, 
die  überall  eine  schlimme  Sache  seien,  „wo  die  Stritflingo  nicht  in  ge- 
reumigeu,  gehörig  veatilirten  und  heizbaren  Zellen  völlig  abgesondert 
werden  können.'-    Fügen  wir  hierzu  die  übrigen  Vorzüge  der  Ein- 
zelhaft, die  der  einsieht  volle  Vorstand  einer,   altem  Anschein  nach, 
musterhaften  Strafanstalt  auf  Grundlage  der  Gemeinschaft  zugesteht,  und 
die  begreiflich  um  so  mehr  ins  Gewicht  fallen ,  so  kann  es  uns  nur  freuen, 
in  der  Hauptsache  Das  ganz  bestätigt  zu  seheu,  was  wir  darüber  im 
3.  Stück  des  neuen  Arch.  d.  Krim.  H.  v.  1850.  Nr.  17.  ausgeführt  ha- 
ben.   Die  Thatsache  liegt  vor,  dass  rückfällig  im  weitesten  Sinn  des  Worts 
fast  nur  Solche  geworden  sind,  die  unter  zwei  Jahren  in  St  Jakob 
zugebracht  haben  (nümlich  43  auf  überhaupt  —  soweit  bekannt  —  55, 
also  etwa  l/7  der  Gesammtzahl  von  384  entlassenen  Sträflingen)  5  und 
daraus  scbliesst  der  Verf. ,  dass  das  daselbst  herrschende  System  bei  kurz- 
zeitigen Haften  keine  guten  Früchte  briuge,  ebenso  auch  nicht  bei  solchen 
Sträflingen,  deren  Scham-  und  Ehrgefühl  nahezu  erstickt  ist,  denen  Cha- 
r ti Vi t l r  uo d  \Vill  1 1 1  s l\ r ti f t  3 L) ^ c 1 1    und  (i  1 0  d j b c  1  «in  c  1 11  fiidssi £ c s *  Icictitsin"- 
niges  Leben  sich  gewöhnt  haben.    Bei  ihnen  könne  nur  Einzelhaft  helfen; 
sie  kämen  sonst  nicht  zum  Insicbgehen ,  da  das  Beisammensein  mit  Andern 


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Mooser:  Bio  Pam'lentiaranslan  St.  Jakob  bei  St.  Gallen.  363 

sie  viel  zu  sehr  zerstreue.  Dieses  habe  überhaupt  das  Schlimme  (S.331), 
dass  die  Busen  sich  unter  Ihresgleichen  fühlen,  auch  ohne  Mittheitangen, 
daher  ihr  Trotz  stammen  Beifalls  sich  zu  erfreuen  habe,  dass  ferner  ihre  häss- 
licbsten  Leidenschaften  (Missgunst,  Schadenfreude,  Unverträglichkeit  etc.} 
stets  nene  Nahrung  finden  und  sie  einander  stets  verfolgen,  selbst  nach 
der  Entlassung.  Der  Verf.  lüsst  nun  einen  Entlassenen  eine  an  sich  ge- 
machte traurige  Erfahrung  darüber  erzählen ,  die  völlig  genügt,  »lies  Lob 
der  Gemeinschaft,  was  er  Demselben  (auffüllend  gezwungen  und  un- 
beweisend)  in  den  Muud  legt,  ganz  zu  entkräften.  Der  Verf.  bestätigt 
weiter,  dass  der  Erfolg  der  Gemeinscbafthaft  durchaus  abhängig  sei 
von  der  allseitigen  Tüchtigkeit  der  Angestellten  (wahrend  die  EiozeHiaft 
schon  durch  sich  selbst  Bedeutendes  leistet);  dass  es  diesen  und  zumal 
dem  Vorstand,  wie  wir  am  oben  angef.  Orte  gezeigt  haben,  trotz  alles 
unpraktischen  Verschreib ens  einer  bestimmten  Zahl  von  Besuchen,  ganz 
unmöglich  sei,  persönlich  mit  jedem  einzelen  Strüfling  zu  verkehren,  so- 
bald die  Anstalt,  wie  fast  alle,  zu  bevölkert  sei,  während  St.  Jakob  nur 
zwischen  70  und  100  Sträflingen  zu  haben  pflegt;  dass  nur  die  Zelle  das 
Individualismen  möglich  und  für  Zuspruch  empfänglich  mache,  daher 
auch  die  Geistlichen  in  ihr  weit  mehr  wirken  könnten  als  durch  den  Got- 
tesdienst. Man  nehme  hinzu,  dass  eben  weil  nur  hier  das  Individualismen, 
die  Grundbedingung  jeder  vernünftigen  Erziehung,  denkbar  ist,  die  un- 
natürliche ausnahmlos  äusserlich  gleiche  Behandlung  wegfallen  kann  und 
muss,  die  mit  Grund  Hr.  Mooser,  selbst  auf  Kosten  n*es  Gefühls  des  Vor- 
stands, bei  der  Gemeinschaft  für  nöthig  hält,  nur  um  jeden  Schein  der 
Parteilichkeit  zu  meiden;  dass  Das,  wodurch  das  unerlässliche  Gebot 
des  Stillschweigens,  nach  dem  Verf.,  den  Meisten  als  Wohlthat  erscheine 
(S.228),  durch  die  Zelle,  aber  ohne  die  Nalurwidrigkeit  einer  tantaiiseb 
quälenden  Versuchung,  von  selbst  geleistet  werde,  ohne  die  grössto 
Schwierigkeit  der  Beaufsichtigung,  ohne  zahllose  Ordnungstrafen,  ohne 
Gefahr  der  Verschwörung,  des  spätem  Wiedererkennens  etc.  Hiergegen 
kommeo  die  einzelen  Vortheile  sicher  gar  nicht  in  Betracht,  die  das  Zu- 
sammensein allerdings  haben  kann ,  zumal  durch  Anregung  des  Wetteifers, 
das  Absehen  mancher  Handgriffe  (S.  139)  bei  der  Arbeit,  überhaupt 
durch  das  Beispiel  von  Ihresgleichen  im  Guten  (was  keinesfalls  dem 
Beispiel  im  Bösen  die  Wage  hält!  Ref.),  das  leichtere  Erkennen  des  Cha- 
rakters u.  A.  m.,  was  der  Verf.  anführt.  Er  sagt ,  dass  das,  übrigens  nicht 
unbedingte,  Verbot  des  Redens  nicht  durchzusetzen  sei,  verderbliche 
Verständigungen  aber  in  St.  Jakob  ebenso  selten  (?)  als  iu  der  Unter- 
suchungshaft häufig  seien,  Verschwörungen  bisher  unerhört,  wozu  wohl 


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364  Mooser:  Di©  Ponitcntiaranstalt  St.  Jakob  bei  St.  Gallen. 


auch  die  Doppelstellung  der  Aufseber  mitgewirkt  habe,  die  zugleich  die 
(Gewerb-)  Lehrer  and  von  der  Mehrzahl  als  ihre  Wohlthäter  angesehen 
seien.  Wie  wichtig  ihrerseits  Pflichttreue,  Takt  und  Festigkeit  sei  und 
dasa  darum,  wie  er  federt,  „ihre  Wahl  bedingt,  ihre  Entlassung  unbe- 
dingt in  die  Hand  des  Vorstands  gelegt  werden  sollte**,  wird  Niemand 
bezweifeln;  denn  gehörige  Aufsicht  und  Behandlung  der  Sträflinge  ist 
offenbar  für  die  Gefttngoisszucht  am  Wichtigsten  (S.  204),  mehr 
noch  als  zweckmässiger  (panoptischer)  Bau  des  Hauses  und  strenger  Ge- 
aetzvoltzug.  Die  häufigsten  Verstösse  wären  Unordnung  und  Unredlichkeit 
und  flössen  meist  aus  übler  Gewohnheit  und  Unachtsamkeit.  Als  Rechte 
der  Sträflinge,  die  sie  eifersüchtig  wahrten  und  zu  mehren  suchten,  nennt 
M.  gehörige  Kleidung,  Nahrung,  Gesundheitpflege,  also  auch  nicht  über- 
flüssige Arbeit,  das  Recht  nicht  strenger  als  die  andern,  überhaupt  in 
jeder  Hinsicht  als  Menschen  behandelt,  nicht  in  verschlechternde  Umgebung 
gebracht  zu  werden  ( —  ergo!),  endlich  über  ihre  Vorgesetzten  Be- 
achwerde  führen  zu  können. 

Ordnungstrufen,  die  nach  dem  Verf.  sehr  ungleich,  ja  ent- 
gegengesetzt bei  verschiedener  Gemüthsart  wirken,  darf  nach  der  Straf- 
anstaltordnung (S.  59  ff.)  nur  der  Vorsteher  verhängen  und  er  hat  dar- 
über Buch  zo  führen.    Diese  sind:  Ermahnungen,  Schmälerung  der  Kost, 
ganz  oder  theilweise  Verlust  des  Ueberverdienstes  (zumal  bei  Trägheit, 
Arbeitweigerung  und  boshaftem  Schädigen  von  Werkzeug  und  Stoffen), 
Einsamkeit  bis  zu  14  Tagen  mit  oder  ohne  magere  Kost,  Dunkelzelle 
•  bei  Wasser  und  Brod,  bis  zu  8  Tagen  (!) ,  zumal  im  Fall  von  Gewalt 
und  Beleidigungen,  wiederholten  Lügen,  Diebstählen  und  Fluchtversuchen. 
Bei  letzteren  und  Drohungen  sind  auch  Fesseln,  jedoch  nur  mit  Bericht, 
statthaft.    Ebenso  ist  fUr  das  maximura  der  Dunkelzelle  und  für  die  end- 
lieb „nach  Umständen"  zu  verhängenden,  beziehungsweise  (höchstens)  12 
oder  18  Stock-  oder  Ruthenhiebe,  Zustimmung  des  Aufsichtraths  erfodert, 
und  hier  noch  ausserdem  vorherige  Androhung.    Wir  können  es  nur 
bedauern,  dass  auch  der  sonst  feinfühlige  Verf.  sich  verleiten  liess,  für 
dieses  verführerische  Auskunftmittel  zu  stimmen,  weil  „im  Ganzen  Ver- 
einzelung, Hunger  und  dunkle  Zelle  nur  langsam,  nicht  schnell  und  kräf- 
tig, also  nicht  zureichend,  und  bei  voller  Anwendung  nachtbeilig  für  die 
Gesundheit  wirkten  (S.  249),  überdiess  die  Deutschen  leichter  als  Fran- 
zosen und  Ilaliener  d  emüth  igen  de  (!)  Strafen  ertrügen"  (!),  —  ver- 
muthüch  ohne  immer  bis  zur  Mordlust  erbittert  zu  werden.    Was  die 
Prügeleien,  auch  bei  Deutschen,  wirken,  davon  liesse  sich  manches  Un- 
erbauliche erzählen;    Gutes  wirken  sie  nie,  da  die  Verbrecher  sich 


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Mooser:  Die  Pönitentiaranstalt  St.  Jakob  bei  St.  Gallen.  365 

schimpflich  misshandelt  fühlen.  Dafür  spricht  auch  die  Miltheiluog  des 
Verf.,  dass  die  meisten  der  verabreichten  Prügel  —  wovon  also  der 
gute  Erfolg  jedenfalls  die  ersten  Male  ausblieb  —  „zwei  heimatlose  Bu- 
ben" bekommen  haben;  nicht  minder  der  Umstand,  dass  er  selbst  sich 
einmal  verfuhren  Hess,  mit  Prügeln  wenn  auch  nur  zu  drohen,  um  ein 
Geständnis?  zu  erpressen ,  wozu  doch  schwerlich  ein  Richter,  geschweige 
ein  Vorsteher  einer  Strafanstalt  heute  mehr  irgendwo  ein  Recht  hak 

Aus  der  in  160  Sätzen  bestehenden  Strafanstaltordnung ,  die  im 
Ganzen  sehr  verstündig  abgefasst  ist,  scheint  uns  ausserdem  noch  Folgen- 
des bemerkenswertb :    Nicht  bloss  das  Strafurtbeil,  sondern  auch  der 
Schlussbericht  des  Verbörrichters  wird  dem  Vorsteher  der  Anstalt  mitge- 
theilt;  alle  Sträflinge  haben  die  ersten  4  bis  20,  Rückfällige  bis  40  Tage 
in  der  Zelle  zuzubringen  (die  der  Verf.  als  Zuchtmittel  auch  bei  sonst 
herrschender  Gemeinschaft  für  anwendbar  hält  bis  zu  6  Monaten}.  Alle 
werden  in  4  Klassen  geschieden,  deren  erste  —  unbegreiflicher  Weise! 
—  neben  Denen,  die  sich  schlecht  betragen  haben,  bisweilen  Solchen 
die  auf  Lebenszeit  verurtheilt  sind,  alle  neu  Eintretenden  auf  3  Monate 
nnd  alle  (Gewerb  -)  Lehrlinge  auf  ein  Jahr  enthalten  und  gar  keinen  An- 
theil  am  Arbeitverdienst  abwerfen  soll,  dagegen  der  2.,  3.  und  4.  Klasse 
je  3-,  2-  oder  1  monatlich  ein  Verwandtenbesuch  oder  Brief  erlaubt  und 
je  der  0.,  5.  oder  4.  Theil  des  Arbeit  Verdienstes  als  durchaus  (von 
Ansprüchen)  freies,  jedoch  in  Sterbfällen  dem  Staat  zufallendes  (!)  Son- 
dergut  gutgeschrieben  wird,  wovon  die  3.  nnd  4.  Klasse  sogleich  einen 
Theil  gut  verwenden  darf.    Wo  das  Unterscheidende  und  der  Vorzug 
dieser  Klasseneinteilung  gegen  die  gewöhnliche  liegen  soll,  die  der  Verf. 
ganz  verwirft,  ist  uns  unklar  geblieben,  da  es  nirgends  scharf  angegeben 
»L   Wir  begreifen  nicht,  wie  man  nach  2  ganz  verschiedenen  Gesichts- 
punkten, „nach  Fleiss  und  Betragen u  und  doch  auch  wieder  „nach  den 
Berufarten a  (S.  140)  eine  verständige  Eintheilung  zu  Stande  bringen  will. 
Die  Kleider  der  Sträflinge  werden  über  Nacht  ausser  der  Zelle  aufgehängt. 
Diese  gehen,  die  Hände  anf  dem  Rücken  (!),  spazieren;  sie  wünschen 
dem  Aurseber  gute  Nacht,  gehen  nach  8  Uhr  zu  Bett  ohne  Licht,  was 
gar  nicht  in  die  Zellen  darf.    Wie  Diess  möglich  gemacht  wird,  z.  B.  im 
Winter  beim  Aufstehen  um  6  nnd  Anziehen,  ist  nicht  gesagt.  Von  vor- 
geschriebenem Beten  der  Sträflinge  ist  mit  Recht  keine  Rede,  wohl 
aber  von  einem  durch  die  Aufseher  zu  sprechenden  Gebet.  Die  Ena-  und 
Erbolungszeit  beträgt  von  Anfang  März  bis  Ende  Septembers  8 Vit  sonst 
2  Stunden  (ein  auffallend  grosser  Unterschied,  der  indesa  Manches  für 
sich  haben  mag).    Diese  Zeit  kann  im  Hof,  im  Arbeits al  oder  in  der 

*  ■  ■     %  .  • 


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366  Mooser:  Die  Pönitentiaranstalt  St.  Jakob  bei  St.  Gallen. 

Zeile  angebracht  werden.  Keiner  darf  zur  Aashülfe  verwandt  werden, 
i.  B.  in  der  Küche.  Jeder  erhält  2mal  die  Woche  je  %  Pfund  Fleisch. 
Der  scharfe  Arrest  bringt  „magere"  oder  Hunger-Kost  mit  sieb,  nämlich 
nur  Ys  Pf.  Brod  (sonst  wird  1  und  Weibern  2/4  Pf.  täglich  zu  Theil) 
und  je  den  andern  Tag  2  Schoppen  Suppe  (sonst  jeden  Tag  3  Schoppen, 
Morgens,  Mittags  und  Abends).  Gesang  beim  Gottesdienst  muss  unter- 
bleiben (warum?).  Zum  Unterricht  im  Lesen  etc.,  zunächst  für  die  weniger 
als  34  Jahre  alten  Sträflinge,  wird  besonders  auf  die  Geistlichen  gerech- 
net und  bei  den  Weibern  auf  eine  Aufseherin  oder  ein  anderes  von 
Christeuliebe  erfülltes  Frauenzimmer,  —  was  Alles  uns  eine  sehr  unzeitige 
Sparsamkeit  zu  sein  scheint.  Jedem  zu  Entlassenden  wird  vorher  das 
(schreiend  ungerechte  Ref.)  Rückfallgesetz  vorgelesen  und  eio  Schutzauf- 
seher  bestellt,  der  auch  seinen  Ueberverdienst  zu  verwalten  hat.  Die 
Anstellungszelt  bei  der  Anstalt  ist,  Wohlverhalten  vorausgesetzt,  ein  Jahr, 
beim  Vorsteher  4  Jahre.  Dieser  schliesst  die  Verträge  über  Lieferung 
von  Lebensmitteln  etc.,  darf  aber  nicht  denselben  Backer  und  Metzger 
haben  wie  die  Anstalt  und  weder  Gefangene  noch  Bedienstete  derselben 
für  sich  brauchen.  Er  hat  nur  allein  an  Hauptbüchern  12  zu  führen! 
Der  Werkmeister  (von  dem  nicht  klar  ist,  welcherlei  Geschäft  er  eigent- 
lich verstehen  muss)  darf  sich,  bei  Dienstentlassung,  nirgends  selbst,  zu 
eignem  Gewinn,  beim  Geschäftsbetrieb  der  Anstalt  betheiligen.  Die  Auf- 
seher sollen  sieb  vor  aller  Vertraulichkeit  mit  den  Sträflingen  hüten  und 
sie  mit  „Ihr"  anreden,  nicht  mit  dem  bekannten  „traulichen  Du.u  Männ- 
liche (weibliche)  Aufseher  dürfen  nie  allein  die  Quartiere  der  weib- 
lichen (männlichen)  Sträflinge  betreten  und  Keiner  darf  weder  strafen 
noch  schimpfen. 

Ein  eigentliche  Gefängnissgeseflschaft,  die  sich  kräftiges  Älitwirken 
für  die  Besserung  der  Sträflinge  während  der  Haft  zum  Ziel  setzte, 
besteht  freilich  nicht  und  kann  begreiflieb,  wenigstens  mit  Erfolg,  nirgends 
bestehen  wo  die  Sträflinge  in  Gemeinschaft  sind;  wohl  aber  besteht  ein 
Schutzaufsichtverein  zur  Fürsorge  für  das  Forlkommen  nnd  die  sittliche 
Förderung  der  Entlassenen,  deren  Jedem  der  Ansschuss  jenes  Vereins 
einen  Schulzaufseher  bestellt.  Die  Geldmittel  bestehen,  ausser  dem  Son- 
dergut der  Entlassenen,  aus  milden  Beiträgen  Einzeler,  der  Mitglieder, 
der  Gemeinden,  endlich  des  Staats.  Dass  man  die  Entlassenen  nicht  mehr, 
wie  Aussätzige,  fliehe,  sei  schon  eine  gute  Wirkung  des  Vereins.  Die 
Hälfte  von  275  überhaupt  entlassenen  Kantonsbürgern  führe  sich  ganz 
klaglos  auf  und  102  davon  konnten  als  ganz  gerettet  gelten  (S.  313  f.). 

Der  Verf.  theilt  noch  eine  grosse  Zahl  Tafeln  und  Rechnungen  über 
das  Wirtschaftlich©  und  die  Verwaltung  der  Anstalt  mit,  wodurch  der 


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Mooser:  Die  Poniientiaranstalt  St.  Jakob  bei  St.  Galten.  367 

Ueberblkk  sehr  gewinnt,  ebenso  alle  die  Verwaltung  und  Beamten  der 

Anstalt,  sowie  deren  Aufsichtrath  („ Direktionskommission tt)  betreffenden 
Kantonalbeschlüsse,  wovon  hier  nur  bemerkt  sei,  dass  die  5  Glieder  des' 
Aufsiebtraths,  den  der  kleine  Rath  ernennt,  je  Uber  das  Sittliche,  mit 
Eiaschluss  der  Strafen  und  des  Schutzaufsichtwesens,  über  die  Hausord- 
nung (woraus  wir  oben  Einiges  mitgctheilt  haben),  die  Arbeit,  die  Ver- 
pflegung und  das  Rechenwesen  zu  berichten  haben.  Viele  treffenden  nnd 
sinnigen  Bemerkungen  im  ganzen  Buch  geben  sprechendes  Zeugniss  von 
der  Tüchtigkeit,  mit  der  der  Verf.  seine  Aufgabe  als  Vorstand  denkend 
und  bändelnd  erfasst  hat,  besonders  auch  das  letzte  und  vorletzte  (über 
die  sittlich-religiösen  Zustände  redende)  Kap.  Wir  beben  daraus  und  aus 
dem  5.  nnd  6.  Kap.  über  die  Gesundheit  und  Beschäftigung  noch  Einiges 
aus.  Blosses  Bibellesen  und  Beteu,  sagt  der  Verf.  sehr  wahr,  bilde 
nur  Heuchler;  eine  Sammlung,  auch  von  belehrenden  Büchern,  sei 
nöthig.  Die  Aafgabe  sei  überhaupt,  die  bösen  Gewohnheiten  und  Leiden- 
schaften abzugewöhnen,  blosses  Einseben  des  Fehlers,  vorübergehende 
Reue  und  gute  Vorsätze,  kurzer  Schlummer  der  sündhaften  Neigung  durch 
Absebneiden  der  Gelegenheit,  genüge  nicht.  Am  Schwersten  sei  (Was 
auch  Obermaier  bemerkt  hat)  den  Charakterlosen  und  Gleichgültigen 
beizukommen.  Eine  Hauptschwierigkeit  liege  überhaupt  darin,  dass  die 
Mehrzahl  der  sittlich  Kranken  selbst  Sitz  und  Wesen  der  Krankheit  nicht 
erkennt  und  sie  dem  Seelenarzt  möglichst  verborgen  hält.  Zuerst  sei  das 
äussere  Leben  derselben  umzugestalten,  Gehorsam  (Gesetzachtung),  an- 
fangs mittels  Furcht  vor  Strafe,  sodann  Ordnung,  Reinlichkeit  uud  Arbeit- 
samkeit ihnen  anzugewöhnen,  auch  um  der  Gesundheit  willen.  Mit  der 
Arbeitlust,  dio  durch  die  Aussicht  auf  steigenden  Ii  eher  verdienst  und  auf 
das  künftige  Fortkommen,  nicht  minder  durch  die  möglichst  freie  Wahl 
der  Arbeit,  ja  selbst  durch  eiu  freundlich  anerkennendes  Wort,  wie  der 
Verf.  an  mehren  Beispielen  zeigt,  nicht  selten  merkwürdig  angeregt  werde, 
erwaobe  oft  erst  Gesetzachtung  uud  Einkehr  bei  sich  selbst.  So  könne 
die  Arbeit  ein  Hauptbestandteil  der  Straferziehung  werden  und  eine  Wohl- 
that  für  den  Sträfling,  aber  freilich  nur  wenn  sie  ihn  nicht  zur  lebenden 
Maschine  mache,  nicht  einseitig  und  allmählich  stumpfsinnig,  ihn  nicht  mit 
Hass  und  Widerwillen  erfülle  oder  seine  Flüchtigkeit  nähre,  wie  diess 
Alles  in  Fabriken  mehr  oder  minder  der  Fall  sei;  sie  müsse  vielmehr 
seine  Selbsttätigkeit  wecken  und  nähren,  ihm  Freude  machen  konneu, 
ihn  beruflüchtig  und  erwerbfähig  machen.  Ref.  freut  sich  sehr,  hierin 
der  vollsten  Bestätigung  der  Sätze  zu  begegnen,  die  er  über  die  Gefäng- 
nissarbeiten in  dem  oben  erwähnten  Aufsatz  ausgeführt  bat.  Noch  führt 
der  Verf.  an,  dass  zuerst  die  Arbeit  nur  aus  einer  gewissen  Leere  nad 


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368  Mooser :  Die  PönitentiaranMalt  St  Jakob  bei  St.  Gallen. 


Langweile  gesucht  zu  werden  pflege,  dass  bei  auffallend  Vielen  auch  das 
Anschaffen  eigner  Werkzeuge  Arbeitlust  etc.  geweckt  habe.    Er  zeigt 
sehr  gut  (S.  1  1 9  11  )  ,  wie  verkehrt  es  sei,  bestimmte  Arbeitaafgaben  zu 
geben,  weil  es  unmöglich  sei,  diese  nach  den  Kräften  richtig  abzumessen, 
ttberdiess  der  Gunst  nnd  Parteilichkeit  dabei  steter  Vorschab  geschehe. 
Als  Arbeit  überverdienst  kam  in  10  Jahren  allen  Sträflingen  zu  Gut  der 
Betrag  von  6088  Gulden,  Einzelen  bis  zu  133  G.  Besonders  Handwerke 
YOa  10  Hauptarten  werden  in  St.  Jakob  uuter  Leitung  gewerb  verstundiger 
Aufseher  betrieben,  —  Was  bei  einer  volkreicheren  Anstalt  zu  wenig 
wäre.    Für  Sträflinge  von  höherer  Bildung  erwies  sich  besonders  passend 
die  Buchbinderei.    Mit  allem  Recht  erklärt  sich  der  Verf.  ganz  gegen  das 
10  häufige  Wollespinnen  und  Waschen  der  Männer,   als  ganz  unpassend, 
aowie  Überhaupt  gegen  alle  zu  anstrengenden  oder  das  Atbmen  beschwe- 
renden Arbeiten  (wohin  aber  doch  wobl  auch  das  Rosshaarzupfen  zu 
zählen  wäre,  das  wohl  kaum  weniger  als  das  Wollespinnen  die  Scbwind- 
lucbt,  diese  Pest  aller  Zuchthäuser,  befördert!  Ref.}.    Nie  musste  ein 
Sträfling  wegen  Arbeitmangels  feiern  während  10  Jahren!  Eine  Hauptur- 
sache des  Wahnsinns  (der  in  St.  Jakob  unter  548  nur  2mal  entschieden 
auftrat),  zumal  fixer  Ideen,  scheint  dem  Verf.  zu  liegen  in  dem  Mangel 
«ioer  vernünftigen  Geistesthätigkeit  durch  solche  Arbeit,  wobei  Etwas  zu 
denken  ist,  wie  er  (S.  115)  sehr  gut  zeigt;  in  Schweigzwaog  oder  Ver- 
einzelung siebt  er  nur  Nebenursachen.    Ebenso  gegründet  ist  ohne  Frage 
seine  entschiedene  Missbilligung  des  Verpachtens  sei  es  der  Arbeit  der  Sträf- 
linge an  Unternehmer,  wobei  zudem  der  Vorsteber  leicht  zur  Null  werde, 
sei  es  der  Verköstigung ,  oder  gar  das  Halten  einer  Wirtbschaft  auf  eigne 
Rechnung  durch  den  Vorsteber,  wie  es  auch  in  der  Schweiz  noch  hie 
nnd  da  vorkomme,  —  bei  welch1  letzterem  Unfug  gar  nicht  mehr  die 
Rede  sein  könne  von  einer  Straf-  und  Besserungsanstalt,  vollends  wenn 
dazu  der  weitere  Unfug  komme,  dass  nicht  Taback  und,  ausser  als  Arznei, 
alle  geistigen  Getränke  verbannt  seien,  dass  Überhaupt  die  Allmacht  des 
Geldes  noch  ebenso  wie  ausser  der  Anstalt  Unterschiede  der  Lage  her- 
beiführen dürfe.    Sehr  zu  beachten  scheint  uns  noch  die  Bemerkung 
(S.  95  f.):  dass  genügende  und  genug  abwechselnde  Kost  für  die  Sträf- 
linge unerlässlich  sei,  um  nicht  den  herrschenden  Gefängnisskrankheitea  zu 
verfallen,  weil  ihnen  die  günstigen  Bedingungen  fehlten,  uuter  denen  der 
Freie  auch  eintönigere  und  geringere  Nahrung  ertragen  könne ;  dabenaman 
auch  iu  St  Jakob  von  dem  einjährigen  Versuch,  nur  e i n m a I  die  Woche 
Fleischnabrung  zu  geben,  wieder  habe  abgeben  müssen.    Zum  Schluss 
erwähnen  wir  noch,  dass  der  Verf.  dem  Benennen  der  Sträflinge  nach  der 
Nro.  auch  eine  gute  psychologische  Wirkung  beimisst  (welche?),  und 
dass  der  Gesammtverdienst  der  Anstalt  70081  Gulden  betrug  d.  h.  5697 
Guldea  weniger  als  die  Verpflegkosten,  wozu  noch  die  Verwaltungskosten 
mit  etwa  50444  nnd  das  Sondergut  aus  dem  Ueberverdienst  mit  6087  G. 
kömmt,  so  dass  die  Gesainmtkosten  141,310  G.  während  10  Jahren  aus- 
machten, der  erfoderliche  Staatszuschuss  mithin  62,229  Gulden. 

Jhi.  Bftder. 


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Hr.  24.  HEIDELBERGER  1851. 

JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR 


Kriegs-  und  Staatsschriften  des  Markgrafen  Ludwig  Wilhelm  von 
Baden  über  den  spanischen  Erbfolgekrieg.  Aus  den 
Archiven  ton  Karlsruhe,  Wien  und  Paris.  Mit  einer  geschicht- 
lichen Einleitung  und  Facsimile,  herausgegeben  ton  Freiherrn 
Philipp  Röder  ton  Diersburg,  grossh.  badischem  Oberst  etc. 
2  Bde.  in  8.    Karlsruhe  1850. 

Et  ist  ein  höchst  erfreulicher  Beweis  des  unzerstörlichen  Geistes 
ernster  wissenschaftlicher  Forschung  in  Deutschland,  wenn  in  einer  so 
stürmischen  Zeit,  wie  die  jüngst  vergangenen  Jahre,  ein  Werk  von  sol- 
cher Gediegenheit,  wie  das  vorliegende,  zur  Vollendung  geführt  werden 
konnte.    Der  hochgeachtete  Herr  Verfasser,  ein  verdienstvoller  Militär, 
der  seine  ausgezeichnete  Befähigung  zu  kriegsgeschichtlichen  Arbeiten 
schon  vor  einem  Jahrzebent  dnrch  seine  Beschreibung  der  Tttrkenfeldzüge 
des  Markgrafen  Ludwig  Wilhelm  von  Baden  bewiesen  hat,  liefert 
uns  in  dem  vorliegenden,  von  emsigen  und  gewissenhaften  Studien  zeu- 
genden Werke  die  Geschichte  des  zweiten  Abschnittes  in  dem  vielbe- 
wegten und  thatenreichen  Leben  dieses  vaterländischen  Helden,  eines  der 
grössteo  Heerführer,  die  Deutschland  je  besessen,  und  auf  den  das  Va- 
terland noch  in  den  spatesten  Zeiten  als  auf  einen  seiner  würdigsten  Söhne 
mit  dem  gerechtesten  Stolze  zurückblicken  wird.    Dieses  Werk,  in  wel- 
chem wir  mit  grösster  Befriedigung  eine  vortreffliche  Ausfüllung  einer 
wesentlichen  Lücke  in  unseren  Geschieht  werken  über  das  verflossene  Jahr- 
hundert erblicken,  verdankt  zunächst  seine  Entstehung  einer  Anregung, 
welche  dem  Hr.  Verfasser  nach  Herausgabe  der  Tttrkenfeldzüge  des  Mark- 
grafen Ludwig  Wilhelm  von  Baden  von  Seite  Sr.  königlichen  Hoheit 
des  Grossherzogs  Leopold  von  Baden,  des  erhabenen  Beschützers  und 
Beförderers  der  vaterländischen  Wissenschaft,  geworden  ist,  und  freudig 
wird  die  Wissenschaft  dem  Herrn  Verfasser  das  Zeugniss  geben,  dass 
seine  Leistung  das  ihm  bewiesene  höchste  Vertrauen  in  vollem  Maasse  ge- 
rechtfertigt hat.    Insbesondere  aber  muss  sich  die  deutsche  Geschichts- 
forschung Sr.  königlichen  Hoheit  dem  Gross  herzöge  von  Baden,  und 
den  Prinzen  des  königlichen  Hauses  zu  grossem  Danke  für  die  werktä- 
tige Unterstützung  verpflichtet  bekennen,  wodurch  eben  so,  wie  früher 
die  Herausgabe  der  Geschichte  der  Türkenfeldzüge,  so  auch  das  Erscheinen 
XL1Y.  Jahrg.  3.  Doppelheft.  34 


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360  T.  Röder:  Kriegs-  und  Slaalsschriften  des  Markgrafen  Lndwig  v.  Baden. 

dieses  Urkundenwerkes  möglich  gemacht  worden  ist.  Sowie  diesem  Werke 
eine  allgemeine  deutsche ,  ja  eine  europäische  Bedeutung  zukommt,  da  es 
Ereignisse  beleuchtet,  welche  Jahre  hindurch  alle  Grosstaaten  des  west- 
lichen Europa  in  die  angestrengtesten  politischen  und  kriegerischen  Kampfe 
verwickelten,  so  hat  es  eine  ganz  besondere  Bedeutung  für  Baden  und 
sein  erhabenes  Rcgenlenhaus ,  indem  es  einen  der  ausgezeichnetsten  Spros- 
sen dieser  erlauchten  Familie,  einen  der  bedeutendsten  Männer  seiner  Zeit 
überhaupt,  in  dem  wahren  Lichte  seines  Verdienstes  und  in  dem  vollen 
Glänze  seines  Feldherrn-Talentes ,  so  wie  auch  seiner  acht  vaterländischen 
Gesinnung  abspiegelt,  und  das  an  sich  schon  iu  der  Geschiebte  bell  strah- 
lende Bild  dieses  grossen  deutschen  Heerführers  von  den  Schalten  befreit, 
welche  theiis  Neid  and  Missgunst  des  Auslandes,  theils  der  Unverstand 
und  die  Leichtfertigkeit  inlandischer  Geschichtschreiber  Uber  einzelne  Züge 
desselben  zu  werfen  sich  nicht  entblödet  halten.  Das  vorliegende  Werk 
ist  um  so  mehr  zeitgemäss  erschienen,  als  auch  an  anderen  Orten  sieh 
die  schriftstellerische  Thäligkeit  in  der  neueren  Zeit  der  Forschung  Uber 
den  spanischen  Erbfolgekrieg  zugewandt  halte,  und  insbesondere  der  brit- 
tische  General  Murray  die  zu  Blenheim  aufgefundene  Correspondenz  dos 
Herzog  von  Marlborough  von  1702—1712,  und  der  k.  k.  österreichische 
ObristUeutenant  Heller  die  militärische  Correspondenz  des  Prinzen  Eugen 
von  Savoyen  aus  dem  Kriegsarcbive  zu  Wien  herausgegeben  haben,  und 
letzterer  insbesondere  nachgewiesen  halle,  dass  die  Sartorius'sc he  Samm- 
lung der  {unterlassenen  Schriften  des  Prinzen  Eugen  von  Savoyen  unacht 
sei.  Mussle  schon  die  Tbatsacbe,  dass  nunmehr  feststand,  dass  den  Ge- 
schieh ts  ehr  eibern  des  dreizehnjährigen  spanischen  Erbfolgekrieges  bis  jetzt 
wesentliche  und  unentbehrliche  Quellen  gefehlt  hatten,  dem  Herrn  Ver- 
fasser zur  Pflicht  machen,  die  von  ihm  seit  Jahren  mit  unausgesetzter 
Beharrlichkeit  und  Opfern  jeder  Art  gesammelte  Correspondenz  des  Mark- 
grafen Ludwig  Wilhelm  von  Baden  gleichfalls  zu  veröffentlichen,  so  fand 
sich  derselbe  hierzu  noch  mehr  durch  die  fast  durchgängig  wahrheitswi- 
drige unwürdige  Behandlung  und  Auffassung  des  Markgrafen  in  den  mei- 
sten gleichzeitigen  Schriften  veranlasst.  Wir  wollen  hier  mittbeilen,  wie 
sich  der  Herr  Herausgeber  hierüber  selbst  in  dem  Vorworte  ausspricht, 
da  dies  am  besten  erkennen  lösst,  was  der  Geschichtsforscher  von  der 
Yorliegenden  reichen  Urkundensammlung  zu  erwarten  hat ,  und  was  durch 
dieselbe  wirklich  geleistet  worden  ist  „In  keiner  Periode  des  thaten  - 
und  ruhmreichen  Lebens  des  Markgrafen  liegen  offenkundigere  Thalsachen, 
sprechendere  Anerkennungsdocumente  seiner  unsterblichen  Verdienste  um 
du  Erznaus  und  deutsche  Vaterland  vor,  und  in  keiner  Periode  neigen 


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v.  Röder:  Krieg und  Staatsschriften  des  Markgrafen  Ludwig  v.  Baden.  871 

sieb  die  Geschicbtschreiber  selbst  bis  auf  die  neueste  Zeit  verbissener,  sie 
xn  bestreiten ,  zu  verdunkeln ,  und  dem  acht  deutschen  Helden  den  wohl- 
verdienten  Platz  neben  Eugen  und  Marlborough  zu  entreissen.  So  wird 
er  in  des  Engländers  Coxe  Leben  und  Denkwürdigkeiten  des  Herzogs 
von  Marlborough  als  ein  abgelebter,  grämlicher,  ränkesüchtiger  Neider, 
als  dos  hemmende  Prinzip  aller  arossen  (_  oncentionen  der  beiden  fnlleiren 
dargestellt,  und  mit  gewohntem  Eifer,  wenn  es  sich  um  die  Unterdrückung 
vaterländischer  Verdienste  handelt,  sind  ihm  viele  deutsche  Autoren,  und 
namentlich  Haussier  im  Leben  des  Prinzen  Eugen  von  Savoyen  blind- 
lings gefolgt.  Der  Heransgeber  der  Denkwürdigkeiten  des  Marschalls 
Cttinat  gebt  weiter:  er  glaubt  sich  auf  der  Spur  einer  verräterischen 
CorresDondenz  des  Markgrafen  mit  dem  französischen  Heerführer,  und 
bringt  zu  seiner  Entdeckung  das  Facsimile  eines  dem  Markgrafen  fälsch* 
beb  unterstellten  Schreibens  bei.  Endlich  finden  sich  in  Hcller's  oben 
erwähnter  militärischer  Cprrespondenz  Eugens  zwei  Briefe  des  Prinzen  mit 
verdächtigenden  Zweifeln  gegen  die  Treue  des  Markgrafen,  die  leider 
schon  wieder  in  Mailaths  Geschichte  des  österreichischen  Kaiserstaates 
(4.  Band  der  Gesch.  der  Europäischen  Staaten  von  H eeren  u.  Uckerl) 
ihren  Weg  gefunden  haben,  und  von  hier  weitere  Verbreitung  drohen." 
Es  darf  als  das  sichere ,  urkundlich  documentirte  Resultat  der  Forschungen 
des  Herrn  Verfassers  des  vorliegenden  Urkundenwerkes  erklärt  werden, 
dass  das  Facsimile  in  den  Denkwürdigkeiten  von  Catinat  der  Abdruck 
eines  Briefes  des  Herzogs  Ludwig  von  Burgund,  und  nicht  des  Mark- 
grafen Ludwig  Wilhelm  von  Baden  ist,  und  dass  Prinz  Eugen,  als  er  dem 
Kaiser  Leopold  die  geheime  Ueberwachung  des  Markgrafen  zusagte, 
sammt  dem  Kaiser  als  die  Beute  einer  jämmerlichen  Mystiication  der  auf 
den  Sturz  des  Markgrafen  hinarbeitenden  Feinde  desselben  am  kaiserlichen 
Hofe  dasteht.  Das  vorliegende  Werk  enthält  357  Urkunden,  welche  der 
Herr  Herausgeber  aus  seiner  mehr  1300  Documente  enthaltenden  Samm- 
lung ausgewählt  hat.  Dem  Abdruck  der  Urkunden  ist  eine  geschichtliche 
Einleitung  vorangestellt  (S.  1  100),  in  welcher  der  Hr.  Verfasser  eine 
Uebersicht  der  Ereignisse  und  namentlich  der  kriegerischen  ThäÜgkeit  des 
Markgrafen  vom  J.  1700—1707  (seinem  Todesjahre)  gibt  Die  klare 
und  concise  Darstellung  in  dieser  geschichtlichen  Einleitung,  die  gleichsam 
die  Anweisung  zur  zweckmässigen  Durchlesung  der  Urkunden,  und  den 
Faden  an  die  Hand  gibt ,  an  welchem  dieselben  an  einander  gereiht  sind, 
verdient  alles  Lob,  und  ist  um  so  mehr  anerkennungswürdig,  als  der 
Herr  Verf.  der  bei  der  Reichhaltigkeit  des  Stoffes  sich  so  leicht  darbie- 
tenden Verlockung  zur  Weitschweifigkeit  glücklich  widerstanden  hat  Wir 

34* 


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372  v.  Röder:  Krieg«-  und  Staatsschriüen  des  Markgrafen  Ludwig  Baden. 

erhalten  in  derselben  in  scharf  und  glücklich  gezogenen  Umrissen  ein 
frisches  und  doch  wohldurchdachtes  Bild  der  damaligen  Vorgänge,  na- 
mentlich  tritt  der  Ideengang  des  Markgrafen ,  das  Eigentümliche  seiner 
Stellung  und  die  Schwierigkeit  derselben,  auf  deren  richtige  Auffassung 
und  Schilderung  es  hier  zunächst  ankam,  sehr  deutlich  und  wohlgeord- 
net hervor.  Wir  müssen  daher  diese  Darstellung  jedem  dringend  nach- 
zusehen empfehlen,  dem  es  darum  zu  thun  ist,  sein  Unheil  über  die  da* 
maligen  Zeitereignisse,  und  namentlich  Uber  die  Persönlichkeit  des  Mark- 
grafen und  seine  Stellung  zu  den  anderen  beiden  grossen  Heerführern, 
dem  Herzog  von  Narlborough  und  dem  Prinzen  Eugen  von  Savoyen  zu 
berichtigen.  Wenn  man  hier  aus  den  Urkunden  die  unwiderleglichen  Be- 
weise sieht,  wie  der  Markgraf  von  dem  Kaiser  gleichsam  allein,  ohne 
Trappen ,  ohne  Geld ,  ohne  Kriegsmaterial ,  an  den  Oberrhein  gestellt  wor- 
den war,  mit  der  Aufgabe,  die  grosse  Strecke  von  Basel  bis  nach  Lan- 
dau ohne  alle  anderen  Hülfsqnellen,  als  sein  Genie,  zu  decken,  wenn  man 
da  sieht,  was  der  Markgraf  mit  der  grössten  und  aufregendsten  An- 
strengung seines  Geistes  und  Körpers  acht  Jahre  hindurch  gegen  die  un- 
endlich überlegenen  französischen  Armeen  geleistet  hat,  dann  tritt  erst  die 
ganze  Heldengrösse  dieses  Mannes  in  das  rechte  Liebt,  und  kann  nicht 
▼erfehlen,  die  gerechte  Bewunderung  der  Nachwelt  zu  fesseln.  Freilich 
erklärt  es  sich,  dass  ein  solcher  Mann,  wenn  er  von  Allem  entblössr, 
auf  der  Vorhut  von  Deutschlands  Marken  stehend ,  und  die  dem  gesamm- 
ten  Deutschland  drohenden  Gefahren  klar  erkennend,  bei  dem  kaiserlichen 
Hofe  auf  die  Beschaffung  der  nöthigen  Mittel  an  Truppen,  Geld  und 
Kriegsmaterial  drang,  um  die  Operationen  am  Oberrhein  mit  Kraft  und 

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Aussicht  auf  Erfolg  vornehmen  zu  können,  den  Höflingen  sehr  unbequem 
erscheinen  mnsste.  Eben  so  erklärt  es  sich,  dass  der  Kaiser,  wenn  man 
ihm  vorlog ,  dass  der  Markgraf  über  mehr  als  40,000  Mann  verfüge, 
während  er  alles  in  allem  oft  kaum  1 3,000  Mann,  und  unter  diesen  kaum 
die  Hälfte  kainoffabig  hatte,  wenigstens  für  Augenblicke,   bis  diese  fal- 

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sehen  Berichte  durch  die  Thatsachen  Lügen  gestraft  worden  waren, 
darüber  zweifelhaft  und  bedenklich  sein  mochte,  warum  der  Markgraf 
nicht  zur  Offensive  am  Oberrhein  übergehe.  Was  sich  aber  am  leich- 
testen begreift,  ist  die  Bitterkeil  und  der  Aerger,  welcher  sich  des 

nen  Berichten  über  die  geringe  Zahl  und  mangelhafte  Ausrüstung  sei- 
ner Truppen  keinen  Glauben  schenkte,  und  ihm  in  Augenblicken,  wo  er 
selbst  kaum  eine  Hand  voll  Leute  zu  seiner  Verfügung  hatte,  noch  die 
Zumulhung  machte,  canze  Heffimenter  als  ihm  überflüssi»  zur  Unterstützung 

■  »•  "  "  Q      Hauvuiv  ,      Q  UV^IUIblllDI     W1J    UHU    «VVIUUiiaig   «tu  »V»  iJIUlüUU^ 


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v.  Ruder:  Kriegs  -  nnd  Staatsschriften  des  Markgrafen  Ludwig  v.  Baden.  373 


de»  Prinzen  Engen  nach  Italien,  oder  des  Herzogs  von  Marlborough  an 
den  Niederrhein  zu  senden.  Unter  solchen  Umständen  verdient  das  Feld- 
herrntalent des  Markgrafen ,  der  keinen  Augenblick  versäumte,  wo  irgend 
ein  Vortheil  Uber  den  Feind  zu  erreichen  war,  der  mit  ungemeiner  En t- 
s  ch  I  osso  oh  dt  immer  dl  ©  r  c  i  fl  i  c  Ii  s  C  0  \  -  e  Ij  rl  c  ^  u  d  iq^  \  p  r  h  n  o  d  ^  u  o  d  boi  der 
grössten  Ueberlegenheit  des  Feindes  noch  rettete  nnd  deckte,  was  nur 
irgend  möglich  war,  eine  Anerkennung  und  einen  Ruhm,  der  ihn  jeden- 
falls ebenbürtig  neben  seine  beiden  berühmten  Mitfeldherrn,  den  Her* 
zog  von  Marlborongh  und  den  Prinzen  Eugen  von  Savoyen  stellt 
Von  hohem  Interesse  ist  es,  aus  den  vorliegenden  Urkunden  die  viel- 
fachen, ununterbrochenen  Beweise  der  höchsten  Achtung  und  namentlich 
der  hohen  Anerkennung  seiner  Kriegserfahrenheit  von  Seiten  des  Prinzen 
Eugen  nnd  des  Herzogs  von  Marlborough  zu  entnehmen.  Eben  so  in- 
teressant ist  es  auch,  die  Kriegspläne  des  Markgrafen  zu  durchgehen. 
Hierbei  zeigt  es  sich  namentlich,  wie  woblberechnet  diese  Plüne  waren, 
besonders  der  Feldzugsplan  für  das  Jahr  1705,  wonach  gleichzeitig  die 
Offensive  am  Oberrhein  und  an  der  Mosel  ergriffen  werden  sollte.  Als 
die  von  dem  Markgrafen  richtig  vorhergesehene  Folge  der  Nicbtbefolgung 
dieses  Planes,  wobei  man  es  auch  ebenfalls  wieder  für  unnöthig  hielt, 
ihm  Truppen,  Geld  und  Kriegsmaterial  an  dem  Oberrhein  zukommen  zu 
lassen,  zeigte  sich  bald  die  Erfolglosigkeit  der  Unternehmungen  des  Her- 
zogs von  Marlborough  an  der  Mosel  —  einerseits  eine  grosse  Genugtu- 
ung für  die  militärische  Tüchtigkeit  des  Markgrafen  —  anderseits  für  das 
Reich  ein  sehr  trauriges  Ereigniss.  Dass  die  persönlichen  Feinde  des 
Markgrafen  nicht  unterdessen,  diese  Erfolglosigkeit  der  Unternehmung  des 
Herzogs  von  Marlborough  einer  eigensinnigen  Untätigkeit  des  Mark- 
grafen zuzuschreiben ,  ja  dass  der  Herzog  von  Marlborough  selbst  in  dem 
Umstände,  dass  er  vom  Oberrhein  aus  nicht  unterstützt  worden  war,  die 
Rechtfertigung  für  sein  gescheitertes  Unternehmen  suchte ,  ksnn  nicht  be- 
fremden: dass  aber  zwischen  dem  Markgrafen  und  dem  Herzog  darum 
kein  gespanntes  oder  eifersücbtelndes  Verhältniss  bestand,  zeigt  sich  am 
deutlichsten  daraus,  dass  der  Markgraf,  als  er  von  den  am  Hofe  zu  Wien 
gegen  ihn  ausgestreuten  Verleumdungen  Kunde  erhielt,  sich  darüber  be- 
klagend an  den  Herzog  von  Marlborough  selbst  waodte,  und  von  diesem, 
dem  der  klägliche  Zustand ,  in  welchem  man  die  kleine  Armee  des  Mark- 
grafen von  Seiten  des  Kaisers  gelassen  hatte,  wohl  bekannt  war,  auch 
die  freundlichsten  und  ehrenvollsten  Erklärungen  erhielt.  Fortwährend 
hatte  der  Markgraf  unterdessen  bei  dem  kaiserlichen  Hofe  die  dringend- 
sten Vorstellungen  gemacht,  um  von  der  Wichtigkeit  des  Oberrheines  zu 


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374  v.  Röder:  Kriegs-  und  Staatssrhriften  des  Markgrafen  Ludwig  T.  Baden, 

überreugen,  und  deingcmiiss  den  Kaiser  dorl  10  einer  grossortigeu  Kraft- 
entwickelung zu  veranlassen.  Seine  Stimme  fand  bei  den  damaligen  finan- 
ziellen nnd  militärischen  Verlegenheiten  des  Kaisera  kein  Gehör  —  und 
leider  bat  selbst  unser  Jahrhundert  die  Wichtigkeit  eines  festen  militäri- 
schen Verteidigungszustandes  des  Oberrheines  und  der  Pässe  des  Schwan- 
waldes  noch  nicht  gehörig  würdigen  gelernt!  Umsonst  flehte  der  treue 
Wächter  an  der  deutschen  Gränze  —  ein  wahrer  Markgraf  —  in  Wien 
auch  selbst  nur  um  Verbaltungsbefehle,  da  er  mit  seinen  wenigen  ver- 
nachlässigten Truppen  keine  eigene  Verantwortlichkeit  weder  für  ein 
System  der  Offensive  noch  der  Defensive  übernehmen  könne:  ab  eil 
achter  Soldat  seines  Kaisers  erklärte  er  sich  jederzeit  bereit,  sieh  mit 
der  gloria  obsequü  zu  begnügen.  Aber  auch  nicht  einmal  Verhaltangs- 
befehle  konnte  er  erlangen,  sondern  wurde  stets  auf  sein  eigenes  Gut- 
halten verwiesen,  dagegen  aber  ihm  nicht  undeutlich  zu  verstehen  ge- 
geben, dass  man  von  ihm  mit  Ungeduld  grosse  Kriegsthaten  und  Erfolge 
erwarte.  Solchergestalt  geistig  gleichsam  auf  die  Folter  gespannt,  kör- 
perlich an  einer  unheilbaren  Wunde  leidend ,  musste  sich  einer  der  erstes 
Helden,  die  Deutschland  je  gehabt,  aufreiben,  mit  dem  Schmerze  in 
sterbenden  Herzen,  dass  Deutschlands  Kaiser  und  Fürsten  ihm  die  weni- 
gen Mittel  vorenthielten,  mit  welchen  sein  grosser  Geist  ausgereicht  ha- 
ben würde,  seine  Sache  siegreich  zu  behaupten  und  rasch  den  unheil- 
vollen Krieg  zu  enden.  Der  Markgraf  wusste,  wie  oft  nnd  hart  er  bei 
dem  Kaiser  verläumdet  wurde,  war  aber  zu  stolz,  im  Gefühle  seines 

Werlhes  und  seiner  Treue ,  sich  ande  rs  als  gelegenheitlich  in  seinen  Brie- 
fen mn  A»n  Ifnisor  *u  rArMfurl  i  uam  Dia  CIaIIaii  c*in»r  *\  <■  I»rrw  Ii« n  ivaIpKa 
iou   au    ucu    naoci    bu   i  ciuuci  wg cu.      i/io   avcunii  dviuci  obuiviuou,  ttciuuw 

sich  hierauf  beziehen,  lassen  bei  allem  dem  gerechten  Unwillen,  der  sich 
darin  ausspricht,  doch  eine  grosse  Gutmütigkeit  in  dem  Grunde  seiner 
edlen  Seele  nicht  verkennen,  die  sich  mitunter  sogar  in  naiver  Weise 
ausspricht.  „Mir  gehet  esu,  schreibt  der  Markgraf  Urk.  264  —  „ posi- 
tive auf  solche  Weis,  indem  nichts  mehr  auf  der  Welt  geschiebt,  das 
ich  nicht  gethan  haben  muss,  und  bin  ich  dies  zu  meinem  Leidwesen 
dieses  eine  Zeit  hero  so  gewöhnet,  dass  ich  fast  erschrecke,  wenn  mir 
üble  Zeitungen  aus  Spanien  und  Portugal  kommen,  weil  ich  besorge,  es 
werde  mir  auch  die  Schuld  dessen  in  der  Welt  aufgebürdet  werden."  — 
An  einem  anderen  Orte  schreibt  der  Markgraf  an  den  Kaiser  (Urkunde 
342):  „Ja  ich  kann  nicht  leugnen,  dass  es  mir  schmerzlich  fallet,  alle 
Jahr  accnsirt  zu  werden  als  wann  ich  etwas  unterlassen  thäte,  was  zu 
E.  K.  M.  und  des  publici  Diensten  gereichen  könnte ,  und  von  einer  klei- 
nen und  von  allem  destituirten  Armee  eben  das  prtdentirt  werden  sollte, 


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v.  Röder:  Kriegs-  and  Staateschriften  des  Markgrafen  Ludwig  v.  Baden.  375 


was  Armeen  von  60  und  70,000  Blann  vielleicht  zu  prästiren  Mühe  finden 
würden.*  An  schmerzlichsten  acheint  ea  den  Markgrafen  berührt  En  ha- 
ben, dass  die  öffentliche  Meinung  über  seine  „Ehr-  und  Reputation«  irre 
geleitet  werden  sollte,  wo  er  sich  doch  seiner  grossen  Anstrengungen, 
seines  rastlosen  Eifers  und  seiner  verhSltnissmässig  zu  seiner  sehwachen 
Armee  beispiellosen  und  fast  unglaublichen  Erfolge  bewusst  war,  oder 
wie  er  sich  ausdrückte ,  er  noch  keine  Ursache  gefunden  hatte,  sich  über 
die  Hilfe  Gottes  und  einer  Discontinuation  des  Glückes  „zu  beklagen44 
(Ork.  273).  Wenn  der  Markgraf  in  diesem  Schreiben  die  Hoffnung 
ausspricht,  dass  durch  seine  Erklärung  werde  verbindert  werden,  dass 
ihm  „künftig  nicht  der  Prozess  in  der  Welt  blindlings  hin  gemacht  werde", 
so  ist  diese  gerechte  Erwartung  durch  die  dankenswertbe  Bemühung  des 
Heransgebers  der  vorliegenden  Urknndensammlung  sicher  in  Erfüllung  ge- 
kommen. Die  Geschichtschreibung  hat  durch  die  Feder  des  Herrn  Ver- 
fassers der  geschichtlichen  Einleitung  ihren  schönsten  Beruf  geübt,  die 
Ehre  eines  grossen  deutschen  Mannes  von  der  Verunglimpfung  des  Neides 

wmA  Hpp  ParthAilirtilrffit  Amr  7«if  ironnevon  und  Aar  Roer  )•  mn»7  im  er  HnrrTi  Aia 
uuu    uci    i  viMiwiiivuncit   uci    tiüiigcuusocii    uuu    uci    uc9i-iiuiui£Uiig  uuitu  uro 

leicniieriige  nacn>precnerei  nacmoigenuer  uescnicnicnmacner  una  uescnicnt— 
Verfälscher  zn  reinigen,  und  dem  fleckenlosen  Bilde  die  wohlverdiente 
Strahlenkrone  des  Ruhmes  wieder  aufzusetzen.  Selbst  die  Gegner  und 
Verunglimpfer  der  Verdienste  des  Markgrafen  wagten  nie,  ihm  vielseitige 
Kriegserfahrung  und  Genialität  abzusprechen:  gleich  ehrend  für  den  Her- 
zog von  Marlborough  und  den  Markgrafen  aber  ist  die  Art  und  Weise, 
wie  sie  sieb  ersterer  nach  dem  Empfange  der  Nachricht  vom  Tode  des 
Markgrafen  über  dessen  grosse  Persönlichkeit  in  einem  Schreiben  von 
17.  Januar  1707  an  den  General  Janus  aussprach:  und  auch  von  Oester- 
reichlicher  Seite  ist  noch  in  neuester  Zeit  dem  Andenken  des  Mark- 
grafen eine  wohlverdiente  gerechte  Würdigung  geworden ,  nämlich  durch 
die  Feder  des  Grafen  Mailath  in  der  Geschichte  des  Oesterreichischen 
Kaiserstaates,  worin  dieser  von  dem  berühmten  Markgrafen  sagt:  „In  26 
Feldzügen ,  25  Belagerungen ,  in  1 3  siegreichen  Schlachten  hatte  er  sein 
kriegerisches  Talent  bewährt:  er  war  des  Kaisers  grös ster  Feld- 
herr, bevor  Eugen  auftrat."  Erinnert  man  sich,  dass  zur  Zeit  des 
spanischen  Successionskrieges  die  Lage  von  Oesterreich  noch  verzweifel- 
ter wer,  wie  in  dem  Jahre  1848,  damals  nicht  nur  ebenfalls  der  Krieg 
in  Italien  und  der  Aufruhr  in  Ungarn  wüthete ,  und  die  Ungarn  bereits  bis 
vor  die  Thore  von  Wien  streiften ,  sondern  Uberdiess  noch  Frankreich  die 
Binde  in  Italien  offen  im  Spiele  hatte  und  einen  Kampf  mit  dem  Kaiser 
an  der  ganzen  Rheingranze  entlang  führte,  dass  Bayern  mit  den  Feinden 


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376  v.  Röder :  Krieg«-  und  Staatsschriften  des  Markgrafen  Ludwig  Baden* 

Oesterreichs  verbunden  war ,  und  die  Übrigen  Reichsfürsten ,  Preussen  und 
Hannover  inbegriffen,  den  Kaiser  nur  höchst  lässig  unterstützten,  tbeila 
•ich  ganz  theilnahmslos  verhielten,  so  wird  man  verstehen,  was  der 
Markgraf  Ludwig  Wilhelm  von  Baden  für  Oesterreich  war,  und 

reich  er  sieb  und  seinem  erlauchten  Hause  erworben  hat.  Die  Vorsehung 
hat  noch  jederzeit  Uber  das  Oesterreichiscbe  Haus  in  den  gefährlichsten 
Augenblicken  ihre  schützende  Hand  sichtbarlich  ausgestreckt,  und  ihm  in 
der  Stunde  der  Noth  immer  einen  Kranz  von  „Männern  der  retten- 
den Thatenu  erweckt.  Das  grossherzogliche  Haus  Baden  aber  darf 
sich  mit  gerechtem  Stolze  rühmen,  dass  unter  allen  diesen  Männern  kei- 
ner, und  Überhaupt  unter  den  deutschen  Fürstenhäusern  keines  ist,  dessen 
Haupt  für  den  Kaiser  und  das  Reich  mehr  geleistet,  gewagt  und  geopfert 
hätte,  als  der  Markgraf  Ludwig  Wilhelm  von  Baden.  Der  Herr 
Verfasser,  der  so  mannigfache  Urtheile  der  Zeitgenossen  Uber  den  Mark- 
grafen Ludwig  Wilhelm  von  Baden  zusammengestellt  hat,  hat  es 
unterlassen,  auch  die  Schilderung  beizufügen,  welche  von  ihm  Rinck  in 
s.  Leben  und  Theten  Leopold 's  des  Grossen,  Leipz.  1708  S.  172  gibt. 
Wir  lassen  sie  hier  zur  Ergänzung  folgen,  Uberzeugt,  dass  dem  Herrn 
Verfasser  dieser  kleine  Nachtrag  zur  Charakteristik  seines  Helden  nicht 
unangenehm  sein  wird,  nnd  sich  in  mancher  Hinsicht  das  Bild  dadurch 
vervollständigt  uud  in  einzelnen  Zügen  seine  Bestätigung  erhält,  welches 

„Prinz  Louis  von  Baden"  —  schreibt  Rinck  —  „war  ein  rechter  Kriegs- 
mann und  von  Jngend  auf  zum  Soldaten  gemacht ,  wie  er  in  dieser  Pro- 
fession erzogen  war,  also  gelangte  er  vermittelst  seiner  natürlichen  Nei- 
gung zu  den  Waffen  gar  zeitlich  zu  einer  ungemeinen  Vollkommenheit 
Er  war  voller  Mutb,  Hitze  und  Tapferkeit,  hurtig,  wachsam  und  in  Ein- 
richtung seiner  Truppen  gar  ordentlich ;  vom  Werde  kam  er  nicht  leicht- 
lieb,  und  grosse  Dinge  zu  thun  war  er  allezeit  geschickt.  Jedoch  war 
er  such  nicht  gantz  ohne  Gebrechen ,  weil  er  mit  seiner  eigenen  Meinung 
gar  zn  feste  bestünde  und  wenu  er  davon  abtretten  und  dem,  was  andre 
riethen,  folgen  sollte,  that  er  es  allemal  ungerne  und  suchte  immer  et- 
was von  seinen  eigenen  Anschlägen  einzumischen.  Zu  der  Armee  schickte 
er  sieb  hesser  als  an  dem  Hof,  weil  er  seiner  Zunge  den  Zügel  schies- 
sen liess  und  die  Fehler  und  Gebrechen  der  vornehmsten  SlaatsminUter  mit 
allzu  grosser  Freiheit  beurtheilte.  Hierdurch  machte  er  sich  unterschiedene 
Feinde,  allein  die  Grösse  seines  Gcmüths  und  das  Glück  im  Kriege  hub 
ihn  empor  über  alle.« 


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v.  Röder:  Kriegs -  und  SfaaUschriften  de*  Markgrafen  Ludwig  v.  Baden.  377 


Diesem  Bilde  erlauben  wir  uns  nur  noch  eine  einzige  kleine  Be- 
frachtung beizufügen.  Wahrlich  der  Markgraf  LudwigWilhelm  muss 
ein  grosser  Mann  gewesen  sein,  da  selbst  das,  was  an  ihm  die  Zeitge- 
nossen tadeln,  seine  offene,  rückhaltlose,  männliche  und  echt  soldatische 
Freiin üthigkeit,  eine  seltene  Tugend  ist.  Hätte  die  Stimme  des 
Markgrafen  durchdringen  und  am  kaiserlichen  Throne  die  verdiente  Be- 
achtung finden  können,  so  wäre  es  wohl  in  vieler  Hinsicht  um  Oester- 
reich besser  gestanden. 

Zoepfl. 


Archiv  der  Gesellschaft  für  ältere  deutsche  Geschichtkunde  zur  Be- 
förderung einer  Gesammlausgahe  der  Quellenschriften  deutscher 
Geschichten  des  Mittelalters  herausgegeben  ton  G.  H.  Pertz. 
Zehnter  Band.  Mit  zwei  Steindrucktafeln.  Hannover.  In  der 
Itahn'schen  Hoßuchhandlung  1851    VI  und  710  S.  in  8. 

Dieser  sehnte  Band  einer  in  regelmässiger  Folge  die  Herausgabe 
der  Monumenta  Germaniae  begleitenden  Zeitschrift  giebt  uns  eben  so  wie 
der  nächst  vorhergehende,  in  diesen  Blättern  (Jahrg.  1848  p.  5 16  ff.) 
besprochene  Band  die  volle  Beruhigung,  dass  das  grossartige,  in  einer 
besseren  Zeit  begonnene  G es a mm t unternehmen  nicht  unter  den  Stürmen  der 
Zeit  erlegen,  sondern  ungehemmt  seinen  geregelten,  durch  die  äusseren 
Verhältnisse  nicht  gehinderten  Fortgang  nimmt,  und  dass  die  frische  Thä- 
tigkeit  der  Männer,  die  ihre  Kräfte  und  ihre  Zeit  zu  diesem  Ebrendenk- 
mai  deutscher  Nation  vereinigen,  in  keiner  Weise  durch  äussere  Ver- 
hältnisse gelähmt  oder  erschlafft  ist.  Diess  zeigen,  abgesehen  von  so 
manchen  Mittheilungen  im  Einzelnen,  an  denen  auch  dieser  Band  reich 
ist,  insbesondere  die  grösseren  selbständigen  Arbeiten,  die  wohl  die 
Hälfte  dieses  Bandes  füllen  und  zugleich  als  die  notwendigen  literarischen 
Einleitungen  und  Erörterungen  zu  mehreren  der  in  der  Fortsetzung  der 
Monumenta  demnächst  erscheinenden  oder  zum  Druck  vorbereiteten  Schrift- 
steller erscheinen.  Die  ersten  74  Seiten  dieses  Bandes  nimmt  ein  genaues 
Register  Uber  die  in  den  zehn  ersten  Bänden  der  Monumenta  enthaltenen 
Geschichtschreiber  und  Gesetze  ein,  von  Herrn  Dr.  Wattenbach  gefertigt, 
welcher  damit  einem  schon  vielfach  gehegten  Wunsche  entsprochen  bat. 
Darauf  folgt  (S.  45—86)  der  Abdruck  eines  von  dem  Herausgeber  in 
der  Akademie  zu  Berlin  (am  13.  März  1848)  gehaltenen  Vortrages  Uber 
das  Heldengedicht  von  König  Heinrichs  IV.  Sachsenkriegen.  Dieses  Ge- 
dicht, dessen  unbekannter  Verfasser  —  nicht  Rupert,  Bischof  von  Bam- 


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378  Parti:  Archiv  Bd.  X. 

borg,  unter  dessen  Namen  dasselbe  in  einer  unlängst  erschienenen  Lite- 
raturgeschichte aufgeführt  wird ,  während  doch  schon  Goldast  selbst  diese 
Vermuthung  aufgab  —  durch  seine  eifrige  Parteinahme  für  Heinrich  IV., 
im  Gegensatz  zu  Bruno  und  Andern,  die  Aufmerksamkeit  lange  auf  sich 
gezogen  hatte,  galt  darum  bisher  für  eine  wohl  zu  beachtende,  wenn 
auch  mit  Vorsicht,  eben  aus  dem  bemerkten  Grunde  zu  benutzende  Quelle 
für  die  Geschichte  der  Kämpfe  jenes  Fürsten  mit  den  Sachsen:  hier  aber 
wird  zu  zeigen  versucht,  dass  der  ganze  Inhalt  des  in  einer  allerdings 
guten ,  dem  classischen  Epos  nachgebildeten  Form  gehaltenen  Werkes  statt 
Thatsacben,  nur  Redensarten  biete,  dass  er  zunächst  aus  Lambert  von 
Hersfeld  geschöpft,  dessen  Erzählung  jedoch  manche  Aenderungen  erlit- 
ten, und  in  eine  Form  gebracht  worden,  die  allerdings  Werk  eines  Verfas- 
sers sei,  dem  man,  nach  Fassung  und  Inhalt  seines  Products,  eher  eine 
Stelle  im  sechzehnten  als  im  eilften  Jahrhundert  anzuweisen  habe.  Und 
so  kommt  der  Redner  auf  die  Vermuthung,  dass  Conrad  Celtes  der 
wahre  Verfasser  dieses  Gedichts  sei ,  von  dem  wir  auch  nur  eine  einzige, 
dem  sechzehnten  Jahrhundert  angehörige  Handschrift  zu  Hamburg  be- 
sitzen. Ein  Facsimile  dieser  Handschrift  ist  beigefugt.  Der  dritte  Auf- 
satz von  Herrn  Roger  W  i  I  m  a  n  s  (S.  87  ff.)  verbreitet  sieb  über 
die  Quellen  der  Gesta  Roberti  Wiscardi  des  Guillermus  Apuliensts,  wel- 
ches Werk  bereits  druckfertig  für  einen  der  nächsten  Binde  der  Monu- 
mente vorliegt.  Die  spärlichen  Nachrichten,  die  uns  über  diesen  Autor 
zugekommen  sind,  und  nur  ans  dem  von  ihm  binterlasseneu  Werke  sich 
entnehmen  lassen;  der  eben  so  dürftige  Faden  der  schriftlichen  Ueberlie- 
feruag  dieses  für  die  Geschichte  der  Normannen  so  wichtigen  Werkes 
selbst,  machte  eine  einleitende  Untersuchung  Ober  den  Antor  und  sein 
Werk,  insbesondere  Uber  die  Quellen  desselben  eben  so  wünschenswerth 
als  uothwendig.  Und  es  spricht  die  ganze  Untersuchung,  wie  sie  hier 
geführt  wird,  allerdings  für  den  Werth  dieses  Dichters,  den  Wilken 
schon  als  accuratissimus  scriptor  bezeichnet  hatte;  die  auffallende  Ueber- 
einstiramung ,  welche  in  den  beiden  letzten  Büchern  mit  Anna  s  Alexias 

karvni^r!  I#       nimmt     a',i\an     uruanHiokan     TLu;i     Aar    llnl  .»n/iliniiit    o  i  r>  Aawan 

iici  Turiiiii ,  uiiijuik  tincu   w csGuiiiGiicii   i neu  ucr  uuicrsuiiiuug  eiu,  ugtcu 

Ergebnis*  auf  eine  beiden  gemeinsame  Quelle  in  dem  von  der  griechi- 
schen Geschichtschreiberin  citirten  Latinus  (6  Aorivoc)  führt,  einen  Au- 
tor, der  uns  freilich  sonst  gar  nicht  bekannt  ist,  nach  einer  hier  aufge- 
stellten Vermuthung  (vgl.  S.  109 — Iii)  aber  in  dem  Archidiakon  Jo- 
bannes von  Bari  erkannt  werden  soll.  S.  122  ff.  kommt  ein  anderer 
Aufsatz  desselben  Gelehrten,  welcher  zeigen  soll,  dass  die  dem  Amatus 
von  Monte  Cassioo  durch  Champolüon  beigelegte  Chronica  Roberti  ßis- 


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Peru:  Archiv  Bd.  X. 


37» 


eardi,  —  ein  Theil  der  von  Carusius  und  Kurator!  (SS.  T.  VIII)  her- 
ausgegebenen  historia    Sicula  des   Anonymus   Voticanus    keineswegs 

von  Amatus  herrührt.  Mit  besonderer  Befriedigung  haben  wir  den  nun 
folgenden  Aufsatz  des  Herrn  Wilmans  (S.  131  ff.)  gelesen  Über  die 
Chronik  Otto'*  von  Freisinge  n>  deren  Herausgabe  in  den  Monu- 
mentis  Viele  mit  uns  verlangend  entgegensehen.  Vor  Allem  ist  es  der 
geschichtliche  Standpunkt  dieses  Geschieh tschreibers ,  der  hier  in  einer 
Weise  dargestellt  und  beleuchtet  wird,  die  wir  in  der  vor  einigen  Jah- 
ren erschienenen  Monographie  eines  andern  Gelehrten  über  Otto  und  seine 
schriftstellerische  Thatigkeit  nur  zu  sehr  vermisst  haben.  Denn  gerade 
dieser  von  der  Mehrzahl  der  gleichzeitigen ,  wie  der  vorausgehenden  Ge* 
schichtselireiber  abweichende  Standpunkt  und  die  in  Folge  dessen  der 
ganzen  Darstellung  zu  Grunde  liegenden  Principien  lassen  nns  in  Otto 
von  Freisingen  einen  Mann  erblicken,  welcher  eine  neue  Epoche  der 
Gescbichtscbreibung  des  Mittelalters  gewissermassen  begründet.  Es  ist 
diess  der  religiös -kirchliche  Standpunkt  eines  Augustinus  und  Orosius, 
auf  den  Otto  sich  gestellt  hat.  Ibm  war  die  Weltgeschichte  ein  grossei 
Trauerspiel,  in  dem  wir  nur  das  Elend  und  die  Hinfälligkeit  aller  irdi- 
schen Dinge  zu  erkennen  vermögen:  diess  nachzuweisen  und  darzustellen 
ist  der  Zweck  seiner  Geschichtschreibung,  die  auf  einem  höheren  Boden 
wurzelt,  und  eben  nur  in  Beziehung  auf  diesen  die  Ereignisse  berück- 
sichtigt und  darstellt.  Wenn  es  auffallen  mag,  einen  Schriftsteller  des 
zwölften  Jahrhunderts  diesen  seit  Orosius  mehr  oder  minder  im  Gan- 
zen verlassenen  Standpunkt  wieder  und  zwar  in  viel  schärferer  und  be- 
stimmt ausgesprochener  Weise  einnehmen  zu  sehen,  so  wird  der  Grund 
davon  wohl  nor  in  der  Persönlichkeit  des  Mannes,  in  seiner  religiöse» 
Gesinnung  und  asketischen  Richtung,  wie  in  einem  gewissen  inneren 
Zwiespalt,  in  den  ihn  die  Streitigkeiteu  seiner  Zeit,  zwischen  Kirche  und 
Kaiser,  gebracht  hatten,  zu  suchen  sein.  Diesen  letzten,  bisher  noch 
wenig  beachteten  Punkt  hebt  der  Verf.  mit  aller  Schürfe  (S.  135  ff.) 
hervor,  und  er  gründet  darauf  sein  Unheil  über  Otto,  der  in  Folge  die- 
ses Zwiespaltes  sich  Uber  die  Parteiansichten  seiner  Zeit  zu  erbeben  und 
einen  höheren,  allgemeinen  Standpunkt  der  Betrachtung  zu  gewinnen 
sachte.  Leber  die  beiden  Kedactionen  der  Chronik,  über  die  Abfassung 
der  Gesta  Friderici  mit  der  Fortsetzung  Radevic's,  über  die  Quellen 
Otto's  u.  s.  w.  verbreitet  sich  der  Verf.  mit  aller  Genauigkeit ;  hier  wird 
auch  die  Frage  nach  der  clossischen  Bildung  Otto's  verhandelt ,  insbeson- 
dere auch  der  Punkt,  ob  Otto  das  Griechische  verstanden  habe.  Nach 
dem,  was  hier  beigebracht  ist,  steht  Ref.  nicht  an,  diess  zu  verneinen, 


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rerlz:  Archiv  Äd.  X. 


und  eben  so  auch  die  andere  Frage  zu  verneinen,  ob  Otto  den  Aristo- 
teles im  Original  gelesen  habe.  Dass  er  vielmehr  nur  lateinische,  aus 
dem  Arabischen  gemachte  Uebersetzungeo  vor  sich  gehabt,  scheint  ans 
die  richtige  Ansicht  zu  sein,  die  wir  eben  so  auf  Johannes  von  Sales- 
bury  und  andere  Schriftsteller  des  Mittelalters  anwenden  möchten.  Was 
Otto  aus  Plato  anführt,  hat  er  jedenfalls  nicht  aas  Plato  selbst  genom- 
men, dessen  Schrifen  der  gelehrte  Bischof  nicht  kannte,  sondern  es  ist 
aus  irgend  einem  andern  Autor,  oder  aus  der  durch  den  lateinischen 
Grammatiker  Chalcidius  bekannt  gewordenen  Uebersetxung  des  Tunaus  ge- 
nommen, welche  letztere,  wie  noch  unlängst  Haureau  (De  la  pbilosophie 
acolastique  I.  p.  81  ff.  vergl.  p.  76)  nachgewiesen,  früher  schon  im  Mit- 
telalter verbreitet  und  viel  gelesen  war.  Bei  der  Untersuchung  über  die 
Quellen  Ottos  und  den  Nachweis  derselben  zeigt  es  sich,  dass  Augu- 
stinus (De  civitate  Dei)  und  Orosius  allerdings  die  Hauptquellen  bilden, 
Und  dass  Otto,  wo  der  Letztere  ihn  veriiess,  hauptsächlich  dem  Ekke- 
hard gefolgt  ist.  Wie  selbst  in  geographischen  Dingen,  über  die  Ein- 
theilung  der  Erde  und  dgl.  Otto  von  Orosius  noch  ganz  abhängig  ist,  hat 
unlflngst  noch  Santarem  in  seinem  für  die  Geschichte  der  Geographie  des 
Mittelalters  so  wertvollen  Essai  sur  l'bistoire  de  la  Cotmographie  etc. 
(Paris  1849)  I.  p.  62  gezeigt.  Welch  bedeutender  Apparat  für  die 
Heransgabe  Otto's  zusammengebracht  worden  ist,  und  was  wir  hier  von 
der  neuen  Gestaltung  des  Textes  zu  erwarten  haben,  zeigt  der  Schluss 
der  Abhandlung  zur  Genüge.  Nun  folgt  S.  144  ff.  eine  ahnliche,  mit 
aller  Genauigkeit  in  alles  Detail  eingehende  Untersuchung  Ober  die  Chro- 
nik Albe  rieh's  von  der  Hand  desselben  Gelehrten,  der  die  einschlä- 
gigen kritischen  Fragen  über  den  Verfasser  dieser  Chronik ,  die  Zeit  ihrer 
Abfassung,  den  Plan  uud  die  Anlage  des  Werkes,  dann  insbesondere 
über  die  Quellen  (die  hier  von  S.  195—240  im  Einzelnen  nachgewiesen 
werden)  in  einer  umfassenden  Weise  behandelt  und  man  kann  wohl  sa- 
t  gen,  erledigt  hat.  Am  Schluss  giebt  der  Verf.  noch  eine  Zusammen- 
stellung aller  der  in  dem  Werke  befindlichen,  die  Gelehrtemreschichte 
betreffenden  Angaben  dieser  Chronik,  so  wie  der  aus  dem  Corpus  jur. 
canon.  gemachten  Entlehnungen.  Der  sechste  Aufsatz:  Paulus  Dia  Co- 
nus Leben  und  Schriften  von  Dr.  Bethmann  S.  247  ff.  bildet  nebst  dem 
darauf  unmittelbar  folgenden  siebenten  desselben  Gelehrten:  die  Geschieh t- 
ichreibung  der  Langobarden  S.  335  ff.  ein  diesen  Kreis  der  Literatur  er- 
schöpfendes Ganze,  indem  hier  nicht  blos  Alles,  was  Stoff  und  Material 
betrifft,  vollständig  zusammengestellt,  sondern  auch  mit  derjenigen  kriti- 
schen Schärfe  behandelt  ist,  die  hier  allein  zu  sicheren  Resultaten  führen 


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Peru:  Archiv  Bd.  X. 


381 


kann.  Und  diese,  da  sie  aus  den  Quellen  selbst  und  deren  sorgfältiger 
Prüfung  hervorgegangen  sind ,  lauten  freilich  in  Manchem  gar  verschieden 
von  dem,  was  wir  bisher  Uber  diesen  Autor,  sein  Leben  und  Wirken, 
seine  gelehrte  Thätigkeit  und  seine  Schriften  iu  lesen  gewohnt  waren. 
Wenn  nun  keine  ins  Einzeln  gehende  Charakteristik  der  einseinen  Schrif- 
ten, der  prosaischen  wie  der  poetischen  des  Paulas,  so  genau  auch 
deren  Aufzählung  ist ,  gegeben  wird ,  so  erklärt  sich  diess  aus  der  Natur 
und  Beschaffenheit,  wie  aus  dem  Zweck  dieses  Aufsatzes,  der  durch  eine 
kritische  Untersuchung  Uberhaupt  das  festzustellen  suchte,  was  über  Le- 
ben und  Schriften  des  Paulus  mit  Sicherheit  auszumitteln  war.  Wir  be- 
schranken uns  daher,  den  Gau?  der  Untersuchung  und  die  HauDtresultata 

w  mmm  mm       mmfmmmm        mm  ™™  ^m       mmm    m        mm  mr  ■  •  mm  fm,         ^»  w  •  mir        m mm  m  mm       mm  mm  ^mmm  ^m        mm  mm  mm        mm  m^m      m  m  mn  mm  |*  m  ■   m/  mt  mm  •  •  M  W  mm 

derselben  in  der  Kürze  darzulegen.  Zuerst  werden  die  Quellen  über  das 
Leben  des  Paulus  besprochen;  sie  liegen  zunächst  und  hauptsächlich  in 
dessen  eigenen  Schriften,  namentlich  auch  in  seinen  Gedichten,  welche 
zu  einzelnen ,  kritischen  Erörterungen  mehrfache  Veranlassung  geben.  Die 
Gebort  des  Paulus,  worüber  sich  nirgends  eine  bestimmte  Antrabe  findet 

mw  ™*  mm  •  9        mm  mmmm        m    »■  mM        g  "  m  ^*  **       ••••         mm  •  m  \a  tm        90  m  mm  mm       mW  mr  v  W  9  9  mm  9  mm  mmm       m  m  mm  ff^  mm  mm  90       mmmm  9m  WS 

wird  um  das  Jahr  730  mit  ziemlicher  Wahrscheinlichkeit  angesetzt,  nnd, 
auf  die  Autorität  des  Mönchs  von  Salerno,  Forojuli,  das  heutige  Cividale 
del  Frinli,  als  der  Ort  der  Geburt  angenommen,  gegen  die  gewöhnliche, 
aber  durch  kein  einziges ,  bestimmtes  Zeugniss  bekräftigte  Weinung,  welche 
zu  Aquiieja  den  Paulus,  des  Warnefrid  Sohn,  geboren  werden  lässt.  Aua 
Hildric's  Grabscbrift  wird  sein  Aufenthalt  am  Hofe  des  Königs  Ratchis 
(744—749)  zu  Pavia  nnd  seine  Erziehung  daselbst  hergeleitet,  Paulos 
selbst  spricht  nur  beiläufig  davon  (II,  27.  vgl.  VI,  7)  und  nennt  uns 
noch  in  späteren  Jahren  seinen  dortigen  Lehrer  Flavianus  (VI,  7);  als 
Knahe  erlernte  Paulus  auch  das  Griechische    das  um  diese  Zeit  also  noch 

»  •  mmmm  mm9T9m      m>  9m  mm  9  mm  fc#      mm  mmmmmm       mm*  m  1  90  v  «■  ■     v  ma  w  «j       u  u  h/  »••WWW      MVI*     »»  ■  ^  v     *a  \s 

auf  den  gelehrten  Anstalten  Italiens  Pflege  fand.  Sein  nachheriges  Ver- 
falltniss  zu  Desiderius,  als  dessen  Notarius  er  gewöhnlich  auf  die  un- 
sichere Angabe  Leo's  und  Anderer  betrachtet  wird,  bleibt,  wie  hier  ge- 
zeigt wird,  ganz  ungewiss,  wenn  auch  gleich  ein  Aufenthalt  an  dem 
Hofe  des  Königs  nicht  unmöglich,  ja  selbst  wahrscheinlich  ist.  Mit  mehr 
Sicherheit  stellt  sich  das  Verhältnis*  des  Paulus  zo  Arichis  von  Benevent, 
and  dessen  Gemahlin  Adelperga,  einer  Tochter  des  Desiderius,  heraas; 
an  den  Hofe  des  Arichis  mag  Paulus  auch  einige  Zeit  zugebracht  haben. 
Dass  er  damals  schon  in  den  geistlichen  Stand  getreten  war,  kann  mit 
Sicherheit  angenommen  werden ,  obwohl  eine  nähere  Bestimmung  der  Zeit 
und  des  Ortes,  wo  dieser  Eintritt  erfolgte,  nicht  möglich  ist.  Um  782 
muss  es  schon  geschehen  sein,  da  Karl  der  Grosse  in  dem  Rundsehreiben 
Über  die  Uomiliensammlung ,  Welches  bald  nach  diesem  Jahre  fällt,  den 


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Peru:   Archiv  Bd.  X. 


Paulus  ab  Diaconus  bezeichnet;  die  gewöhnliche  Annahme,  dass  Pau- 
lus Diaconus  der  Kirche  zu  Aquileja  gewesen,  beruht  nur  auf  der  An* 
gäbe  des  Mönchs  von  Salerno,  welche  die  Andern  nachschreiben;  der 
Verf.  glaubt  aber  darauf,  bei  dem  Mangel  aller  andern  Zeugnisse,  kein 
Gewicht  legen  zu  dürfen:  nur  das  glaubt  er,  der  Grabscbrift  gemäss,  an- 
nehmen zu  können,  dass  Paulus  zu  Monlecassino  Mönch  ward  und  zwar 
yor  782,  vor  seiner  Reise  nach  Frankreich.  Die  Veranlassung  zu  dieser 
Reise  liegt  nicht  so  ganz  klar  vor,  obwohl  der  Aufenthalt  in  Frankreich 
und  die  näheren  Beziehungen  des  Paulus  zu  Karl  dem  Grossen  und  des- 
sen Hof  ausser  Zweifel  gestellt  sind.  Ob  die  Gefangenschaft  des  Bruders, 
dessen  Freilassung  wie  die  Rückgabe  des  eingezogenen  Vermögens  Pau- 
lus bei  dem  Kaiser  zu  erwirken  hoffte,  oder  ein  von  dem  Letztem  an 
Paulus  seiner  Gelehrsamkeit  wegen  ergangener  Ruf,  wie  Siegbert  und 
Andre  melden ,  die  Veranlassung  dazu  gab ,  wird  schwer  zu  entscheiden 
sein.  Neben  poetischen  Leistungen,  welche  den  Paulus  insbesondere,  wie 
es  scheint,  an  die  Umgebung  Karl's  fesselten,  war  es  auch,  wie  hier 
S.  265  hervorgehoben  wird,  die  damals  so  seltene  Kenntniss  des  Grie- 
chischen, welche  ein  Aufsehen  erregte,  das  unsern  Verfasser  zu  der 
Vermuthung  führt ,  dass  hier  vielleicht  der  Anfangspuukt  für  das  Studium 
dieser  Sprache  gewesen ,  welches  in  den  Klosterschulen  von  Metz,  Elnon, 
St.  Riquier  schon  unter  Karl  dem  Grossen  sich  nachweisen  lasse.  Wir 
glauben  jedoch  in  dieser  Hinsicht  bemerken  zu  müssen  dass  auch  auf  den 
im  südlichen  Frankreich  befindlichen  Bildungsaustalten  das  Griechische  sich 
aus  der  früheren  Zeit  erhalten  hatte;  darauf  führen  wenigstens,  auch 
ausser  dem,  was  bei  Gramer  (Diss.  de  Graecis  medii  aevi  I.  p.  33  1t) 
darüber  bemerkt  ist,  manche  Spuren  in  den  Schriften  des  von  Angelo 
Mai  im  fünften  Bande  der  Classici  Auetores  publicirten  Grammatikers  Vir- 
gilius,  der  in  das  Zeitalter  Karls  des  Grosseu  gehört  und  zwar  nach 
Toulouse,  namentlich  die  Stelle  p.  38,  wo  er  den  Cornelius,  einen  sei- 
ner Lehrer,  als  „graecae  et  hebraicae  linguae  promptissimum  Interpretern u 
rühmt;  wenn  diess  anders  keine  Phrase  ist,  wie  sie  Einhard  (Vit.  Ca- 
rol.  25)  von  Karl  dem  Grossen,  Theganus  (Vit.  Ludovic.  19)  von  Lud- 
wig dem  Frommen,  Widukind  (II,  36)  von  Otto  dem  Grossen  gebraucht. 

Indessen  findet  sich  bei  demselben  Grammatiker  Virgüius  (p.  98.99) 
eine  Vorschrift  über  ein  bei  dem  Uebersetzen  aus  dem  Hebräischen 
und  Griechischen  zu  beobachtendes  Verfahren,  eben  so  auch  p.  104. 
115.  119.  Bemerkungen  Uber  Griechisches  in  grammatischen  Bespre- 
chungen kommen  z.  B.  vor  S.  19.  85.  115.  So  wird  S.  55  das  in 
griechischer  Sprache  abgefasste  Werk  eines  Virgiüus  Asianus  politischen 


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Peru:  Archiv  Bd.  X. 


383 


Inhalts,  wie  es  scheint,  de  statu  regali  in  fünf  Büchern  erwähnt,  welches 
Galerios  „noslri  temporis  gremoiaticus«  ios  Lateinische  ubersetzt  habe; 
S.  128  ist  von  einem  Gregoriiis  in  Aegypten,  „graecis  studiis  valde  de- 
ditusu  die  Rede,  welcher  dreitausend  Bücher  „de  Graecorum  historiis  ge- 
schrieben, dann  von  einem  kürzlich  verstorbenen  Balapsitus  in  Nicomedien 
„qui  nostrae  legis  libros,  quos  ego  in  graeco  habui  sermooe,  me  jubente 
vertit  in  latinum.«  Auch  die  weiter  erwähnten  drei  Julian!  (in  Ara- 
bien, Indien,  Afrika),  „quos  Aeneaa  mens  praeeeptores  babuit,  quorom 
libros  meditante  notaria  arte  in  lucrosam  descriptionem  transtulitu  mögen 
wohl  Griechisch  geschrieben  haben.  Und  wenn  Virgiliaa  selbst  S.  118 
bemerkt:  „De  graecis  metris  aulem,  quorum  natura  dissimilis  est  et 
longo  diverse,  nihil  hic  disputare  necessariom  reor,  cum  latinum  opus 
efficiam",  so  ISsst  diess  doch  auf  eine  Kenntniss  der  griechische« 
Sprache  und  Metrik  schlössen.  Alle  diese  Stellen  können  jedenfalls  zei- 
gen, dass  im  südlichen  Frankreich  die  Studien  des  Griechischen  nicht  un- 
tergegangen waren,  auch  wenn  wir  damit  das  Verdienst  des  Paulus  Dia- 
konus nicht  schmälern,  sondern  nur  in  seiner  Ausdehnung  beschranken 
und  etwa  auf  die  östlichen  uod  nördlichen  Striche  Frankreichs  verwei- 
sen wollen. 

Unser  Verf.  kommt  weiter  unten  S.  275  nochmals  auf  diesen  Punkt 
zurück,  indem  er  unter  dem,  was  den  Paulus  im  Frankenreich  insbeson- 
dere ausgezeichnet,  die  dort  so  seltene  Kenntniss  des  Griechischen  her- 
vorbebt. Br  theilt  bei  dieser  Gelegenheit  einige  bisher  unbekannte  Data 
über  die  Kunde  des  Griechischen  in  Italien  mit,  und  bemerkt,  wie  von 
Rom  aus  diese  Kunde  auch  nach  England  schon  früher  gekommen,  aber 
von  da  nicht  vor  Paulns  über  den  Kanal  nach  Frankreich  sich  verbreitet-, 
er  hat  zu  diesem  Zwecke  in  einem  Anhang  S.  333  f.  aus  einer  Limoger 
Handschrift  des  zehnten  Jahrhunderts  eine  längere  bemerkenswerthe  Notiz 
Über  die  Verbreitung  und  den  Gang  der  gelehrten  Studien ,  sowie  die 
Reihenfolge  der  Hauptlchrer  und  Gelehrten  wörtlich  mitgetheilt.  Hier- 
nach wären  Theodorus,  ein  Mönch  aus  Tarsus  in  Cilicien  und  Adrianus 
„abbas  scolae  Graecorum11,  Minner  in  griechischer  und  lateinischer  Lite- 
ratur wie  in  den  „artibus  liberaiibus"  wohl  gebildet,  von  Rom  aus  durch 
den  Pabst  (a  papa  Romano,  heust  es  blosj,  d.  i.  durch  Gregor  den 
Grossen  nach  Britannien  entsendet  worden,  um  dort  das  Licht  der  Wis- 
senschaft und  gelehrte  Bildung  zu  verbreiten.  (Wir  bitten,  Beda  Hist. 
Eccles.  |V.,  1.  nachzusehen;  vergl.  Cramer  p.  39 ff.)  Aus  ihrer  Schule 
ging  Aldbelm  (den  wir  auch  jetzt,  seit  dem  Bekanntwerden  seiner  gram- 
matisch-metrischen Schriften  mit  ihren  zahlreichen  Anführungen  klassischer 


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Pcrtz:  Archiv  Bd.  X. 


Schriftsteller,  als  einen  klassisch  gebildeten  Mann  kennen  gelernt  haben), 
hervor,  welcher  den  Beda  zum  Nachfolger  hatte.    Dann  folgt  Einer  „cu- 
jus nomen  excidit",  welcher  den  noch  gebildeteren  Rabanus  Mauraa  hin- 
terliess,  der  „ab  episcopis  Gallicanis  sive  a  regibus  Fron  cor  um  transmari- 
nis  (daraus  sieht  man,  dass  der  Verf.  diese  Notiz  in  England  schrieb)  a 
pertibus  docendi  causa  accitus  ac  postmodo  episcopatus  bonore  dilatus" 
durch  Akuins  Unterricht  bereichert  ward.    (Nach  der  gewöhnlichen  An- 
nahme ward  Rabanus  in  früher  Jugend  von  Fulda  durch  den  dortigen  Abt 
Ratgar  nach  Tours  geschickt,  um  daselbst  unter  Alcuin  seine  Studien  zu 
vollenden,  von  wo  er  nach  zweijährigem  Aufenthalt  in  die  Heimath  zu- 
rückkehrte.)   Alcuin,  eifrig  auf  Förderung  des  Unterrichte  bedacht,  fin- 
det in  Smaragd us  einen  Nachfolger,  dieser  io  Theodulph,  dem  späteren 
Bischof  von  Orleans.    Qui,  heisst  es  dann  weiter,  per  Jobannem  Scoti- 
genam  Heliam  aeque  ejusdem  gentis  patriotam  virum  undecunque  doctissi- 
mum  philosoficis  artibus  expolivit  etc.    Und  weiter  unten  in  der  Recept- 
tulatio  nomiiium  heisst  es  „Theodulfus  Jobannem  et  Heliam  rebaaii,  sed 
non  imbuit.u  Hiernach  musste  also  Johannes  Scotigena  (ohne  Zweifel  Jo- 
hannes Scotus  Erigena)  seine  Bildung  wohl  auf  anderm  Wege  erhalten 
haben,  und  da  wir  diesem  grossesten  Denker  des  karoliogiscben  Zeitalten 
jedenfalls  eine  umfassendere  Kennlniss  des  Griechischen  nicht  absprechen 
können,  auch  wenn  er  Plato  und  Aristoteles,  die  er  ettirt,  nicht  im  Ori- 
ginal geleseo  und  vor  sich  gehabt  hat,  was  uns  gewiss  scheint,  so  wer- 
den wir  damit  auf  die  durch  Paulus  von  Pavia  aus,  wo  er  das  Griechi- 
sche erlernt  hatte,  Uber  die  Alpen  in  das  Frankenreich  verpflanzten  und 
dort  in  einzelnen  Klosterschulen  der  westlichen  und  nördlichen  Tbeile  ge- 
pflegten Keime  des  Griechischen  zurückgeführt  und  werden  es  dann  auch 
erklären,  wie  der  Verf.  zu  der  Behauptung  gelangte,  daaa  Paulus  wohl 
mit  Recht  der  Vater  dos  griechischen  Unterrichts  diesseits  der  Alpen  ge- 
nannt werden  könno  (S.  276).    Die  füuf  Citate  aus  Plato,  welche  bei 
Scotus  Erigena  De  Divis,  nalur.  vorkommen,  sind  sammtlicb  aus  dem  Ti- 
mäus,  der  durch  die  lateinische  Uebersetzung  des  Cbalcidius  bekannt  ge- 
worden war :  s.  Haureau  am  o.  a.  Orte.    Ebeo  so  wenig  hat  Scotus  den 
Aristoteles  im  griechischen  Original  gelesen.    Diess  wird  jedoch  immer 
nur  von  den  bemerkten  Theilen  des  Frankenreichs  gelten  können:  für 

Verdienst  des  Paulus  wird  dadurch  in  keiner  Weise  verkürzt. 

(Sckluss  folgt.) 


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Hr.  25.  HEIDELBERGER  1851. 

JAHRBÜCHER  OER  LITERATUR. 


Pertzt  Archiv  Bd.  X. 

(Schluss.) 

Die  dem  Paulus  gleichfalls  beigelegte  Kunde  des  Hebräischen  bezwei- 
felt aber  der  Verf.;  das  oben  angef.  Zeugniss  vod  Cornelius,  dem  Lehrer  des 
Yirgilius,  könnte,  was  wir  jedoch  bei  so  manchen  Uebertreibungen  der  Art 
in  jenem  Zeitalter  kaum  wagen,  allerdings  dagegen  geltend  gemacht 
werden.  Uebrigens  fordert  die  hier  berührte  Frage  nach  der  Fortpflan- 
zung und  Erhaltung  der  griechischen  Sprachstudien  im  karoliogischen 
Zeitalter ,  nach  den  hier  gegebenen  Mittheilongen  aufs  Neue  zu  einer 
genaueren  Untersuchung  dieses  Gegenstandes  auf,  der  eben  in  Beeng  auf 
Scotus  Erigena  wahrhaftig  von  keiner  geringen  Wichtigkeit  ist.  Cramer 
ist  in  der  Disserlalio  de  Graecis  medii  aovi  (s.  diese  Jahrb.  1849  p.  61 6  ff.) 
Pars  prior  noch  nicht  bis  au  dieser  Periode  gelangt,  eine  Fortsetzung 
seiner  Forschungen  ist  aber,  soweit  wir  wissen,  noch  nicht  erschie- 
nen. —  Ob  in  dem  von  der  Pariser  Akademie  gekrönten  Memoire  des 
Herrn  Renan:  sur  Tetude  du  Gree  et  des  langues  orienlales  en  Occident 
pendant  le  moyen  age  (Paris,  1849.  8.)  sich  ein  Mehrere«  findet,  vermag 
Ref.  der  die  Schrift  bloss  aus  einer  Anzeige  kennt,  nicht  au  bestimmen. 

Kehren  wir  von  dieser  Erörterung  wieder  su  Paulus  zurück,  so 
finden  wir  io  dem  von  ihm  um  diese  Zeit  (783)  in  Folge  eines  Auftrags 
Karls  des  Grossen  veranstalteten  Homiliarius  —  eine  Sammlung  von  Ho- 
milien  zum  kirchlichen  Gebrauch  —  immerhin  ein  neues  Zeichen  der  Be— 
deutung  und  des  Ansehens,  welches  Paulus  sich  bereits  gewonnen  hatte. 
In  die  gleiche  Zeit  des  Aufenthalts  im  Frankenreich  —  in  dem  Oktober 
des  Jahres  783,  wie  der  Verf.  weiter  unten  S.  306  gezeigt  hat,  fällt 
auch  die  Abfassung  der  Geschichte  der  Bischöfe  von  Mets  (Gesta  Epis- 
coporum  Mettensiura);  gegen  Ende  des  Jahres  786  wird,  nach  der  Aus- 
führung des  Verf.  S.  267  ff.  wahrscheinlich  die  Abreise  aus  dem  Fran- 
kenreich und  die  Rückkehr  nach  Italien  erfolgt  sein,  ohne  dass  sich  je- 
doch dieser  Punkt  völlig  ins  Reine  bringen  lasst,  indem  wir  auch  Uber 
die  Veranlassung  zu  dieser  Rückreise,  und  die  Art  und  Weise,  wie  sie 
geschab,  nicht  näher  unterrichtet  sind.  Jedenfalls  —  diess  bleibt  sicher 
—  befand  sich  Paulus  im  Jahre  787  su  Benevent  und  zu  Monte  Cassino, 
in  welchem  Kloster  er  dann  den  Rest  seiner  Tage  in  wissenschaftlichen 
XL1Y.  Jahrg.  3.  Doppelheft.  25 


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,386  PcrU:  Archiv  Bd.  X. 

Studien,  Unterricht  u.  s.  w.  verbrachte  und  wo  er  auch  jedenfalls  ge- 
storben Ist,  und  zwar  am  13.  April,  ohne  dass  das  Jahr  des  Todes  be- 
kannt ist.  Nach  Mabillou's  Yermuthung  setzen  die  Meisten  das  Jahr  799; 
unser  Verf.  möchte  lieber  einige  Jahre  früher  den  Tod  des  Paulus  an- 
nehmen,  der  in  einem  Gedichte,  das  um  783 — 786  fällt,  schon  von  sich 
die  Worte  gebraucht:  jam  gravante  senio. 

An  diese  Untersuchung  über  das  Leben  des  Paulus  knüpft  sich  eine 

HptmrMiincr  seiner  treistiffen  Thatiakcit  Uherhannt    der  verschiedenen  Rieh- 

long  wird,  wie  sie  es  verdient,  hervorgehoben,  dann  die  umfassende  Bil- 
dung und  die  vielseitige  Belesenheit  des  Mannes,  seine,  im  Verhfiltniss  zu 
Andern,  noch  correkte  und  einfache  Schreibart,  die  von  so  mar 
Schwulst  und  Flitterwerk  gleichzeitiger  und  späterer  Scribenten  sich 
so  fern  halt,  wie  von  den  Barbarismen  eines  Gregor  von  Tours.  Einzel- 
nes, was  vielleicht  Anstoss  erregen  und  als  Abfall  von  der  reinen  Gas« 
sicitlt  früherer  Zeit  getadelt  werden  könnte,  wird  durch  die  richtige,  von 
io  manchen  unserer  Sprachrigoristen  und  Classicisten ,  welche  von  der 
Fortbildung  der  lateinischen  Sprache  nach  den  Zeiten  des  Untergangs  des 
abendländischen  Kaiserthums  in  das  Mittelalter  hinein,  bei  ihrer  völligen 
Urkunde  dieser  ganzen  spat  er  n  Literatur  gar  keine  Idee  haben,  gänzlich 
Verkannten  Bemerkung  (die  man  wahrhaftig  nicht  oft  genug  wiederholen 
kann)  erklärt  und  damit  auch  gerechtfertigt :  dass  die  lateinische  Sprache 
im  Mittelalter  keine  todle  war.  sondern  als  eine  wirklich 
ihre  eigentümliche,  nicht  zu  bindernde  Entwicklung 
manche  Abweichung  von  dem  filteren  Redegebrauch  eingeführt  und  ge 
Wissermassen  zur  Regel  erhoben  ward.  Die  Einfachheit  und  Natürlich- 
st der  Schreibweise  des  Paulus  tritt  auch  in  den  verschiedenen  P< 
,  die,  ziemlich  frei  von  der  gezwungenen  Nachbildung 
Dichter  des  karolingiseben  Zeitalters  und  manchen,  von  diesen  beliebten 
Künsteleien,  uns  in  Paulus  einen  gewandten,  wenn  auch  nicht  gerade  von 
der.  Natur  dazu  geschaffenen  Dichter  erkennen  lassen.  Auch  wird  man 
nicht  übersehen  dürfen,  dass  die  Zeit,  in  der  Paulus  lebte  und  schrieb, 
Ton  dem  Gelehrten  vor  Allem  auch  dichterische  Leistungen  verlangte,  d.h. 
aass  er  m  oen  schwierigeren  rormen  aer  poetischen  Darstellung  sien  nm 
gleicher  Gewandtheit  zu  bewegen  wisse.  In  der  Geschieh tschreibung 
wird  freilich,  nach  dem  Urtheil  des  Verfassers,  der  bei  dieser  Gelegen- 
heit die  Bildung  und  den  Gang,  den  die  christliche  Geschichtschreibung 
^Ics  ansehenden  ^Iittelslters  Überhoupt  ^^e ^v o n ne n  tiat,  nsher  bespricht, 

CjJanzen  auch  nur  als  ein  O^ompiiator  erscheinen , 

> 


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Perti:  Archiv  Bd.  X. 


es  ist,  „Vorhandenes  in  bequemerer  Form  zu  sammeln  und  weiter  zu 
überliefern,  Nichts  Neues  zn  schaffen";  indessen  tritt  doch  hie  und  dt 
ein  gewisses  kritisches  Verfahren  in  der  Auswahl  und  Prüfung  der  Quel- 
len hervor  und  vor  Allem  eine  Wahrheitsliebe,  die  von  allen  Parteian- 
sichten sich  fern  zu  halten,  und  dadurch  eine  gewisse  Selbständigkeit  des 
L'rtheils  und  volle  Unparteilichkeit  zu  gewinnen  sucht. 

Durch  Paulus  ist  uns  die  la ngobardische  Volkssage  in  treuer  Auffassang 
erhalten,  die  fünfzehn  Auszüge  und  die  sehn  Fortsetzungen,  welche  seine 
Langobardengeschichte  in  der  nachfolgenden  Zeit  erhalten  bat,  die  zahl« 
reichen  Handschriften  —  an  hundert  dreizehn,  darunter  fünfzehn 
verlorene,  lassen  sich  nachweisen  —  sprechen  zur  Genüge  für  das  An- 
sehen und  die  Bedeutung  eines  Mannes,  der  einen  gleichen  Einfluss  auf 
die  Nachwelt  auch  durch  seine  andern  Schriften  geübt  hat,  der  insbe- 
sondere dnreh  seine  oben  schon  erwähnte  Geschichte  der  Bischöfe  von 
Metz  die  Veranlassung  zn  ähnlichen  Schriften  gab,  wie  sie  alsbald  fast 
an  allen  Bischofsitzen  des  Frankenreichs  unternommen  wurden,  und  für 
uns  jetzt  eino  Hauptqnelle  der  Geschichte  jener  Zeit  überhaupt  bilden.  • 

Nach  dieser  Charakteristik  der  ganzen  literarischen  Thätigkeit  des 
Paulus  geht  der  Verf.  zu  den  einzelnen  Früchten  derselben,  so  weit  wir 
sie  noch  kennen,  über,  indem  er  dieselben  der  Reihe  nach  einzeln  auf- 
führt, zuerst  die  poetischen  Erzeugnisse,  dann  die  prosaischen,  und  bei 
jedem  die  nötbigen  literarischen  Nachweisungen  aus  Handschriften  und 
Ausgaben  liefert  Da  wir  noch  keine  Gesammtausgabe  der  verschiedenen 
Schriften  des  Paulus  besitzen,  in  die  Monumenta  Germaniae  aber  doch 
nur  die  auch  dahin  einschlägigen  historischen  Werk  desselben  aufgenom- 
men werden  können,  so  ist  für  den  künftigen  Bearbeiter  einer  solchen 
Ausgabe,  wie  sie  doch  das  Bedürfniss  erheischt,  in  einer  Weise  vorge- 
arbeitet, wie  man  diess  nur  selten  antreffen  wird.  Es  erseheinen  in  die- 
ser Reihe  die  Versus  de  miraculis  S.  Benedicti  und  der  Hymnus  de  S. 
Benedicto  aus  Hist.  Langob.  I.,  20.  in  einem  Anhang  S.  325 ff.  nach  der 
bisher  nicht  bekannten  ursprünglichen  Form  mitgetheilt,  die  Versus  de  S. 
Scolastica,  die  aus  einer  Vaticanischen  Handschrift,  der  einzigen  bis  jetzt 
von  diesem  Gedicht  bekannten  des  zehnten  Jahrhunderts,  in  Prosper!  Mar- 
tmengii  poeinata  (Rom.  1590.  4.  im  dritten  Bande)  und  daraus  bei  Ma- 
billon  Act.  1,  42  abgedruckt  sind,  dann  der  in  der  Tbat  weltberühmte, 
in  das  Brevier  aufgenommene  und  in  der  katholischen  Christenheit  noch 
immer  am  Feste  des  b.  Jobannes  abgesungene  Hymnus  de  S.  Johanne 
baptista,  endlich  ein  Hymnus  in  translatione  S.  Hercurü,  welcher  (nebst 
einem  andern  Hymnus  de  passione  S.  MercuriQ  unter  des  Paulus  Namen 

25* 


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388 


Peru:  Archiv  Bd.  X. 


tn  einem  allerding»  seltenen  Boche  des  Petrus  Pipernus  De  magicis  efTec- 
tjbus  Neapol.  1634.  4.  p.  147  erwähnt  wird,  ohne  dass  eine  hand- 
ichrift liehe  Quelle  bis  jetzt  ermittelt  wäre;  bei  der  Seltenheit  dieser 
Schrift  hat  der  Verf.  das  Ganze  in  einem  Anhang  S.  332  abdrucken  las- 
ten; der,  wenn  auch  nicht  in  allen  Strophen  gleichmässig  durchgeführte 
Beim,  der  hier  ziemlich  ausgebildet  erscheint,  erregt  bei  dem  Verf.  eini- 
ge» Bedenken  hinsichtlich  der  Aechtheit  dieses  Hymnus  in  translat.  S. 
Merc.  Indessen  auch  bei  dem  andern  hier  ebenfalls  in  der  ursprünglichen 
Form  mitgetheilten  Liede,  den  Distichen  oder  Versus  in  lande  S.  Bene- 
dict! (so  lautet  die  Aufschrift  statt  der  gewöhnlichen  de  miracnlis 
S.  B.)  finden  wir,  dass  die  erste  Hälfte  des  Hexameters  sich  immer  in 
der  letzten  Hälfte  des  darauf  folgenden  Pentameters  wiederholt,  was  doch 
ebenfalls  auf  Anwendung  gleichförmiger  Ausgänge  scbliessen  lässt,  die  bei 
den  stropbenartig  gebildeten  Hymnen,  die  zum  kirchlichen  Gebrauch,  d.  h. 
zum  Absingen  bei  festlichen  Gelegenheiten  bestimmt  waren,  ihrer  Natur 
nach  schon  frühe  und  selbst  schärfer  noch  sich  geltend  machte.  An 
diese  Gedichte  reihen  sich  die  versificirten  Epitaphien  nebst  den  verschie- 
dentlich hier  ermittelten  Snuren  anderer  Gedichte  des  Paulus  namentlich 

■a  ^*  na  ♦  i  ■  \*ss     •*  +  \*  •  nass  •      s      an    sxj  an  sna    an    snj  es    \*  n  \*  s     \m  %0^m  t  w  an  e  st    \m         m%  aa  ana  «a^s  ^     mm  sae-as  \&  mm  w  s  i  wsn 

ton  seinem  Verkehr  mit  Karl  dem  Grossen. 

.-'„-,  Wir  fugen  diesen  noch  bei  die  von  M.  Haupt  in  den  Berichten  der 
Leipz.  Akad.  d.  Wissensch.  1850.  1.  p.  6  CT.  unlängst  aus  einer  Leipziger 
Handschrift  herausgegebenen  Poesien  des  Paulus:  ein  schönes  Gedicht 
auf  den  Corner  See  (es  heisst  in  der  Handschrift:  hos  versus  Paulus  dia- 
conus  composuit  in  laude  Larii  laci)  und  ein  Epitaphium  Sophiae  Neptis, 
beide  in  Distichen,  sowie  ein  drittes  Gedicht  auf  das  Grab  der  Ansa.  Das 
Epitaphium  Sophiae  Neptis  kennt  auch  unser  Verfasser  (S.  319)  aas  der 
Pariser  Handschrift,  in  der  es  mitten  unter  den  erwähnten  Gedichten  des 
Paulus  steht,  er  hält  es  aber  doch  für  zweifelhaft,  da  in  derselben  Hand- 
Schrift  sich  auch  Gedichte  Alcuins,  Peters  von  Pisa,  Bedas  finden,  und 
demnach  das  Gedicht  eben  so  gut  auch  von  Peter  von  Pisa  stammen 
könne.  In  der  Leipziger  Handschrift  folgt  es  unmittelbar  auf  das  erst 
erwähnte,  in  der  Aufschrift  dem  Paulus  Diaconns  beigelegte  Gedicht,  und 
eben  so  scbliesst  sich  weiter  daran  das  Gedicht  Super  sepulcrnm  domnae 
Ansäe  reginae,  welches  nach  Haupt  unbedenklich  auch  dem  Paulus  Dia« 
conus  zuzuschreiben  ist,  vielleicht  auch  noch  ein  viertes  (item  versus  in 
tribunali),  das  als  Inschrift  einem  der  Paläste  zu  Saierno  oder  Benevent 
diente.*)    Eine  Zeitlang  waren  wir  auch  der  Ansicht,  dass  der  Paula t 

*)  Die  von  Haupt  am  o.  a.  Orte  p.  11  ff.  aus  derselben  Handschrift  mit* 
geseilten  Gedichte  auf  Sonne  und  Mond,  die  auch  bereits  in  der  lateinischen 


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Perlz:  Archiv  Bd.  X, 


889 


Qauestor,  dessen  Verse  einigemal  in  der  durch  Mai  zuerst  bekannt  ge- 
wordenen Metrik  AldhelnTs  (p.  231.  238.  239  Opp.  ed.  Gile)  ange- 
führt werden,  einmal  auch  mit  dem  Beisatz:  „in  gratiarum  actione"  viel- 
leicht mit  diesem  Paulus  diaconus  für  Eine  und  dieselbe  Person  zu 
halten  sei,  wenn  nicht  der  Zusatz  Quaestor,  der  sich  bei  unserem 
Paulus  nirgends  bis  jetzt  gefunden  hat,  sowie  das  uns  ganz  unbekannte 
Citat:  in  gratiarum  actione  ein  gerechtes  Bedenken  erregen  müsste. 

Nun  folgen  die  Briefe,  in  Allem  vier \  der  an  Karl  den  Grossen  ge- 
richtete, von  Einigen  bezweifelte,  wird  mit  MabiUon  für  acht  angesehen; 
eben  so  auch  die  unlängst  von  Tosti,  aber  nur  in  ihrem  Anfang  mitge- 
teilte, dem  grösseren  Theil  nach  noch  ungedruckte  Expositio  in  regulam 
S.  Benedict!,  und  der  längst  bekannte  Homiliarius,  dessen  Entstehung  zwi- 
schen die  Jahre  782  und  786,  und  zwar  im  Frankenreiche,  verlegt  wird; 
Ausserdem  werden  noch  vier  andere  Homilien,  welche  durch  den  Druck 
bekannt  geworden  sind,  nachgewiesen.  Näher  verbreitet  sich  der  Verf. 
über  die  ebenfalls  angefochtene  Vita  S.  Grogorii  Magni,  für  welche  doch 
das  eigene  Zengniss  des  Paulus  und  das  des  Johannes  Diaconus  spricht, 
und  über  die  Gesta  episcoporum  Mettensinm;  dann  folgt  das  im  Mittel- 
alter so  sehr  verbreitete,  auch  uns  noch  durch  zahlreiche  Handschriften 
erhaltene  Geschichtswerk,  durch  welches  Paulus  für  seine  und  die  folgende 
Zeit  einen  Nutzen  stiftete ,  den  das  Werk  für  uns  allerdings  jetzt  nicht 
mehr  hat,  da  wir  die  Quellen  des  Ganzen  besitzen,  das  sammt  den  nach 
Paulus  Tode  daran  gereiheten  Fortsetzungen  unter  dem  Namen  der  Hi- 
storie miscella  bekannt  ist,  während  der  dem  Paulus  angehörige 
Theil  der  sechszehn  ersten  Bücher  als  Historia  Romana  bei  Leo  und 
auch  in  einigen  Handschriften  betitelt  erscheint.  Die  früher  hinsichtlich 
d  s  g  s  ^VI^drk©Ä  ^  s  c  i  d  c  i*  Z  u  s  s  tu  m  c  o  s  c  t  z  u  n  ^  und  0 1 1  d  u  n  ^  d  &  c  h  den  c  1  d  z  c  1  d  oki 
Theilen  herrschende  Verwirrung  der  Ansichten  ist  jetzt  allerdings  geho- 
ben, nnd  wird,  unter  Bezugnahme  auf  die  von  Champollion  und  Papen- 
cordt  darüber  gegebenen  Aufschlüsse  das  ganze  Sachverhaltes*  hier  klar 
nnd  bündig  entwickelt.  Die  ersten  zehn  Bücher  enthalten  das  Breviarium 
des  Eutropius,  das  bekanntlich  daraus  zuerst  im  Druck  bekannt  ward,  in 
einer  im  Ganzen  unveränderten,  wohl  aber  mit  mancherlei  (aus  Aurelius 
Victor  und  Orosius  hauptsächlich  entnommenen )  Zusätzen  begleiteten  Fas- 
sung, und  waa  von  Paulus  (ßüch  XI— XVI)  daran  gefügt  ward,  ist  eben 

Anthologie  (V,  1  u.  15  oder  nr.  10]  i,  556  bei  Meyer)  stehen,  werden  aller- 
dings, ihrer  pantheistischen,  heidnischen  Fasiung  wegon,  weder  einem  AIcuin, 
nach  einem  Paulus  Diaconus  beizulegen  sein,  sondern  einer  frühem  Zeit  an- 
gehören. 


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890 


Peru:  Archiv  Bd.  X. 


10  eine  reine  Coropilation  aas  Orosias,  Prosper  o.  A.  mit  Beibehaltung 
der  Worte  dieser  Autoren.  Ueber  die  Fortsetzung  dieses  Werkes,  als 
Historie  Miseelia  durch  Landulphus  Sagax,  Uber  die  verschiedene  Abthei- 
lung der  BOcher  u.  dgl.  m.  werden  hier  die  aas  der  Untersuchung  so 
Tieler  Handschriften  sich  ergebenden  Resultate  mitgetheilt;  die  neue  Aus- 
gabe (in  den  Monumentis  Germ.)  wird  vor  Allem,  heisst  es  S.  310,  auf 
genaue  Nachweisung  der  Quellen  gerichtet  sein.  Und  dass  diess  bei  ei- 
ner solchen  Compilation  aus  Quellen,  die  jetzt  bekannt  und  zugänglich 
sind,  für  den  Geschichtsforscher,  wie  für  den  geschichtlichen  Gebrauch 
überhaupt  das  Nöthigste  ist,  bedarf  keiner  Erörterung.  Mit  gleicher  Ge- 
nauigkeit verbreitet  sich  der  Verf.  Uber  Alles  das,  was  die  Abfassung 
der  Historie  Langobardorum  betrifft,  er  fuhrt  die  Quellen  des  Werkes 
an,  den  Einfluss  desselben  auf  die  folgende  Zeit  und  die  mehrfachen  Be- 
nutinngen  und  Fortsetzungen  desselben.  Für  die  neue  Herausgabe  in  den 
Monumentis  ist  ein  Apparat  von  nicht  weniger  als  neun  und  sieb  en- 
zig Handschriften  zusammengebracht;  wir  dürfen  also  hier  eine,  so  weit 
als  mir  immer  möglich,  vollständige  Erledigung  Alles  dessen  erwarten, 
was  in  den  Bereich  der  Kritik  gehört.  Am  Schluss  des  ganzen  Aufsatzes 
verbreitet  sich  der  Verf.  Uber  die  zweifelhaften  Schriften  des  Paulus  oder 
solche,  die  ihm  mit  Unrecht  zugeschrieben  werden.  Unter  den  erstem 
finden  wir  eine  in  einer  Vaticaner,  ehedem  pfälzischen  und  ursprünglich 
Lorseber  Handschrift  von  H.  Keil  An  all.  Gramm,  p.  16  entdeckte  Schrift 
grammatischen  Inhalts:  Ars  Donati  quam  Paulus  diaconus  exponit;  indes- 
sen nach  dem,  was  der  Verf.,  namentlich  in  Bezog  auf  den  Verkehr  die- 
ses Paulus  mit  Karl  dem  Grossen,  selbst  Uber  Grammatik  und  dergL 
bemerkt  hat,  kann  es  wahrhaftig  nicht  befremden,  wenn  Paulus  so  gut 
wie  Alcuin  euch  Uber  Grammatik  geschrieben,  uro  auch  von  dieser  Seite 
die  neuerstehende  Bildung  in  Karls  des  Grossen  Reich  möglichst  zu  for- 
den und  su  verbreiten.  War  die  Schrift  wirklich  an  Karl  den  Groaseo 
gerichtet,  wie  in  dem  Verzeichniss  der  Lorscher  Handschrift  steht  (item 
Pauli  diaconi  ad  Karolum  Regem),  so  lösst  sich  die  Richtigkeit  der  An« 
nähme  kaum  bezweifeln.  Die  aus  dem  alten  Lorscher  Katalog  hier  auf- 
geführten Glossae  Pauli  diaconi  beziehen  wir  auf  die  Excerpte  aus 
Festos;  aber  diese  sammt  der  vorangestellten  Epistola  ad  Carolum  regem 
(worunter  jedenfalls  Karl  der  Grosse  zu  verstehen  ist)  setzt  der  Verf. 
geradezu  unter  die  mit  Unrecht  unserm  Paulus  beigelegten  Werke,  ob- 
wohl er  anerkennt,  dass  jedenfalls  ein  Zeitgenosse  Karls  des  Grossen 
and  somit  auch  unseres  Paulus  der  Verf.  sei.  Denn  er  glaubt,  dass  ein 
Bnch,  Uber  welches  noch  der  letzte  Herausgeber  (0.  Müller)  ein  so  Ober- 


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Peru:  Archiv  Bd.  X. 


ans  ungünstiges  Urtheil  biusichtlich  der  Zusammensetzung  und  Bildung, 
des  planlosen  Verfahrens  und  der  Sorglosigkeit  wie  selbst  Verwirrung 
bei  dem  Excerptiren  fälle,  einen  so  gebildeten  Mann,  wie  Paulus  Diaco- 
nus  war,  nicht  zum  Verfasser  haben  könne,  wozu  auch  noch  die  Unge- 
wißheit der  handschriftlichen  Ueberlieferung  hinzukäme.  Allein,  wir  ge-> 
stehen  offen,  Müllems  Urtheil  erscheint  in  Manchem  zu  hart,  wir  glauben 
auch  überhaupt  nicht,  dass  an  einen  Paulus  Diaconua,  der  in  der  zweiten 
Hälfte  des  achten  Jahrhunderts  lebte,  so  strenge  Anforderungen  hinsicht- 
lich seines  Verfahrens  bei  solchen  Excerpten  zu  stellen  sind,  abgesehen 
ron  Manchem,  was  kaum  dem  Excerptor  aufgebürdet  werden  darf, 
wohl  aber  als  Schuld  der  verdorbenen  und  mangelhaften  schriftlichen 
Ueberlieferung  anzusehen  ist  Ans  diesen  Gründen  halten  wir  uns  lieht 
für  berechtigt,  nach  dem,  was  bis  jetzt  vorgebracht  worden,  dem  Paulus 
diese  Excerpte,  die  ganz  in  Art  und  Weise  jener  spätem  Glossen  und 
Excerptensammlnngen  überhaupt  gehalten  sind,  abzusprechen,  um  so  mehr 
als  wir  dafür  ein  ziemlich  frühes  Zeugniss  bei  Hincmar  in  einer  in  das 
Jahr  870  fallenden  Schrift  (s.  Opp.  T.  U.  p.413)  anführen  zu  können 
glauben.  Der  inhaltsverwandte  Aufsatz  Über  die  Geschichtschreibung  der 
Langobarden  (S.  333 ff.)  behandelt  einerseits  die  Volksgeschichte,  unter 
besonderer  Berücksichtigung  der  Sage,  die  sich  gerade  bei  diesem  Volke 
noch  tiefer,  als  bei  andern  Völkern  in  die  historischen  Zeiten  herabzieht, 
und  eine  grössere  Bedeutung  erlangt  hat,  hier  aber  in  ihren  einzelnen 
Elementen,  in  denen  wir  sie  noch  verfolgen  können,  nachgewiesen  wird; 
andererseits  werden  die  Königsverseichnisse ,  deren  Ursprung  in  den  Ge- 
setzesbüchern zu  suchen  ist,  nach  ihrer  Reihenfolge  und  ihrer  Abstammung 
von  einander  besprochen.  Unter  Nr.  VUL  S.  415  ff.  gibt  Herr  PerU 
Nachricht  über  eine  der  ältesten  Handschriften  des  Schwabenspiegels,  von 
welcher  einige  Bruchstücke,  die  als  Einband  eines  auf  der  Berliner  Biblio- 
thek befindlichen  Exemplars  der  Opuscula  des  Felix  Hemmerlin  benutzt 
wurden,  von  ihm  entdeckt  worden  sind.  Da  die  Schriftzüge  eher  gegen 
die  Mitte  ala  gegen  den  Schluss  des  dreizehnten  Jahrhunderts  führen,  so 
wäre  damit  allerdings  auch  ein  äusserer  Beweis  für  die  um  diese  Zeil 
—  zwischen  1225  und  1235  eben  so  sehr  wegen  der  Erwähnung  der 
Fr  an  eise  an  er  als  wegen  der  Decretalen  Gregors  IX.  —  anzusetzende 
Abfassung  des  Schwabenspiegels  gewonnen.  Der  Verf.  verbreitet  sieh 
Ober  die  Beschaffenheit  dieser  Reste  und  durchgeht  auch  die  übrigen  in 
das  dreizehnte  Jahrhundert  fallenden  Handschriften  dieses  Rechtsbuchs; 
ihre  Zahl  ist  allerdings,  im  Verhöltniss  zu  der  grossen  Zahl  der  in  das 
fünfzehnte  Jahrhundert  gehörigen,  nur  gering,  und  erscheint  die  ganze 


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Peru !  Archiv  Bd.  X. 


Untersuchung  nach  den  Handschriften  wie  nach  der  Beschaffenheit  des 
Textei  überhaupt  noch  immer  nicht  ganz  geschlossen.  Den  Rest  des  Ban- 
des von  S.  426  an  nimmt  die  Beschreibung  der  von  Hrn.  Dr.  Witten- 
bach in  den  Jahren  1847  — 1849  nach  Oesterreich  unternommenen  Reise 
ein,  woran  sich  von  S.  447  an  die  Verzeichnisse  der  einzelnen  Hand- 
schriften in  den  verschiedenen  bei  dieser  Reise  untersuchten  Bibliotheken 
nnd  Archiven  der  österreichischen  Lande  —  es  sind  in  Allem  sochs  and 
zwanzig  —  anreihen,  so  weit  nämlich  diese  Handschriften  mit  der  Her- 
ausgabe der  Monumenta  und  den  Zwecken  der  Gesellschaft  in  irgend  einer 
näheren  oder  entfernteren  Beziehung  stehen.  Abgesehen  von  der  Ge- 
nauigkeit, mit  welcher  die  Handschriften  im  Einzelnen  aufgeführt  und  nach 
ihren  einzelnen  Bestandtbeilen  hier  verzeichnet  werden,  hier  und  dort 
auch  unter  Mittheilung  von  einzelnen,  merkwürdigen  oder  unbekannten 
Stücken  (wie  t.  B.  S.  632.  635  ff.  n.  s.  w.),  wird  man  sich  freudig  an- 
gezogen fühlen  von  der  Betrachtung  eines  wissenschaftlichen  Strebens, 
das  selbst  den  Stürmen  der  letzten  unruhevollen  Zeit  nicht  unterlag,  son- 
dern unbekümmert  um  diese  Bewegungen  ein  höheres  Ziel  verfolgte,  wel- 
ches der  wahren  Ehre  und  dem  wahren  Ruhm  unseres  Vaterlandes  in 
der  Förderung  wissenschaftlicher  Zwecke  mehr  genützt  hat,  als  alle  die 
aus  ganz  andern  Motiven  hervorgegangenen,  jetzt  schon  verschollenen  Be- 
strebungen unserer  neudeutschen,  märzlichen  Zeit.  Die  freundliche  Aufnahme 
und  die  wohlwollende  Förderung  und  Unterstützung,  die  der  Reisende 
allerwfirts  in  Oesterreich  für  seine  Zwecke  fand,  wird  mit  gerechter  An- 
erkennung hervorgehoben;  sie  zeigt  aufs  Neue  die  Gesinnung  eines  Bru- 
derstamms, den  blinde  Vermessenheit  noch  vor  Kurzem  von  uns  trennen 
und  nbstosseo  wollte.  Es  kann  hier  nicht  unsere  Aufgabe  sein,  einzeln 
diese  in  österreichischen  Bibliotheken  und  Archiven  befindlichen  Hand- 
schriften aufzuführen,  oder  anf  einzelne  derselben ,  je  nach  ihrem  Umfang  oder 
nach  ihrer  Bedeutung  und  Wichtigkeit  aufmerksam  zu  machen ;  wir  müssten 
sonst  diese  Verzeichnisse  abschreiben;  aber  Eine  Bemerkung  liegt  uns  zu 
nahe,  als  dass  wir  sie  unberührt  lassen  könnten.  S.  522  wird  unter  den 
Wiener  Handschriften  eine  aus  dem  Kloster  Fürstenfeld  stammende  Hand- 
schrift des  XV  Jahrhunderts  genannt,  welche  verschiedene  rhetorische  und 
grammatische  Schriften,  dann  von  f.  211  bis  245  Briefe  des  Cicero,  fol. 
183 ff.  Des  compendium  Anthonii  Haneron  etc.  enthält;  hierbei  wird  be- 
merkt: „Enthält  auch  wirkliche  Briefe  s.  XV.  von  P.Luder,  Poggiusu.A. 
nach  Heidelberg  gehörend."  Haben  wir  diess  so  zu  verstehen,  dass  die 
Handschrift  oder  doch  der  letzte  diese  Briefe  enthaltende  Theil  nach  Hei- 
delberg gehört,  so  werden  wir  billig  fragen,  wie  nnd  auf  welchem  Wege 


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Pcrlz:  Archiv  Bd.  X« 


ist  sie  nach  Wien  gekommen?  Es  könnte  dies»  nnr  bei  oder  nach  der 
Wegführung  der  Heidelberger  Handschriften  nach  Rom  im  Jahr  1623  ge- 
schehen sein ;  denn  dass  trotz  aller  von  Leo  Allatius  angewendeten  Sorg- 
falt nnd  Wachsamkeit  (wie  wir  diess  früher  nachgewiesen  haben)  doch 
einzelne  Handschriften  abhanden  gekommen  sind ,  welche  dann  in  an- 
dere Orte  sich  zerstreut  haben,  davon  liegen  uns  mehrere  Spuren  vor, 
deren  weitere  Verfolgung  wir  einer  andern  Gelegenheit  vorbehalten  müs- 
sen. Gehört  die  Wiener  Handschrift  auch  unter  die  Zahl  der  auf  dies» 
Weise  diesseits  der  Alpen  gebliebenen  Heidelberger  oder  Pfalzischen  Hand- 
schriften? Zur  sicheren  Beantwortung  dieser  Frage  wird  vor  Allem  eine 
nähere  Besichtigung  der  Handschrift  selbst  erforderlich  sein. 

Ein  genaues  Register,  wie  es  allerdings,  schon  wegen  der  Hand- 
schriftenverzeichnisse nothwendig  war,  von  der  Hand  des  Hrn.  Dr.  Wat- 
tenbach gefertigt,  beschliesst  diesen  Band.  Chr.  Bfihr. 


Geschichte  der  Chalifen,  nach  handschriftlichen,  grösstenteils  noch  un- 
benutzten Quellen  bearbeitet  von  Dr.  Gustav  Weil,  Professor 
der  morgenländischen  Sprachen  und  Bibliothekar  an  der  Univer- 
sität Heidelberg.  Dritter  und  letzter  Band.  Von  der  Einnahme 
von  Bagdad  durch  die  Bujiden  bis  zum  Untergange  des  Chalifat* 
von  Bagdad.  334—055  d.  H.  =  9  i5  —  i258  n.  Chr.  Mit  einem 
Register  zu  sämmtl.  3  Bänden.  Mannheim.  Bassermann,  iSol.  8. 

Der  Verf.  hat  auch  in  diesem  Theile  die  bei  Bearbeitung  der  bei- 
den ersten  Bände  befolgte  Methode  beibehalten,  sein  Hauptaugenmerk  war 
das  Chalifat  von  Bagdad,  die  sich  um  dasselbe  gruppirenden  Dynastien 
wurden  je  nach  ihren  nähern  oder  fernem  Beziehungen  zu  demselben  mehr 
oder  weniger  berücksichtigt  und  nur  die  Atabeks  uud  Ejjubiton  mit  mehr 
Ausführlichkeit  behandelt,  weil  hiedurch  einzelne  Partien  aus  der  Geschichte 
der  Kreuzfahrer  ergänzt  und  berichtigt  werden  sollten. 

Die  eigentliche  Chalifengescbichte  hatte  mit  dem  Tode  Almustassmis 
(S.  478)  geschlossen  werden  können,  doch  würde  der  grössere  Leserkreis 
den  noch  folgenden  Ueberblick  (S.  478  —  488)  über  die  weitern  Fort- 
schritte der  Mongolen,  den  Untergang  der  Ejjubiten,  die  Schattenchalifen 
in  Egypten  und  die  Herrschaft  der  Mamluken  gewiss  eben  so  ungern 
vermissen,  als  der  kleinere  der  Historiker  und  Orientalisten  den  folgen- 
den Anhang  (I — VI)  Uber  die  ältesten  Turkomanenfürsten ,  deren  Namen 
nnd  Genealogie  noch  so  sehr  im  Dunklen  sind  und  die  mit  der  in  diesem 
Bande  enthaltenen  Geschichte  der  Seldjuken  nnd  Samaniden  eng  ver- 
knüpft sind. 


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394 


Weil:  Geschichte  der  Chalifen.  3.  Bd. 


Mit  dem  Anhange  zum  zweiten  Bande  (I  —  XXI),  welcher  dem 
Vorliegenden  beigegeben  wird,  erfüllt  der  Verf.  nnr  das,  was  er  in  der 
Vorrede  in  demselben  versprochen  hat,  nämlich  die  Fortsetzung  der  ira- 
nischen Literaturgeschichte  bis  gegen  die  Mitte  des  vierten  Jahrhunderts, 
d.  h,  bis  zu  dem  Zeitpunkte,  wo  sie  noch  immer  als  ein  ergänzender 
Theil  der  politischen  Geschichte  betrachtet  werden  kann,  und  in  den  ver- 
ton Charakter  angenommen  hat 

w^mmm  mm  mmm  mm  mm  w  mmm        mm  mm  B%  mm  mm  \m  mmm  mmm  w  mm       MV  W  * 

Endlich  ist  auch  noch  ein  Anhang  zum  ersten  Bande  (I— X)  bei- 
gefügt, welcher  in  Kürze  die  ersten  Kriege  und  Eroberungen  der  Ara- 
ber nach  der  Leydener  Handschrift  des  Beladori  angibt,  welche  der 
Verf.  erst  nach  Vollendung  des  ersten  Bandes  benutzen  konnte. 

vom  Verf.  selbst  mit  der  grüssten  Sorgfalt  gefertigt  worden  und  hat  ihn 
zur  Entdeckung  und  Verbesserung  mancher  Fehler,  insbesondere  bei  Ei- 
gennamen geführt.  Er  bittet  etwaige  Beurlheiler  seines  Werkes  die  hier 
auch  zu  den  ersten  Bänden  nachgetragenen  Berichtigungen  zu  berücksichtigen. 

Täuscht  sich  auch  der  Verf.  keineswegs  über  die  Mängel,  die  an 
leiner  Arbeit  haften,  so  bat  ihn  doch  die  Ueberzeugung  viel  Neues  und 
Berichtigendes  zu  bieten  mit  Freudigkeit  erfüllt,  und  da  er  der  Erste  nach 
den  zuverlässigsten  Quellen  eine  klare  l'ebersicht  der  ganzen  Chalifenge- 
achichte  zu  liefern  versucht  hat,  so  hofft  er  auch,  dass  sie  mit  gebüh- 
render Nachsicht  aufgenommen  wird.  Well. 


Propädeutik  der  praktischen  Philosophie,  insbesondere  der  philosophischen 
Politik  in  ihrer  Anwendung  auf  die  politischen  und  socialen  Prob- 
lerne  der  Gegenwart.  Von  Dr.  Karl  Hermann  Scheidler, 
ord.  Hon.  Professor  der  Philosophie  in  Jena.  Zum  Besten  Schles- 
wig-Holsteins. Jena.  Braasche  Buchhandlung.  i85t.  Auch  un- 
ter dem  Titel:  Handbuch  der  philosophischen  und  konstitutionellen 
Politik.  Heß  I.  (Propädeutik.)  XII.  S.  u.  £64  S.  Heft  U.  (Chre- 
stomathie.)   LV1  S.  u.  96  S.  8. 

Die  vorliegende  Schrift  des  durch  seine  Psychologie,  die  Grund- 
linien der  Hodegetik  und  andere  philosophische  Schriften  rühmlich 
bekannten  Herrn  Verfassers  hat  nach  dessen  eigener  Andeutung  einen 
zweifachen  Zweck.  Sie  soll  die  „Grundlage  oder  Einleitung"  eines  „aus- 
führlichem Handbuches  der  philosophischen  und  konstitutionellen  Politik" 
seyn.  Dann  „soll  diese  Schrift  auch  ein  Ganzes  für  sich  bilden  als  eiae 
Ein-  und  Anleitung  zum  Studium  der  praktischen  Philosophie  überhaupt", 


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Scheidler*  Propädeutik  der  praktischen  Philosophie  39S 

nämlich  „der  philosophischen  Staats-  und  Rechtslehre,  sowie  „der  Volks- 
und ßtaatspadagogik"  (S.  IL> 

Was  die  Aurgabe  der  praktischen  Philosophie  für  das  öffentliche 
Leben  betrifft,  so  kann  diese  gegenüber  den  Extremen  der  Revolution 
und  Reaktion  allein  durch  eine  weise  Reform  in  Staat  und  Kirche 
erreicht  werden,  welche  unverrückt  das  Ziel  der  Humanität  für  die 
Völker  und  die  Einzelnen  im  Auge  behält.  Wir  verweisen  hier  auf  das, 
was  der  Yerf.  S.  XII.  sagt.  Referent  stimmt  ganz  dem  daselbst  geäus- 
serten Wunsche  des  gelehrten  Herrn  Verfs.  bei,  dass  die  Erziehung  eine 
„sittlich-religiöse''  seyn,  dass  man  es  immer  mehr  sich  zur  Aufgabe  ma- 
chen sollte,  „die  Ideen  des  wahren  Rechts  und  Staats  und  die  nachhal- 
tige Begeisterung  für  dieselben,  damit  zugleich  den  freien  Gehorsam  ge- 
gen die  Gesetze  und  die  Verfassung  und  die  freudige  Aufopferungsfähig- 
keit für  das  Wohl  des  Vaterlandes  zum  Gemeingut  Aller  zu  machen.u 

Der  erste  Abschnitt  der  allgemeinen  Einleitung  in  die 
praktische  Philosophie  handelt  „vom  Philosophiren  und  der  Philo- 
sophie überhaupt«  (S.  1—33).  Was  den  BegrifT  der  Philosophie  be- 
trifft, sagt  der  Verf.  ganz  richtig,  dass  dieser  „nicht  vom  Standpunkt" 
eines  bestimmten  Systems  oder  einer  einzelnen  Schule,  sondern  vielmehr 
vom  allgemeinen  kulturhistorischen  Standpunkte  aus  bestimmt  werden 
müsse,  dass  „die  Philosophie  als  eine  Thatsache  der  wissenschaftlich  ge- 
bildeten Nenschheit  zu  betrachten",  also  „zu  ermitteln  sei",  „was  der 
menschliche  Geist  mit  der  Aufstellung  dieser  Wissenschaft  bezweckt  bat, 
welche  Probleme  sie  zu  lösen  bestimmt  ist,  und  welche  Wirksamkeit  oder 
praktische  Bedeutung  sie  für  das  wirkliche  Leben  der  Geschichte  und  Er- 
fahrung zufolge  wirklich  gezeigt  hat  oder  zeigt"  (S.  9).  Er  ist  daher 
für  eine  historisch-genetische  Erklärung  des  Begriffs  der  Philosophie,  und 
will  bei  der  Begriffsbestimmung  dieser  Wissenschaft  auf  „die  Thätigkeit 
des  Menschengeistes  zurückgehen,  dnreh  welche  alle  Philosophie  entsteht." 
Damm  läset  sich  der  Begriff  der  Philosophie,  worin  Refer.  dem  Vcrf» 
tollkommen  beistimmt,  allein  durch  die  richtige  Auffassung  dessen  ge- 
aflgend  bestimmen,  was  „Philosophiren"  heisst.  —  Ist  doch  die  Philoso- 
phie selbst  nur  ein  „Endresultat"  dieses  Philosophirens. 

Der  Begriff  „des  Philosophirens"  wird  S.  14  dahin  erklärt,  dass 
man  sich  unter  „Pbilosophiren"  das  „wissenschaftliche  und  schlechthin 
selbständige,  von  fremder  Meinung  unabhängige  Nachsinnen  oder  Forschen  nach 
den  letzten  Gründen,  Gesetzen  oder  Zwecken  oder  dem  wahren  Wesen  und 
Zusammenhange  des  Seyns  der  Dinge  überhaupt"  vorzustellen  habe,  dass  sich 
dieses  Forschen  „namentlich  auf  denjenigen  Theil  des  Seyns  der  Dinge  beziehe, 


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396  Scheidler:  Propädeutik  der  praktischen  Philosophie. 


der  für  den  forschenden  Menschen  der  wichtigste  ist,  seines  eigenen  Lebens 
nämlich  oder  seiner  wahren  Bestimmung."  Wenn  wir  gleich  hierin  keine  wirk- 
liche Definition  erkennen  können,  ond  Viel  Parapbrastisches  in  der  Er- 
klärung finden,  wie  z.  B.  dass  „jedes,  schlechthin  selbständige"  Forschen  auch 
oothwendig  „ein  von  fremder  Meinung  unabhängiges"  ist,  wodurch  der 
letztere  Beisatz  hinwegfällt,  so  sind  doch  alle  wesentlich  zum  Begriffe 
des  Philosophireos  gehörige  Merkmale  von  dem  Verf.  angegeben.  Der 
Verf.  unterscheidet  im  Philosophien  S.  17  und  18  das  kos molo gl- 
iche, das  ethisch-psychologische,  das  religiöse  und  das 
kritische  Problem.  Er  bezeichnet  S.  23  alles  Philosopbireo  als  „ein 
rationelles  Erkennen",  und  die  Philosophie  „als  eine  rationelle  Wissen- 
schaft." Der  Begriff  der  „  rationellen  Wissenschart"  wird  dahin  erklart, 
dass  ihr  „Grundstoff  nicht  aus  Sinneswahrnehmung  oder  äusserer  Erfah- 
rung geschöpft  wird,  sondern  in  der  Vernunft  selbst  liegt."  Wenn  der 
Verf.  S.  14  mit  Recht  das  Philosophiren  als  ein  schlechthin  selbständiges 
Forschen  nach  den  letzten  Gründen,  Gesetzen  oder  Zwecken  oder  dem 
wahren  Wesen  und  Zusammenhange  des  Seyns  der  Dinge  bestimmt,  so 
ist  doch  das  erste  Objekt  der  Philosophie  die  Erscheinung,  sowohl  die 
äussere,  als  die  innere.  Von  dem  Dingo  muss  sie  ausgehen,  wenn  sie 
den  Grund,  das  Gesetz,  den  Zweck,  das  Wesen  des  Dinges  erkennen  will. 
Ja,  das  Ding  zeigt  ihr  den  einzig  richtigen  Weg,  auf  welchem  man  zur 
Erkenntniss  seines  Wesens  kommt.  Der  Inbegriff  aller  Dinge  aber  ist 
die  Natur.  So  bleibt  das  Objekt  der  Philosophie  die  Natur,  und  die 
Philosophie  darr  sich  nicht  als  eine  einseitig  a  priori  construirende,  oder 
absolut  spekulative  Wissenschaft  den  empirischen  Wissenschaften  entgegen- 
atellen.  Die  äussere  Naturwissenschaft  (Somatologie)  und  die  innere  Na- 
turwissenschaft (Psychologie)  müssen  der  Philosophie  das  Material  zu  al- 
len ihren  Forschungen  geben.  Es  war  eine  verkehrte  Entwicklung  in 
unserer  neuer«  Philosophie,  hauptsächlich  durch  die  frühere  Ideotitätslehre 
S  c  h  e  1 1  i  n  g '  s  und  II  e  g  e  V  s  Idealismus  hervorgerufen,  eine  Philosophie 
der  Geschichte  vor  aller  Geschichte,  eine  Philosophie  des  Weltprocesses 
vor  aller  Naturwissenschaft,  ohne  Erfahrung  aus  sich  selbst  heraus  con- 
struiren  zu  wollen.  Man  hatte  die  verkehrte  Ansicht,  nach  seiner  Sub- 
jektivität die  Welt  modeln  zu  wollen,  und  die  also  subjektiv  zugestutzte, 
von  der  Phantasie  ersonnene  Welt  für  die  objektive  selbst  zu,  halten, 
anstatt  frei  von  jedem  Vorurlheile  die  Eindrücke  der  Natur,  zu  welcher 
auch  unser  Geist  nls  integrirender  Theil  gehört,  zu  belauschen,  und  auf 
diesem  allein  richtigen  Erfahrungswege  zur  Philosophie  der  Natur  aufzu- 
steigen, welche  sich  an  das  Ding  selbst  und  nicht  an  seinen  Schatten  hält 


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Scheidler:   Propädeutik  der  praktischen  Philosophie.  397 


Wir  begnügen  uns  mit  dieser  Andeutung,  da  hier  nicht  der  Ort  zu  einer 
weitem  Ausführung  dieser  Streitfrage  zwischen  dem  Realismus  and  Idea- 
lismas ist.  .  * 

Der  zweite  Abschnitt  (S.  34 ff.)  amfasst  „die  nähere  Erör- 
terung der  praktischen  Philosophie."  Der  Verf.  erklart  zu- 
erst den  Unterschied  zwischen  der  Lebensansicht  des  „sogenannten  ge- 
meinen Menschenverstandes "  and  derjenigen  Lebensansicht,  welche  von 
der  praktischen  Philosophie  „als  Wissenschaft"  aufgestellt  wird,  um  da- 
mit das  erste  Hauptmerkmal  der  praktischen  Philosophie  zu  bestimmen 
(§.  10).  Durch  die  wissenschaftliche  Form  ist  ferner  die  Lebensansicht 
der  praktischen  Philosophie  von  „den  Bilderspielen  der  Phantasie"  in  der 
Poesie  und  Mythologie  unterschieden  (§.  11).  Sie  trennt  sich  aber  auch 
durch  die  Selbständigkeit  oder  Unabhängigkeit  von  aller  Autorität  wesent- 
lich von  den  „in  den  positiven  Religionen,  Gesetzen,  Sitten  und  Gebräu- 
chen liegenden  und  sich  offenbarenden  Lebensansichten"  (§.  12). 

Die  praktische  Philosophie  wird  als  die  Wissenschaft  von  der 
Lebensweisheit,  oder  auch  unter  Beziehung  auf  Fr ie s  (Ethik, S.  1) 
als  „die  philosophische  Lehre  von  der  Mens  eben  Weisheit"  bezeich- 
net. Eben  so  weist  der  Verf.  auf  ihre  Bedeutung  als  Lehre  „von  dem 
Werth  und  Zweck  des  Menschenlebens",  als  die  Lehre  vom  „höchsten  Gut" 
(summum  bonumj,  wie  letztere  das  klassische  Alterthum  auffasste,  hin  (§.13). 

Die  praktische  Philosophie  ist  nach  dem  Herrn  Verf.  nicht  nur, 
wie  diess  bei  andern  praktischen  Wissenschaften,  z.  B.  der  praktische! 
Geometrie,  Astronomie,  Theologie,  Medicio,  Jurisprudenz  u.  s.  w.  der  Fall 
ist,  eine  Anwendung  der  theoretischen  Philosophie  aufs  Leben,  son- 
dern sie  (die  praktische  Philosophie)  bat  ihre  eigenthümlichen  Prinzipien, 
und  ist  in  ihren  grundwesentlichen  Lehren  von  der  theoretischen  (na- 
mentlich der  Metaphysik)  ganz  unabhängig.  Ohne  theoretische  Philoso- 
phie kann  unserer  Ansicht  nach  von  einer  praktischen  als  Wissenschaft 
keine  Rede  seyn,  sonst  wäre  Uberall,  wogegen  der  Verf.  sich  doch  selbst 
erklärt,  zwischen  den  gewöhnlichen  praktischen  Ansichten  des  gemeinen 
Menschenverstandes  und  der  praktischen  Philosophie  kein  Unterschied. 
Ab  Rechtsphilosophie,  Politik,  Moralphilosophie  u.  s.  w.  ist  in  der  Thal 
die  praktische  Philosophie  nichts  Anderes,  als  die  auf  das  Recht,  den 
Staat,  den  sittlichen  Willen  und  die  sittlichen  Handlungen  des  Menschen 
richtig  angewendete  Philosophie.  Wenn  auch  die  Alten  ihre  Philosophie 
in  Logik,  Physik  und  Ethik  tkeilten,  und  die  Politik  als  eine  Wissenschaft 
betrachteten  die  das  Beste  der  Gesammtheit  bezweckte,  während  die  Ethik 
das  Beste  des  Einzelnen  verwirklichen  sollte,  so  zeigt  sich  doch  in  der 


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398  Scheidler:  Propädeutik  der  praktischen  Philosophie. 

Thai  immer  in  ihrer  Politik  und  Moral  eine  Anwendung  der  Principien 
ihres  theoretischen  Systems.  Diess  hat  auch  die  neuere  Philosophie  ge- 
zeigt. In  der  Rechts-  und  Moralphilosopbie  Kant's,  Fichte'»,  Schöl- 
ling'*, Hef  eis  zeigen  sich  die  obersten  Grundsätze  ihrer  theoretischen 
(metaphysischen)  Weltanschauung  wieder. 

Der  dritte  Abschnitt  (S.  56 ff.)  nmfasst  die  „Bedeutung  and 
Wichtigkeit  der  praktischen  Philosophie  für  das  wirkliche, 
namentlich  das  sociale  und  politische  Leben." 

Mit  Recht  macht  der  Herr  Verf.  §.  15  auf  den  Satz  aufmerksam: 
„Wissen  ist  Macht"  (mens  agitat  molem).  Aber,  wenn  auch  die  Phi- 
losophie wirklich  einen  so  bedeutenden  Einfluss  auf  das  Leben  äussert, 
dass  „die  wissenschaftliche  Cuitur  alle  übrige  bedingt",  so  stimmen  wir 
doch  dem  Verf.  vollkommen  bei,  dass  sich  die  Philosophie  nur  da  wahr- 
haft entwickeln  kann,  wo  sie  ..als  freie,  von  aller  Autorität  unabhän- 
gige Forschung  Eingang  findet. u  Sehr  richtig  bezeichnet  er  (nach  Fries, 
Metaphysik,  S.  21),  den  religiösen  Irrthum,  d.  b.  den  Aber- 
glauben „als  den  mächtigsten  Feind  nicht  nur  der  Wahrheit  und  Schön- 
heit, sondern  auch  des  Friedens  und  der  Gerechtigkeit  für  die  ganze 
Menschheit." 

Wenn  auch  der  Herr  Verf.,  worin  ihm  Ref.  ganzlieh  beistimmt,  mit 
eben  so  vieler  Umsicht  und  Wahrheitsliebe,  als  hellem  religiösem  Sinne 
auf  die  hohe  Bedeutung  des  Chris tenth ums  für  die  Selbslverständi- 
guug  ues  lucnscueugusies  am  weis»,  so  w  im  gewiss  mii  voiiKommen  giei- 
eher  Begründung  von  demselben  der  Beisatz  (S.  64)  gemacht,  welcher 
euch  ganz  die  Ansicht  des  Hefer.  ist:  „In  keinerlei  Hinsicht  darf  der 
Begriff  der  christlichen  Philosophie  in  dem  Sinne  genommen  werden,  als 
wenn  die  Lehren  der  Philosophie  auf  die  Autorität  des  christlichen  Kir- 
ch eng  lau  bens  gegründet  werden,  und  die  praktische  Philosophie  aller  Fra- 
gen sich  enthalten  musste,  welche  schon  durch  die  positiven  Satzun- 
gen der  Kirche  und  des  Staates  entschieden  wären.tt  Selbst  „als  christ- 
liche Philosophie tt  muss  die  Philosophie  „vor  Allem  ihr  eigenes  unver- 
äusserliches Recht  der  freien  Forschung  und  des  f  r  eien  A  usspre- 
c he  ns  ihrer  Resultate  um  so  entschiedener  geltend  machen,  als  bievon 
die  auf  friedlichem  Wege  zu  bewirkende  Anerkennung  und  Geltendma- 
chung der  Menschenrechte  Aller  vorzugsweise  abhängt1'  (S.  71}.  Die 
„neuere,  nothwendig  christliche  Philosophie1'  bat  die  „richtigen,  von  ihr 
anerkannten  Grundgedanken  des  Christenthums tt ,  die  Ideen  des  Got- 
tesreiches und  „die  aus  der  Würde  der  Persönlichkeit  folgenden  all- 
gemeinen Vernunft-  und  Menschenrechte«  zu  entwickeln  und  ins 


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Scheidler:  Propädeutik  der  praktischen  Philosophie.  399 

Leben  iq  fahren.  Die  praktische  Philosophie  kann  übrigens  ihre  sociale 
Aufgabe,  „echte,  sittlich-religiöse  und  politische  Aufklärung  zu  verbreiten" 
(S.  81},  durch  die  äussere  Bedingung  der  Denkfreiheit  und  selbständi- 
gen Stellung  des  Gelehrtenstandes"  allein  gewiss  nicht  erreichen.  Hiera 
sind  auch  innere,  wesentliche  Bedingungen  nötbig,  zu  welchen  der  Herr 
Verf.  „die  rücksichtslose  Wahrheitsliebe",  die  sittliche  Tapferkeit  und  die 
daraus  hervorgehende  „Freimütigkeit  des  Gelehrtenstandesu  zählt,  welche 
Eigenschaften  er  auch  mit  Recht  „als  die  Gesinnungstüchtigkeit"  (ein  in 
neuerer  Zeit  oft  sehr  missbrauebtes  Wort}  oder  „Charakterstärke"  (an 
welcher  es  leider  den  Gelehrten  oft  sehr  fehlt},  bezeichnet. 

Alexander  v.  Humbold  sagt:  „Man  muss  den  Muth  einer  ei- 
genen Meinung  haben."  Sehr  beherzigenswerth  ist  Göthens  Wort  aus 
Hermann  und  Dorothea  (S.  85): 

„Der  Mensch,  der  tur  schwankenden  Zeit  auch  schwankend  gesinnt  ist, 
Der  vermehret  das  Uebel,  und  breitet  es  weiter  und  weiter !u 
Der  Verf.  setzt  S.  85  ff.  auseinander,  dass  ohne  rechtliche  und  sitt- 
liche Bildung  der  Einzelnen  von  einer  politischen  Volksbildung  und  von 
der  Lösung  der  Aufgabe  der  Politik,  der  politischen  Charakterbildung, 
keine  Rede  seyn  kann.  Er  bezeichnet  als  die  Elemente  „der  staatsbür- 
gerlichen Tugend"  (S.  86}  den  freien  Gehorsam  gegen  die  Gesetze,  die 
echte  Vaterlandsliebe,  die  Pietät  oder  Achtung  gegen  die  Geschichte  des 
Vaterlandes  und  das  wahrhaft  Besteheude  und  zugleich  das  geregelte 
Streben  nach  Fortschritt  auf  gesetzlichem  Wege."  Ohne  solche  Tugenden 
sind  ihm  mit  Recht  Constitutionen  oder  Verfassungen  „leere  Worte"  oder 
„todte  Formen"  (S.  86.}. 

Aber  auch  die  religiöse  Bildung  ist ,  wie  der  Herr  Verf.  S.  92 
ausführt,  zur  Erreichung  der  politischen  im  guten  und-  richtigen  Sinne 
des  Wortes  unumgänglich  nothwendig.  Es  ist,  wie  der  Herr  Verf.  sagt, 
eine  „in  praktischer  Hinsicht  wichtige  Aufgabe  der  philosophischen  Poli- 
tik, nachzuweisen ,  wie  Recht  und  Sittlichkeit  in  einem  viel  höhern  Da- 
seyn,  als  dem  menschlichen,  begründet  sind."  Darum  muss  das  politische  und 
sociale  Leben  „die  Religion  schlechterdings  als  eigentliche  Basis"  anerkennen. 
Beherzigenswerth  ist,  was  der  Verf.  gegen  deu  Jungbegelanismus  und 
französischen  Socialismus  und  Communismus  S.  96 ff.  erinnert. 

Mit  vieler  Umsicht  wird  S.  102  der  kosmopolitische  Charakter  des 
Christentums  dargestellt.  Das  Christentum  stützt  den  Staat  „uicht  auf 
Gewalt,  sondern  „auf  das  Recht"  und  dieses  letztere  auf  „die  Pflicht  oder 
Sittlichkeit  und  Religion."  Es  geht  von  „der  Anerkennung  von  ange- 
bornen  oder  allgemeinen  Vernunft-  und  Menschenrechten"  aus,  wodurch 
die  Aufbebung  der  Sklaverei  und  die  bürgerliche  und  politische  Freiheit 
angebahnt  wurden.  Es  erkennt  als  „leitende  Grundgedanken"  die  Wahr- 
heit und  Freiheit  an,  und  „verwischt  darum  allen  Aristokratismus  und  Ab- 
solutismus unter  jedweder  Form",  so  dass  man  die  Religion  des  Christen- 
thums mit  Recht  „als  die  Religion  der  Freiheit  bezeichnen  muss"  (S.  109.). 

Die  philosophische  Politik  hat  darum  „den  richtig  verstandenen, 
ron  allem  mystischen  und  pietistiseben  (und  mittelalterlich  romantischen) 
Beiwerk"  gereinigten  Begriff  des  christlichen  Staats  in  Schutz  zu 


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400  Scheidler:    FrODadeutik  der  praktischen  Philosonhi« 


nehmen  und  ihn  als  mit  dem  Begriffe  des  „Rechts-  oder  Vernunftstna- 
tes"  gleichbedeutend  zu  betrachten  (S.  119.}.  Das  Christenthum  bahnte 
-die  politische  und  bürgerliche  Freiheit  in  „Verbindung  mit  dem  germani- 
schen Volksthumu  an.  Daher  weist  der  Herr  Verf.  ganz  richtig  auf  den 
christlich  -  germanischen  Staat  als  die  Hauptstütze  dieser  freiem  nnd  ver- 
nünftigeren, aus  dem  Christenthume  hervorgegangenen  Staatenentwicklong 
hin.  Wenn  der  Herr  Verf.  auch  allerdings  mit  vielem  Geschicke  hiervon 
den  Werth  des  neuern  Repräsentativ-  oder  konstitutionellen  Systems  an- 
zuknüpfen und  darauf  aufmerksam  zu  machen  weiss,  so  wird  doch  schwer- 
lich der  unbefangene  Kenner  des  Alterthums  die  von  den  Herrn  Verf. 
-6.  121  ausgesprochene  Behauptung  unterschreiben,  dass,  wahrend  diese 
(die  konstitutionelle  Staatsform)  „dem  heidnischen  klassischen  Alterthum 
unbekannt  war,  in  dessen  sog.  Republiken  oder  Demokratieen  von  wah- 
rer bürgerlicher  und  politischer  Freiheit  eben  so  wenig  (sie!)  die  Rede 
war  uud  seyn  konnte,  als  sich  dieselbe  in  den  neuern  christlichen,  bloss 
romanischen  oder  slawischen  Staaten  findet."  (V)  S.  132  werden  die 
Lichtseiten  „des  deutschen  Volksthums "  entwickelt.  Doch  lassen  sich 
mehrere  der  dort  angegebenen  Vorzüge  auch  bei  andern  christlichen 
nicht-germanischen  Völkern  der  Neuzeit  nachweisen.  Zudem  könnte  die 
Geschichte  unserer  neuesten  Zeit  ein  reichlicheres  Material  für  die  Dar- 
stellung der  Schattenseiten  des  deutschen  Volkes  bieten.  S.  145 
wird  die  Bedeutung  des  deutschen  Corporaliv-  oder  Zunftwesens  ent- 
wickelt, und  auf  den  Zusammenhang  desselben  mit  dem  „socialen  Prob- 
leme der  Gegenwart,  der  Arbeiterfrage"  (S.  152)  hingewiesen. 

Das  zweite  Heft  der  politischen  Propädeutik  enthält  eine  Chre- 
stomathie der  philosophischen  und  konstitutionellen  Politik.  —  Sie 
omfasst  Auszüge  aus  den  politischen  Schriften  von  Dahlmann,  Schön, 
Schmitthenner,  Jordan  und  Sismondi.  Die  beiden  hier  ange- 
zeigten Hefte  werden  von  dem  Herrn  Verf.  nur  „als  Grundlage  oder  Ein- 
leitung", auch  als  „Probe"  eines  ausführlicheren  Handbuches  der  philoso- 
phischen und  konstitutionellen  Politik  augesehen.  Ueber  den  Plan  des 
Ganzen,  sowie  „über  die  dermalige  Stellung  und  Aufgabe  der  staatswis- 
senschaftlichen Studien"  überhaupt  und  der  Staats-  und  Rechtsphilosophie 
insbesondere  soll  sich  ein  drittes,  bereits  unter  der  Presse  befindliches 
Heft  dieser  politischen  Propädeutik  aussprechen.  Das  grössere  Handbuch 
wird  in  der  Form  seines  Handbuches  der  Psychologie  und  seiner  Grund- 
linien der  Hodegelik  von  dem  Herrn  Verf.  ausgearbeitet  werden.  Wir 
wünschen  der  vorstehenden,  zu  einem  gemeinnützigen,  edlen  Zwecke  ge- 
schriebenen Propädeutik  recht  viele  Leser,  und  erwarten  recht  bald  das 
Erscheinen  des  grösseren  Werkes  über  die  Politik,  sowie  die  Vollendung 
der  angezeigten  Propädeutik  durch  Ausgabe  des  dritten  Heftes.  Möge 
im  vollsten  Sinne  des  Wortes  der  Ausspruch  wahr  werden,  mit  welchem 
der  Herr  Verf.  seine  Theorie  der  politischen  Propädeutik  schliesst  (S.  164): 
„Die  gegenwärtige  Krise  muss  mit  dem  Siege  der  Ver- 
nunft and  der  bessern  Elemente  enden." 

Relehlla  Melden, 


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Nr.  26. 


HEIDELBERGER 


1851. 


JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR. 


Unsere  jungheget  sehe  Weltanschauung  oder  der  sogenannte  neueste 
Pantheismus.  Allen  Denkenden  J.  P.  Romangs  (sie!)  gewidmet  ton 
A.  E.  Biedermann.  Zürich.  Druck  und  Verlag  ton  Friedrich 
Schulthess.    1649.    IV  S.  u.  207  S.  S. 

,  :  •  » 

Obige  Schrift  bat  eine  polemische  Tendenz  und  ist  gegen  das  Bach 
des  schweizerischen  Theologen,  J.  P.  Romang  „der  neueste  Pantheismus 
oder  die  junghegePsche  Weltanschauung"  gerichtet,  auf  dessen  Vortage 
und  Mangel  wir  in  diesen  Blättern,  Jahrgang  1849,  S.  236ff.  hingewie- 
sen haben.  Die  Schrift  J.  P.  Romang's  bekämpft  vorzugsweise  die  jung- 
hegelscbe  Richtung  in  der  Schweiz.  Als  Hauptrepräsentanten  derselben  sind 
Zeller  und  Biedermann  bezeichnet.  A.  E.  Biedermann  tritt  in  der 
obigen  Schrift  gegen  die  ihm  von  Romang  gemachten  Vorwurfe  auf. 
Er  theilt  seine  Rechtfertigung  in  folgende  Abschnitte:  1)  Aulass  und  Ab- 
sicht (S.  1—9),  2)  Gott  als  absolute  Substanz  (S.  10 — 40),  3)  Gott 
als  absoluter  Geist  (S.  40—69),  4)  Gott  als  höchstes  Gut  oder  die 
sittliche  Wellordnung  (S.  69 — 97),  5)  Gott  als  allgemeines  Wesen  den 
Menschen  (S.  97-11J),  6)  das  Wesen  der  Religion  (S.  111—138), 
7)  die  religiösen  Tugenden  (ß.  138— 164),  8)  das  ewige  Leben  (S.  164 
bis  179),  9)  unsere  sociale  und  kirchliche  Stellung  (S.  179—207.)« 

Ein  näheres  Eingehen  in  die  A.  E.  Bied  er  man  n'sche  Schrift 
wird  «eigen,  in  wiefern  es  dem  Verf.  gelungen  ist,  die  Romang 'sehen 
Vorwürfe  abzuweisen. 

A.  E.  Biedermann  behauptet,  dass  die  von  J.  P.  Romang 
entwickelte  „junghegersche  Weltanschauung-'  auf  „einem  Fundamental- 
missverständnissetf  (S.  4)  beruhe.  Der  Verf.  gibt  zu,  dass  das  von  Ro- 
mang dargestellte  System  der  „ junghegefschen  Weltanschauung  wirk- 
lich existire."  Aber  die  „Romang'sche  junghegersche  Weltenschaiung^ 
fügt  er  S.  5  bei,  „ist  nicht  die  meinige  und  nicht  die  meiner  Mitarbei- 
ter an  der  Kirche  der  Gegenwart. u  Dnser  Verf.  hat  also  gegen  die 
wirkliche  Existenz  einer  atheistischen  Richtung  des  Junghegeith uma  nichts 
einzuwenden,  nur  weist  er  es  zurück,  wenn  man  seine  Ansicht  mit  diesem 
modernen  Atheismus  vermengt.  Er  will  sich  darum  in  seiner  Schrift  nur 
-auf  das  beschränken,  was  ihn  speciell  angeht."  Der  Verf.  will  den 
„neuesten  junghegerschen  Pantheismus u ,  wie  er  in  „seinen  theoretischen 
Grundlagen"  nnd  „praktischen  Couequenxen*  von  Romang  „dargestellt" 
XII V.  Jahrg.  3.  Poppelheft.  26 


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40$  I  Biedermann:  Junghegel'scbe  Weltanschauung. 

und  „gewürdigt  worden  ist,  „nicht  vertheidigen«,  iondera  er  will  nach- 
weisen, dass  diese»  moderne  System  „ nicht  dasjenige  derer4*  sey,  die 
„Rom  an  g  als  die  namhaftesten  Vertreter  mit  aufs  Korn  nimmt tt  (S.  6.). 
per  Verf.  tritt  also  eigentlich  nicht  gegen  die  ganze  Anschauung  des 
Botnang' sehen  Buches,  sondern  gegen  die  ihm  in  demselben  gemachten 
Vorwürfe  auf,  die  er  „Missverständnisse'4  nennt. 

Wir  gestehen  gerne  zu,  dasa  sich  die  Philosophie  von  keinem  theo- 
logischen Systeme,  von  keinem  Auctoriltttsprtncip  irgend  einer  Kirche  ihre 
Weltanschauung  vorschreiben  lassen  darf,  dass  mit  der  Zerstörung  des 
freien  Denkens  und  freien  Forschens  atich  die  Philosophie  zu  Grabe  ge- 
tragen wird;  aber  wir  haben  immer  und  zu  jeder  Zeit  es  missbilligt, 
wenn  ^ie  Philosophie  den  auf  dem  Wege  freier  Forschung  gewonnenen 
Begriffen  einen  theologischen  Mantel  umhängt,  um  unter  dem  Schutze  ei- 
ner solchen  Verhüllung  im  Kreise  der  Kirche  zu  wirken,  und  Ansiebten, 
die  vom  Standpunkte  des  Cbristenthums  atheistisch  erscheinen  müssen,  za 
^ellristlichen44  und  „religiösen44  umstempeln  zu  wollen.  Wenn  Hegel 
aus  dem  reinen  Seyn  den  Vater,  aus  dem  Andersseyn  desselben  den 
Sohn,  und  aas  dem  Andern  dieses  Andersseyns,  das  wieder  zum  reinen 
Seyn  zurückführen  soll,  den  b.  Geist  dialektisch- spitzfindig  heraus  demon- 
striren  wollte,  gab  er  damit  nicht  das  Losungszeichen  zu  jener,  jetzt  noch 
bei  Yiden  beliebten  Art  von  theologisch-philosophischer  Taschenspi elerei, 
welche  speculativen ,  abstrakten  Begriffen  beliebige  theologische  Namen 
der  orthodox -christlichen  Dogmatik  umhängt,  um  auf  dem  Boden  der 
Kirche  theologisch  zu  wirken?  Wir  glauben,  dass  eine  solche  Vermen- 
gung theologischer  und  philosophischer  Anschauungen,  die  man  mit  dem 
unpassenden  Namen  „der  Religionsphilosophie44  bezeichnet  hat,  eben  so 
lehr  der  wahren  Philosophie,  als  der  wahren  Theologie  schade.  Sie 
schadet  der  wahren  Philosophie,  weil  theologische  Kunstausdrflcke  religiö- 
ser Mysterien,  die  nie  ein  Objekt  des  Wissens,  sondern  nur  des  Glaubens 
werden  können,  als  Bezeichnungen  für  Begriffe  genommen  werden,  die 
VOr  dem  Forum  der  Vernunft  einen  ganz  andern  Sinn  haben  müssen,  als 
vor  dem  Forum  der  Kirche.  Die  mysteriösen  Dogmen  der  christlichen 
Theologie  werden  Gegenstande  der  Philosophie,  und  so  schlägt  urplötz- 
lich die  Philosophie  wieder,  wie  dieses  schon  im  Mittelalter  geschehen 
war,  in  Scholasticismus  um,  dessen  Charakter  sich  in  den  religionsphilo- 
Sophiichen  Schriften  HegeTs  und  Schelling's  unverkennbar  zeigt. 
L  Man  gewöhnte  sich  auf  solche  Weise  daran",  die  philosophischen 
Begriffe  in  theologische  Namen  umzusetzen,  und  mit  Worten  anstatt  mit 
Begriffen  zu  spielen.    Daher  kam  es,  dass  die  gläubige  und  ungläubige 


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.  jungneget  icn©  ™  ciiauaciiauuny. 


403 


Partei  anter  den  christlichen  Theologen  in  Hegel'f  Heligionsptailosophie 
das  Evangelium  ihrer  orthodoxen  oder  belerodoxen  Lehre  fand.  Diese 
Vermengung  philosophischer  und  theologischer  Anschauungen  war  aber 
auch  nicht  minder  der  Theologie  selbst  schädlich.  Man  hielt,  »ich  an  die 
neoesten  positiven  Glaubensbekenntnisse  der  einzelnen  christlichen  Kirchen, 
die  Man  je  nach  dem  Standpunkte  der  Partei  auf  sogenannte  philosophi- 
sche Weise  au  begründen  versuchte.  Man  nahm  die  Anschauungsweise 
einer  orthodox  theologischen  Gegenwart  also  für  die  einsig  christliche 
Anschauungsweise,  und  hob  so  den  für  die  echte  theologisch-wissenschaft- 
liche Forschung  so  wichtigen  Unterschied  zwischen  Urchristentums  und 
späterer  christlicher  Kircblichkeit  ganz  auf,  wie  sich  diese  Aufhebung  *  B. 
in  FeoerbaclTs  Wesen  des  Christenthums  so  weit  verstieg,  das  We- 
sentliche im  Christen! hu mc  und  die  Auswüchse  des  mittelalterlichen  Ro- 
manismus als  identisch  zu  bezeichnen,  und  die  Elemente  des  letztern  in 
den  Evangelien  nachweisen  zu  wollen.  Man  adoptirte  ferner  in  der  Theo- 
logie philosophische  Begriffe ,  die  einen  ganz  andern  Sinn  hatten ,  ala  die 
Worte  der  Theologie,  welche  zur  Bezeichnung  aolcher  Begriffe  gewählt; 
wurden.  So  vertheidigte  man  mit  Feuereifer  philosophisch  die  Existenz 
Gottes  im  Sinne  del  Christenthums,  während  man  mit  dem  christlichen 
Worte  den  bis  zum  „reinen  Seynu  verflüchtigten,  abstrakten  Begriff  ver- 
band; ao  vertheidigte  man  mit  Feuereifer  philoaophiach  die  Unsterblichkeit 
im  Sinne  des  Christen t hums ,  während  man  mit  diesem  chria  Hieben  Wort* 
den  Begriff  eines  Aufhöreos  des  individuellen  Bewosstseina  und  einer  Ewig- 
keit des  absoluten  Geistes  oder  des  Geistes  an  sich  (in  der  Abstrattion) 
verband.  Dieses  hatte  notbwendig  Heuchelei  und  Zweisüngigkeit  zur 
Folge,  und  konnte  unmöglich  dadurch  gerechtfertigt  erscheinen,  daaa  man: 
die  theologischen  Namen  brauchte,  um  bei  der  orthodoxen  Partei  nicht, 
auzuatossen.  Nur  die  wahrhaft  rationelle  Entwicklung,  die  für  die  wahre 
Sache  auch  den  wahren  Namen  hat,  kann  als  eine  philosophische  bezeich- 
net werden.  Man  kann  es  aber  nicht  billigen,  dass  dasjenige  von  der 
Philosophie  „als  christlich"  adoptirt  werde,  was  selbst  im  Sinne  und 
Geiste  des  Urchristenthums  ala  unchristlicb  bezeichnet  werden  muss.  Hat 
die  Philosophie  den  Muth,  gegen  das  Christentum  aufzutreten,  so  darf 
sie  diesa  nie,  wenn  sie  auf  den  Namen  einer  freien  Wissenschaft  Anspruch, 
machen  will,  unter  den  christlichen  Formen,  als  eine  „christliche11  Philo-; 
sophie  thun.  Darum  steht  Fauerbach,  unter  den  Gegnern  dea  Chri- 
stenthums ehrlicher  da,  weil  er  offen  nnd  nirgends  verkappt  auftritt,  weil 
er  nirgends  „christlich«  sein  will ,  sondern  überall  aeine  Weltanschauung; 
ab  die  Negation  des  Chris  tent  hu  ms  geltend  zu  machen  sucht,  während/ 

36* 


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404  Biedermann :  Jungbegel'sche  Weltanschauung. 

Andere,  die  mit  ihm  gleich  denken,  für  ihre  negativen  Begriffe  positive, 
christliche  Worte  wählen,  um  ihre  Verneinung  des  Chrislenthums  als 
Christentum  erscheinen  zu  lassen. 

A.B.  Biedermann  gehört  nach  der  vorliegenden  Schrift  xu 
denjenigen  Anhängern  der  HegeTscben  Schule,  welche  den  Boden  des 
Christenthums  nicht  verlassen,  sondern  im  Gegentheile  auf  demselben  ihr 
kirchliches  Gebäude  errichten  wollen.  Er  sagt  S.  197  wörtlich:  „Wir 
aber  behaupten,  dasa  unsere  religiösen  Ueberzeuguugen ,  unser  Glaube 
kein  anderer  sei,  als  der  des  gläubigen  Christenvolkei  evangelischer  Kirche, 
dass  wir  mit  den  gläubigen  Christen  von  allen  Bildungsgraden  Glieder  an 
einem  Leibe  seien,  dessen  Haupt  Jesus  Christns  ist,  dessen  Seele  sein 
gott menschlicher  Geist  ist,  und  dessen  Leben  in  allen  Gliedern,  bei  ver- 
schiedenen Verrichtungen,  in  der  Durchdringung,  Erleuchtung,  Heiligung, 
kurz  in  der  Hinanfuhrung  der  Menschheit  zu  ihrem  absoluten  Ziele  besteht. 
Die  Vermittlung  dieses  gottmenschlichen  Lebens  ist  der  Zweck  der  Kirche, 
und  ist  für  uns  derselbe,  wie  für  jeden  Gläubigen.  Darum  stehen  wir 
in  der  Kirche,  wirken  in  der  Kirche  und  für  die  Kirche.« 

Während  der  Verf.  nun  sich  mit  seinem  Gegner,  dem  Pfarrer  Ro- 
ma ng,  auf  denselben  religiösen  Standpunkt  dadurch  stellt,  dass  er  „kei- 
nen andern  Glauben",  als  den  „des  gläubigen  Christeuvolks  evangelischer 
Kirche"  haben  will,  versichert  er  in  demselben  Buche  S.  20 :  „Zur  Stunde 
weiss  ich  nichts  Anderes,  als  dass  Hegel  die  Grundlage  meines  philo- 
sophischen Denkens  bildet,  und  wenn  ich  auch  unbekümmert  um  das,  was 
Hegel  da  oder  Hegel  dort  gesagt,  selbständig  auf  dieser  Grundlage 
weiter  zu  bauen  mir  bewusit  bin:  so  weiss  ich  doch,  dass  ich  damit 
bis  jetzt  weder  ein  Uber  Hegel  Hinausgeschrittener,  noch  von  Hegel 
Abgefallener  bin.« 

Unser  Verf.  stellt  sich  also  auf  den  schwer  zu  verbindenden  Boden 
„des  gläubigen  Christenvolkes  evangelischer  Kirche«  (S.  197)  und  „He- 
gels" (S.  20).  Wie  ihm  diese  schwierige  Aufgabe  gelungen  ist,  soll 
eine  näherer  Betrachtung  seiner  Schrift  zeigen. 

Der  Verf.  spricht  sich,  während  er  auf  dem  Boden  „des  gläubigen 
Chriatenvolkes  evangelischer  Kirche  stehen  will«,  dagegen  aus,  dass  Gott 
als  „im  Geist,  als  ein  reales  denkendes  Subjekt"  aufzufassen  sei  (S.44). 
Er  gesteht  zu,  dass  „das  religiöse  Bewusstsein«  Gott  „als  wollende,  als 
Alles  (auch  das  Schlechte?)  wollende,  allmächtige  Persönlichkeit"  ver- 
lange« (S.45).  Er  meint  ferner,  dass  „das  religiöse  Bewnsstsein"  sich 
Gott  „als  wissende,  allwissende  Persönlichkeit«  denke.  Er  erklärt,  dass 
er  die  „von  aUen  Seiten  mit  solchem  Ungestüm  erhobene  Forderung", 


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Biedermann!  Jungnegel'gche  Weltanschauung.  405 

das  „Göttliche  müsse  «in  Geist,  ein  denkendes,  wollendes  Subjekt,  eine 
Persönlichkeit  sein'4,  so  sehr  er  „Berechtigtes  in  ihr  anerkenne,  doch  so, 
wie  sie  erhoben  wird,  nicht  für  berechtigt11  anerkennen  könne.  Er  er- 
klärt diese  Fordernng  nicht  nur  „nicht  für  berechtigt u ,  sondern  „gera- 
den für  unrichtig/  Der  Verf.  hält  also  diese  Forderung  „sich  Gotl  alt 
Geist,  als  denkendes,  wollendes  Subjekt"  zu  denken,  als  für  eine  „ be- 
rechtigte14 und  zu  gleicher  Zeit  für  eine  „nicht  berechtigte."  Er  glaubt 
diesen  Widerspruch,  eine  berechtigte  Forderung  zu  einer  nicht  berech« 
tigten  zu  machen,  mit  der  Einschränkung  aufzubeben t  die  Forderung  sei 
so  unberechtigt,  wie  sie  erhoben  wird.  Was  er  an  der  Art  und  Weise 
der  Erhebung  dieser  Forderung  tadelt,  spricht  er  S.  49  deutlich  in  den 
Worten  ans:  „Wer  uns  immer  und  immer  mit  der  Persönlichkeit  Gottes 
kommt,  ihn  als  Geist,  als  wissendes  und  wollendes  Wesen  bezeichnet, 
der  bat  ganz  etwas  Anderes  im  Sinn,  als  worauf  wir  hier  vorläufig  hin- 
zielen, wenn  wir  das  Göttliche  absoluten  Geist  nennen,  der  denkt  nicht 
daran,  diesem  Geist,  dieser  Persönlichkeit  an  der  äussern  Realität  der 
Welt  die  natürliche  Basis  zn  geben,  die  sonst  aller  Geist  an  seiner  na- 
türlichen Individualität  hat.  Im  Gegent heile,  man  abstrabirt  von  der  Ge~ 
sammtbeit  des  weltlichen  Daseyns,  setzt  diese  Persönlichkeit  als  vor-  und 
abgesehen  von  derselben,  rein  für  sich  dastehend;  abstrabirt  sich  vom 
Geist,  den  man  kennt,  für  jenen  ein  Wissen  und  Wollen  nur  mit  Auf- 
hebung der  Schranken,  und  bedenkt  nicht,  dass  uns  die  Wirklichkeit  Geist 
nur  nnter  der  Bedingung  und  Voraussetzung  leiblicher  Individualität,  also 
auch  seitlich  räumlicher  Schranken  zeigt,  und  mithin  vom  Begriffe  dessel- 
ben dies  wesentliche  Moment  wegzulassen  durchaus  nicht  erlaubt;  bedenkt 
nicht,  dass  wirkliches  Wissen  und  Wollen  des  Geistes  gerade  auf  dem 
Gegensatze  der  innern  Unendlichkeit  seines  Wesens  and  der  Endlichkeit 
seiner  Existenzbasis  beruht,  in  deren  sich  selbatvermittelnder  Dialekttik  das 
Leben,  die  Realität  des  Geistes  besteht.  Das  Alles  bedenkt  man  nicht, 
hilt  sich  ans  Wort,  nnd  setzt  einen  wissenden  und  wollenden  Geist  vor- 
aus, dem  man  aufs  Sorgfältigste  alle  Bedingung  zum  Geistsein,  zum  Wis- 
sen and  Wollen,  wie  wir  von  all  dem  nur  irgend  etwas  wissen,  ab- 
spricht. u  Er  tadelt  die  Anschauung  als  unwissenschaftlich  und  unhaltbar, 
wenn  man  die  Ansicht  vertbeidigt,  dass  der  „Geist  überhaupt  ein  für 
sich  existirendes,  denkendes  und  wollendes  Wesen  von  einer  besondere 
geistigen  Substanz  sei,  von  dem  nichts  hindere,  anzunehmen,  dass  es  im 
Menschen  zwar  aufs  Innigste  mit  einer  materiellen  Leiblichkeit  (sie !)  ver- 
bunden sei,  und  in  seinem  Denken  und  Wollen  durch  dieses  Werkzeug 
wesentlich  modificirt  werde,  dass  aber  Gott  ein  reiner,  in  schrankenlosem 


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Biedermann:  Jnnghegersche  Weltanschauung. 


Wilsen  und  Wollen  allbefessender  Geist  sei"  (S.  50).  Gott  soll  zwar 
„ein  geistiges  Wesen",  aber  „kein  Geist",  „kein  wissende!  und  wollen- 
des ßebjekt"  sein. 

Die  Attribute,  welche  dss  Wesen  des  Geistes  ausmachen,  sind  das 
Wilsen  und  das  Wollen,  und  man  kenn  sich  keinen  Geist  ohne  Wissen 
und  Wollen  denken.  Das  menschliche  Wissen  und  Wollen  ist  beschrankt 
und  endlich;  es  ist  kein  absolutes  Wissen  und  Wollen.  Daraus  folgt  aber 
nicht,  was  der  Herr  Yerf.  will,  dass  man  sich  in  Gott  weder  ein  Wis- 
sen noch  ein  Wollen  denken  könne.  Was  werden  wir  von  einem  We- 
sen sagen,  das  nicht  weiss  und  nicht  will?  Wir  werden  es  gewiss  nicht 
Geist  nennen,  uud  doch  nennt  der  Verf.  Gott  „einen  absoluten  Geist", 
während  er  dem  Geiste  diejenigen  Grundeigenschaften  abspricht,  welche 
er  haben  muss,  um  Geist  zu  sein.  Wenn  Gott  kein  menschliches  Wissen 
nnd  Wollen  hat,  folgt  daraus,  dass  er  gar  kein  Wissen  und  Wollen  hat? 
Wenn  Gott  „ein  absoluter  Geist"  ist,  folgt  daraus  nicht  viel  mehr,  dass  ihm 
Wissen  und  Wollen  im  absoluten  Sinne  des  Wortes  zukommen  müsse? 
Man  muss,  wie  der  Verf.  will,  dem  Begriffe  Gottes  als  eines  absoluten 
Geistes  „die  äussere  Realität  der  Welt  als  natürliche  Basis  geben"  (S.  19); 
man  darf  nicht,  wenn  man  Gott  als  absoluten  Geist  denkt,  von  „der  Ge- 
eammtheit  des  weltlichen  Daseins  abslrahiren" ,  man  darf  ihn  nicht  als 
„vor-  und  abgesehen  von  dieser,  rein  für  sich  dastehend"  denken,  man 
darf  sich  in  Gott  „nicht  ein  Wissen  und  Wollen"  denken  mit  ..Aufbe- 
bung der  Schranken."  Ist  denn  ein  Geist,  der  die  „äussere  Realität  der 
Welt  als  naturliche  Basis"  braucht,  um  zur  Entwicklung  zn  kommen,  der 
die  „Gesammtheit  des  weltlichen  Daseins"  zu  seiner  Existenz  voraussetzen 
muss,  ein  absoluter  Geist?  Gewiss  nicht.  Der  Begriff  des  Absoluten  ist 
der  negative  Begriff  des  Unbedingten,  des  Schrankenlosen.  Der  absolute 
Geist  setzt  nicht  die  „äussere  Realität  der  Welt  als  natürliche  Basis"  vor- 
aus, er  braucht  nicht  die  „Gesammtheit  des  weltlichen  Daseins"  zu  seiner 
Existenz  als  vorausgesetzte  Bedingung.  Er  muss,  wenn  er  absolut  ist, 
in  sich  und  durch  sich ,  an  und  für  sich  sein ,  und  nicht  erst  dnroh  die 
Voraussetzung  eines  Stoffes  werden,  in  welchem  Werden  schon  notwen- 
dig der  Begriff  der  Veränderlichkeit  liegt  Ist  Gott  ein  „absoluter  Geist", 
wie  ihn  der  Verf.  nennt,  so  kann  der  Begriff  des  Wissens  und  Wollens 
nicht  von  ihm  getrennt  werden,  ist  er  absolut,  so  kann  man  nicht  za 
seiner  Existenz  ein  Anderes,  als  er  ist,  voraussetzen,  um  erst  durch  die- 
ses Andere  seine  Existenz  zu  begründen.  Wenn  Gott  nach  dem  Herrn 
Verf.  weder  Wissen  noch  Wollen,  weder  Bewusstseiu  noch  Geist,  weder 
ein  für  sich  existirendei,  wissendes  und  wollendes  Wesen,  noch  ein  Sub- 

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Biedermann  i  Jungbegel'scho  Weltanschauung,  407 

jekt,  noch  eine  Persönlichkeit  ist,  was  ist  er  dann?  Er  kann,  wen u  der 
Verf.  keine  andere  Grundlage,  als  Hegel,  hat,  nichts  Anderes  sein,  all, 
das  „Seyn  und  sonst  Nichts",  oder  das,  „was  an  sich  noch  Nichts  ist, 
aber  alles  Mögliche  werden  kann."  Dass  der  Verf.  aus  seinem  Gottes* 
begriffe  „alles  Mögliche"  machen  kann,  hat  er  von  S.  51  an  in  der  De- 
duktion bewiesen,  in  welcher  er  das  Wissen  und  Wollen  in  dem  Gofc* 
tesbegriffe  in  negiren  sucht.  Es  ist  ein  Widerspruch,  Gott  zu  einem, 
absoluten  Geiste  zu  machen,  und  ihm  das  Wissen  und  Wollen  abzuspre- 
chen, ohne  welches  er  aufhört,  ein  Geist  zu  sein.  Man  darf  nicht  in  der, 
Retorte  der  Abstraktion  so  lange  Begriffe  abziehen,  bis  kein  Begriff  mehr 
übrig  geblieben  ist,  und  dieses  residuum  eines  absoluten  Nichts  zu  Gott 
machen.  Wenn  man  dies  tbut,  muss  man  wenigstens,  wie  Feuerbich, 
den  Muth  haben,  zu  sagen,  dass  man  es  zn  einem  Nichts  vergeistigt  hat, 
Man  muss  nicht  Namen,  wie  „Gott",  beibehalten,  wenn  man  den  Begriff 
Gott  aufgegeben  hat;  man  darf  dieses  aber  am  allerwenigsten  dann  thun, 
wenn  man,  wie  der  Yerf.,  sich  auf  den  Boden  „des  gläubigen,  evange-i 
tischen  Christenvolkes«  stellt,  und  sogar,  wie  der  Verf.  S.  197,  ein 
christlich  frommes  Glaubensbekenntniss  ablegt.  Hierin  liegt  die  Halbheit, 
hierin  liegt  der  Widerspruch.  Nichts  verwirrt  die  Begriffe  mehr,  als 
das  Beibehalten  von  Worten,  deren  Sinn  und  Bedeutung  man  längst  auf- 
gegeben hat,  und  mit  denen  man  einen  fremden  Sinn,  eine  fremde  Be- 
deutung verbindet,  während  die  gläubige  Masse,  mit  der  man  sich  au^ 
den  nämlichen  Boden  stellt,  damit  den  ursprünglichen,  längst  gewohnten 
Sinn  verknüpft«  >> 
Der  Herr  Verf.  wird  nicht  läugnen  wollen,  dass  Christus  und  die 
Apostel,  von  deren  Aussprüchen  „das  gläubige  evangelische  Christenvolk", 
sich  unmöglich  entfernen  kann,  so  lange  es  „gläubig"  ist,  Gott  einen, 
Geist  nennen,  der  das  Gute  weiss  und  will,  dass  sie  Gott  ein  unbeschränkt 
tes  Wissen  und  Wollen  beilegen ,  dass  sie  ihn  zu  einem  denkenden  uud 
wollenden  Subjekte  machen,  welches  zu  seiner  Existenz  nicht  die  „Gesammt- 
bei!  des  weltlichen  Daseins"  voranszusetzen  braucht,  oder  die  „äussere 
Realität  der  Welt"  zur  „natürlichen  Basis"  macht-,  er  wird  keinen  Au^ 
genblick  bestreiten  können,  dass  Christus  und  die  Apostel  Gott  als  einen 
wissenden  und  wollenden,  unbeschränkten  Geist  denken,  dem  sie  weder 
das  Bewusstsein,  noch  die  Subjektivität  streitig  machen,  dass  zu  seiner 
Existenz  kein  Anderes  vorausgesetzt  wird,  dass  im  GegentheUe  alles  An«? 
dere  erst  durch  ihn  wird,  und  in  ihm  ist.  Und  doch  sagt  der  Verfasser- 
6.  197:  „Unser  Glaube  ist  kein  anderer,  als  der  des  gläubigen  Christen- 
Volkes  evangelischer  Kirche",  und  dieser  Glaube  ist,  dass  er  nach  seinem 


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409  Biedermann!  Junghegersche  Weltanschauung. 

eigenen  Bekenntnisse,  wie  alle  andern  Christen,  ein  Glied  sei  ..an  dem 
einen  Leibe,  dessen  Haupt  Jesus  Christus  ist."  Er  nennt  die  „Seele" 
dieses  allgemeinen  christlichen  „Leibes"  den  „gottmenschlichen  Geist" 
Jesu  Christi. 

Und  ist  augenscheinlich  die  ganze  philosophische  Deduktion  des 
Gottesbegrilles ,  wie  sie  der  Verfasser  gibt,  nicht  etwa  nur  im  Wider- 
spruche mit  den  Symbolen  der  Kirche,  von  welchen  die  rationelle  oder 
philosophische  Auffassung  des  Christenthums  allerdings  abstrahiren  muss; 
nein,  im  Widerspruche  mit  der  ganzen  Anschanungs-  und  Denkweise  der 
ersten  Stifter  des  Christenthums,  insbesondere  Jesu  selbst,  den  der  Verf. 
fum  „gottmenschlicben  Haupte  des  Leibes"  macht,  zu  dem  das  „ganze 
gläubige  Christenvolk  evangelischer  Kirche"  gehört,  von  dessen  „religiö- 
sen Ueberzeugungen" ,  von  dessen  „Glauben"  der  Verf.  nicht  anweichen 
will?  In  diesem  Widerspruche  ist  der  Verf.  befangen,  und  auch  die 
geschikteste  Dialektik  ist  nicht  im  Stande,  denselben  aufzulösen.  Wir 
haben  den  Verf.  gegeB  manche  unbegründete  Vorwürfe  im  Romani- 
schen Buche  in  Schutz  genommen;  aber  diese  Vertheidigung  des  Verfs. 
ist  eher  dazu  dienlich,  die  gemachten  Vorwürfe  zu  bestätigen,  als  sie  zu 
Widerlegen.  Ich  habe  in  meiner  Anzeige  des  Rom  an  g*  sehen  Buches 
nachgewiesen,  dass  dasselbe  theilweise  Biedermann,  am  meisten  aber 
Zeller  unbegründet  zu  nahe  getreten  ist.  Die  Apologie  musste  aber 
eine  andere,  als  die  vorliegende,  sein,  um  den  Gegner  geschickt  zurück- 
zuweisen.  Wir  geben  es  gerne  zu,  dass  der  Ton  der  Ro mang' sehen 
Schrift  theilweise  „hämisch"  und  „gehässig"  wird;  aber  um  eine  In  die- 
sem Tone  theilweise  abgefasste  Schrift  gründlich  zu  wiederlegea,  bedurfte 
ei  eines  andern  Tones,  und  diesen  finden  wir  auch  in  der  vorliegen- 
den Rechtfertigungsschrift  nicht.  So  sagt  unser  Apologet  von  einem 
Witze  Romang's  S.  73:  „Und  doch  ist  es  nur  ein  Witz,  wie  man 
etwa  beim  Weinglas  einander  mit  närrischen  Consequenzcn  aus  ernsten 
Behauptungen  necken  mag.  Aber  auch  da  würde  man  einem  langweili- 
gen Gesellen,  der  nichts  wüsste,  als  immer  und  immer  wieder  nur  den 
einen  und  selben  Witz  todt  zu  reiten,  am  Ende  doch  die  Thtlre  weisen. 
S.  82  bemerkt  der  Verf.,  dass  sein  Gegner  Romang  „mit  der  Hartnäckig- 
keit des  Juden  Sbylock  an  seinem  Vorrechte  festhalte,  den  Worten 
Anderer  den  ordentlich  schlimmsten  Sinn  auspressen  zu  dürfen."  Er  wirft 
Romang  S.  94  „eine  hohle  Vorstellung",  einen  „inhaltslosen  Rahmen" 
vor,  in  dem  er  „Crethi  und  Plethi  zusammenstopfe." 

Der  Verf.  gibt  die  Existenz  einer  auf  absolute  Negation  alles  und 
jedes  religiösen  Elementes  ausgehenden  Partei  in  Deutschland  tu,  und 


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Biedermann:  Janghegefrche  Weltanschauung.  40$ 

spricht  sich  darüber  S.  94  also  aus:  „Allerdings  gibt  es  Leute  und  zwar 
namentlich  in  Deutschland  eine  Legion  (sie!),  die,  zerfallen  mit  den 
Autoritäten  des  Glanbens,  berührt  vom  Geiste  der  Neuzeit,  aber  ohne  Be- 
ruf and  Geschick,  die  geistige  Autonomie  sich  selbst  zu  erarbeiten,  sich 
vielmehr  nur  anter  eine  andere  Autorität  begeben,  die  sie  eben  so  we- 
nig  verstehen,  als  die  aufgegebene,  sich  an  die  Fersen  der  Philosophie 
anheften,  welche  im  Geruch  des  entschiedensten  Fortschrittes  steht,  ein- 
zelne negative  Sätze  von  ihr  aufschnappen  (sie!),  sich,  wenn  es  hoch 
kommt,  eine  allgemeine  Anschauungsweise  daraas  abstrahiren,  and  diese 
dann,  je  nach  sonstiger,  mehr  sinnlicher  oder  geistiger  Beschaffenheit  ihres 
Wesens,  in  materialistischer  oder  spiritnalistischer  Weise  ausfallen."  „Wer 
nun  aber  dieses  Geschlecht  bekämpfen",  fährt  der  Verf.  weiter  fort,  „seine 
Einbildung  von  Fortschritt,  Aufklärung  n.  s.  w.  in  ihrer  Leerheit  nnd  Nich- 
tigkeit blossstellen  wiH,  und  das  ist  der  praktische  Zweck  von  Romang's 
Bach  —  that  der  wohl  recht  aod  klug  daran,  wenn  er  diese  Leute  in 
ihrer  Meinung,  mit  der  Philosophie  der  Zeit  auf  einem  Boden  zn  stehen 
nnd  an  ihren  Frücbten  sich  zu  laben  (sie!),  noch  bestärkt,  indem  er 
diese  Philosophie  zu  ihnen  herabzieht,  sie  auf  gleichem  Fuss  mit  ihren 
plumpen  Vorstellungsweisen  behandelt?" 

Romang  war  also  nach  des  Verf/s  eigenem  Geständnisse  aller- 
dings zur  Abfassung  seines  Buches  gegen  diese  Partei  berechtigt-,  nur 
hätte  jener,  wie  der  Verf.  meint,  die  Ansichten  dieser  haltlosen  Partei 
nicht  mit  den  von  dem  Verf.  aufgestellten  Behauptungen  vermengen  sollen. 
Wir  haben  schon  früher  auf  das  Irrthttraliche  in  dieser  Vermengung  in 
so  fern  aufmerksam  gemacht,  als  Romang  sehr  Vieles  von  dem,  was 
er  Biedermann  zum  Vorwurfe  macht,  theils  nicht  belegt,  theils  mit 
Schriften  Anderer  belegen  will.  Aber  wir  glauben  nicht,  dass  ein« 
philosophische  Deduktion,  wie  die  in  der  Apologie  unseres  Verf/s,  ge- 
eignet sein  dürfte,  die  von  Romang  über  die  Partei  und  selbst  theil- 
weise  über  den  Apologeten  ausgesprochene  Meinung  zu  widerlegen. 
Wenn  die  einen  „plump"  aussprechen,  was  die  andern  mehr  verblümt 
thnn,  ist  da  ein  so  grosser,  ein  so  auffallender  Unterschied  zwischen  den 
Mitgliedern  der  Partei,  dass  man  wirklich  mit  dem  Verf.  behaupten  kann, 
man  habe  „das  Haltlose  plumper  Vorstellungsweisen  auf  Rechnung  der 
Philosophie  gebracht?"  (S.  95.)  Ist  das  wirklich,  wie  der  Verf.  saft, 
eine  „Prostitution  des  eigenen  wissenschaftlichen  Denkens?"  Der  Verf. 
beruft  sich  auf  seine  „freie  Theologie",  und  gesteht,  dass  er  in  diesem 
Werke  sich  „nach  der  ganzen  Tendenz  und  dem  Tone  der  Schrift  von 
Feuerbach  und  den   andern  religionsfeindlichen  Philosophen"  unter- 


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410  Biedermann:  Junghegel'schc  Weltanschauung, 


schieden  habe.  Der  Verf.  stellt  also  Feuerbach  auf  einen  andern 
philosophischen  Standpunkt;  er  macht  ihn  tu  einem  „ Religion! feind", 
Während  er  selbst  ein  ReligioosTreund,  ja  ein  Glied  des  Leibes  sein  will, 
dessen  „Seele  der  gottmenschliche  Geist  Jesu  Christi  ist. ^  Und  doch  steht 
Feuerbach  als  Philosoph  höher,  als  unser  Apologet,  weil  er  sich  Yon 
den  Terminologie  en  der  Heg  einsehen  Schule  frei  gemacht  und  offen  und 
ehrlich,  ohne  Furcht  vor  irgend  einer  Gewalt  das  «iUheilt,  was  ihm  als 
Resultat  der  Philosophie  gilt,  während  Andere  es  mit  den  Kunstwörtern 
der  Schule,  dem  grossen  Haufen  weniger  zugänglich,  ungefähr  auf  die-* 
selbe  Weise  behaupten.  Der  Verf.  sagt,  dass  er  iu  seiner  Schrift  „die 
freie  Theologie44  das  Unwahre  in  Feuerbach's  Augriff  auf  Christen- 
tum und  Religion  überhaupt  in  seiner  Haltlosigkeit  nachweisen  wollte, 
er  sagt  von  Feuerbach's  Wesen  des  Gbrislenthums ,  dass  ihn  „dieses 
vielberufune  Buch  von  Anfang  an  angewidert  habe,  und  dass  ihm  dieser 
Eindruck  geblieben  ser  ( s.  98j.  Und  doch  ist  der  Verf.  in  der  „freien 
Theologie"  nach  seinem  eigenen  Geständnisse  (S.  97)  davon  in  „seinen 
Bestimmungen  über  das  Wesen  der  Religion  ausgegangen,  dass  das  Gött- 
liche, mit  dem  der  Mensch  in  der  Religion  in  Verkehr  tritt,  in  Wahrheit 
das  allgemeine  Wesen  des  Blenschen  sei?"  Eine  Behauptung, 
die  wahrlich  nicht  weit  von  der  F e u erba ch' sehen  entfernt  liegt,  so 
•ehr  der  Verf.  versichert,  dass  ihn  das  Feuer  ba  c  IT  sehe  Buch  „jetzt 
noch  anwidre."  Der  Verf.  gesteht  S.  101  zu,  dass  er  sich  „allerdings 
einen  Theil  der  Schuld  beimessen11  müsse,  was  die  ihm  rücksichtlich  die- 
ser seiner  Behauptung  gemachten  Vorwürfe  betreffe";  „aber",  setzt  er 
ebendaselbst  bei,  „soll  es  denn  nicht  die  erste  Regel  für  die  Kritiker 
sein,  die  Worte  zunächst  in  dem  Sinne  zu  nehmen,  den  der  Autor  ihnen 
gibt?"  „Ein  Zweites",  fügt  er  noch  bei,  „ist  es  dann  erst,  zu  unter- 
suchen, ob  der  Autor  auch  ein  Recht  zu  seinem  Sprachgebrauch  hatte." 
Sowie  die  Worte  vorliegen,  müssen  sie  überall  in  dem  Sinne  genommen 
werden,  den  sie  nach  dem  allgemeinen  Spracbgebrauche  bei  allen  ver- 
nünftigen Menschen  haben.  Wenn  sie  einen  ganz  andern  Sinn  haben 
sollen,  als  sie  in  der  Sprache  selbst  führen,  so  ist  schon  von  vornherein 
dieses  der  allergrüsste  und  unverzeihlichste  Fehler  der  Wissenschaft  t  in 
den  leider  die  Philosophie  der  Hegel'scheo  Schule  sehr  oft  verfallen 
ist.  Wenn  aber  der  Verf.  diesen  Sinn  nicht  einmal  so  entwickelt,  dass 
er  als  ein  anderer  erscheint,  als  der  des  Sprachgebrauches  ist,  so  darf 
er  seinem  Gegner  in  der  Thal  keinen  Vorwurf  machen,  dass  er  ihm  zu 
nahe  getreten  sei,  oder  ihm  Unbegründetes  entgegengehalten  habe.  Das 
ist  eben  das  Vorzügliche  in  FeuerbaclTs  philosophischen  Untersnchun- 


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Biedermann:  Junghegcl'sche  Wellanschauung.  411 

gen,  daM  keine  Möglichkeit  verschiedener  Auslegung  in  der  Bestimmung 
seiner  philosophischen  Begriffe  übrig  bleib*,  ein  Vorzog,  den  alle  Gegner 
an  diesem  Philosophen  anerkennen  müssen,  während  die  auf  dem  Boden 
des  AUhegelthums  Stehenden  sich  vergebens  abquälen  nod  abmüden, 
kirchliche  Sätze,  welche  die  Schale  aufgegeben  hat,  durch  philosophische 
Terminologieen  scheinbar  zu  retten,  indem  sie  die  Worte  in  einem  an- 
dern Sinne  nehmen,  als  ihnen  die  Sprache  gibt.  ,    ..   ♦        t  , 

Mit  Worten  lüsst  sich  leichtüch  streiten,  . 

Mit  Worten  ein  System  bereiten, 

An  Worte  lüsst  sich  trefflich  glauben, 

Von  Worten  lässt  sich  kein  Jota  rauben ! 
Was  der  Verf.  frtther  unterlassen  trat,  sucht  er  nun  in  der  vorlie- 
genden Schrift  gegen  Botnang  näher  zu  begründen,  das*  er  die  Be- 
hauptung „dos  Göttliche  ist  das  allgemeine  Wesen  des  Menschen"  in  ei- 
nem andern  Sinne,  all  in  dem  Fe  u  erb  n  c  IT  sehen,  genommen  habe.'  ff 
Der  Verf.  nennt  das  FeuerbacITsche  Bach  ein  „geistlose*«  und 
„schlechtes*  (S.  99);  er  sagt,  dass  Feuerbach  das  Becht,  das  „Gött- 
liche in  den  Umkreis  des  menschlichen  Wesens  hereinzuziehen1'  in  „ganz 
unverantwortlicher  Weise  missbraucht  habe"  (siel).  Der  Verf.  will  sich 
?on  Feuerbach  dadurch  unterscheiden,  dass,  während  nach  Feuer- 
bach der  Menschengeist  selbst  Gott  sein  soll,  nach  ihm  das  allgemeine  We- 
sen des  Menschen  „das  Absolute"  ist.  Allerdings  erscheint  auf  diese 
Weise  die  Behauptung  des  Verf/s  als  eine  andere.  Was  er  aber  unter 
seinem  Absoluten  versteht,  haben  wir  oben  gezeigt.  Es  ist  ihm  weder 
Geist,  noch  ein  wissendes  und  wollendes  Wesen ,  noch  ein  Subjekt,  noch 
eine  Persönlichkeit.  Da  der  Verf.  sich  nun  mit  dem  „gläubigen  evan- 
gelischen Christen volke tt  auf  denselben  Boden  stellen  will,  so  Wird  von 
diesem  Standpunkte  die  Feuerbacn' sehe  Behauptung  und  diese  Anschau- 
ung so  ziemlich  die  gleiche  Bedeutung  haben,  da  weder  die  eine,  noch 
die  andere  der  Ansichten  selbst  auch  nur  der  des  Urchristentums  ge- 
nügen kann.  \  *  i 
Von  dem  Absoluten  sagt  der  Verfasser  gegen  Roroang  S.  189: 
„Bxistirender  Geist  ist  das  Absolute  allerdings  nicht11,  und  sucht  diese 
Behauptung  damit  zu  rechtfertigen,  dass  er  beifügt:  „Aua  dem  ei  ufachen 
Grunde,  weil  die  Existenz  zeitlich  -  räumliches ,  beschränktes  Dasein  ist, 
nnd  ein  solches  nur  die  auf  sich  selbst  leicht  reflektirende  Vorstellung  dem 
Göttlichen  zuschreiben  kann.u  Aber  es  ist  ein  grosser  Unterschied  zwischen 
Existenz  nnd  Scyn  oder  Existiren  und  Daseyn.  So  wenig  Seyn  und  Daseyn 
dasselbe  sind ,  so  wenig  kann  man  Existenz  und  Daseyn  als  dasselbe  be- 
zeichaen.  Der  Verf.  kann  seine  „zeitlich-räumliche  Beschränktheit44  nur  auf 


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412  Biedermann:  Junghegeftche  Weltanschauung. 

•         •  •       |  •  •  • 

das  Daseyn  als  ein  vorübergehendes  Moment  des  Seyos,  nicht  aber  auf 
das  Seyn  an  und  für  sich  beziehen.  Man  spricht  auch  darum  nur  von 
der  Existenz,  nicht  aber  vom  Daseyn  Gottes.  Wenn  das  Absolute,  wie 
der  Verf.  will,  „geistig"  aufgefasst  werden  soll,  und  doch  nach  ihm  ..kein 
existirender  Geist"  sein  darf,  so  bleibt  nichts  Anderes  übrig,  als  das  Ab- 
solute als  „  einen  nicht  existirenden  Geist "  zu  betrachten.  Dass  ei- 
nem solchen  „Wissen«  und  „Wollen*  abzusprechen  ist,  ist  leicht  er- 
sichtlich, aber  nicht  so  leicht,  was  mit  einem  Geiste  anzufangen  sei,  der 
nicht  exislirt,  und  weder  Wissen  noch  Wollen  hat,  dabei  aber  doch  Gott 
und  zwar  im  Sinne  „des  gläubigen  evangelischen  Christenvolkes u  sein  soll. 
Man  verdankt  es  vorzüglich  Feuerbach,  so  wenig  wir  sonst  mit  der 
religiösen  Anschauungsweise  dieses  Denkers  einverstanden  sind,  dass  der 
früher  so  hoch  gestellte  Werth  der  Heg  er  scheu  Terminologieen ,  in 
welchen  unser  Verf.  sich  beinahe  abschliessend  bewegt,  in  unserer  Zeit 
bedeutend  gesunken  ist.  Seit  der  Kern  dieser  Kunstausdrucke  auch  dem 
grössern  Publikum  in  der  Auslegung  und  den  logiseben  Consequenzeo  der 
Jung  heg  ersehen  Schule  nakt  enthüllt  worden  ist,  bat  Heg  er  s  Re- 
ligionsphilosophie aufgehört,  das  Evangelium  der  Orthodoxen  und  der  My- 
stiker zn  sein.  „Wirkliches  Wissen  und  Wollen",  fährt  der  Verf.  fort, 
„nämlich  Beides,  wie  wir  es  am  existirenden  Menschengeiste  kennen, 
schreiben  wir  der  absoluten  Substanz  auch  nicht  zu;  das  ist  wahr,  und 
zwar  aus  demselben  Grund,  weil  zu  Wissen  und  Wollen  als  wesentliches 
Moment  eine  in  Zeit  und  Raum  endliche  Existenzbasis  des  Geistes  gehört.« , 
Wir  kennen  allerdings  empirisch  das  Wissen  und  Wollen  nur  in  unsern 
und  in  andern  existirenden  Menschengeistern;  aber  wir  stellen  unserm 
eigenen  Geiste  das  Ideal  des  unendlichen  Geistes,  unserm  beschränkten, 
endlichen,  unvollkommenen  Wissen  und  Wollen  das  Ideal  eioea  unbe- 
schränkten, unendlichen,  vollkommenen  Wissens  und  Wollens,  eines  voll- 
kommen wissenden  und  wollenden  Wesens  entgegen,  nnd  so  entsteht  in 
uns  selbst,  also  auf  anthropologischem  Wege  der  Gottheitsbegriff  als 
nnser  Ideal.  Folgt  aber  daraus,  dass  Gott  uns  als  Ideal  erscheint,  not- 
wendig, dass  dieses  Ideal  keine  Realität  hat?  Der  Verf.  spricht  zuerst 
davon,  dass  Gott  (S.  139)  „allerdings  nicht  existirender  Geist u  sei. 
Plötzlich  verwandelt  er  einige  Zeilen  weiter  unten  diesen  existirenden 
Geist  in  einen  existirenden  Menschengeist,  und  wenn  er  die  Behauptung 
aufstellt,  dass  Gott  Gott  im  christlich  religiösen  Sinne  und  doch  kein  exi- 
stirender Geist  sei,  so  müssen  wir  allerdings  unser  Bedenken  gegen  die 
Unvereinbarkeit  dieser  entgegengesetzten  Doppelansicht  erheben,  werden 
ihr  aber  augenblicklich  beistimmen,  wenn  er  nach  der  Umwandlung  des 


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Biedermann:  Junebecersche  Weltanschauung.  413 

existirenden  Geistes  io  einen  existirenden  Menschengeist  zu  der  Ansicht 
übergeht,  dass  Gott  kein  existirender  Menschengeist  sei.  Man  wird  aber 
Wohl  daraus,  dass  Gott  kein  existirender  Menschengeist  sei,  unmöglich  die 
von  dem  Verf.  aufgestellte  Meinung  folgern  wollen,  dass  Gott  nicht  all 
„existirender  Geist"  aufgefasst  werden  dürfe.  Der  Yerf.  spricht  Gott  das 
„Wissen"  und  „Wollen"  ab,  weil  zu  beiden  „als  wesentliches  Moment 
eine  in  Zeit  und  Raum  endliche  Existenzbasis  des  Geistes"  gehöre.  Wir 
geben  gerne  zu,  dass  zum  endlichen  Wissen  und  Wollen  eine  endliche 
Existeuzbasis  gehört,  und  dass  «in  Geist,  der  nicht  existirt,  auch  nicht 
wissen  und  nicht  wollen  kann;  aber  bei  einem  unendlichen  Geiste  wird 
die  Existenzbasis  eine  unendliche  sein  müssen,  da  sein  Wissen  und  Wol- 
len nur  als  ein  unendliches  aufgefasst  werden  kann.  Die  endliche  Exi- 
stenzbasis findet  daher  bei  dem  Wissen  und  Wollen  des  Göttlichen  keine 
Anwendung.  Der  Verf.  sagt  sich  S.  161  vom  „materialistischen  Panthe- 
ismusu  oder  „Atheismus"  los,  und  nennt  dennoch  sein  System  die  „juug- 
hegel'scbe  Weltanscbauung.u  Seine  Anschauungsweise  geht  aber  mehr 
wieder  zur  althegeTschen  Schule  zurück,  da  er  durch  Dialektik  und 
Anwendung  der  philosophischen  Kunstwörter  der  Schule  die  theologischen 
Begriffe  festhalten  will,  diesen  aber,  wie  seither  gezeigt  wurde,  eiuen 
andern  Sinn  unterlegt.  Ein  Hauptvorwurf ,  der  von  theologischer  Seite 
der  Weltanschauung  des  Junghegelthums  gemacht  wnrde,  ist  die 
schon  1833  in  den  Schriften  des  Dr.  Friedrich  Richter  von  Mag- 
deburg in  populärer  Form  ausgesprochene,  entschiedene  Bekämpfung  des 

Unsterblichkeitsglaubens,  welcher  als  ein  wesentlicher  Bestandteil  des 

*•  •  » 

urchristlichen  Lehrbegriffes  bezeichnet  werden  muss. 

Der  Verf.  behandelt  darum  von  S.  164  an  diesen  Gegenstand  in 
einem  besondern  Abschnitte  unter  der  Aufschrift:  „Das  ewige  Leben." 

Auch  in  diesem  Abschnitte  finden  wir  ganz  denselben  Charakter, 
wie  wir  ihn  in  den  übrigen  Abschnitten  des  vorliegenden  Buches  ge- 

■ 

funden  haben.  Der  Verf.  will  nicht  auf  der  gleichen  Stufe  mit  der  ab- 
soluten Verneinung  der  Junghegelianer  stehen ;  seine  junghege  I- 
*sche  Weltanschauung  soll  eine  „durchaus  christliche"  sein,  und  doch 
sagt  er  zuletzt  dasselbe  in  HegePschen  Kunstterminologieen  über  diesen 
Gegenstand,  was  andere  Junghegelianer,  wie  Richter,  Feuerbach, 
Bruno  Bauer  u.  s.  w.  ohne  jene  Kunst  ausdrücke  oQener  gesagt  haben. 

Er  zeigt  vorerst  eine  grosse,  religiöse  Begeisterung  für  das  „ewige 
Leben."  „Das  Ziel  des  Menschen  und  seine  absolute  Hoffnung,  sagt  der 
Verf.  S.  164,  ist  das  ewige  Leben,  das  Erlangen  desselben  das  Endziel 
des  Glaubens.   Wer  das  ewige  Leben  lüugnet,  der  hebt  die  Religion  auf, 


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414  Biedermann:  Junghegeracbe  Wellanschauung. 

wie,  wer  Gott  leugnet.  Mit  Gott  nimmt  er  dem  Menschen  den  Anfang 
und  Aasgang,  mit  dem  ewigen  Leben  das  Endziel  der  Religion.  Der 
Verf.  ereifert  sich  gegen  R  o  m  a  n  g ,  dass  er  von  dem  letztern  in  Betreff 
dieses  wichtigen  Punktes  nicht  verstanden  worden  sei.  „Ist  Dicht u,  ruft 
er  S.  167  ans,  „die  Tiote  in  der  Feder  des  Philosophen  erröthet  beim 
Niederschreiben  dieser  geistlosen  (sie!)  Ausführung ?u  Der  Verf.  klagt 
Dhmlich  darüber,  dass  er  von  seinem  Gegner  nicht  verstanden  worden 
sei,  wenn  dieser  ihm  vorwarf,  „der  Einzelgeist  als  solcher  wäre  nach 
des  Verf.'s  System  nur  verschwindendes  Moment;  nur  vermöge  er  sich 
zum  Bewusstsein  des  Ewigen  zu  erheben  und  im  Augenblick  dessen  zeit« 
liebes  Gesammtieben  mit  zu  leben.*  In  seiner  Rechtfertigung  sagt  aber 
der  Verf.  wirklich  nur  das  mit  andern  Worten,  in  den  Kunstausdrücken 
der  Schule,  was  ihm  sein  Gegner  zum  Vorwurfe  gemacht  hat.  Wir  lesen 
S.  169  unseres  Buches:  „Ewiges  Leben  ist  nichts  anderes,  als  Leben, 

• 

äusseres  Dasein,  das  mit  dem  Allgemeinen,  Ewigen,  Ideellen,  dessen  Er- 
scheinung es  ist,  in  Einheit  und  so  dessen  zeitlich  einzelne  Wirklichkeit 
ist."  „Wer  nuntt,  fügt  er  bei,  „den  Werth  des  Menschenlebens  nur 
darnach  misst,  ob  und  wie  weit  er  in  einer  solchen  Lebensgemeinschaft 
mit  dem  Ewigen  stehttf, . . .  „der  glaubt  christlich  an  das  ewige  Leben. u 
„Das  concrete  Sein  in  dem  ewigen  Gott  ist  für  den  endlichen  Geist  das 
ewige,  selige  Leben«*  (S.  170).  Sein  ewiges  Leben  ist  keine  Fortdauer 
der  Seele  nach  dem  Tode  mit  Fortdauer  des  persönlichen  Bewusstseins; 
es  ist  ein  ewiges  Leben  in  diesem  zeitlichen  Leben,  eine  Rückkehr  zum 
Absoluten.  Dieses  ewige  Leben  ist  nach  ihm  „die  absolute  Hoffnung  des 
Menschen"  und  „das  Endziel  der  Religion"  (S.  172).  Wie  stark  diese 
Hoffnung  seyn  mag,  geht  daraus  hervor,  dass  nach  des  Verf/s  Deduktion 
es  zum  Wesen  des  Absoluten  gehört,  kein  existirender  Geist,  kein  wis- 
sendes und  wollendes  Wesen  zu  sein.  Was  soll  aus  der  armen  „Un- 
sterblichkeit" werden,  wenn  der  Mensch  mit  einem  weder  existirenden, 
noch  Wissenden,  noch  wollenden  Wesen  Eines  wird?  Wie  der  Verf. 
Über  die  Unsterblichkeit  der  Seele  denkt,  und  wie  wenig  diese  mit  den 
Ansichten  des  „gläubigen  evangelischen  Christcnvolkcs  "  übereinstimmt, 
mit  dem  der  Verf.  als  Glied  su  „  einem  Leibe "  gehören  will ,  dessen 
„Haupt  Christus"  ist,  geht  aus  seinen  Aeusserungen  über  den  „Unsterb- 
lichkeitsglauben" von  S.  174  an  hervor. 

f  "  „Der  Mensch  ist  sterblich,  sagt  er  daselbst,  aber  seine  Seele?  Da 
liegt's.  Man  nimmt  die  Seele  für  ein  besonderes,  im  Unterschied  von 
der  leiblichen  Existenz  des  Menschen  noch  fUr  sich  existirendes  X,  Ober 
dessen  Existenz  das  Schicksal  und  Aufboren  der  leibhaften  Existenz  des 


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Biedermann;  Junghcgcl'scbo  Weltanschauung. 


Menschen  noch  nicht  so  anmittelbar  entscheidet.  Das  ist  aber  eine  in 
Beziehung  auf  die  Seele  abstrakt  materialistische,  in  Beziehung  auf  den 
ganzen  Menschen  dualistische  Vorstellung."  Wie  man  die  Ansicht,  welche 
die  Seele  als  ein  „besonderes,  von  der  leiblichen  Existenz  des  Menschen 
unterschiedenes  Wesen"  annimmt,  in  „Beziehung  auf  die  Seele u  eine 
-materialistische"  nennen  kann,  ist  nicht  wohl  einzusehen,  wohl  aber,  wie 
man  sie  dualistisch  nennen  kann.  Dass  aber  diese  „  dualistische u,  oder 
vielmehr  ideelle  Ansicht  von  der  Seele  im  Gegensatze  gegen  daa  ma- 
len eile  Dasein  des  Leibes  „die  urchristliche"  ist,  und  dass  also  des  Verf. 
Philosophie  mit  der  christlichen  Anschauungsweise  in  Conflikt  kommt,  (euch-* 
tet  von  selbst  ein. 

„Von  dieser  Vorstellung  aus",  führt  der  Verf.  S.  174  fort,  „welch* 
neben  der  leiblichen  Existenz  des  Menschen  seiner  Seele,  die  doch  nichts 
Anderes,  als  dos  seiner  einzigen  Existenz  zu  Grunde  liegende,  geistige 
Wesen  ist,  selbst  noch  eine  besondere  Existenz  für  sich  zu- 
schreibt, kann  man  nun  allerdings  ins  Blaue  (sie!}  weiter  fragen:  Wie 
lange  wird  sie  wohl  nach  der  aufgelösten  Verbindung  mit  dem  Leibe 
fortexistiren  ?    Hat  sie  nicht  vielleicht  schon  vor  dieser  Verbindung  exi- 

stirt?*   „So  kann  man  ins  Blaue  hinaus  (sie!}  von  Präexistens 

und  Fortdauer  nach  dem  Tode,  von  einer  Fortführung  der  Seele  von 
andern  zu  andern  Daseinsw eisen  während  Weltaltern,  ja  wahrend  aller 
Zeit,  phantasiren  (sie!}  und  demonstriren."  Wenn  wir  aber  von  dem 
Dasein  nach  dem  Tode  so  wenig  haben  sollen,  als  von  dem  nach  einer 
„nicht  so  geringschätzig  abzuweisenden  Vorstellung  vorausgesetzten,  vor- 
irdiseben  Dasein,  so  kommt  das  Ganze  ziemlich  misslich  für  uns  heraus." 
„Denn",  sagt  der  Verf.  „nicht  das  concreto,  bestimmte  Ich",  sondern  daa 
„einfache  Seelending  (sie!}  ohne  Continuität  des  Bewusstseinsu  mtisste 
vorher  dagewesen  sein  (S.  175}.  Man  kommt  also  nach  des  Verf.'s  ei- 
genem Geständnisse  mit  der  Unsterblichkeit  „ohne  Continuität  des  Bewußt- 
seins" schlecht  weg;  eine  solche  Unsterblichkeit  sieht  nach  seinen  eige- 
nen Worten  „misslich"  aus.  Der  Verf.  sagt  S.  176,  dass  die  Unsterb- 
lichkeitsfrage „keine  Sache  mtissiger  Neugierde,  sondern  ein  Gegenstand 
des  tiefsten,  heiligsten  Interesses  sei."  Diese  Unsterblichkeit  ist  ihm 
aber  nichts  Anderes,  als  sein  oben  entwickeltes  „concretes  Selbstbewusst- 
sein  des  ewigen  Lebens"  (nicht  ein  Selbstbewusstsein  nach  dem  Tode, 
sondern  in  diesem  Leben,  das  eben  dadurch  ein  ewiges  Leben  wird}. 
Von  einer  „Continuität  des  ßewusstseins"  nach  dem  Tode  ist  in  diesem 
sogenannten,  ewigen  Leben,  das  nach  des  Verf.'s  Ausdrucke  die  „absolnte 
Hoffnung  des  Menschen41  ist,  gar  keine  Bede.  Der  Glaube  „an  diese 
Ewigkeit",  wie  sie  der  Verf.  nennt,  muss  bei  den  Menschen,  wie  er  sagt, 
„immer  durch  die  Vorstellung  der  Unsterblichkeit  hindurch."  Bei  „denen,' 
welche  nicht  zum  philosophischen  Denken  kommen  (sie!},  wird  diese 
Vorstellung  im  Allgemeinen  auch  das  Medium  bleiben,  durch  das  sie  sich 
das  Selbstbewusstsein  der  Ewigkeit  vermitteln,  die  Form,  in  der  sie  an 
die  Ewigkeit  glauben."  Nur  sollen  sich  diese,  welche  das  „philosophische 
Denken  nicht  haben",  in  diese  Vorstellung  des  Unstcrblicbkeitsglaubena 
»nicht  ao  verbeissen",  dass  sie  „sich  selbst  überreden,  dass  alle  höchsten 


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416  Biedermann:  Junghegel'scbe  Weltanschauung. 

und  beiligsten  Interessen  des  Menseben  in  Frage  gestellt,  ja  verneint  wür- 
den durch  die  Verneinung  jener  Vorstellung.11  Es  ist  hier  nicht  davon  die 
Rede,  wozu  sich  die  Menschen  überreden,  sondern  davon,  dass  gerade 
diese  und  keine  andere  Vorstellung  die  Vorstellung  des  Christenthums  von 
der  Unsterblichkeit  ist,  welche  der  Verf.  als  eine  Ansicht  von  Menschen 
bezeichnet,  die  kein  philosophisches  Denken  haben.  Jedenfalls  wird  uns 
der  Verf.  zugestehen,  dass  ein  Jeder  die  Unsterblichkeit  „mit  Continnität 
des  Bewusstseius "  nach  dem  Tode  uubedenklich  dem  „ ewigen  Leben" 
vorziehen  wird,  das  nach  dem  Verf.  nichts  Anderes  ist,  als  ein  Bewusst- 
sein des  Ewigen  in  diesem  Leben  oder  eine  Rückkehr  zum  Absoluten, 
das  weder  existirender  Geist  ist,  noch  Wissen  oder  Wollen  bat.  Wir 
gehen  darum  nicht  recht  ein,  warum  der  Verfasser  gegen  den  „materia- 
listischen Unglauben tf  rücksichtlich  der  Unsterblichkeitsfrage  so  eifrig 
S.  177  und  178  zu  Felde  zieht,  da  es  zuletzt  ganz  gleich  ist,  ob  man 
den  Geist,  von  dessen  „ewigem  Leben"  man  spricht,  in  der  Materie  oder 
in  einem  allgemeinen,  abstrakt  geistigen  Wesen  ohne  Bewusstsein  ab- 
sterben lasst.  Nicht  das  Bewusstsein  des  ewigen  Lebens  in  diesem  Leben 
ist  die  Unsterblichkeit  im  Sinne  des  Christenthums  (und  von  diesem  will 
ja  der  Verf.  nicht  abweichen),  sondern  die  „Continuitat  des  Bewusstseins" 
nach  dem  Tode. 

Wir  haben  diese  Bemerkungen  vorzugsweise  dcsshalb  gemacht, 
weil  der  von  Romang  angegriffene  Verf.  sich  auf  den  Standpunkt  des 
„gläubigen"  Christenthums  stellt,  und  dieses  dennoch  mit  dem  Hegel- 
thume  auf  eine  Weise  amalgamirt,  dass  seine  Ansichten  wohl  allerdings 
vom  Standpunkte  des  He  geloschen  Systems  als  consequente  Folgerun- 
gen, nicht  aber,  wie  der  Verf.  selbst  will,  als  „ christliche d  Ansichten  be- 
zeichnet werden  können. 

Wir  stimmen  übrigens  gerne  demjenigen  bei,  was  der  Verf.  gegen 
die  unbegründeten,  politischen  Verdächtigungen  in  der  Roman g' sehen 
Schrift  S.  186  ff.  anführt. 

Wenn  Referent  auch  dem  Verf.  rüeksichtlich  seiner  Identificirnng 
des  Christenthums  und  Junghegelthums  nicht  beitreten  and 
das  Junghegelthum  nicht  als  christlich  und  das  Christenthum  nicht 
als  hegelisch  bezeichnen  kann,  so  stimmt  er  doch  ganz  und  gar  den  Schluss- 
worten des  Buches  (S.  207)  bei:  „Mag  es  auch  bei  der  freiem  Debatte 
mitunter  scharf  hergeben,  und  oft  das  Gemeinschaftliche  hinter  dem  Tren- 
nenden zurücktreten,  ja  von  demselben  ganz  verschluugen  zu  werden 
drohen:  so  kann  dennoch,  wenn  beide  Parteien  nur  in  gleichem  Wahr- 
heitssinn und  auch  darin  sich  begegnen,  dass  sie  denselben  im  Gegner 
nicht  verkennen,  eine  tiefere  Einigung  aus  ihr  hervorgehen,  in  welcher 
beide  Theüe  und  die  gemeinsame  Sache  wahrhaft  gefördert  sind." 

■ 


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Ir.  27.  HEIDELBERGER  1851. 

JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR 

.  » 

r 

Die  Grundlagen  des  gemeinen  deutschen  Hechts  ton  Dr.  T.  Bracken- 
hoeft.  Erste  Lieferung ,  enthaltend  die  allgemeinen  Grundlagen 
und  die  geschichtlichen  Grundlagen  der  ältern  Zeit.  Würzburg. 
Stahersche  Buchhandlung.  1851.  IV  und  138  S.  8. 

■ 

• 

Die  Eigentümlichkeit  der  germanischen  Rocbtsanscbauung,  die  ihr 
üb  Gegensätze  zur  römischen  beiwohnt,  in  einer  Darstellung  des  quellen- 
mässigen  Stoffes  auszuprägen,  ist  der  Zweck  dieser  Arbeil.  Sie  stellt  die 
eigentümlich  deutsche  Rechtsorganisalion  als  das  Gebiet  von  (gerantirten) 
Zuständen  dar,  welche  Mittel  für  Sonderzwecke  gestalten,  nnd  eine  Ge- 
nossenschaft der  Substanz,  welche  diese  Mittel  biedet,  Übrig  lassen.  Nach 
ihr  ist  der  wissenschaftliche  Begriff  des  reinen  Rechtsverhältnisses,  bezie- 
hungsweise des  PAichlverliälluisses ,  sowohl  des  privaten  als  dea  Öffentli- 
chen, in  dieser  naturwüchsigen  oder  geschichlwUchsigen  Organisation  nicht 
ausgebildet.  —  Ihre  Erkenotniss  erfordert  daher  eine  besondere  wissen- 
schaftliche Conslruktion  ihres  Elements,  des  Zustandes,  der  sich  als  eine 
historisch  entstandene  Vorstellung  darstellt,  welche  durch  eine  Gewerung 
(Garantie}  zur  Herrschaft  gelangt  ist.    Der  Verf.  erlaubt  sich  seine  An- 
sicht von  der  Bedeutsamkeit  dieses  Begriffes  hier  auszusprechen.  Ihm  er- 
scheint ein  wissenschaftlicher  Begriff  des  Zustandes,  als  einer  Mittelgestal- 
tung zwischen  dem  privaten  und  Öffentlichen  Rechtsverhältnisse,  beziehungs- 
weise Pflichtverhaltnisse,  nicht  bloss  fUr  die  Erkenntniss  ehemaliger  Or- 
ganisationen, als  Wurzeln  der  heutigen,  sondern  auch  für  die  unmittelbare 
Erkenntniss  des  beutigen  Rechtszustandes  von  Bedeutung.    Denn  so  lange 
nicht  die  obrigkeitliche  Macht  von  blossen  (verantwortlichen)  Magistraten 
getragen,  und  so  lange  nicht  der  Rechtsstreit  auf  die  Bedeutung  einer 
bloss  ephemeren  Erscheinung  zurückgeführt  ist,  wird  das  publicistische  Ge- 
biet und  das  Gebiet  der  prozessualischen  Thätigkeit  immer  das  der  Zu- 
stande sein.    Beide  Gebiete  sind  Extremitäten  des  Recbtsorganismus ,  die 
nicht  leicht  zu  einer  solchen  Ausbildung  gelangen  werden,  dass  jenea  von 
rein  rationellen  Rechtsbegriffen  beherrscht  würde,  nnd  dieses  keiner  Ent- 
wicklung von  Zustanden  bedürfte,  um  zu  der  zur  Anwendung  des  rich- 
terlichen Zwanges  erforderlichen  Gewissheit  zu  fuhren.    Der  Begriff  dea 
Zustandes  wird  also  noch  lange  praktisch  bleiben.    So  wie  sich  das  Ge- 
biet dea  Publicistischen  heutzutage  von  der  geschichtlichen  Entwicklung 
XUV.  Jahrg.  3.  Doppclheft,  27 


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418         Brackenhoeft :  Grundlagen  des  gemeinen  deutschen  Rechts. 

von  Zuständen,  die  bald  sieht,  bald  in  Bewegung  ist,  eingenommen  findet; 
10  ist  dasselbe  in  Ansehung  des  Gebietes  der  prozessualischen  Thutigkeit 
der  Fall,  so  lange  es  nicht  gelingt,  Entstehung  und  Entscheidung  des 
Prezesses  ohne  vermittelnde  Fiktionen  in  einen  und  denselben  Zeitpunkt  zn 
bannen,  sondern  man  genöthigt  ist,  in  der  Entwickelung  des  prozessualischen 
Stoffes  Stadien  hervortreten  zu  lassen,  in  denen  sich  Zustände  als  Mittel 
der  Entwickelung  gestalten,  z.  B.  der  Zustand  der  Präclusion.  Und  auch 
wenn  eine  Organisation  entstehen  sollte,  die  den  Begriff  des  Zustandes 
für  die  unmittelbare  Anwendung  bedeutungslos  machte,  so  würde  doch 
immer  das  Dasein  der  obrigkeitlichen  Macht,  das  Dasein  des  Prozessinsti- 
tuts, von  Zuständen  getragen  werden  müssen ;  ja,  es  wird  in  einem  Kechts- 
zustande,  der  eine  historische  Entwickelung  unter  sich  hat,  nicht  leicht 
fehlen,  dass  das  Dasein  eines  Bechtsgegenstandes ,  z.  B.  ein  Nutzen  einer 
Substanz  getrennt  von  dieser  als  Gegenstand  einer  Servitut,  eben  nur 
durch  diesen  positiven  Bechtszustand  getragen  wird.  Die  Erkenntnis»  des 
Unterschiedes  zwischen  dem  reinen  abgeschlossenen  Rechtsverhältnisse,  be- 
ziehungsweise dem  Pflichtverhüttnisse  ,  erscheint  demnach  atf  unentbehrli- 
cher Schlüssel  zur  Erkenntniss  jeder  Rechtsorganisatbo.  Der  hier  ange- 
kündigte Versuch  einer  Ausführung  dieser  Anschauung  an  dem  Stoffe  des 
deutschen  Rechts,  bat  zunächst  in  einer  Einleitung  die  Orientirung  in  dem 
Geiste  jener  Anschauung  zu  vermitteln  gesucht,  im  ersten  Abschnitte  die 
Begriffe  des  Rechts  und  seiner  Quellen  in  ihren  verschiedenen  Gestaltan- 
gen, und  der  deutschen  Arten  derselben,  entwickelt  und  bebandelt  in 
zweiten  Abschnitte  den  historischen  Stoff  der  altern  Zeit  von  diesem  Stand- 
punkte aus.  Der  Verf.  darf  es  seinen  Kräften  nicht  zutrauen,  dass  diese 
Ausführung  frei  von  Mängeln  geblieben  ist.  Allein  er  hofft,  dass  das 
Aofdecken  ihrer  Mängel  durch  unbefangene  Prüfung  anderer  die  gegebene 
Anschauung  um  so  fruchtbarer  für  die  Wissenschaft  machen  wird.  Der 
Verf.  hat  sich  bestrebt,  in  Einfachheit  und  Kürze  den  Stoff  in  dem  Um- 
fange darzulegen,  wie  der  Zweck  eines  Lehrbuches  es  fordert,  um  das 
Buch  zu  diesem  Zwecke  geeignet  zu  machen.  Brackenhoeft. 

■ 

 _ 

Die  Bürgschaft  nach  gemeinem  (Zivilrecht,  historisch-dogmatisch  darge- 
i     .sUsUl  um  Dr.  Wilhelm  Girtanner,  Professor  des  Rechts  an 
m.  *   Ä  tf^f*  fJft$s?&r&%t&t  fttf  i/^/iö.    I»  Historische  j\ht fi£t l uii *  IirfsißS  t$acf\m 
das  römische  Recht.    Zweites  Buch:  Dogmengeschichte  des  MU- 
telalters  und  der  neueren  Zeit.    Zusammen:  S.  314.    Jena  bei 
Karl  Hochhausen.  1850. 

»    *    f  4 

Es  ist  diess  ein  interessantes  Werk,  welches  schon  jetzt  vor  seiner 
Vollendung  der  Aufmerksamkeit  der  Juristen  empfohlen  zu  werden  ver- 


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uirtanner.  uie  Durgvcnnii  nncn  gemeinem  i/iYurecn«.  vi ~ 


dient.    Auch  zeugt  dasselbe  von  soviel  Ffeiss  und  Gründlichkeit,  dass  sich 
die  Kritik  aofgefordert  fühlen  musi,  diejenigen  Bemerkungen  nicht  zu  ver*' 
schieben,  ron  denen  der  Herr  Verfasser  bei  Bearbeitung  det  letzten 
and  Hanpttheils  seines  Bncbs  vielleicht  noch  irgend  einen  Nutzen  zie- 
hen konnte. 

Von  den  beiden  vorliegenden  Bändeben  nämlich  nmfasst  dos  erste 
die  Entwicklung  der  Bürgschaft  bei  den  Römern,  das  zweite  die  GeictrfcWa 
der  tfauptdogmen  im  Mittelalter  und  der  neuern  Zeit,  der  dritte  Band  soll 
die  systematische  Darstellung  des  praktischen  gemeinen  Rechts  der  Bürg- 
schaft bringen.    Hier  können  wir  nun  ein  Bedenken  Über  die  Anordnung 
des  Stoffs  nicht  unterdrücken.    So  viel  leuchtet  um  ein,  dasi  die  Ge-*' 
schichte  der  Bürgschaft  bei  den  Römern  abgesondert  vorweg  behandelt 
werden  musste.    Denn  unsre  heutige  Bürgschaft  hat  zu  ihrer  Grundlage 
die  G  es  a  m  ml  ent  Wicklung  der  Bürgschaft  bei  den  Römern  und  setzt  also 
die  ganze  Darstellung  dieser  in  ihren  Hauptmomenten  voraus.  Älterdings1 
hat  nun  die  Bürgschaft  in  ihrer  jnstinianeisthen  Gestalt  noch  seit  den/ 
Glossatoren  eine  Fortbildung  erfahren,  indess  war  diese  doch  nicht  so" 
durchgreifender  Natur,  dass  sie  eine  von  der  Lehre  des  geltenden  Rechts 
abgesonderte  geschichtliche  Darstellung  forderte.  Nun  aber  gar  eine  blosse 
Geschiebte  einzelner  Hauptdogmen  seit  dem  Mittelalter  der  eigentlich  dog- 
matischen Darstellung  voranzuschicken,  scheint  uns  durchaus  unangemessen/ 
Denn  einerseits  gibt  solche  noch  nicht  einmal  die  Geschichte  des  Instituts 
selbst,  sondern  nur  einen  Theil  des  Materials  dazu,  anderseits  gibt' 
es  gar  keinen  Grund,  eine  abgesonderte  Geschichte  einzelner  Controversen 
der  systematischen  Darlegung  des  heutigen  Rechts  vorangehen  zu  lassen. 
80  steht  denn  dös  zweite  Bändchen  des  Werks,  obgleich  dasselbe  in  an- 
derer Hinsicht,  wie  wir  sehen  werden,  besonders  verdienstlich  ist,  als  eine 
gewiss  er  ma  ss  cn  fragmentarische  Sammlung  von  Materialien  da,  die  erst  im 
dritten  Bande  gehörig  verwerthet  werden  sollen,  woraus  denn  wohl  Wie-* 
derholungen  nnd  unbequeme  Rückverweisungen  entspringen  werden. 

Soviel  vom  Plan  des  Ganzen.  Gehen  wir  nun  auf  den  Inhalt  der 
vorliegenden  Bündchen  etwas  naher  ein,  so  beabsichtigen  wir  dabei  we- 
niger eine  Kritik  von  Einzelnheilen,  als  Hervorhebung  des  Neuen  und  Ei- 
genthomlicben. 

Im  ersten  Bandchen  werden  die  Besonderheilen  der  Verbürgung 
durch  Sponiio  mittelst  einer  Hypothese  Ober  die  Geschichte  der  Slipula- 
lionsform  zu  erklüren  versucht ,  wornach  die  Sponsio  ursprünglich  aus- 
schliessliche Anwendung  im  Prozess  gefunden  und  hier  zuerst  ihren  reli- 
giösen mit  dem  weltlichen  Charakter  vertauscht  habe.    Die  Ausführung' 

27* 


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430  Girtanner:  Die  Bürgschaft  nach  gemeinem  Civilrccht. 

dieser  Hypothese  scheint  uos  (für  eine  Monographie)  zu  skizzenhaft.  Aus 
dem  Abschnitt  über  die  fidejussio  sind  mehrere  interessante  Erörterungen 
hervorzuheben.  Dahin  gehört  die  Exegese  der  bekannten  I.  25  D.  b.  t. 
die  Bebandlnng  der  Frage,  wieweit  die  Exceptiouen  dem  Bürgen  zustehen, 
ferner  ganz  besonders  die  Darlegung  des  Zusammenhangs  der  Sätze,  dass 
die  fidejussio  nicht  in  aliam  rem  und  in  duriorem  causam  zulässig  sei. 
Die  Ansicht  des  Verf.  über  den  Ursprung  des  Constitutum  ist  unter  guter 
Benutzung  der  vorhandenen  Notizen  scharfsinnig  durchgeführt.  Beachtens- 
wert ist  der  Abschnitt  Uber  das  mandatum  qualificatum,  neu,  aber  begrün- 
det insbesondere  das  bei  dieser  Gelegenheit  vom  mandatum  tua  gratis 
Gesagte.  In  dem  Kapitel  vom  Untergang  der  Bürgschaft  gibt  der  Verf. 
eine  Auffassung  der  Correalobligation,  die  durch  Hervorhebung  einer  bis- 
her kaum  beachteten  Seite  allein  die  Wirkung  der  litis  contestatio  ge- 
nügend erklären  dürfte.  Anziehend  ist  die  Erörterung  der  möglichen 
Fortdauer  der  Bürgschaft  nach  Untergang  der  Hauptschuld  mit  Bezug  auf 
den  Salz:  quae  initio  recte  coustiterunt,  resolvuntur  cum  in  eum  casum 
ceciderunt,  a  quo  non  potuissent  incipere.  Da  sich  die.«e  Erörterung  rein 
auf  dem  historischen  Standpunkt  des  römischen  Rechts  hält,  so  erregt  sie 
unsre  Erwartung  auf  die  Behandlung  der  Frage  im  dogmatischen  TheiL 

Der  zweite  Tbeil,  die  Dogmengescbichle,  zeugt  von  dem  grossen 
Fleiss  des  Verf.  Man  spricht  heutzutage  viel  von  Dogmengescbichle  und 
macht  auch  hie  und  da  kleine  Ansätze  dazu,  allein  in  der  That  ist  in 
dieser  Hinsicht  noch  wenig  geschehen.  Der  Verf.  hat  sieb  die  Mühe  nicht 
yerdriessen  lassen,  eine  wirkliche  Geschichte  der  Hauptlehren  in  der 
Bürgschaft  zu  geben.  Das  Vcrzeichniss  der  hier  benutzten  Schriftsteller 
weisst  (ohne  die  gangbaren  Lehr-  und  Handbücher)  an  200  Namen  nach 
nnd  man  Uberzeugt  sich  leicht ,  dass  der  Verf.  seine  Citate  nicht  bloss 
aus  andern  Büchern  abgeschrieben  hat.  Unter  diesen  Schriftstellern  sind 
mehrere  ziemlich  seltne,  die  bisher,  wenn  auch  oft  citirl,  doch  nur  sei- 
ten  wirklich  eingesehen  worden  sind.  Die  Punkte,  über  die  sich  die  dog- 
mengeschichtliche Abiheilung  erstreckt,  sind  folgende:  1)  das  Verhältnis 
des  Bürgschafts-  zum  Inlercestionsbegriff;  2)  das  Verhältnis  der  ver- 
schiedenen Verbürgungsformen  des  römischen  Rechts  zu  einander;  3)  der 
Schutz  des  Bürgen  in  seinen  verschiedenen  Richtungen ;  4)  die  Bürgschaft 
der  Frauen;  5)  die  der  Geistlichen  und  Soldaten.  Die  gründliche  Be- 
handlung des  zweiten  Punktes  wird  es  dem  Verf.  möglich  machen,  im 
dogmatischen  Theil  eine  wirklich  begründete  Ansicht  über  die  Frage 
auszusprechen,  was  denn  eigentlich  unsre  Bürgschaft  sei,  ob  fidejussio  oder 
constitutum  u.  i.  w.    Wes  man  so  gemeinhin  ohne  rechte  dogmenge- 

.•  •  • 


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Girtannert  Die  Bürgschaft  nach  gemeinem  Cmlrecht.  4it 

schichtlichc  Kenotniss  über  diese  Frage  sagt,  entbehrt  meist  des  rechten 
Fundaments. 

üeberhaopt  hoffen  wir,  doss  der  letzte  Theil  dieses  Baches  ans  Licht 
stellen  werde,  welchen  praktischen  Gewinn  die  Dogmengescbichte  ab- 
zowerfen  im  Stande  ist. 

Zum  Schluss  noch  ein  paar  Worte  Uber  das  Formelle.  Die  Dar- 
stellung des  Verf.  hält  sich  genau  an  die  Sache,  ist  elegant  und  concis, 
aber  ("möge  er  diess  beherzigen !)  mitunter  durch  zu  grosse  Kürze  schwer- 
Terständlich.  Der  Verf.  überhüpft  gern  Mittelglieder  der  Entwicklang. 
Zuweilen  entsteht  aus  dem  übertriebenen  Laconismus  etwas  geradezu  un- 
richtiges. So  ueisst  es  z.  B.  S.  89,  die  Entscheidung  in  1.  95,  §.  3  D* 
de  fideijuss.  spreche  „gegen  die  Consequenzen  aus  der  Entstehung  (der 
Bürgschaft)  auf  das  Fortbestehen."  Diess  ist  weder  deutsch  noch  richtig. 
Denn  der  Verf.  kämpft  ja  nicht  gegen  den  Schluss  vom  Entstehen  auf 
das  Fortbestehen,  sondern  gegen  den  Schluss,  dass  eine  Bürgschaft  anter 
gewissen  Umständen  nicht  fortbestehen  könne,  weil  sie  unter  den- 
selben nicht  hätte  entstehen  können.  So  beisst  es  ferner  p.  92:  „Die 
fidejassio  sicherte  nur  gegen  die  Gefahr,  die  auf  dem  Können  oder 

■ 

Wollen  des  Hauptschuldners  beruhte."  Es  muss  offenbar  heissen:  Nicbt- 
können.  Beiläufig:  gesagt,  ist  es  dem  Verf.  hier  auch  begegnet,  sich  selbst 
so  widersprechen.  Denn  S.  79 ff.  hat  er  gerade  gezeigt,  dass  die  fide- 
jussio  nicht  nur  gegen  jene  Gefahren  sichert.  Uebrigens  macht  sich  in 
Hinsicht  des  gerügten  Fehlers  der  Darstellung  im  zweiten  Bandchen  ein 
Fortschritt  bemerklich. 

Leider  bat  das  sonst  gut  ausgestattete  Buch  mehr  Druckfehler  als 
billig.  Der  Verf.  hat  sich  bemüht  sie  aufzufinden  and  entfaltet  biebei 
einen  gewissen  Fanatismus,  indem  er  S.  314  unter  den  „sinnentstellen- 
Druckfehlern"  aufführt:  „statt  Cynus  lies  Cinus." 

Ernst  v,  Stockmar. 


Zeitschrift  für  die  Geschichte  des  Oberrheins.  Herausgegeben  von  dem 
Landesarchive  w  Karlsruhe  durch  den  Direktor  desselben  J.  J. 
Mone.  Zweites,  drittes,  viertes  Heft.  Druck  und  Verlag  der 
G.  Brautfschen  HofbuclUiandlung.  1850.  (Ersten  Bandes  S.  129 
bis  516.}  8. 

•  • 
Ref.  hat  schon  vor  geraumer  Zeit  die  Anzeige  obiger  Zeitschrift  in 
diesen  Blattern  gegeben,  um  gleich  mit  dem  ersten  Hefte  ihr  Erscheinen 
frendig  zu  begrüssen;  s.  Jahrg.  1850,  p.  566  ff. 


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412  Mann*  Zeitschrift  für  die  Geschickte  des  Oberrheins. 


Da  Plan  und  Ausführung  auch  der  drei  letzten  Hefte  sich  gleich 
geblieben  ist,  so  erübrigt  nur,  auf  den  lohalt  aufmerksam  zu  machen, 
wobei  Ref.  der  leichtern  IJeberaicht  wegen  die  Arbeiten  eines  jeden  der 
drei  Mitarbeiter  zusammenstellen  will. 

Vom  Herusgeber  selbst  sind  folgende  Aufsätze:  I.  Ueber 
JUmenpflege  vom  13.-16.  Jahrhundert  (S.  129  163).  II.  Stenerbe- 
wittigung  im  Bisthum  Speier  (1439  —  1441.  S.  163  —  169).  III  Alle 
Hohl-  und  Fläckeumaasse  (S.  169  —  171).  1Y.  Zur  Geschichte  des  pfäl- 
zischen Zollwesens  (S.  171 — 179).  V.  Ueber  Gesindewesen  im  15.  und 
lßr  Jahrhundert  (S.  179—  197).  Vi  Ueber  Schulwesen  vom  13.  und 
^..Jahrhundert  (S.  257  —  302).  VII.  Flusabou  am  Oberrhein  vom  1 4L 
L t5  19.  Jahrhundert  (S.  303  308).  VRI.  Urkunden  über  Bücherw^esen 
im  XV.  Jahrhundert  (S.  309—314),  endlich  X.  Ueber  Allmenden  vom 
jl3.—16.  Jahrhundert  (S.  385—451). 

Schon  diese  Aufzählung  wird  den  Reicblhum  und  die  Wichtigkeit 
.der  von  Mone  mit  jener  ihm  cigenlhUralichen  Klarheit  und  Kürze  behan- 
delten Materien  darlbun;  es  sipd  zum  Jheil  Probleme,  an  denen  die  Neu- 
zeit noch  immer,  und  wie  uns  bedünken  will,  nicht  immer  mit  Glück  exr 
perimentirt.  Dass  also  dje  Versuche  früherer  Jahrhunderte  vom  Verf.  bei- 
gebracht sind,  wird  ihm  jeder  Verständige  Dank  wissen ;  die  eigenen  An- 
liefen, womit  er  die  urkundliche  Forschung  einleitet  oder  schliesst,  er- 
lauben uns  die  Grenzen  dieser  Anzeige  nur  bei  den  wichtigsten  Materien 
anzudeuten.  Wir  müssen,  im  Uebrigen  auf  die  Zeilschrift  selbst  verwei- 
len.—  Die  Armenpflege  und  Sorge  für  die  Kranken  erkennt 
der  Verf.  als  ureigcntbuniliche  Früchte  der  christlichen  Liebe,  mit  wel- 
chem Motive  weder  die  heidnische  Humanität,  noch  die  politische  Noth- 
wendigkeit  eine  Vergleichung  ausbalte,  indem  erstem  nur  nach  Laune  (?) 
gebe,  letztere  die  Mittel  um  so  schneller  erschöpfe,  je  mehr  sich  das 
christliche  Almosen  davon  zurückziehe.  Letzteres,  nicht  aus  Gemeindebei- 
trägen, sondern  auf  Privalalmosen  und  deren  Sicherung,  also  Stiftungen, 
beruhend,  lehnte  sich  zum  Zwecke  sicherer,  leichter  und  wohlfeiler  Ver- 
waltung auch  an  ewige  Corporationen  und  zwar  bei  kleinen  Stiftungen 
an  die  Kirche,  bei  grössern  (Spitälern  u.  drgl.)  an  die  Gemeinden. 
So  zerfällt  die  Abhandlung  ganz  natürlich  in  zwei  Abiheilungen:  kirch- 
liche nnd  Gemeinde- Armenpflege.  Mit  ersterer  hing  die  Unterstützung 
der  Studiereuden,  die  Spende  an  arme  Schüler  zusammen,  weiche  —  zum 
Theil  vom  Einkommen  nachlässiger  Geistlicher  (Neglektengelder)  —  für 
kirchliche  Dienstleistungen  Gaben  erhielten  uud  —  da  sie  meist  geistlich 
wurden,  ihr  erworbenes  Vermögen  Iheilwaise  zu  ähnlichen  Stiftungen  ver- 


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llonc :  Zeitschrift  für  die  Geschichte  deg  Oberrheins.  423 

wendeten  (S.  130).  Eine  Eigen thümlichkeit  dieser  Spenden  war  ferner 
ihr  Bestehen  aus  Nttnralien  —  eine  Schutzwehr  gegen  leichtsinnigen  Ver- 
brauch —  nnd  die  öffentliche  Verkeilung,  meist  beim  Besuche  gestifte- 
ter Seelenmessen  (S.  132—138).  All  diese  Sitze  sind  mit  einer  Menge 
Regesta  belegt  (S.  135—141).  Die  letztem  nun,  namentlich  ans  Jahr- 
tagstiftungen geschöpft,  bei  denen  sogar  Sorte  uod  Form  des  Brodes  be- 
stimmt ist,  Hessen  sich  aus  gleichzeitigen  Quellen  leicht  vermehren.  Ref. 
indessen  erlaubt  sich  bei  dieser  Gelegenheit  nur  auf  das  alte  Anniversa- 
rienbuch der  kleinen  Stadt  Hufingen  aufmerksam  zu  machen,  welches  in 
zwei  Exemplaren  daselbst  vorhanden  ist  nnd  eine  mehr  gesicherte,  zur 
Benützung  geeignetere  Aufbewahrung  verdienen  würde. 

Einen  sehr  wichtigen  Theil  dieser  Regesta  bildet  S.  14101  die 
Stiftung  des  bischöflichen  Spitals  an  der  Rbeinbrücke  zu  Konstanz  darch 
Bischof  Heinrich  von  Klingenberg.  Ref.  erlaubt  sich,  einen  Versuch,  die 
in  den  Chroniken  von  Konstanz  —  wie  der  Verf.  ganz  richtig  bemerkt 
—  untereinander  verwechselten  Spitalstiftungen  jener  Stadt  nach  seinen 
Auszügen  zu  entwirren.  Es  sind  drei  Spitäler  zu  unterscheiden,  von  de« 
nee  nur  die  zwei  ersten  den  Charakter  kirchlicher  Stiftungen  trugen,  das 
letztere,  noch  bestehende,  der  Stadtgemeinde  gehört.  ' 

L  Das  Spital  des  hl.  Conradus  (Hess  Mon.  GneYf.  p.  87  IT.). 
Bf  ward  ausserhalb  der  Mauern  gestiftet  und  von  Bischof  Gebbarl  von 
Zähringen  dorthin  verlegt,  wo  spater  das  Kloster  Mauste  Hingen  sieb  erhob. 
(Gerbert  Hist.  Nig.  Silv.  III.  54.)  Trotz  der  wahrscheinlich  darch  die- 
sen Bischof  erneuerten  Dotation  scheint  es  arm  geblieben  zu  sein,  da 
schon  dessen  Nachfolger  Ulrich  von  Froh  bürg  (Dilingen,  Kiburg)  gele- 
gentlich der  zweiten  Beisetzung  des  hl.  Konrat  es  für  angemessen  erach- 
tete, dasselbe  aas  den  Beiträgen  der  zu  dem  Feste  herbeigeströmten  Gros- 
sen neu  zu  begaben  und  zugleich  nach  Kreuzlingen  zurückzuversetzen,  wo 
er  ans  den  nemlichen  Beiträgen  das  Kloster  S.  Ulrich  gegründet  hatte. 
(Vergl.  die  Urk.  Heinrich  V.  v.  7.  Jan.  1135  bei  Gerbert  a.  a.  0.)  Ei 
sind  dieses  wahrscheinlich  die  von  Mone  (S.  142)  im  Testamente  Bi- 
schof Heinrichs  aufgeführten  ..lepros  i  extra  muros  Cons  tan  tienies"  nnd 
„leprosi  in  Crucelingenu  im  Konstanzer  Necrologium  p.  38.  p.  57.  Noch 
heutzutage  heisst  im  Volksmunde  die  kleine,  dem  Kloster  Kreozlingen  ge- 
genüber liegende  Kirche  mit  byzantinischen  Sculpturen  ..die  Siechenkapelte. * 

iL  Daa  Spital  Bischof  Heinrich's  voo  Klingenberg. 
Es  ist  das  vom  Verf.  behandelte.  Eine  Anordnung  desselben  findet  sich 
auch  im  Testamente  des  genannten  Bischofs  vom  22.  Juli  1299.  (Const. 
Copialb.  im  Karlsr.  Arch.  Fol.  VI  und  VI  des  Anhangs.)   Eine  neue  Be- 


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424  Mone:  Zeitschrift  für  die  Geschichte  dei  Oberrheins. 

gabung,  beziehungsweise  Regeneration,  geschah  am  14.  November  1299 
(Ebenda*.  Fol.  52)  durch  Güter,  welche  Conrad  von  Diessenbofeo  dem 
Bischof  aufgab  und  dieser  dem  Spitale  und  der  dazu  gehörigen  Magdale- 
nenpfründe  vermacht  (nomine  et  vice  Capelle  S.  Marie,  quam  dotare  in« 
tendlt  et  hospitalis,  quod  in  domibus  vicinis  fundare  intendit.) 

III.  Das  städtische  Spital.  Schon  im  Testamente  Heinrich'! 
von  Klingenberg  1299  hospitale  aatiquum  genannt,  auf  der  untern  Markt- 
stülte  gelegen  (hospitale  in  foro  antiquo  in  einer  andern  Urkunde),  bis 
es  in  das  aufgehobene  Augustiner  -  Eremitenkloster  verlegt  wurde.  Als 
Stifter  ist  auf  einer  Gedenktafel  Johannes  Unricbt  angegeben,  der  nem- 
liche  vielleicht,  welchen  auch  das  Anniversarienbuch  des  Klosters  Maria- 
hof  bei  Neidingen  (s.  d.  Ref.  Bearbeitung  desselben  im  Programme  des 
Gymnasiums  zu  Donaueschingen  1845.1846)  als  Stifter  (etwa  um  1250) 
aufführt.  Da  Stiftungen  und  Beiträge  bürgerlicher  Geschlechter  seine  Do- 
tation mehrten  und  nach  der  Art  seiner  Verwaltung  gehörte  indessen  die- 
ses Spital  zur  Klasse  der  Gemeindearmenpflege,  welche  (S.  148—163) 
die  aweite  Abtheilung  der  Abhandlung  enthalt. 

Um  sich  über  die  folgenden  Abbandlungen  kürzer  zu  fassen,  er- 
wähnt Ref.  nur,  dass  die  Urkunden  über  Steuerbewilligung  dei 
verschuldeten  Bisthums  Speier  durch  die  Bemerkung  eingeleitet 
aind  (S.  163),  dass  sie  autokratisch,  ohne  Bewilligung  der  Stände  ge- 
schah, weil  es  bei  der  ordentlichen  Steuer  sich  1)  nur  um  zweckmässige 
Erhöhung  der  bestimmten  Bete  handelte,  2)  die  Gülten  und  Zinse  auf 
Privatverträgen  beruhten,  3)  bei  Zeitpacht,  Zoll  und  Ungelt,  obgleich  sie 
der  Willkür  unterlagen,  alte  Gewohnheit  massgebend  gewesen  sei  Dass 
letzteres  nun  mit  gewisser  Einschränkung  anzunehmen  sei,  scheinen  dem 
Ref.  nicht  nur  die  gleichzeitigen  Klagen  der  Unterthanen  anderer  Länder, 
sondern  auch  die  Vorstellungen  der  ständischen  Vertretung  zu  beweisen, 
wo  diese  —  wie  z.  B.  in  Würtemberg  —  schon  eingeführt,  oder  an- 
gebahnt war.  Klein  an  Umfang,  aber  unentbehrlich  für  richtige  Anschau- 
ung politischer  und  agronomischer  Verbältnisse  ist  die  gleichseitige  Re- 
duktion der  verschiedenen  Hohl-  und  Flächenmasse  am  Boden- 
see und  im  obern  Elsass  (S.  169 — 171).  Um  die  Vereitlung  ei- 
ner Gleichheit  des  Masses  und  Gewichtes  für  ganz  Deutschland ,  welcher 
Wunsch  mit  so  vielen  aodern  in  die  Brüche  gekommen  ist,  recht  schmerz- 
lich zu  fühlen,  darf  man  sich  nur  aus  dieser  Abhandlung  überzeugen,  dass 
Dicht  nur  in  der  Seegegend  neun  verschiedene  Hohlmasse  zu  redacireo 
waren,  sondern  dass  sogar  die  einzige  Stadt  Konstanz  sechserlei  Masse 
hatte:  rauhes  und  glattes,  Stadt-  und  Hofmaass,  brent  und  Humpolt. 


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Mone:  Zeitschrift  für  die  Geschichte  des  Öberrheint.  435 

•Aas  der  Geschichte  des  pfälzischen  Zollwesen*  he- 
ben wir  nur  die  Herabsetzung  des  pfälzischen  Rheinzolls  für  die  Murg- 
schiflerschaft  (S.  173 ff.)  hervor.  Letzteres  Institut,  welches  für  die  Nah- 
rungsfähigkeit einer  nicht  unbeträchtlichen  Strecke  Badens  von  grosser  Be- 
deutung ist,  bat  zwar  an  v.  Kettner  (Beschreibung  des  Murg-  und  Oos- 
thals. Frankfort,  1843)  schon  seinen  Geschichtschreiber  erhalten.  —  El 
ist  aber  diese  Zollordnung  vom  Jahr  1481  ein  um  so  schätzbarerer 
Beitrag,  als  sie  das  älteste  Aktenstück  der  Gesellschaft  um  150  Jahre 
Oberragt.  Bemerkenswerth  findet  der  Herr  Verf.  (S.  175)  den  in  den 
Unterschriften  des  Vertrags  feststehenden  Unterschied  zwischen  Schiff- 
berrn  (nach  dem  Verf.  Eigentümern  der  Waldungen  und  Grosshänd- 
lero)  and  Rheinflössern,  die  nach  seiner  Ansicht  den  Holzbandelim 
Kleinen  an  beiden  Rheinufern  trieben.  —  Ref.  glaubt  nach  den  gleich- 
zeitigen Urkunden  und  Zollverordnungen  für  die  Kinzigthnter  Schifferschafl 
(im  sehr  interessanten  s.g.  Kinzigthaler  Lagerbuch  des  F.  F.  Arcbives  in 
Donaueschingen)  annehmen  zu  dürfen,  der  Ausdruck  SchifTherr  sei  die 
corrumpirte  Schreibung  des  noch  gtfng-  und  gäben  Schiffer  (fUr Holz- 
flösser,  Uebersetzung  des  nauta  auf  dem  Steine  des  Aliquandns  zu  Ett- 
lingen und  Baden),  freilich  ganz  in  der  gleichen  Bedeutung,  wie  der 
Verf.  annimmt.  Rheinflösser  aber  durfte  jene  Bewohner  der  Rheinorte  be- 
deuten, die  sohon  damals,  wie  jetzt  zu  Kehl,  Steinmauern,  Mainz  u.  s.  w. 
geschieht,  die  Thal-„Gestierett  zu  grössern  Flössen  zusammensetzten  und 
tbeils  um  Lohn,  theil  mit  einigem  Antheil  an  Gewinn  bis  Holland  führten. 

Als  besonders  reichhaltig  nnd  äusserst  schätzbarer  Beitrag  zu  Hauti'a 
Geschichte  der  Neckarschule  in  Heidelberg  erscheint  die  Abhandlung 
und  Urkunden  Uber  das  Schulwesen  im  XIII.— XVI. Jahrhundert 
(S.  257—302).  Gerade  für  unsere  Tage  einer  leidenschaftlichen  Erör- 
terung dieses  Gegenstandes  von  der  und  jener  Partei  erscheint  diese  Abhand- 
lung und  die  Art  ihrer  Abfassung  um  so  willkommner,  als  der  Verf.  bei  aller 
Strenge  und  Festigkeit  seiner  politischen  und  kirchlichen  Ansichten  gera- 
dezu seine  Absicht  dahin  ausspricht,  nur  „nachzuweisen,  wie  das  frühere 
Scbalwesen  beschaffen  war.«  „Die  Erklärung  der  Urkunden",  sagt  er, 
„liegt  mir  näher,  als  eine  bearbeitete  Darstellung  des  Gegenstandes.  Mag 
man  mit  den  frühem  Grundsätzen  des  Schul weseus  einverstanden  sein, 
oder  nicht;  —  das  hat  auf  meine  Arbeit  keinen  Bezug,  denn  ich  habe 
nur  nach  meinen  Quellen  zu  zeigen,  welche  Grundsätze  gegolten  und  wie 
nnd  was  sie  gewirkt  haben.  Diese  objektive  Behandlung  des  Gegenstan- 
des greift  keinem  Urtheile  vor,  nöthigt  aber  jeden  Beurtheiler,  mit  Er- 
wägung und  Umsicht  zu  verfahren."    Die  beigebrachten  Urkunden  be- 


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426  Mone:  Zeitschrift  für  die  Geschichte  des  Oberrhena, 

treffen  meistens  die  Kloster-  and  Sti Rs  - Schulen  zu  Basel,  Konstanz,  Speier, 
Bruchsal,  Frankfurt,  Gengenbach,  Sackingen.  Ref.  halt  für  nicht  unnotbig, 
iiier  zu  bemerken,  dass  auch  städtische  Schulen  an  Hott  weil  und  Vellin- 
gen schon  au  Ende  des  XIII.  Jahrhunderts  von  weltlichen  Lehrern  ge- 
leitet wurden.  Er  besitzt  aus  dieser  Zeit  z.  B.  ein  Siegel,  auf  welchem 
ein  Lehrer  in  weltlicher  Tracht  abgebildet  iit,  der  einen  vor  ihm  knie- 
enden  Knaben  segnet,  mit  der  Umschrift:  „Conradui  Magister  puerorum 
Rotwile.«  —  ... 

Leider  gebietet  der  Umfang  dieser  Anzeige,  die  übrigen  Abband- 
lungen zu  Ubergehen,  um  noch  einige  Worte  dem  Abschnitte  Ober  All- 
menden und  Gemeinde  wesen  anzufügen.  Freilich  ist  für  Baden 
diese  Angelegenheit  durch  Gesetzgebung  und  Vergleiche  erledigt,  allein 
dennoch  bietet  das  Beigebrachte  des  Anziehenden  zur  Genüge.  Wir  be- 
ben z.  B.  daraus  eine  für  die  Geschichte  des  mit  unserm  Herscherhause 
10  innig  verbundenen  Fürstenbergischen  Stammes  äusserst  wichtige  Ur- 
kunde hervor,  welche  zugleich  auf  die  letzteu  Zeiten  des  bobeostauftschen 
Kaiserhauses  einiges  Licht  wirft.  Es  ist  der  schiedsrichterliche  Sprach 
Uber  die  Gemeiomark  vou  Villingen  von  1225,  ausgestellt  von  Konrad 
?,  Winterstetten,  dem  kaiserlichen  Vogte  jener  Stadt  (qui  civita- 
tem  Vilingin  auctoritale  domini  regis,  qui  diebus  Alis  eam  tenuit  ..  pro- 
cura vimusj.  Diess  ist  denn  nun  der  urkundliche  Beweis,  dass  Villiugen, 
die  Hauptbesitauag  der  Zubringer,  sodann  Uracher  und  Fürstenberger  auf 
dem  Schwarzwalde  auch  nach  dem  Stthnungsvertrage  Friedrich  IL  und 
Egino1!  im  Bart  (zu  Ulm  Sept.  1218,  Hagenau,  6.  Sept.  1219)  vom 
zähringischen  Erbe  durch  das  kaiserliche  Haus  zurückbehalten  wurde.  Dies 
lisst  nach  dem  Wortlaute  der  angeführten  Hagenauer  Urkunde  nur  die 
doppelte  Erklärung  zu,  dass  entweder  zur  Zeit  des  Ulmer  Vertrags  die 
Hohenstaufen  jene  Stadt  schon  erobert  halten,  oder  dass  Friedrich  II.  sie 
behielt,  als  Pfand  für  die  von  Egino  dem  Jüngern  ihm  versprochenen 
20,000  Hark  Silbers,  von  denen  der  Graf,  aufgemuntert  dnreh  seinen 
Bruder,  den  Kardinal  Konrad  von  Porto,  mit  17,000  Mark  im  Rückstand 
blieb,  wie  der  Kaiser  gegen  den  Papst  klagt.  (Ep.  Fried,  bei  Raumer, 
Gesch.  der  Hohenst.  III.  187.  2.  Aufl.  und  Stalin  II.  458).  Ja  es  ist 
sogar  wahrscheinlich,  dass  die  Hohenstaufen  bis  zu  ihrer  ungunstigen 
Stellung  beim  Tode  Friedrich  II.  im  Besitze  von  Villingen  blieben,  denn 
die  Freiburger  Grafen  Urkunden  in  diesen  obern  Gegenden  'stets  zu  Sin- 
delatein —  einer  von  Villingen  1  Meile  entfernten  Burg  —  nnd  erst 
1254,  also  im  Todesjahre  Konrad's,  da  die  herzoglichen  Rechte  und  der 
Hallsbesitz  Conradm  s  manigfach  bedroht  war,  nennt  Heinrich  von  Für- 


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Monc:  Zeitschrift  für  die  Gescbiclila  des  Öherrheias.  4M 

stenberg  die  Vilünger  Barger  seiner  Stadt  und  urkundet  daselbst.  Es 
dürfte  dieser  Umstand ,  der  vom  Geschichtscbreiber  des  Fürstenbergischen 
Hauses,  Münch,  übergangen  ist,  auch  den  Partebtaadpankt  der  j Ungern 
Linie  des  Freiburgischen  Huuses  beim  Beginn  des  s.  g.  Zwischenreiches 
festzustellen  geeignet  sein.  Ref.  erlaubt  sich,  noch  nebenbei  zu  bemer- 
ken, dass  unter  den  Zeugen  „Otto,  Rudoi/us  Joheli"  (S.  408)  Johelarii 
su  lesen  ist  Es  ist  das  in  Viilinger  Urkunden  des  XIIL  und  XIV.  Jahr- 
hunderts häufig  vorkommende  Patriziergeschlecht,  dessen  Name  spiter 
Jöchler  und  Johler  wurde.  Ebenso  dürfte  Konrad  von  Wiulerstetteo  — 
um  eine  Verwechslung  mit  seinem  in  die  Genealogie  schwer  einzureihen- 
den Verwandten,  dem  Minnesänger  Ulrich  v.  W.,  zu  vermeiden  — 
eher  als  Beschützer  der  Dichtkunst,  denn  als  Dichter  aufzuführen  sein. 
(Vergl.  Stalin  iL  614.  765.) 

Die  von  Bader  in  der  Zeitschrift  eingereihten  Abhandlungen  sind: 
L  Die  alte  Thal  Verfassung  von  Schönau  und  Todtnau  (S.  197  —  221), 
iL  Dia  Nellenburgisch  -  Vehriugischen  Siegel  (S.  221—224).  III.  Der 
älteste  Güterbesilz  des  ehemaligen  Reichsstifts  Salem  (S.  315— 354)  und 
IV.  Das  ehemalige  St.  Blasische  Amt  Klingenati  mit  Klingenden  Rege- 
sten  (S.  452—476.) 

Die  Abhandlung  I.  ist  mit  ihren  Aktenstücken  nicht  nur  eine  sehr 
anziehende  Untersuchung  über  die  Rechtsverhältnisse  der  schwarz wiilder 
Bauern,  sondern  auch  vollkommener  Neubruch  auf  diesem  Gebiete  der  Un- 
tersuchung; —  denn  dass  bei  Gerbert  diese  Verhältnisse  fast  unberührt 
blieben,  hatte  in  der  Stellung  des  Stiftes  zu  den  Thalbauern  seinen  gu- 
ten Grund.    Der  Verf.  hat  daher  durch  seine  urkundliche  Nachweisunaj, 
wie  diese  wilden  und  doch  durch  frühen  Bergbau  bedeutungsvollen  Ge- 
genden (das  ofEcium  Scbönawe)  unter  verschiedenen  Rechtsverhältnissen 
von  den  ursprünglichen  Herrn,  den  Dynasten  von  Grinchea,  Werra,  Wal- 
deck, Eichstätt,  Künaberg  an  St.  Blasien  gediehen,  bevogtet  wurdeu,  manche 
Lasten  des  Vogtrechtes  loskauften  und  endlich  1321   das  abgedruckte 
erste  Tbalrecht  erhielten.    Einen  Auszug  daraus  zu  geben,  darauf  müssen 
wir  leider  verzichten  und  den  Leser  auf  die  Abhandlung  selbst  verweisen, 
Mr.  IL  gibt  einen  willkommenen  Nachtrag  über  die  Wappen  der  Besitzer 
der  Grafschaft  Nellenburg,  wodurch  die  richtige  Beantwortung  einer  von 
Raf.  in  der  Anzeige  des  ersten  Heftes  aufgeworfenen  Frage  angebahnt 
wird.    Die  Ansicht  des  Verf.  ist,  dass  ein  Wappen  der  ursprünglichen 
Nelleoburger  zwar  nicht  mehr  zu  ermitteln,  dus  der  darauffolgenden  Ki> 
burger  (Winterthurer)  Besitzer  der  Nellenburgiichen  Güter  wahrscheinlich 
der  rothe  Löwe  auf  goldenem  Schilde  gewesen  sei.  Doch  da  dieser  Gu- 


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438  Mone :  Zeitschrift  für  die  Geschichte  def  Öberrheins. 

terbesitz  nach  der  Beweisführung  im  I.  Hefte  (S.  89)  nur  etwa  50  Jahre 
dauerte,  so  dürfte  dieses  sphragistische  Rüthsei  ohne  sichere  Losung  blei- 
ben. Sicher  ist  das  Vehringisch-Nellenburgische  Wappen  in  3  Hirschge- 
weihen (ursprünglich  nach  dem  Verf.  wohl  nur  einem)  nachgewiesen, 
dessen  auffallende  Farben  (blau  auf  Gold)  dem  Streben  zugeschrieben 
wird,  das  Wappen  von  dem  würtembergischen  zu  unterscheiden.  —  Von 
besonderer  Wichtigkeit  für  die  badische  sowohl  als  würtembergische  und 
hohenzoller'sche  Topographie,  ist  die  Abhandlung  III,  deren  Benützung  sich 
kein  gewissenhafter  Besitzer  des  altern  Lexicons  von  Schwaben,  des 
Würtembergischen,  des  badischeu  von  Kolb  und  Huhn  wird  entschlagen 
können.  Ref.  anerkennt  wenigstens  dankbor,  wie  oft  Text  und  Anmer- 
kungen ihm  bei  seiner  Bearbeitung  der  Regesten  der  älteren  Grafen  von 
Heiligenberg  von  wesentlichem  Nutzen  waren.  Bei  gleichem  Verdienste  hat 
die  letzte  Abhandlung  des  Verf.  noch  den  besondern  Vorzug  eines  we- 
sentlichen Beitrags  zur  Geschichte  eines  bedeutenden  und  abgesehen  von 
leiner  Versippung  mit  den  Herrn  von  Krankingen,  Werrach,  Tiefenstein, 
schon  durch  sich  selbst  mächtigen  Dynastengeschlechtes,  welches  in  sei- 
nen Verzweigungen  in  Altenklingen,  Hohenklingen,  Klingenberg  und  durch 
seine  Verbindung  mit  dem  Hochstifte  Konstanz  mehrere  Jahrhunderte  lang 
einen  bedeutenden  Einfluss  in  Sudwestschwaben  ausübte.  Mit  Hilfe  die- 
ser Regesten,  welche  die  Zahl  achtzig  erreichen  und  den  Sammlungen  des 
Kircbenratbs  Kircbhofer  in  Stein  dürfte  die  Genealogie  dieser  Dynasten 
nunmehr  hinlänglich  aufgeklärt  sein. 

Archiv  Rath  Dambacher  endlich  bat  im  2. — 4.  Hefte  (S.  224 
— 256.  S.  354—  385.  S.  476— 499)  die  Arbeit  bis  zum  Ende  des  XIII. 
Jahrhunderts  fortgesetzt,  über  welche  Ref  bei  Anzeige  des  I.  Heftes  mit 
gebührender  Anerkennung  sieb  ausgesprochen  hat.  Die  nemliche  Umsicht  in 
den  beigegebenen  Anmerkungen,  die  gleiche  Sorgfalt  in  Behandlung  der 
Urkunden,  Beschreibung  der  Siegel,  welche  wir  in  der  ersten  Anzeige 
rühmten,  ist  auch  hier  zur  Anwendung  gekommen.  Leider  muss  Ref. 
sich  auch  hier  auf  die  Verweisung  zur  Arbeit  selbst  beschränken,  deren 
Reichhaltigkeit  für  die  Geschichte  der  edlen  Geschlechter  und  der  Lan- 
desverhältnisse Mittelbadens  aus  dem  Umstände  erkannt  werden  mag,  dass 
für  einen  Zeitraum  von  etwa  150  Jahren  nicht  weniger  als  hundert  Ur- 
kunden und  Regesta  zu  Tage  gefördert  worden  sind.  Nur  die  Bemer- 
kung erlaubt  sich  Ref.  noch,  dass  er  seiner  in  der  Auzeige  des  I.  Hef- 
tes ausgesprochenen  Vermnlhung  über  die  Lage  des  eingegangenen  Or- 
tes Eicbelbach  hier  (S.  243)  die  Meinung  entgegengestellt  sab,  es  sei  in 
der  Nähe  von  Rotbenfels  gelegen  gewesen.    Da  nicht  nur  in  dieser  Ge- 


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gend  auch  ein  Bach  vom  Eichel  berge  herabkommt,  der  sich  in  die  Murg 
ausmündet,  sondern  bemerkbare  Trümmer  auf  den  Feldern  und  traditio- 
Delle  Gründe  die  Anlicht  des  Herrn  Verf.  unterstützen,  so  zieht  Ref.  gerne 
seine  Vermuthung  zurück. 

Die  Benützung  des  ganzen  Bandes  ist  durch  ein  vollkommen  er- 
schöpfendes Register  (S.  499—516)  erleichtert. 

So  schliesst  Ref.  seine  Anzeige  mit  dem  —  wie  er  hört,  durch 
die  Absatzverhaltnisse  gerechtfertigten  Wunsche,  dass  jeder  Gebildete  Ba- 
dens es  sich  zur  Ehrensache  machen  mOge,  durch  das  kleioe  Opfer  des 
Allkaufpreises  der  aufopfernden  Tbatigkeit  der  genannten  Männer  und  den 
guten  Absichten  der  Regierung  entgegen  zu  kommen,  welche  bekanntlich 
aneb  nicht  geringe  Opfer  zur  Unterstützung  des  Unternehmens  gebracht  hat. 

Rasiadt.  Fickler. 

•» 

.  .   •  .f 

Homerisches  Glossarium.    Von  Ludwig  Boederlein.    Erster  Band. 
Erlangen,  1850.    Bei  Ferd.  Enke.    XIV  und  260  S.  gr.  8, 

« 

Seit  Jahren  schon  durften  wir  erwarten  und  hoffen,  dass  Herr  Pr. 
D.  mit  einem  Werke  dieser  Art  hervortreten  werde:  nicht  nur  weil  er 
für  die  lateinische  Sprache  in  seinem  grösseren  Werke,  Lateinische  Sy- 
nonyme und  Etymologieeo  in  VII  Bauden  von  1826 — 1839  und  in  sei- 
nen beiden  Lehrbüchern  (Handbuch  der  lat.  Synonymik  1840,  3.  Ausg. 
1849  und  Handbuch  der  lat.  Etymologie  1840),  sich  als  Meister  auf 
dem  Gebiete  etymologischer  Sprachforschung  gezeigt,  und  notwendiger- 
weise auch  dabei  vielfach  das  Griechische  hereingezogen  hat,  sondern 
auch  in  mehreren  lateinisch  geschriebenen  Programmen  Proben  seiner  Studien 
aal  dem  Gebiete  hat  erscheinen  lassen,  das  vor  mehr  als  30  Jahren  Butt- 
mann in  seinem  Lexilogus  (1.  Bd.  1818)  zu  bebauen  anfing,  und  schon 
mit  dem  2.  Bande  (1825)  geschlossen  hat,  ob  er  gleich  noch  (wahr- 
scheinlich kränkelnd)  bis  zum  Jahr  1829  lebte.  Ohne  Zweifel  durch  Butt- 
mann angeregt,  begann  Herr  Fr.  D.  schon  vor  einem  Viertel  Jahrhundert 
seine  Forschungen  zu  publiciren,  indem  er  im  Jahr  1825  sein  Schnlpro- 
gramm:  Commentatio  de  vocabulo  tijXüYETOC  herausgab.  Manche  ahnliche 
Proben  folgten,  bis  er  endlich,  im  Jahr  1840,  sein  Glossarii  Homeriej 
Specialen  beim  Prorectorats Wechsel  erscheinen  liess,  das  er  mit  der  Er- 
klärung eröffnete,  er  trage  schon  seit  langer  Zeit  Bemerkungen,  die  sich 
ihm.  bei  sciDCD  1* ors cli u o ^ cn  ergeben  liobcn^  xn  einem  (jlosssriurn  Hobää** 
ricum  zusammen,  habe  aber  bisher,  durch  eine  Aensserung  Lobecks  ein-, 
geschüchtert»  die  dieser  aber  selbst  sich  nicht  zur  Richtschnur  nahm,  zieh 


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zur  Herausgabe  nicht  entschliessen  können.  Endlich ,  nach  abermaligem 
«ehujlhrigen  Zuwarten  erscheint  der  erste  Th«l  des  Werkes,  das,  wie 
der  Verf.  hofft,  in  noch  iwei  Binden,  wie  der  vorliegende,  wird  zu 
Ende  durchgeführt  werden  können.  Möglich:  doch  mag  er,  als  er  im 
Jahr  1&26  den  ersten  Band  seiner  lateinischen  Synonymen  und  Etymolo- 
gieen  herausgab,  wohl  auch  jenes  Werk  auf  nur  wenige  Binde  angelegt 
und  schwerlich  daran  gedacht  haben,  dass  er  13  Jahre  später  den  sieb- 
ten Band  als  Schlussband  erscheinen  lassen  werde.  Wie  dem  sey:  wir, 
und  gewiss  recht  Viele  mit  uns,  heissen  das  Werk  willkommen  und  wer- 
den, wenn  es  aucb  nicht  bei  den  versprochenen  drei  Bänden  bleibt,  ge- 
wiss nicht  das  unter  Umständen  eben  so  oft  falsche,  als  wahre  Sprücb- 
wort  aussprechen ,  ein  grosses  Buch  sey  ein  grosses  üebel.  Es  scheint 
dem  Ref.  übrigens  zweckmässig,  vor  dem  Eingehen  auf  Beurteilung  des 
Gänsen  und  Einzelnen,  noch  Einiges  aus  der  Vorrede  zu  besprechen. 

Der  Verf.  will  bei  seiner  Wortforschung  das  Zurückgehen  bis  auf 
deren  letzte  Wurzel,  als  ausserhalb  seines  Planes  liegend,  denjenigen 
Sprachforschern  überlassen,  welche  die  samratlicbeu  Indogermanischen 
Sprachen  beherrschen  und  sie  vergleichen  können:  auch  habe  er  nicht 
einmal  die  Wörter  eines  und  desselben  Stammes  immer  zusammeugruppirlj 
sondern  nur  so  viele,  als  sich  zusammen  vertragen  und  rieh  als  Geistes- 
verwandte anerkennen  würden.  Dagegen  wollen  wir,  obgleich  Mancher 
Etwas  einwenden  möchte,  nicht  Einsprache  thun.  Aber  wenn  es  S.  IV. 
heisst:  „Die  Grundsätze  meines  etymologischen  Verfahrens  auseinander 
zu  fetten,  wäre  hier  nicht  der  Ort.  Es  ist  vor  zehn  Jahren  in  meiner 
lateinischen  Wortbildung  und  bruchstückweise  hie  und  da  im  Uuche  selbst 
geschehen.  Hier  nur  einige  Andeutungen.44  War  hier,  d.  h.  in  der  Vor- 
rede, nicht  der  Ort,  so  konnte  eine  Einleitung  das  Nöthige  dazu  thun, 
mit  besonderer  Rücksicht  auf  die  griechische  Sprache  nnd  auf  das,  was 
sich  seit  seinen  frühem  Forschungen  entweder  noch  mehr  begründet  oder 
vielleicht  als  nicht  haltbar  erwiesen  bat  Es  folgen  nun  freilich  Anden- 
tangen der  befolgten  Grundsätze  selbst.  Aber  der  Verf.  spricht  nicht  ganz 
entschieden  und  nicht  ohne  einiges  Schwanken,  nnd  da  Pott  irgendwo 
den  Wunsch  aussprach,  es  möchte  die  Berechtigung  zur  Annahme  fingir* 
ter  Formen  (Heischeformen)  durch  bestimmte  Gesetze  modificirt  und  auf 
bestimmte  Granzen  zurückgeführt  werden,  so Mgt  der  Verf.  bei:  „Möchte 
er  doch  diese  von  ihm  gestellte  Aufgebe  auch  selbst  lösen!  Denn  der 
Etymolog  bat  je  grossere  Freiheit,  um  so  grössere  Gewissensangst,  und 
totins  agitur,  ubi  nihil  licet,  quam  ubi  omaia.tt  —  Er  habe,  setzt  er 
hinzu,  einstweilen,  bis  eine  solche  Theorie  ans  Licht  trete,  „im  benölhig- 


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Döderlein:  Homerisches  Glossarium. 


len  Falltf  nach  dem  Glauben  gehandelt,  als  ob  in  der  Sprache  jede  Forts, 
welche  idealiter  vorhanden  war,  und  den  Gesetzen  der  Sprachfortbildung 
gemäss  existireu  konnte,  auch  realiter  existirt  habe.  Br  habe  übrigens 
jede  Heiscbeform  mit  gesperrter  Schrift  drucken  lasseo,  um  vor  ihr  zu 
warnen  und  sie  als  einen  blossen  Geist  kenntlich  au  machen.  —  Diess 
Alles  deutet  noch  auf  einiges  Schwanken,  das,  wenn  die  oben  gewünsch- 
ten Gesetze  gefunden  und  die  Grenzen  abgesteckt  würden,  den  jetzt  be-' 
folgten  Grundsätzen  einen  bedeutenden  Stoss  oder  Holt  geben  könnte. 
Einerseits  hält  sich  der  Verf.  an  die  Tradition,  verwirft  sie  aber,  wo  sie 
ihm  durch  ein  Missverstäudniss  der  homerischen  Sprache  entstanden  scheint, 
und  erklärt  es  für  erlaubt,  dass  man  sieb  unabhängig  von  den  alten  Er- 
klären! halte,  und  mittels  der  im  Lauf  der  Jahrhunderte  gewonnenen 
grammmalischen  Erkenntnisse  glauben  dürfe,  man  verstehe  den  Homer 
besser,  als  sie  es  konnten.  Gut.  Nur  bleibt  vor  der  Hand  auf  jeden 
Fall  Manches  bloss  subjektive  Ansicht,  die  es  sieb  gefallen  lassen  muss, 
dass  ihr  eine  andere  subjektive  Ansicht  entgegentritt:  ein  Erfolg,  auf  den 
der  Verf.  gefasst  erscheint,  wenn  er  S.  IX  der  Vorrede  sagt:  „Die  vor- 
liegende Arbeit  enthalt  unstreitig  viel  Neues.  Das  ist  bekanntlich  ein 
zweideutiges  Lob,  und  desshalb  im  Munde  des  Verf.  kein  Selbstlob  und 
kein«  Anmassung.  Ich  wünsche,  dass  möglichst  viel  davon  auch  wahr 
seyn  möge :  findet  aber  nur  ein  Dritttbeil  die  Zustimmung  der  Sachkundigen, 
und  darf  ein  zweites  Dritttheil  als  eine  nützliche  Zusammenstellung  von 
Bekanntem  gelten,  so  werde  ich  mich  trösten  können,  und  mich  nicht 
schämen  müssen,  falls  das  dritte  Dritttheil  aus  zweifelhaften  Aussprüchen 
und  unhaltbaren  Vermutbungen  und  vielleicht  gar  aus  nachweisbaren  Irr- 
thümern  bestehen  sollte."  Diese  gewiss  nicht  hochgespannten  Erwartun- 
gen dürften  wohl  weit  übertroffen  werden,  und  wenn  auch  manches 
Nene  sich  nicht  halten  lässt  und  manches  Wahre  nicht  neu  ist,  so  wird 
gewiss  Niemand  in  den  pentametriseben  Xenienseufter  über  Hrn.  D\s  Werk 
aussprechen:  Wäre  daa  Nene  nur  wahr,  ach,  und  das  Wahre  nur  neu! 

Indem  der  Verf.  die  Bestimmung  seines  Werkes  für  zweierlei  Leser 
bespricht,  entgebt  ihm  uicht  die  Bedenklichkeit,  dass  man,  wahrend  man 
nach  mehreren  Seiten  hin  ein  Buch  nützlich  machen  wolle,  Gefahr  laufe, 
seinen  Zweck  nach  allen  Seiten  hin  zu  verfehlen.  Er  hat  es  aber  den» 
noch  gewagt,  sein  Glossar  für  philologische  Sprachforscher  und  zugleich 
Tür  solche  Schulmänner  mnndreebt  zu  machen  ,  die  den  Homer  au  erklaV 
ren  beben.  Die  Letztern  können  und  sollen  nicht  durchaus  identisch  mit 
den  Erstem  seyn,  noch  weniger  sollen  die  Schulmänner  ihre  Schüler  der 
Mehrzahl  nach  zu  Männer  der  ersten  Ari  heranziehen  wollen,  denn  nur 


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Doderlein :  Homerisches  Glossarium. 


Sprachkenntniss,  nicht  Sprachforschung,  ist  ein  wesentlicher  Tbeil  der  all- 
gemeinen Bildung.  Den  Schulmännern  tu  Liebe  hat  Hr.  Pr.  D.  die  Auf- 
lösung des  Rathseis  gewöhnlich  der  Aufgabe  und  Entwickelung  vorange- 
stellt, die  doch  jener  der  Natur  gemäss  hätte  vorausgehen  sollen,  damit 
sich  die  Entwickelung  aus  jener  Aufgabe  ergebe  und  der  Leser  die  Lö- 
sung mit  finde ;  auch  bat  er  denen  zu  Liebe,  die  nicht  eigentlich  Sprach- 
forteber sind,  Einzelnes  ausführlicher  behandelt,  auch  ausgemachte  Satze 
und  bekannte  Erscheinungen  erklärt  und  entwickelt,  was  den  Forscher, 
als  etwas  ihm  Bekanntes,  ermüden  könnte.  Er  selbst  hätte  lieber  sich  der 
ihm  mehr  zusagenden  Kürze  beflissen. 

Nach  einem  kurzen  Rückblick  auf  Butt  mann 's  Lexilogus,  dessen 
erster  Baud  jetzt  32,  der  zweite  26  Jahre  alt  ist,  bemerkt  Hr.  Pr.  D., 
es  sey  seitdem  für  die  homerische  Wortforschung  im  Einzelnen  ml,  im 
Grossen  wenig  geschehen;  Manches  sey  Frucht  eines  ernsten  Studiums, 
Anderes  nur  so  gelegentlich,  dilettantisch,  vorgebracht,  sey  auch  noch 
weniger  als  das.  Was  er  von  dergleichen  vereinzelten  Beitrügen  benutzen 
konnte,  habe  er  benützt,  Manches  geflissentlich  ignorirt,  um  nicht  für  Po- 
lemik Raum  in  Anspruch  zu  nehmen.4)  Dass  er  für  den  Schluss  des 
Werkes  ein  alphabetisches  Register  verspricht,  ist  erwünscht;  noch  er- 
wünschter wäre  eins  schon  bei  dem  ersten  Theiie,  denn  Mancher  wird 
sich  für  die  einzelnen  Theiie  nicht  gern,  (wie  der  Verf.  meint)  sondern 
ungern  mit  der  beigegebenen  Uebersicht  behelfen. 
.  Soll  nun  Ref.  seine  Ansicht  von  dem  Werke  im  Allgemeinen  aus- 
sprechen, wozu  man  nicht  erst  das  Ende  oder  die  Vollendung  abzuwar- 
ten braucht,  so  wenig,  wie  bei  des  Verf.  oben  angeführtem  frühern  Werke; 
so  muss  er  es  für  eine  wahre  Bereicherung  unserer  Literatur  auf  diesem 
Gebiete  erklären,  und  zwar  uiebt  bloss  darum,  weil  eine  Menge  homeri- 
scher Wörter  erst  jetzt  unter  ihre  richtigere  Stimme  gebracht  und  darum 
auch  erst  jetzt  richtig  verstanden  werden  können,  sondern  weil  auch  der 
Sinn  ganzer  Stellen  klarer  aufgefasst  ist,  manche  durch  ansprechende  Con- 
jecturen  verbessert  werden,  und  gelegentlich  auch  auf  andere  Schriftstel- 
ler ein  Licht  fällt  und  Winke  zu  ihrer  Verbesserung  gegeben  sind. 

*)  Da  der  Verf.  im  J.  1830  seine  Commentatio  de  Alpha  iotensivo  ser- 
monia  Gratci  (Erl.  24.  S.  4)  geschrieben  hat,  die  er  selbst  in  unserm  Werke 
S,  50,  Not.  48  anführt,  mit  der  Erklärung:  „Die  Existenz  eines  <x  intensivi  ist 
anerkannt,  es  handelt  sich  bloss  um  seine  Genesis"  u.  s.  w.j  so  wünschte  Ref. 
wohl  zu  wiesen,  ob  er  das  Osterprogramm  des  Gymnasiums  zn  Cöslin  vom 
J.  1846:  De  alpha  intensiv u  von  Dr.  F.  H.  Uennike  (28  S.  4.),  der  das 
Döderlein'sche  Programm  an  mehreren  Stellen  bespricht,  nicht  kannte  oder  ge- 
flissentlich ignortrte,  um  nicht  für  die  Polemik  Raum  in  Anspruch  zu  nehmen  ? 
Hr.  H.  bestreitet  das  a  intensivum. 

u«*  rSrhluM  fnlot  ) 


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Fr.  28.  HEIDELBERGER  1811 

JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR. 


(SchlüM.) 

Zwar  fehlt  es  gar  aicbt  an  Stellen,  wo,  wie  bei  manchen  Stellen  feiner 
frühem  Werke,  der  Verf.  etwas  zu  kühn  erscheint,  wo  er,  nach  unserer 
Ansicht,  mit  einer  Art  von  Zwang  Unvereinbares  zusammenstellt,  wah- 
rend Naheliegendes  nnd  Verwandtes  auseinandergehalten  wird.  Aber  weit 
öfter  begegnet  man  Erörterungen  und  Zusammenstellungen,  die  so  schla- 
gend, treffend  und  einleuchtend  sind,  dass  man  sich  wundert,  fast  ärgert, 
dass  man  nicht  salbst  auf  das  gekommen  ist,  was  so  nahe  lag  und  nun 
so  offen  da  liegt.  f 

Wenn  nun  der  Ref. ,  um  seine  Tbeilnahme  oder  vielmehr  sein  In« 
teresse  an  dem  Werke  zu  bethatipen  ans  welchem  viel  gelernt  zu  haben, 
er  offen  gesteht,  einen  Tbeil  des  Buches  mit  Bemerkungen,  Zusätzen,  Ein- 
wendungen oder  Ausstellungen  begleitet,  so  beobachtet  er  nur  seine  Q*t 
wohnbeit,  die  ihm  fast  noch  nie  missdeutet  wurde,  und  wobei  er  eben 
seine  aubjective  Ansicht  ausspricht. 

S.  3  will  es  dem  Ref.  gar  nicht  einleuchten,  dass  eXXo;,  stumm,  du 

« 

überdies.«»  auch  nach  Andern  durch  schnell  zu  erklären  ist,  und  vielleicht 
nur  durch  die  Aussprache  sich  von  saäo^  unterscheidet,  durch  Trübung  des 
et  privat,  in  a  aus  aXaXoc  entstanden  seyn  könne ,  wie  «070;  aus  acpyo;. 
Diese  Vergleickung  hinkt  stark;  so  wahr  es  ist,  dass  ctpYo;  aus  2epyo$ 
zusammengezogen  ist,  wovon  sich  sogar  bei  Hesvchius  die  doppelt  digam- 
mirte  lakonische  Form  xaßepyoc  findet  ),  *o  passt  es  doch  gar  nicht  zu 
einem  Beweise  oder  einer  Identificirung  von  eXXoc  mit  aXaXo?.  —  S.  5. 
steht:  den  Commentar  zu  dem  Worte  xopu&atoXoc  gebe  II.  VI,  49.  Dort 
findet  sich  aber  nichts,  was  hierher  zu  beziehen  wäre  oder  passte.  Ret 
glaubt,  es  werde  VI,  469 f.  gemeint  sein:  Tapßrjoa;  xaXxövTsio'e  X6<pov 
tkiuoxatt>jv,  deivov  an  axparaTTj;  xopudo;  veuovia  votJooc;.  —  S.  6, 

*)  Thiersch  in  seiner  Gramm,  des  homer.  Dialekts  p.  166,  $.  153  be- 
merkt, es  stehe  bei  Hesychius  opoviucdcaroc  Aaxouvec,  und  sagt,  man  müsse  lesen 
e>u  |ucda»tcc«  Ref.  hat  vom  Hesychius  keine  Ausgabe  als  die  von  Hagenau  1521  fol., 
die  correcter  ist  als  die  Ed.  prc.  Aid.  Dort  aber  steht  Ta^t^-pq.  epyou  jusdeuwe. 
Ref.  vermuthet  appc,  ou  |ucfcutoc. 
XUV.  Jahrg.  3.  Doppelheft.  28 


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Döierkio:  Homeriich«  Glossarium. 


•    -  •  • 


&  9.  DU  hier  (wie  früher  im  6.  Tneil  der  lateio.  Synon.  ood  Etymol. 
a  332)  wieder  vorgebrachte  Ableitung  des  lateinischen  Wortes  serös 
(vom  ^eptoc,  kürzer  rjspoc)  werdeo  wohl  Wenige,  wahrscheinlich  noch 
Wenigere  überzeugend  fioden.  Der  Verf.  sagt  selbst,  sie  sei  gewagt: 
bei  Pott  and  fienfey  finde  er  selbst  keinen  Versuch.  Es  mag  diese  Män- 
ner eben  die  Unsicherheit  des  Feldes  der  Vermuthungen  abgehalten  ha- 
ben, auf  dem  sich  auch  frühere  Etymologen  ohne  Befriedigung  ergangen 
haben,  z.  B.  Becmanus  in  der  Manuductio  ad  L.  L. ,  Martini  im  Lex. 
Philol.,  G.  J.  Vossins  im  Etymol.  L.  L. ,  mit  nicht  besserm  Erfolge,  als 
der  alte  Isidoras,  welcher  sagt:  serum  tempus,  quo  obserantar  fores,  portae, 
januae.  — •  Wenn  S.  12  a^eoftcti,  als  entstanden  aus  ^äCs^äi,  cr/otbs'i- 
Oai  oder  aus  dr/fCsoOm,  &yßbz3$m  erklärt  wird,  so  war  es  doch  natür- 
licher, bei  dem  nothwendigen  Gedanken  an  cr/öo;,  auf  das  gleichgebil- 
dete jiq/vVo;  zu  blicken,  bei  dem  man  doch  zuerst  an  jiGfe»  denkt  nnd 
tchwerlich  auf  ein  |iox«Ceo^at,  fioxa&o&at,  fioyjCeoftat  und  fioxefleodm 
kommen  wird,  womit  wir  übrigens  des  Verf.  Ansicht  von  den  Verbis 
anf  *L  jew,  —  oseiv  und  —  detv  nicht  bestritten  haben  wollen.  S.  15 
wird  der  Name  "Aprfi  durch  Äipv^,  ötsi'piov  zu  erklären  versuch!,  ood  der 
Gedanke  hübsch  auseinander  gesetzt.  Ob  aber  auch  wahr?  Freilich,  wenn 
Uns  der  Verf.  eine  bessere  Ableitung  geben  heisst,  werden  wir  lieber  ein 
Nichtwissen  gestehen,  als,  ihm  noch  weiter  folgend,  in  dem  lateinischen 
Mars  am  m  einen  Rest  von  \ii~A  und  demgemitss  in  Mavors  eil  griechi- 
sches jmee  — -  aoproc  erkennen.  So  falsch  das  „Jam,  qoi  magna  vorte- 
ret  llavors*,  das  Cicero  (N.  D.  II,  26)  dem  Stoiker  Baibus  in  den  Mund 
legt,  sein  mag,  so  ist  es  doch  ansprechender,  als  diese  Erklärung,  wobei 
wir  uns  übrigens  vor  der  Deutung  verwahren ,  als  ziehen  wir  das  An- 
sprechende  dem  Richtigen  in  irgend  einer  Weise  vor.  —  S.  20  ist  aus 
II.  XIV,  150  cilirt  tn  6*&*03ovre  ÄStfaÖlJV.  Diess  Findet  sich  aber  weder 
dort,  noch  sonst  irgendwo.  Aber  II.  XII,  148  steht  Ao^jict)  ^d&asovTS 
itspt  oq>fetv  ftpW»  uXtjv,  und  II.  XV,  150,  die  vom  Verf.  gemeinte, 
aber  falsch  citirte  und  falsch  geschriebene  Stelle :  tw  tffltt  Socvte  raTaofrrjv. 
—  S.  24.  Ohne  das  Wort  ijpto^  mit  Herr  und  dem  lateinischen  herus 
fdenliGciren  zn  wollen,  welches  der  Verf.  eine  oberflächliche  Identrfici- 
rnng  nennt,  möchten  mit  uns  doch  Viele  in  der  Benennung  fjpios^  stiebt 
ohne  inneres  Widerstreben  „zu  Luft  gewordene  Menschen,  in  der  Luft 
schwebende  Geister"  jßjspoJTül)  erkennen,  gleichsam  „ossiaoische  Lnft- 
geistertt,  wenn  schon  nicht  zu  lüugnen  ist,  dass,  abgesehen  von  den  ho- 
merischen Heroen,  in  dem  griechischen  Volksglauben,  wo  sie  Übrigens 

von  den  Dämonen  und  Genien  unterschieden  wurden,  ihnen  etwas  Gei- 

. '»  •  *• 


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«5 


sterfaaftes  zugeschrieben  wurde,  \  ergl.  Creuzer's  Symb.  uod  Mythol.  III. 
S.  736 ff.  —  8.  3Ä  wird  uns  angesoonen,  die  Quelle,  tot^t),  als  Femi- 
Dioform  von  lrrflöc,  feist,  zu  betrachten,  uod  es  wird  Bit  Scharfsinn,  aber 
doch  nicht  überzeugend,  ein  Zusammenhang  der  Begriffe  nachzuweisen  ge- 
sucht, euch  von  dem  Sprachforscher  mit  kritischem  Scharfsinn  an  den 
Sp ro ctiforsch c r  mit  poetischem  Sinn  sppdlirt .  yycoq  sfacr  üucIi  dieser  nicht 
zustimmt,  so  Will  der  Verf.  lieber  das  Etymon  ruihselhaft  nennen,  als 
mit  Damm  irr/Y*]  ton  meiv  oder  mit  dem  Etym.  M.  von  injöav  ableiten. 
Und  so  woUen  wir  denn  aach  lieber  cum  non  liquet  ratheo.  —  S.  34. 
Wenn  es  richtig  ist,  da»,  wie  hier  angegeben  ist,  icacoaXoc  den  Nagel, 
um  Etwas  daran  aufzuhünffen  bedeutet  das  lateinische  nessulus  aber  die 
Bedeutung  eines  befestigenden  Riegels  bat,  so  trifft  Jenes  allerdings  in 
der  Steile  U.  V,  209 f.  orcö  ftaoodAoo  örpcuX«  to^-eXoll^v  zu,  and  so 
braucht  es  auch  Pindarus  Ol.  I.  25:  Acopiav  a7io  «popjiLrya  rcaoaaXoö. 
Xcqxßavs.    Aber  nicht  passen  will  des  Aeschylus  Gebrauch  im  Prometheus 

Opomqj  tw'yw  :  so  wie  nicht  zu  der  Bedeutung  von  pessulus,  obgleich  mit 
dem  Akte  des  Hephastos  dem  Entkommen  des  Prometheus  ein  starker  Rie- 
gel vorgeschoben  war.  —  S.  38,  wo  von  den  vom  Hephästos  seinen 
Dreifüssen  angesetzten  Rädern  die  Rede  ist,  wird  II.  VIII,  376  citirt:  die 
Stelle  ist  aber  II.  XVIII  im  angef.  Verse.  —  Wenn  Hr.  Prf.  D.  3» 
unter  frrwfc  anführt:  „agea,  via  in  navi  dicta,  quod  in  ea  maxima  quae* 
que  res  agi  solet.  und  Gl.  Labb.  agear:  itapauixov  [der  Verf.  vermuthet 
fcapafieveuv ,  nach  der  Analogie  von  aywv]/caL  ndpodtK  rcXotou,  so  ver- 
misst  man  die  Angabe,  woher  denn  diese  zwei  Stehen  sind,  was  gegen 
die  Gewohnheit  des  Verf.  ist.  Ref.  fand  sie  bei  Festus  (in  der  Ausg. 
des  Verrius  Flaccns  und  des  Sex.  Pompej.  Festus  von  Jos.  Sealiger  ap. 
Santandr.  1593.  8.)  p.  VIII.  Im  Commentar  dazu  macht  Seal.,  nachdem 
er  die  griechische  Glosse  gegeben,  folgende  Bemerkung:  „Conjunctio  xot 
superflua  est.  Cetera  corrnptissima  ita  legenda :  Agea  Ttapä  'Evvuo  r\ 
zopoÄoc  T&oioo.    Isidoras  in  Etymologicis  Lib.  XIX.  Agea,  inquit,  viae 

•  4  ... 

sunt,  vel  loca  in  navi,  per  quae  ad  remiges  bortator  accedit.  de  que  En- 
nies:  llulta  forom,  pontes  et  ageaque  longa  repletur.  Haec  ille,  quae 
emendalionem   nostram  conürmant.u  *)  —  Wenn  es  S.  40  heisst  ays- 


*)  Zur  Vollständigkeit  fügt  Ref.  noch  bei:  dass  die  Stelle  des  Isidor  M 
der  Ansg.  des  Dionys.  Gothofredas  v.  J.  1622  im  2.  Cop.  p.  1256  steht,  wo 
der  Vers  des  Eneius  hei&st :  Multa  foro  ponet  et  agiavia  longa  repletur.  K. 
Spangenberg  in  seiner  Ausg.  der  Annalen  des  Erraios  (Lib.  Vit,  52.  p.  99)  gibt 

28* 


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436 


Xefy  sei  „Xetav  aitcrpuaa  oder  besser  Xetav  ircarouaa",  so  wir  es  noch 
besser,  zu  sagen,  sie  sei  Xetav  ayouaa,  sei  es  nun  afta?oooa  oder  *sita- 
fOOoa.  —  S.  46  steht  durch  eine  kleine  Uebereilung,  TtaA'.vaypSTo;  heisse, 
was  sich  nicht  wieder  sammeln  lässt.  Das  heisst  es  nicht  ohne  den 
Znsatz  c/j,  welcher  auch  in  der  angeführten  homerischen  Stelle,  der 
einzigen,  wo  es  vorkömmt,  dabei  steht.  Wenn  der  Verf.  in  der  Note 
18.  6.  51,  in  dem  <x,  von  ova  bei  Zusammensetzungen  hergeleitet,  die 
Bedeutungen  zurück  und  wiederum,  also  auch  eine  Art  von  Verneinung 
erkennt,  und  demnach  in  der  Präposition  äva  die  entgegengesetzten  Be- 
griffe von  nicht  und  sehr  annimmt,  so  mnssRef.  doch  gegen  diese  En- 
antiosemia  Etwas  einwenden.  'Ava  ist  nun  einmal  der  Gegensatz  zn  xotd, 
wie  ovo  zu  xat(u>.  Ist  nun  in  xaxaveuü)  das  bejahende  Nicken,  so  kommt 
diess  daher,  weil  der  Bejahende  mit  abwärts  (vorwärts}  nickendem  Haupte 
diess  andeutet;  verneint  er,  so  wiegt  er  das  Haupt  nicht  vorwärts  (ab» 
WÄrts),  sondern  aufwärts  (rückwärts;.  Die  Verneinung  isl  aber  nicht 
im  Zurückdrehen  oder  Zurückwerfen,  sondern  im  Aufwerfen  des  Kopfes. 
So  ist  es  denn  auch  mit  avaßXaatavetv.  Sagt  der  Verf.,  die  Wiederho- 
lung ist  ein  Bild  der  Fülle,  so  bemerken  wir,  dass  zwar  allerdings ,  wenn 
eine  abgeblühte  oder  scheinbar  abgestorbene  Pflanze  wieder  frische  Spröss- 
linge  nnd  Blttthen  treibt,  diess  avaßXasravetv  ist,  die  Präposition  aber 
als  Gegensatz  des  Abblühens,  Ablebens,  das  Aufleben  andeutet,  das  anfs 
Nene  leben,  aber,  genau  genommen,  nicht  das  Wiedcrleben  oder  ins  Le- 
ben zurückkehren,  folglich  dva  wobl  einen  Gegensatz  zu  xata,  aber  keine 
Negation  bildet,  wie  das  Linke  dem  Rechten  wobl  gegenüber  oder  ent- 
gegen steht,  es  aber  nicht  negirt,*)  —  Wenn  es  heisst,  vor  Gaisford 
bei  Hesiod.  Theog.  832  habe  man  ayaopou  accentuirt,  Mutze«  in  Tkeog. 
p.  342  f.  (nemlich  De  Emendat.  Theogon.  lies.)  habe  jedoch  genügend 

ihn  nach  Merula's  Conjectur  (p.  XVI II.  und  p.  CCCCXIsq.  Lugd.  Bat.  1595.  4.): 
Multa  foro  ponens,  ageaque  longa  repletur;  führt  aber  die  Correctur  von  Jo. 
Scheffer  de  Militia  Navali  an  (sie  steht  Lib.  I.  cap.  6.  p.  50.  ed.  Upsal.  1654. 
4.):  Hnlta  foro  ponunt,  agearia  longa  replentur. 

*)  Vergleichen  wir  noch  avcrßoRvav:  ein  Schiff  besteigen,  von  der  niedri- 
gen Kaste,  vom  Wasserrande,  an  Bord,  also  hinaufsteige«,  dann:  von  der  Küste 
landeinwärts,  also  auch  wieder  hinaufsteigen,  wess  wegen  man  ja  sagt,  Xeno- 
phon's  dvoßaaie  schildere  eigentlich  vom  zweiten  Buche  an  eine  xato^aote  Fer- 
ner dwafetv  (mit  und  ohne'  vfjat)  auf  die  hohe  See  fahren,  und  xaTdtjtiv  ein 
ßchiff  von  der  hohen  See  in  den  Hafen  bringen;  beides  darum,  weil  der  am 
Ufer  Stehende  den  fernen  Horizont  als  höher  erblickt,  der  dem  Lande  zu  Fah- 
rende (an  eine  flache  Küste)  das  Land  tiefer  za  sehen  glaubt. 


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437 


nachgewiesen ,  dass  die  altera  griechischen  Grammatiker  aroopoc  vorzo- 
geo;  so  bemerken  wir,  dass  nicht  nur  in  der  Amsterdamer  Ausgabe  des 
Hesiodus  cum  notis  varr.  von  1701  an  der  angeführten  Stelle  io  der  Nota 
des  Guyetus  oVjfaupoo  steht,  sondern  auch  schon  im  Texte  der  seltenen, 
Cristinischen  Ausgabe  von  1570.  12.  —  S.  67  werden  die  Leser  ge- 
warnt, sich  bei  dem  homerischen  fiopfiupsiv  (II.  V,  599)  nicht  durch 
murmurare  and  murren  und  das  ganz  spate  fiopfjtupt'Ceiv  verführen  zu  las- 
sen,  es  mit  dem  Scboliasten  für  onomatopoetisch  zu  halten:  da  es  das 
reduplicirte  fiupeiv  (Hes.  Scut.  132)  sei  und  (hassen  heisae,  nicht  rau- 
seben, noch  bei  Homer  immer  jrjpeoftai  in  Thriinen  zerfressen  bedeute, 
auch  rauschen  an  den  Stellen  II.  V.  599.  Will.  403  nnd  XXI,  325 
(wo  immer  &pp<5  bei  jAOpjiupstv  steht),  weder  zu  diesem,  noch  xu  t6ü>V 
passe,  ood  wenn  A  pol  Ion.  im  Lex.  Horn,  sage  fiopfiupcov.  «poßep&v,  so 
müsse  man  aus  Schol.  ad  II.  XVIII,  403  lesen  cpoßepüK  Cst»>v.  Hierzu  be- 
merken wir,  dass  die  letztere  Verbesserung  schon  Villoisoo  vorgeschla- 
gen bat,  wobei  wir  hinzufügen,  dass  das  Qeh  dem  aeppo;  wohl  zukommt, 
weil  der  Schaum  nicht  ohne  ein  Zischen  ist,  auf  jeden  Fall  aber  ein 
durch  starkes  Strömen  schäumendes  Wasser  ist,  Voss  also  wohl  über- 
setzen konnte  (V,  599):  voll  Schaum  hinbrausen  ihn  sieht,  und  Wie- 
dasch: mit  Schaum  hinrauschen  ihn  sieht.  —  S.  68  wird  ans  Od.  XIII, 
274  5<ppa-ftXeuexat  citirt,  die  Stelle  steht  aber  XIV,  400.  —  S.  9a 
oben  wird  Tibullus  IV,  5,  9  citirt  und  gesagt,  das  lateinische  manus,  gut, 
sei  jetzt  nicht  mehr  bloss  durch  den  Cerus  manus  bekannt,  seit  Bachmann 
dort  aus  den  Mss.  Mane  geni,  cape  tnra  libens  wiederhergestellt  habe, 
statt  Alme  oder  Manne  Scaliger,  der  im  Jahr  1577  den  Tibullus  neben 
Catnllus  und  Propertius  herausgab,  that,  als  ob  er  zuerst  richtig  Magno 
gebe.  Dieses  findet  sich  aber  auch  schon  in  einer  Gryphisna  vom  Jahr 
1546  und  einer  Aldina  von  1558,  die  Ref.  vor  sich  bat;  eine  Veneta 
vom  Jabr  1500  (nicht  Aldina ;  s.  Ed.  Bip.  p.  XLIIsq.),  die  Ref.  auch  ein- 
sah, bat  noch  Mane.  Ref.  bemerkt  nur,  dass  nicht  erst  seit  Lachmann 
Mane  geni  wiederhergestellt  im  Text  steht,  sondern  seit  Voss,  in  seiner 
Aosg.  vom  Jabr  1811.  Ref.  hat  selbst  für  Voss  fünf  Mss.  im  Jabr  1809 
in  Leydeo  ans  der  Bibliothek  des  Is.  Vossius  verglichen,  nnd  in  vieren 
derselben  magne,  in  einer  mane  gefunden.  —  Um  unsere  Bemerkungen 
zu  sebfiessen,  wollen  wir  ohne  weitere  Erörterungen  noch  eine  Anzahl 
Ableitungen  anführen,  die  uns  nicht  zusagen,  weil  sie  allzu  gezwungen 
erscheinen.  S.  52  wird  bdkoaaa  mit  acaXaCeiv,  ftf*  mit  <m&xt,  d^aat 
mit  ara'Cetv,  Oa'pooc  mit  oreppo?  verglichen;  S.  55  gilvns  (unser  gelb) 
mit  YfiXav;  S.  61  wird  mit  dem  homerischen  fyiusiv  das  Lateinische  roe- 


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43Ö 


are,  movere  und  mutans  zusammengestellt,  and  behauptet,  da«  in  dieselbe 
Familie  auch  ftpac'ßeiv,  ijiudBttV  und  uiflwetv  gehören;  S.  64  t  fy6n>c  «ad 
^/ißpoc  unter  jzopec&at,  anch  orfwpT);  ß.  71  sehen  wir  öXf/n£  mit  veles 
vnd  wild,  ojuat^t:  mit  miles,  Plankler  mit  rJ^^aodai  zusammengestellt; 
8.  103  wird  sogar  die  Idealität  des  ö\>;  mit  dem  deutschen  za  und  eng- 
lischen too  vermuthet. 

-  '  Ref.  kann  aber  nicht  scliliessen  ,  ohne  nochmals  das  grosse  Leber- 
gewicht  neuer  und  treulicher  Etymologien,  die  Berichtigung  des  Verständ- 
nisses vieler  Stellen,  nicht  bloss  bei  Homer,  endlich  auch  die  Verbesse- 
rung mancher  Lesarten  hervorzuheben,  und  xnr  Probe  hier  Einiges  bei- 
lusetzen.  S.  3,  Note  5,  findet  sich  eine  Verbesserung  des  Herodotus  bei 
der  durch  Leeart  und  Erklärungen  von  den  Herausgebern  öfters  bespro- 
chenen Stelle  1,  75  öpYTjV  cr/oor,  ob  man  so,  oder  o^rv  oux  axpo; 
lesen  müsse.  S.  Bährs  Herodot  Th.  I.  p.  188  und  das.  die  Anmerk. 
Unser  Verf.  sagt  dazu:  „Homer  hat  axpo;  ner  in  localer  Bedeutung; 
Herodot  braucht  es  schon  bildlich,  aber  nur  im  Sinn  von  herrlich.  Ea 
Miss  heisseo  t>,pv  äxpypo;  nach  Aeschyl.  Prom.  678,  was  eben  diejenigen 
verstanden  wissen  wollten,  welche  die  Negation  zwischeneinsetzen  zu 
müssen  glaubten."  Voss  übersetzt  dort:  linzaam  im  Jähzorn.  8.  5  wird 
hei  xopuftoioXoc  die  Bedeutung  Heimbuscbsehülller  and  Monje's  gewalti- 
ger Stürmer  im  Uelmbuseh  zorückgewiesee ;  dam  oupoc  die  Bedeutung 
Seewind  vindicirt  (S.  9),  weil  es  nur  in  Verbindung  mit  wcta&ev,  ixf«- 
voc,  xaXAi/ioc  einen  günstigen  Fahrwind  bedeute,  S.  10  oeAAa  das  We- 
hen öder  der  Wind,  aber  nicht  Sturm;  S.  23  aqtoirj  eher  Pfeil,  ab 
Wurfspiesa;  S.  3t  £xr.ay/.o;,  der  das  Blut  in  den  Adern  ersUrren  macht, 
eigentlich  und  tropisch;  wobei  der  Verf.  die  merkwürdige  Aeuiserung 
anfügt  (m  einer  Note):  ..Ich  entsage  also  hiermit  dem  uralten  Irrthum, 
den  ich  40  Jahre  lang  habe  verbreiten  helfen,  dass  8X7torrA.oc  statt  Ix« 
kXoyqc,  von  ixitXrpGStv  stehe  (folglich  soviel  als  flXTt/jyxTtxo;  sei.)"  — 
Jetzt  verbindet  er  es  mil  dem  Stamme  IhftvävatL  S.  25  empfiehlt  sich  sehr 
eine  Verbesserung  tu  Od.  VIII,  187,  wodurch  nctxerüc  au  einem  Sub- 
stantiv wird,  und  zugleich  der  Sien  gewinnt.  [Weniger  empfiehlt  sich 
dem  Ref.  S.  34  au  Od.  XXI,  419,  die  Vermutbnng  e/cov  für  saöjv.) — 
S.  38  wird  orrcmiat  Od.  VI,  58,  besser  ab  bisher  (ich  will  fahren)  er- 
klärt, so  dass  Iva-*  bloss  das  Objekt  von  nXuviouoa  ist.  —  S.  44  f. 
wird  über  ärrepü^OC  sehr  befriedigend  gesprochen,  euch  ist  die  Note  41 
sehr  gehaltreich,  während  ßuttmann  im  Lexüogus  II,  S.  98  —  100  sich 
offenbar  selbst  eicht  mit  seiner  Erörterung  befriedigte.  —  S.  53  finden 
wir  eine  gute  Berichtigung  des  Verständnisses  der  homerischen  Stelle  Od* 


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Dü derlein :  Homerisches  Glossarium. 


439 


XVI,  202,  gegen  Voss  und  Buttmann  (aus/.  Gramm.  IL  S.  94),  dass  öccu- 
uiCsiv  sieht  auf  rcorripa  allein,  sondern  auf  Ttaxlpa  fväov  £ovia  fcehe, 
bUo  hier  nicht  die  Bewunderung,  sondern  die  Verwunderung  bezeichne. 
Ebendaselbst  findet  sich  auch  eine  gute  Bemerkung  Uber  Oppian.  HaL  IV, 
138,  wegen  crrafofACtt  und  avauofiai,  mit  Beziehung  auf  Schneidens  An- 
steht nnd  Lobeck's  im  TTjficrnxov,  p.  95.  Ref.  bemerkt  bloss  dazu,  dass 
Rittershnsins  in  seiner  Aasgabe  ttratofisvoi  bloss  am  Rande  als  Lesart 
tafibt,  äY«uöfavoi  aber,  in  der  Bedeutung  von  bewundern,  anstaunen, 
in  Text  behalten  hat.  —  S.  54  wird  sehr  empfehlend  die  Bedeutung  der 
Wogen  frohe  oder  der  auf  dem  Wagen  prangende  (Poseidon  tkftlo?) 
nachgewiesen,  statt  der  Uebersetzuog  von  Stollberg:  Gestadumgurler , 
Vom:  Erdumgürter,  Wiedasch:  Erdumslurmer;  S.  56  finden  wirza  Od.  iX 
230  den  Vorschlag,  itpo<ppu>v  toyovüc  tt  xod  *}mo$  'tow>  wohl  be- 
grüüdet:  nuch  wird  S.  78  in  II.  VIII,  70  u.  a.  0.  xavY)Xsp}C  durch  sehr 
schmerzhaft  (von  dXrstv)  besser,  als  bisher  erklärt,  und  8.  79,  das  noch 
oie  recht  erklärte,  ftaXdiBÖV/ ,  Od.  VII,  123,  durch  die  Verbesserung 
ftttöcedov  (Greg.  Cor.  p.  454)  klar.  Sehr  gut  wird  S.  81  im  Schol. 
Vea.  bei  Villoison:  hm  ök  ttjv  ßoußpoxmv  t6v  ofexpov  l&H&KO  nicht 
mit  J.  Bekker  in  ouctgv,  sondern  in  olorpov  verwandelt,  nnd  8.  89  äji- 
wpr(:i;  nicht  durch  an  beiden  Füssen  lahm,  sondern  an  Händen  nnd 
Füssen  müde  erklärt,  was  sich  an  seinem  hinkenden  Gang  verrathe*  AnJi 
dttrfte  die  Verbesserung  S.  90  B.  XIX,  62  ^uofievetov  utcÖ  x^p^v  IjjtbiJ 
Iito  UTjVi'aavTOC  sich  empfehlen.  Gelegenheit  wird  S.  39  zum  Mo- 
ralins Od.  III,  27,  41,  richtig  bemerkt  (gegen  Orelli),  dass  fugiens  sich: 
raf  so  mm  um  beziehe,  dach  Anleitung  von  Odyss.  IX,  562,  ousvtjvwv 
Wpcjv  (nicht  Stand  haltend.).  S.  100  findet  sich  auch  eine  sich  sehr 
empfehlende  Vermulhung  über  ftpqiviptfrt*  und  S.  112,  Note  94,  da« 
scharfsinnige  Bemerkung  nber  terrov  »J<pa(veiv  und  <I>apo;  Gcpaivetv.V-'  i 

Doch  genug,  und  vielleicht  mehr  als  genug,  um  unsere  Leser,  na- 
mentlich die  Erklärer  des  Homer  auf  Schalen,  auf  den  Reichthum  des  ge- 
diegenen Werkes  aufmerksam  zn  machen,  wiewohl  diess  nur  Wenige  jetzi 
weh  bedürfen  möchten;  zugleich  auch,  um  dem  Verf.  zu  beweisen ,  wre 
sehr  wir  aberzeugt  sind ,  dass  die  Kenntniss  der  homerischen  Sprache, 
namentlich  die  Wortforschung ,  durch  sein  Werk ,  zn  dessen  Vollendung 
wir  ihm  Kraft  und  Math  wünschen ,  wesentlich  werde  gefördert  werden. 
Ref.  hofft  in  einiger  Zeit  Müsse  zn  gewinnen,  auch  das  neuumgearbeitete 
Werk  von  Nägelsbach,  Anmerkungen  zur  Mas,  in  diesen  Blättern  bespre- 
chen zu  können.   .  :     '  '  ■■  '    -1  '    r'f'-  5 

Ulm.  €»•  M.  losetii  • 


44* 


v.  Raaroer:  Antirraarische  Briefe. 


Antiquarische  Briefe  ton  A.  Böckh,  J.  W.  Loebell,  Th.  Panofka, 
F.  t>.  Raumer  und  H.  Bitter.     Herausgegeben  ton  Fried- 

rieh  r.  Raum  er.    Leipzig.  Brockhaus.  1851.  S.  256.  8. 

t        ■  • 

Bekanntlich  gab  der  weise  ind  milde  Alkuin  dem  bisweilen  un- 
gestümen, jüben  Kaiser  Karl  die  Lehre,  er  möge  nach  dem  Vorgang  der 
Apostel,  den  eben  bekehrten,  noch  halb  heidnischen  Sachsen  Milch 
darreichen,  eine  nahrhafte,  dabei  leicht  verdauliche  Speise.  Diese  Regel 
gilt  auch  für  die  politischen  und  literarischen  Verhältnisse  Teutsch- 
lands. Umgekehrt,  oder  zu  rauh  behandelt  wird  es  über  kurz  oder  lang 
in  den  aeltsamen  Veitstanz  der  letzten  drei  Jahre  zurücksinken,  zumal  er 
bei  dem  Uebergewicht  des  Komischen  doch  auch  manches  Tragische  dar- 
bietet. In  Beireff  der  Alterthumswissenschaft,  welche  ja  bei- 
nahe am  Boden  lag,  bat  der  berühmte  Herausgeber  mit  seinen  gleich- 
stehenden Freunden  hier  Alkuins  Weg  eingeschlagen  und  dabei  daa, 
durch  die  Frankfurter,  hier  uod  da  noch  gültigen  Grundrechte  aner- 
kannte Asiociationsprincip  benatzt.  Denn  das  ganze  Büchlein  ist 
die  Frucht  des  von  den  Gescllschaftsgliedern  gegebenen  Beitrags,  gleich- 
sam ein  antiquarisches  Pickenik  oder  Gastmal.  Mannigfaltigkeit 
und  Anregung  musste  dabei  vorherrschen,  heiterer  Scherz  dem  Ernst 
zur  Seite  geben,  aus  der  unendlichen  Masse  des  Stoffs  ein  Bruchstück, 
oft  von  geringem  Schein,  herausgegriffen ,  beleuchtet  und  im  Zusammen- 
hang mit  der  Gesammtheit  nachgewiesen  werden.  Auf  Erschöpfung 
kam  es  dabei  häufig  nicht  an,  wohl  aber  auf  das  Herausstellen  minder 
beachteter  Seiten  und  gemeinfasslicher ,  gleichsam  praktischer  Satze. 
Eben  so  wenig  konnte  die  Form  streng  gebunden  erscheinen ;  sie  wählte, 
wie  es  im  Gespräch  begegnet,  mit  Plan  häufige  Abschweifungen  vom  je- 
maligen  Hauptgegenstand ;  mit  einem  Wort,  sie  trachtete  nach  einem  grös- 
seren Publikum;  sie  ging  über  den  Kreis  der  eigentlichen  Gelehrten  und 
Fachleute  hinaus  in  das  pulsirende  Leben  der  Gebildeten  ein,  und 
lochte  demselben  einzelne  Aufgaben  der  strengen,  abgeschlosseneu  Wissen- 
schaft mindestens  interessant  zu  machen.  Aber  auch  die  eigentlichen 
Altertumskenner  werden  dabei  nicht  leer  ausgeben  uud  manches  Nene 
finden,  z.  B.  Bückh's  Mulhmassuug,  die  bisher  dem  Xenopbon  beige- 
legte Schrift  vom  Staat  dar  Athener  gehöre  dem  ultra-aristokratiscbeo 
Scbreokensmann ,  Kritias,  an.  Die  Beweise  sollen  später  nachgeliefert 
werden.  —  Dem  Innalte  nach  könnten  die  Briefe  in  drei  Ahlheilungen 
zerfallen,  in  literarhistorische,  tbeologisch-philosophisch- 
didaktischo  und  philologisch  -  artis  tische.    Die  erste  Klasse 


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v  Ronmpr*  Anlinunrisclie  Briefe. 

T «    llllUIMCI  .      numjuuiwwww  •  W» 


wird  hauptsächlich  durch  v.  Räumer  und  Böckh  vertreten;  ne  behan- 
delt besonders  Xenophon  und  Piaton  (Br.  1.  2.  3.  4),  Tacitoe 
und  Thucydides  (Br.  6.  12),  Pausanias  (Br.  13),  Herodot 
(Br.  13  und  6),  Polybius  (Br.  15),  Dionysius  von  Halikarnaae 
(Br.  16),  Appian  (Br.  17)  u.  s.  w.  —  Dabei  unterlässt  es  der  Verfc 
nicht,  manche  beachtenswert  he  Winke  über  das  Studium  der  Geschieht© 
and  die  historische  Kunst  zu  geben.  Ja,  Böckh  ist  so  dreist,  dass  ei 
letztere  geradezu  für  äusserst  schwer  und  fast  nur  den  Alten,  d.  h.  Rö- 
mern nnd  Griechen,  in  letzter  Vollendung  erreichbar  hüll,  eine  Aumas- 
sung,  welche  ihm  von  den  allezeit  fertigen  Chronisten  der  Tagesbegeben- 
heiten übel  verdeutet  werden  möchte.  Auch  die  sogeheissenen  Ueber- 
allhistoriker,  welche  jeder  Richtung  des  Zeitbewusstseins  folgen  und 
ein  Gesammtbild  desselben  geben  wollen,  dürften  nicht  beistimmen. 
Es  beisst  nämlich  S.  57  also:  „Thucydides,  wünsche«  Sie,  hätte  Athen  in 
aller  Vielseitigkeit  seiner  Gloria  geschildert.  Sie  verlaogen  von  ihm  mo- 
derne Universalität ;  er  aber  wollte  von  Dem  schreiben,  was  er  verstand, 
es  genügte  den  Alten  beschrankte  Aufgaben  zu  lösen,  wir  werfen  uns 
immer  gleich  ins  Unendliche,  wie  schon  Göthe  gesagt  hat,  und  kommen 
darum  auch  nicht  zu  abgerundeten  Werken  und  plastischen  Gestaltungen 
nnd  werden  niemals  fertig.  Die  politische  Geschichte  soll  die  ganze 
Literatur-,  Kunst-  und  Sittengeschichte  umfassen;  die  Literaturgeschichte 
pfropfen  wir  voll  mit  politischen  und  andern  Thatsachen.  Die  Alten  kann- 
tcn  den  Grundsatz  von  der  Theilung  der  Arbeit  so  gut  wie  wir,  und 
befolgten  ihn  besser  als  wir  in  Kunst  und  Wissenschaft.  Darin  liegt  ihre 
Virtuositit."  Da  ist  einmal  der  Nagel  auf  den  Kopf  getroffen.  —  Die 
zweite  Gattung  der  Briefe,  theologisch- philosopliif ch-didak- 
tischen  Inhalts,  beschädigt  sich  mit  Platon's  Phödon  und  der  Un* 
ilerblichkeitslehre  (Br.  18.  21.  22.  23),  alter  und  christlicher 
Philosophie  (Br.  23  nnd  24),  welche  letztere  besonders  Ritter  erör- 
tert (Br.  24),  dem  Fortschritt  der  Menschheit  mit  Bezug  auf  Ari- 
stoteles nnd  Leibnit(Br.26).  Merkwürdig  ist  die  Nachricht  (S. 209), 
dass  etliche  hoebmüthige  Kritiker  den  nordamerikauischen  Staatswesen 
Jefferson  in  Bezug  auf  transcendentale  Philosophie,  namentlich  die  Un- 
sterblichkeitslehre, einen  Philister  gescholten  haben.  Diesen  Beinamen 
kann  sich  der  Mitbegründer  der  wirklichen,  nicht  oneiropoli tischen 
Union  immerhin  gefallen  lassen,  auch  wenn  seine  Bedenken  gegen  die 
Stichhaltigkeit  der  Platonischen  Beweise  unbegründet  sein  sollten.  Hatte 
man  nur  in  Teutschland  statt  der  mystisch-staatsrechtlich  schwärmen- 
den Hohl-  nnd  Querköpfe  der  Paulskirche  und  des  Martinstiftes  eine» 


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44*  \.  Räumer:  Antiquarische  Briefe. 

derartigen  Philister  gehabt!  Die  d  o  k  t  r  i  n  ü  r  -  b  u  r  s  c  h  i  k  o  s  c  n  Trän- 
mereien  würden  daoo  nicht  oufges liefen  sein.  Und  wie  viel  Geld,  Zeit 
und  Schmach  hätte  man  sich  erspart!  —  Der  Herr  Herauggeber,  be- 
lehrt durch  seine  legislativ-diplomatischen  Reisen  nach  Frankfurt  und  Pa- 
ria, spricht  auch  deaahilb  nicht  viel  von  den  kostspieligen  Luftgebilden, 
sieht  jedoch  woW  zu  schwarz,  wenn  er  den  Teutaeben  mit  ihren  40 
Millionen  Köpfen  daa  Schicksal  der  Griechen,  Theilung  und  Interthä- 
nigkeit  unter  die  Fremden,  vorhersagt.  „Und  wird  nicht,  bei*  >  t  es  S.  139, 
den  Deutschen  ein  gleiches  Verderben,  wie  damals  den  Griechen  bereitet, 
durch  wilde  (jetzt  gezähmte)  Demagogen,  arglistische  Diplomaten,  eitele  Kö- 
nige waren  sie  es  a  1 1  e  i  n? ),  kurzsichtige  Volksslämin*  (warum  setzen  sie  keine 
Brille  auf?)  und  habsüchtige  Grossmäcbte?"  —  OhaeSparta's  Widerspruch  hätte 
Athen  für  Griechenland,  ohne  Oesterreichs  Widerspruch  Preuaaen 
für  Deutschland  ein  ähnliches  Ziel  (die  Einheit)  erreicht«  (S.  149).  — 
Dergleichen  unionistische  Nachklänge  sind  theiis  unzeitig,  dn  der 
Bundestag  wiederhergestellt  ist,  thejls  unrichtig,  weil  ja  Oester re  ich 
immer  und  nicht  ohne  Grund  zu  Teutschland  gezahlt  wurde.  Mit 
vollem  Recht  wird  dagegen  die  religiös-kirchliche  Unduldsamkeit 
bekämpft  ued  die  Ketzerverfolgung  die  rabeuachwarze  Seite  christ- 
licber  Kirchengeschichte  genannt,  welche  für  die  Zukunft  unmöglich  ZU 
machen,  noch  immer  eine  Hauptaufgabe  unserer  Zeit  bleibe  (8.  152}.  — * 
Dean  didaktischen  Gebiet  gehört  der  neunzehnte  Brief  ao,  in  welchem 
vom  Erlernen  der  alten  Sprachen  gehandelt  wird.  Herr  von 
Kaum  er  entscheidet  sich  für  dio  Uncrlisslicbkeit  gegenüber  den  künfti- 
gen Gelehrten,  hält  aber  für  die  Unstudirten  den  Gebranch  guter 
Übersetzungen  in  Volkzbibliolheken  für  hinlänglich  (S.  196}.  In  Be- 
zug auf  denselben ,  trotz  der  häufigen  Besprechung  nicht  erledigten  Ge- 
genwand schlägt  Herr  Penofki  (Br.  20)  vor,  bei  Erklärung  der  Klas- 
siker  schon  auf  Schulen  die  alte  Religion,  Mythologie  und  Kunst 
zu  berücksichtigen  und  dafür  Bildwerke  zu  gebrauchen,  welche  un- 
mittelbar auf  Phantasie  und  Anschauungs vermögen  des  Schülers  belebend 
zurückwirken  müssen.  Schwerlich  wird  man  das  hier  Gesagte  missbilli- 
gen  oder  die  Entrüstung  tadeln,  welche  den  Briefsteller  bei  der  Gleich- 
gültigkeit gegen  das  von  ihm  bereits  vor  Jahren  durch  den  Druck  dar- 
gebotene Hnlfs-  und  Schulmittel,  ein  antikes  Bilderwerk,  überläuft.  Mit 
Fug  und  Recht  wird  auch  die  Viel-  und  A Her welts wisse rei  künf- 
tiger Philologen  und  Gymnasiallehrer  getadelt;  sie  sollen  neben  den  al- 
ten Sprachen  und  darauf  bezüglichen  Hilfswissenschaften  auf  der  Ueiver- 


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v.  Räumer:  Antiquarische  Briefe, 


443 


iscb  und  Sanskrit  hören,  um  das  Oberlehrerexamen  glücklich  zu  besteben 
und  dann  aar  den  Gymnasien  in  diesen  verschiedenen  Fächern,  je  Dach 
Bedürfnis*  zu  unterrichten  (S.  199).  Das  ist,  könote  mao  beifügen,  der 
gerade  Weg  zur  civilisirten  Barbarei,  die  Schulbildung  zur 
Bestialität,  wie  sie  einst  der  treffliche  Evers  in  Aaran  vom  Stand- 
punkt des  handgreiflichen  Ntttzfichtettsprincips  ausgehend  dem  Begriff  und 
Wort  nach  feststellte.  *)  :  '    *  '  «  " 

Die  dritte  Ablheitong  der  Briefe  konnte  mao  die  philologisch-» 
artistische  oder  ästhetische  nennen;  ihr  Haupt  Vertreter  ist,  wah- 
rend auch  Böckh  and  v.  Raum  er  gelegenheitliehe  Beitrüge  tiefem, 
Penofka  (Br.  6—8,  Br.  20  u.  25).  Bei  dem  vielen  Lehrreichen  trifft 
man  dennoch  bisweilen  auch  auf  Gegenstände  bestrittener,  zweifelhafter 
Art.  So  wird  die  Arkadische  Stadt  der  Kleitores  um  einer  scharf- 
sinnigen Hypothese  willen  anf  KAcdOim  ,  KXim  zurückgeführt  und  ähnlich 
dem  Lateinischen  Cliternum  als  Spinnstadt,  Ort  der  Spindler, 
gedeutet.  Allein  hier  gehet  der  gelehrte  Verf.  wohl  zu  weit  and  rer- 
gisst  die  zunächst  gelegene  Wortwurzel,  welche  auf  Berg-  oder  Schloss- 
stadt  leitet.  Denn  ausdrücklich  beisst  es  ja  bei  Paasanias  (VIII,  21, 
3):  ,,  K I  i  t  o  r  liegt  in  der  Rhene;  ringsum  streichen  nicht  gar  höhe 
Bergeu  (welche  also  die  Stadt  förmlich  einschliessen  und  ihr  den  Namen 
geben.).  Wozu  soll  man  da  an  die  Spinnerin  und  die  Spindler  den-J 
fte»?  Glücklicher  werden  dagegen  Lannvium  alt  Wöllstadt,  Cl** 
ternmti  als  Spionstadt  aad  das  hier  angesehene  Geschlecht  der  Co-i 
)ei  als  Spindler  gedeutet.  Solche  Wortspiele  in  manchen  Studio-  und 
Familiennamen  erläutert  der  Verf.  bisweilen  durch  entsprechende,  aber 
bedeutungslos  gewordene  Falle  der  Neuzeit.  So  sagte  ein  be- 
kannter Reuender,  heisst  es  S.  68,  bei  dem  Bestich  der  preusmehen  Kö- 
nigsstadt: „Von  Raumer  habe  ich  leider  nicht  angetroffen?  er  durch- 
nisit  wieder  weite  Räume  und  bereist  jetzt  Nordamerika."  Einer  beson- 
ders gastfreundlichen  Aufnahme  erfrente  ich  mich  bei  den  verschiedenen 
Gliedern  der  Familie  Beer,  einer  der  angesehensten  in  Berlin.  Dürften 
wir,  kommentirt  nun  Herr  Panofka,  von  Seiten  des  Verf.'s  ein  Wort- 
spiel voraussetzen  zwischen  dem  Eigennamen  Beer  und  dem  Stadtnamen 
■  •   /   *  f  !   "    •  i  •  •  '      ,  ! 

•.:•>•:•     !  r  .      :  » .1         '•  , '  vv  !  ;  .! 

*)  Ein  geborner  Hannoveraner  kehrte  dieser  geistvolle  Schulmann,  Mok 
ster  des  Fachs,  nach  fünfzehnjähriger  Abwesenheit  in  das  Land  der  Tromm- 
ler und  Träumer,  gen  Oneiropntngonien,  zurück  (1817),  und  ärgerte 
sich  etliche  Jabre  später  buchstäblich  zu  Tode.  Das  erwfihnte,  eines  neuen  Ab^ 
drucks  würdige  Programm  erschein  4*0?  tä  Aorta.  :j.m.  >■>      i  >  -  f 


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^^^^^  Üöq  ncior  *     n  1 1  cj  u  tir  i  sc  Ii  o  Bnofc# 

Berlin  Bern;  Biirenstodt  nach  der  etymologischen  Abteilung) ?  oder 
dürfen  wir  noch  dem  Vorbild  von  Lanuvinm,  das  die  angesehene  Familie 
4er  Co  1  ei  (Spindler)  ans  Licht  rief,  annehmen,  weil  die  Stadt  Berlin 
einen  Bären  als  Wappen  gebraucht,  gebore  daselbst  die  Familie  Beer 
an  den  bekanntesten?  wogegen  nicht  bloss  die  vielen  Wolf,  die  unsre 
Residenz  zu  ihren  Einwohnern  zahlt,  protestiren  werden,  sondern  noch 
die  erhebliche  Zahl  der  Beer  beiderlei  Geschlechts,  denen  man  in  an- 
dern Städten  Deutschlands  begegnet,  an  zeugen  vermöchten.  Hierana  folgt, 
dass  Vieles,  was  im  Alterthum  noch  eine  ernste  Bedeutung  nnd  tiefern 
Sinn  in  sich  schliesst,  welche  erfrischt  zu  werden  verdienen,  mit  der 
Zeit  diesen  gänzlich  verlor  und  völlig  zum  Spiel  von  Willkür  und  Zu- 
fall herabsank." 

Dagegen  scheint  dem  geistreichen  Herrn  Verfasser  des  25.  Briefes, 
wenn  nicht  gerade  in  dem  Wesentlichen,  doch  in  Nebendingen 
9twas  Menschliches  widerfahren  zu  sein.  Es  wird  nämlich  aus  dem  mit- 
telalterlichen Chronisten  Malalas  (Buch  II,  S. 46)  eine  immerhin  merk- 
würdige und  bisher  wenig  bekannte  Stelle  in  Bezug  auf  den  Seher  Ti- 
r  es  ins  ausgehoben  und  erläutert.  „Er  rieftt,  lautet  sie  nach  der  ge- 
gebenen Uebersetzung,  „aus  der  Verbannung  den  böotiscben  Philosophen 
Tiresias  zurück,  den  Thiertödter,  der  reich  an  Vermögen  und  Weis- 
heit war,  der  bei  den  Hellenen  das  Dogma  einrührte.  Alles  werde  ron 
selbst  gebracht  und  die  Welt  s  ei  ohne  Vorbedacht."  Diess 
ist  undeutlich  und  nioht  ganz  richtig  übertragen;  es  muss  heissen:  „Das 
All  werde  vom  Zufall  und  durch  eigene  Kraft  regtrt(oui- 
nia  fortuito  ferri,  autouaTO);  <pepsaf>ai  toi  navra)  und  die  Welt  sei 
ohne  Vorsehung."  —  Tiresias  war  also  ein  Freigeist  und 
Materialist.  „Und  die  Priester",  heisst  es  weiter,  „machten  ihn  zur 
Abreise  fertig,  und  er  wurde  verbannt  in  das  Heiligt h um  des  Apollo 
Daphnaios,  weil  er  einen  frauenartigen  Sinn  hätte."  Letzteres, 
meint  der  gelehrte  Briefsteller,  beziehe  sioh  auf  die  Schwatzhaftigkeit, 
welche  nach  Apollodor  (HI,  6,  7)  den  Menschen  denunzirte,  was 
die  Götter  verheimlichen  wollten ,  und  daher  nach  Etlichen  die  Blindheit 
nur  Strafe  empfing."  Dass  ferner  ein  solcher  irreligiöser  Sinn  des  Ma- 
terialisten Tiresias  als  frauenartig  von  Mala  las,  beisst  es  weiter 
bezeichnet  wird,  dürfte  Leserinen  dieses  Briefes  gewiss  um  so  mehr 
fiberraschen,  als  in  unsere  Tagen  er  mit  grösserem  Recht  als  männer- 
artig sich  deHniren  liesse"  (S.  229).  Mag  nun  auch  der  letzte  Vor- 
warf nicht  ohne  Grund  sein,  so  dürften  die  Leserinnen,  welche  et- 
wa nicht  den  emaneipirten  Weibern  angehörten,  kaum  ohne Scbaam- 


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Räumer:  Antiquarische  Briefe. 


445 


röthe  den  wehren,  von  Panofka  nur  ungenau  gegebenen  Sachverhalt 
bei  Mala  las  vernehmen.  Tiresias  beschäftigte  sieb  mimlich,  um*, 
kurz  nach  der  Urschrift  zu  bezeichnen,  in  Folge  seines  w  e  i  l>  is  c  h- üp- 
pigen und  dabei  neugierigen  Wesens  mit  der  Empfängnis  s  und  der 
Entwicklungsgeschichte  des  menschlichen  Embryo,  er  unter** 
sachte,  den  spatern  Physiologen  anticipiread,  wie  das  Weib,  welchem 
der  Mann  beiwohnt,  empfangt,  wie  sich  die  Wesenheit  (tj  yfac)  des 
Bluts  mittheilt  den  Knochen,  Flechsen,  Muskeln,  dem  Blut  und  Fleisch,  wie 
das  lebendige  Wesen  (der  Bmbryol  genührt  und  geboren  wird*  Was 
ferner  Herr  Panofka  Uber  Tiresias  als  Thiertödter  su  Gunsten 
der,  dem  Philosophen  und  Seher  nicht  gerade  geziemenden  Ja  gd  Ii  eb- 
bt her  ei  beibringt,  wird  von  ihm  mit  Recht  wieder  in  Zweifel  gestellt  und 
■Ii [.schweigend  zurückgenommen;  denn  das  Beiwort  bezieht  sich  offenbar 
auf  die  wunderbare  Schlangentödtung,  welche  novellenartig  erzählt, 
den  Tiresias  anfangs  in  ein  Weib,  darauf  nach  siebenjähriger  Ver- 
mammung  wiederum  in  den  Mann  umwandelte,  durch  Juno's  Zorn  der 
Augen  beraubte,  durch  Jupiter'«  Gnade  mit  der  Seherkraft  begabte  (Apol- 
lodor  III.  6,  7,  Ovid.  metam.  III,  320).  Das  Genanere  der  sinnreichen 
Obscönitüt  ist  bekannt  und  gehört  überdies»  zu  den  beliebten,  von 
Frankreich  auf  Teutschland  Ubergegangenen  Geheimnissen  des  Volks 
(mysteres  du  peuple). 

Als  eine,  könnte  man  sagen,  politisch-historische  Beigabe 
erscheint,  von  ähnlichen  Untersuchungen  nicht  weiter  begleitet,  der  letzte» 
27.  Brief  Löbell's  Uber  Spartanisches  Staatswesen.  Ein  bestimmtet 
Endergebniss  wird  aber  nicht  gewonnen;  der  Gegenstand  ist  so  reich, 
dass  er  Iiier  nur  angedeutet  werden  kann.  Auch  Herr  Löbell  erklärt 
•ich  jetzt,  vom  Herrn  Grote  in  London  gewonnen,  wider  die  angebliche 
Gleichheit  der  Spartanischen  Ackerloose.  Man  hatte  das  übri- 
gens in  Teutschland  schon  vor  fünfzehn  Jahren  tauben  Ohren  gepredigt; 
der  Prophet  gilt  aber  daheim  nichts. 

Man  ersiebt  aus  diesen  Proben,  wie  lehrreich  und  manniobfaltig 
die  antiqunriacben  Briefe  sind  und  desshalb  wobl  die  Aufmerksamkeit 
des  denkenden,  nicht  rein  der  Zeitungs-  und  Broschürenliteratur  früh n en- 
den Publikums  erregen  müssen. 

•  •         •       .  • 

:    . '     .    .  ...  !  !  » 


Erinnerungen  aus  Paris.  1847—1848.  Berlin  bei  Herb.  185t.  S.  267.  8. 

^1 1 1     dchor  S p 3 d d qd £^  u o  d     c  d ^ s llicfil£6it  blicke*  d 8 s  ^^oä- *  vttd  In 
Und  auf  die  „gute  Stadt  Paris.41    Bei  der  geringsten  Bewegung  de» 


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446  Erinnerungen  aus  Paris. 


Volkes,  ja,  bei  etwas  lautem  Gerede  auf  der  Tribüne  spielen  die  Tele- 
graphen, eilen  die  Couriere,  trommeln  die  fleitungee  fttr  Krieg  oder  Frie- 
den.  London  mit  seinem  Grosshöudcl  und  Parlament,  mit  seiner  der* 
malifen  Welliuduatrieausitellunsr.  dem  nut  erdachten  Abieiter,  tritt  nichts- 
desto  wenig  er  ia  den  Hintergrund.  Auch  bewahrheitet  sich  der  alte  Sati, 
dass  nicht  sowohl  die  Dinge  an  sich  als  die  Vorstellungen  von 
denselben  Furcht  und  Hofnung,  Freude  und  Betrübnis»,  Vergnügen  und 
^cbniGrz  crv\  cckLn.  Denn  ^  \n  ldd  müh  Qiifrjclil)^  prüfen  und 
Will,  liegen  indem  gegenwärtigen,  abgespannten  und  doch 
Zustande  anderer  Lander,  namentlich  der  Teutschen,  vielfachere  keime 
der  Beunruhigung  als  in  dem,  mindestens  äusserlicb  geeinigten  Republi- 
kanismns  der  Franzosen.  —  Diese  werden  daher,  falls  nicht  von  ptf4 
sen b c r  für  das  Gegenthoil  gearbeitet  \^ird ,  höchst  wahrscheinlich  ihre 
freistädtisebe  Yerwaltungsform  bis  in  den  Frühling  des  nächsten,  verhäng- 
oissvollen  Jahres  unter  allerlei  Gelärm  glucklich  bineinrollen  und  dann, 
weil  ihnen  nichts  Besseres  übrig  bleibt,  von  Neuem  befestigen.  Aechte, 
monarchische  Staats  Weisheit  mag  sich  darum  wohl  vor  Uebergriffen 
und  Inkrveutions versuchen  hüten,  ha  eigenen  Hause  nach  bestem  Ver- 
mögen schulten  und  sich  demütbig  der  historischen  Wahrheit  fügen,  dass 
es  nur  Ei  neu  wahrhaftigen  Gott,  aber  verschiedene  Gestalten  seiner  An- 
betung gibt,  dass  dagegen  im  Staate  abweichende  Principien  und 
Verwaltungsformeo  für  die  grosse  europäische  Gesellschaft  ohne  Gefährde 

fftjakpn Ajnnri Hpp  tfplipn  Itrtnihfn      Rd*i  i\or  i^il  i*n  f>tll«   wirlit  itxpn   ^IaIIm  nfr  Krflnlc « 

*  ^e***     »3       w  *•  am  w  www  i»a  vi       vi    j  vueumu        ™   i»u     o  *     *  * 

reiebs  und  seiner  vielleicht  nicht  lange  mebr  allein  Ton  angebenden  Haupt- 
stadt wird  man  die  obigen  Erinnerungen  nicht  ohne  Nutzen  und  Theil- 
nahme  lesen.  Sie  rühren,  beisst  es,  von  einer  geistvollen  Frau  her,  der 
Doktorin  Hers»,  der  Tochter  des  Berliner  Philosophen  Mendelsohn; 

«iö  ■rhildern  in  einfacher    srh lichter  Woiia  Frlehnisse  und  RoohflcKlunire* 

wahrend  einer  langen,  scheinbar  ruhigen,  wirklich  aber  gierenden  nnd 
bewegten  Zeit;  sie  führen  ein  in  die  Bekanntschaft  mit  ausgezeichneten 
oder  auch  bisweilen  gewöhnlichen  Persönlichkeiten,  minder  oder  weniger 


Bestavrationsperiode  und  ihres  ersten  Gegenschlags,  der  bürger- 
küniglich-orlean  istischen  Entwicklung.  Besonders  gern  verweilt 
die  Frau  Hertz  bei  den  stillen,  schönen  Künsten;  sie  gibt  über  das 
Leben  nnd  Treiben  der  Maler,  Bildbauer,  Musiker  belehrende  und  anzie- 
hende Auskunft;,  am  weiset  darin  gewrssermassen  das  Weltbürger* 
liehe*  schroffe  Volkstümlichkeiten  verbindende  Element  nach  und  xeigt 
lentlich  den  Eiafluss,  welchen  Teu  Ische  Tonkunst, 


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P  Pinn  amnn«n    onc    Poris  4i.1l  7 

xj i linier nn  aus  i  nnt«  'mmw 

singende,  wfihreod  der  orleanii tischen  Regierung  auf  den  darin  seh» 
zurückstehenden  Franzosen  ausübte.  AulTassungsweise  und  Schreibart  sind 
leicht,  gewandt  und  zierlich,  ohne  widerwärtige  Empfindsamkeit  und  poe* 
tisch-rhe tomeben  Schwulst,  Eigenschaften,  wie  sie  dem  wahren,  in 
Teutschland  eben  nicht  häufigen  Blaustrumpf  geziemen  und  Ehre  ma- 
chen. Aach  der  ernsthafte  Mann  wird  daher  diese  Erinnerungen  gern 
durchlesen  und  sich  merken,  was  für  das  Verständnis*  der  Charaktere  und 
Zustünde  auf  eine  oft  unscheinbare  'Weise  wirklich  gegeben  wird«  Als 
Proben  des  Büchleins  mögen  folgende  kurze  Stellen  dienen!  Von  dem 
berühmten  Maler  David  beisst  es  ß.  40  also:  ..David,  den  die  Kuest 
anf  keine  Weise  veredelt  hatte,  den  selbst  die  Königs roör der  mehr 
als  bereit  fanden,  seine  Zustimmung  tu  geben,  hatte  Griechenlands  und 
Roms  Geschichte  mit  wildem  Eifer  studrrt,  aber  von  beiden  nie  mehr 
in  sich  aufgenommen,  als  ein  rohes  Gemilth  zu  empfangen  versteht.  Mir* 
gends  zeigen  sich  Spuren,  dass  das  Antike  ästhetische  Gefühle  in  ihm 
geweckt  hätte;  vielmehr  überall  die  deutlichsten  Beweise,  dass  er  auf 
seiner  Leinwand  nur  die  korrekte,  studirte,  mit  dem  Cirkel  gemessene  Linie 
des  Marmors  zu  ziehen  verstand.  Die  mörderischen  Zwischenakte  in  dem 
grossen  Drama  römischer  Geschichte  erschienen  ihm  nicht  als  unglück- 
liche Notwendigkeit  zum  Knlwickelungsprocesse  einer  Nation,  die  erst 
durch  Krieg  und  Grausamkeit  zur  Existenz  überhaupt,  dann  zur  Oberherr- 
schaft gelangen  konnte,  endlich  bis  zum  Untergange  ausartete,  nein,  D a- 
vi  d  tbeilte  ganz  den  Wahn  der  verworrenen  Utopisten  jener  Zeit,  durch 
Ermordungen  die  Welt  reinigen  zu  müssen.  Er  bewunderte,  verübte, 
malte  römische  Grausamkeiten,  die  weder  der  Freiheit  noch  der  Kunst 
frommten;  denn  seine  Römer  und  Griechen  sind  steif  wie  die  farblose 
Steinmasse,  jedoch  durchaus  ohne  göttlichen  Funken. 

David 's  Aeasseres  war  durch  seinen  dicken,  schiefen,  hängenden 
Mund  (äusserst  liebenswürdig  f),  durch  die  eckelhaft  hervorhängende  Zunge 
und  die  undeutliche  Sprache  wahrhaft  widerlich.  Bekannt  ist  in  Paris, 
dass  Napoleon  den  Demokraten  David  gerne  zur  Seite  geschoben  hätte, 
aber  der  Künstler  war  nach  dem  damaligen  Geschmacke  nicht  so  leicht 
SB  ersetzen,  denn  der  Held  mit  seinen  wirklich  grossen  Thaten  sowohl, 
•1t  die  aufkeimende  Kaiserfamilie  mit  ihren  kleinen  Eitelkeiten  mussten 
verewigt  werden,  und  keinen  Zweifel  leidet  es,  dass  dem  Künstler  jedes 
Werk,  wenn  es.  nur  nicht  Griechen-  und  Römerthum  darstellen  sollte, 
bei  weitem  besser  gelang.  Napoleons  Ueberschreitung  des  St.  Bernhard 
znuss  stets  gerechte  Anerkennung  finden.  David  wurde  demnach,  trotz 
aller  Mängel,  etwa  von  1790—1810  als  einzig  grosser  Maler  und  Leh- 


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Erinnerungen  aus  Pari*. 


rer  angesehen,  als  der  erste,  welcher  die  Franzosen  gelehrt  halte  die 
Antike  zu  studireo,  mitbin  alt  der  Fähigste,  ein  Genie  schulgerecht  aus- 
zubilden: und  so  ward  der  damals  junge  Francois  Gerard  sein  Schüler.* 
Darauf  folgt  die  nähere  Schilderung  dieses  auch  durch  Liebenswürdigkeit 
ausgezeichneten  Künstlers. 

Eine  spannende,  oder  wie  die  Lieblingsredensart  heutiger  Bericht- 
erstatter lautet,  wahrhaft  brennende  Geschichte  wird  am  Schlusa  der 
Erinnerungen  unter  der  Ueberschrift:  Alexis,  eine  Abendunterhaltung  in 
Paris  (1847)  geliefert.  Sie  spielt,  tragisch-romantisch,  in  das  Wunder- 
bare hinein  und  soll  doch  wahr  sein.  Spanische  Liebe  und  Blutrache, 
französische  Leichtfertigkeit  und  teutscbe  Mystik  oder  Hellseherei  greifen 
da  seltsam  und  abentheuerlich  in  einander  ein.  Schon  um  dieser  Novelle 
willen  werden  die  Pariser  Erinnerungen  sicherlich  den  verdienten  Leser- 
kreis finden. 

Kort  ftni* 

•       *  #         •  •  *  r 

Kurze  Anzeigen. 


Ltzicon  Geograpläcum,  an  Mulus  ett,  „marassidi-l-itti/ai  ala  asmai  - 1  -  amkincUi 

tcaibukai",  e  dttobus  codicibus  Mss.  arabice  editutn,  cdiderunt  T.  G.  Juyn- 
boll  et  J.J.  B.  Gaal.  Fasckvlum  I—Ul.  Lngdum  Baiat.  1850-51. 
(380  S.  tn  8.) 

•      4     •  *  • 

Obgleich  in  den  letzten  Jahren  das  Studium  der  morgenländischen  Geo- 
graphie durch  die  Herausgabe  oder  Uebersetzung  der  Werke  von  Masudi,  las  la- 
ch ri,  Jakuti,  Edrisi,  Kaswini  und  Abulfeda  wesentlich  gefördert  worden  ist,  ao 
darf  doch  das  vorliegende  Buch  auf  eine  dankbare  Aufnahme  nicht  nur  von 
Seiten  der  Geographen  und  Orientalisten,  sondern  ganz  besonders  auch  der  Hi- 
storiker rechnen,  welche  hier  einen  zuverlässigen  Führer  über  die  wahre  Schreib- 
art orientalischer  Ortsnamen  finden,  leichter  zu  benutzen  ala  alle  genannten  Au- 
toren. Dieses  Lexikon  ist  eigentlich  nur  eine  abgekürzte  Umarbeitung  des  noch 
nicht  edirten  grössern  Wörterbuchs  Jakuti's,  welches  den  Titel  „mudjim  albol- 
duntf  führt.  Der  Yerf.  hat,  um  seiner  Arbeit  eine  grössere  Verbreitung  zu  si- 
chern, die  meistens  doch  nur  hypothetischen  etymologischen  Bemerkungen  Ja* 
kutis  weggelassen,  ebenso  die  astronomischen  Bestimmungen  und  die  biogra- 
phischen Notizen,  welche  häufig  den  geographischen  beigemischt  sind,  hingegen 
hat  er  die  Zahl  der  Ortsnamen  vermehrt,  manches  auch  verbessert,  theils  nach 
eigenen  Beobachtungen,  theils  nach  deu  Bemerkungen  anderer  Gelehrten.  Der 
Name  des  Verfassers  wird  nicht  genannt.  In  einer  Oxforter  Handschrift  wird 
ein  gewisser  Abd  Almumin  Sali  Eddin  Ibn  Abd  Alhakk  als  solcher  angegeben. 

(FortteUung  folgt.) 


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Hr.  29.  HEIDELBERGER  1851. 

JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR. 


(Fortsetzung.) 

Auch  Hadji  Chalfa  berichtet,  dass  Saft  Eddin  das  Werk  Jakulis  abgekürzt 
habe,  an  einer  andern  Stelle  bezeichnet  er  aber  das  vorliegende  Wörterbuch 
als  das  Werk  Sujutis,  was  jedenfalls  unrichtig  ist,  da  einmal  nach  seiner  eignen 
Bemerkung  Sujuli  seiue  Arbeit  nicht  vollendete  und  dann  das  „Marassid  alittila" 
gewiss  vor  der  Zeit,  in  welcher  Sujuli  als  Schriftsteller  auftrat,  vollendet  wor- 
den ist.  Wir  theilen  die  Ansicht  des  Herrn  Reinaud  nicht,  welcher  Jakuti  selbst 
für  den  ursprünglichen  Verf.  dieses  abgekürzten  Wörterbuches  halt,  das  dann 
ein  Spaterer  umgearbeitet  haben  soll,  weil  die  ganze  Vorrede  dagegen  spricht, 
lassen  aber  diese  Frage  hier>inslweilen  auf  sich  beruhen,  weil  der  Herausgeber 
am  Schlüsse  des  Werkes  sie  zu  erörtern  verspricht  und  ohne  Zweifel  durch 
vollständigere  Kenntniss  des  Inhalts  auch  am  besten  im  Stande  sein  wird,  sie  zu 
lösen.  Ausser  dieser  Abhandlung  über  den  Verf.  des  Lexikons  und  sein  Zeit- 
alter beabsichtigt  Herr  luynboll  auch,  dem  Texte  eine  lateinische  Uebersetxung 
mit  erläuternden  Anmerkungen  beizugeben,  um  ihn  jedem  Gelehrten  zugänglich 
xu  machen. 

Von  den  beiden  Handschriften,  welche  dem  Herausgeber  dieses  Wörter- 
buches zum  Grunde  liegen,  befindet  sich  die  eine  auf  der  Leydener  und  die 
andere  auf  der  kaiserlichen  Bibliothek  zu  Wien.  Beide  enthalten  auch  Glossen 
aus  dem  Werke  Jakuti's  und  Bekri's,  welche  der  Herausgeber  ebenfalls,  theils 
im  Texte  selbst  zwischen  Klammern,  theils  in  den  Noten  aufgenommen  hat. 

Die  dem  Ref.  zugekommenen  drei  ersten  Fascikel  erstrecken  sich  bis 
xum  Buchstaben  „dal11  und  mögen  ohngefähr  drei  Achttheile  des  Lexikons  ent- 
halten, von  dem  wohl  der  grösste  Theil  schon  erschienen  wäre,  wenn  nicht 
Herr  Gaal,  der  Mitherausgeber,  von  Lcyden  abgerufen  und  andern  Beschäfti- 
gungen zugewendet  worden  wäre,  so  dass  die  ganze  Arbeit  nunmehr  «nf  den 
Schultern  des  Herrn  luynboll  lastet. 

Was  deu  Inhalt  dieses  Werkes  betritt,  so  ist  schon  angedeutet  worden, 
dass  der  Verf.  sich  im  Allgemeinen  damit  begnügt,  die  Orthographie  der  ver- 
schieden Ortsnamen  zu  bestimmen,  oder  wo  er  das  nicht  konnte,  die  divergirenden 
Ansichten  darüber  anzuführen  und  die  Lage  derselben  so  genau  als  möglich, 
durch  Angabe  ibrer  Entfernung  von  bekannten  Plätzen,  xu  bezeichnen,  doch  En- 
det man  auch  nicht  selten  kurze  Notixen  über  die  frühere  Geschichte  oder  Sage 
von  dem  Orte,  sowie  über  die  Bewohner  desselben.  So  liest  man  z.  B.  über 
Harr  an:  „  Harra  n  mit  doppeltem  r  und  n  am  Schlüsse  ist  eine  alte  Stadt, 
Hauptstadt  der  Provinx  Dijar  Mudhar,  eine  Tagereise  von  Roha  (Edessa)  und 
zwei  von  Rakka.  Man  glaubt  es  sei  die  erste  Stadt,  welche  nach  der  Sünd- 
fluth  gebaut  worden,  auch  war  sie  der  Aufenthaltsort  der  harranischen  Sabäer, 
welche  der  Verf.  (hier  ist  wahrscheinlich  das  waw  von  d.  W.  mussannif  xu  streichen) 
XUY.  Jahrg.  3.  Doppelheft,  39 


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450  Karze  Anzeigen. 

•  * 

des  Werke«  „Alinilal  walnahal"  (Schehrcslani)  erwähnt,  aie  war  auch  die  Zu- 
fluchtsstätte Abrahams.  Harran  ist  auch  der  Name  einet  Ortes  in  der  Gegend 
von  Haleb  und  in  der  Ebene  von  Damask.  Harran  die  Grosse  und  die  Kleine, 
sind  zwei  Plätze  in  Bahrein,  von  den  Benu  Amir  bewohnt." 

Da  wir  bei  Vollendung  des  Werkes  darauf  zurückkommen  werden,  ver- 
schieben wir  bis  dahin  einige  andere  uns  nothwendig  scheinenden  Berichtigun- 
gen im  Texte,  der  übrigens  im  Ganzen  durch  seine  Correklheit  dem  gelehrten 
Herausgeber  den  Dank  und  das  Lob  der  Sachverständigen  sichert. 

Well. 


1)  Saudi  Aldh elmi  ex  abbalc  Malmeshuriensi  Ejnscopi  Schi rebumensis  Opera 

quae  exstant  otnnia  e  codieibus  msf.  emendavil,  nounulla  nunc  primum  edidil 
J.  A.  Crt/es,  LL.  D.  e  C.  C.  C.  Oxon.  et  ecelenae  Anglicanae  presbyter. 
Oxonii.  Venexml  apud  J.  H.  Parker  MDCCCXLIV.  XXlllü.392  S.ingr.8. 

2)  Sancti  Bonifacii  Arehiejnscopi  ei  Martyri*  Opera  quae  exiktnl  omnia  nunc 

primum  in  Atiglta ,  ope  codi  cum  manuscriplorvm  editionumque  optima  i  um 
edidil  J.  A.  Oiles  etc.  Londini.  Veneunt  apud  D.  Nutt,  Oxon.  ap.  Par- 
ker etc.  MDCCCXLIV.  Vol.  1.  Epittolae.  308  8.  Vel.  IL  Opuscula  etc. 
296  &  in  gr.  8. 

Die  verschiedenen,  bisher  zum  Theil  erat  in  neueslei  Zeit  bekannt  ge- 
wordenen Schriften  des  Aid  he  Im,  Abu  zu  Mairaesbury  und  ersten  Bischofs  zu 
Sherburn  (f  709),  wie  die  des  hl.  Bonifacius,  des  deutschen  Apostels,  wa- 
ren bisher  noch  nicht  in  eine  Sammlung  vereinigt  worden,  wie  diess  in  vorlie- 
genden Ausgaben,  die  wir  hier  zur  Anzeige  bringen,  zum  erstenmal  geschieht. 
Beide  bilden  eigentlich  TheUe  einer  grösseren,  die  lateinischen  Kirchenväter, 
zumal  Englands  befassenden  Sammlung,  welche  vor  einiger  Zeit  in  England 
durch  denselben  Herausgeber  unternommen,  nun  anch  auf  dem  Continent  ver- 
breitet zu  werden  beginnt.*)  Es  empfehlen  sich  diese  Ausgaben  von  Seiten 
ihrer  äussern  Ausstattung,  was  das  schöne  Papier  und  den  deutlichen  Druck  und 
die  guten  Lettern  betrifft,  ohne  dass  der  Vorwurf  eines  übertriebenen  Luxus,  wie 
man  ihn  englischen  Werken  nicht  seilen  machen  kann,  hier  erhoben  oder  der  Preis, 

*)  Daher  der  allgemeine  Titel:  Patres  Ecclesiae  Anglicanae:  Aldhelmns, 
Beda,  Bonifacius,  Alcuinus,  Lanfrancus,  An9elmus,  St.  Thomas,  Joannes  Sarisbe- 
riensis, Petrus  Blesensis,  Rogerus  Baconus  et  Reiiqui.  In  dem  beigefügten  ge- 
druckten Prospectus  der  Schriftsteller,  welche  in  dieser  Sammlung  erscheinen 
sollen,  werden  (nicht  ganz  übereinstimmend  mit  diesem  Titel)  folgende  (ausser 
Aldhelm  und  Bonifacius)  noch  aufgeführt:  Beda,  Joannes  Scotut  Erigena ,  Alcui- 
nus, St.  Dunstanus,  Elfricus,  Lanfrancus,  Anseimus,  St.  Thomae  Vitae  et  Episto- 
lae,  Joannes  Sarisberiensis,  Petrus  Blesensis  und  Rogerus  Baconus.  Davoo  sind 
bereits  erschienen  Beda  in  12  Bänden,  Joannes  Sarisberiensis  in  fünf 
Bänden,  der  hl.  Thomas  in  acht  Bänden,  von  denen  jedoch  nur  die  vier  er- 
sten auf  Thomas  selbst  sich  beziehen,  die  zwei  folgenden  aber  die  Briefe  G  i  1- 
bert'9,  Bischofs  von  London,  und  die  zwei  weilerfolgenden  die  Opera  Her- 
berti de  Boseham  enthalten;  Lanfranc  in  zwei  Binden,  Peter  von 
Blois  in  drei  Bänden,  Arnulf  in  einem  Bande;  die  bisher  bekannten  Homilien 
und  Briefe  Arnulfs  erscheinen  hier  aus  einer  englischen  Handschrift  um  dio 
Hälfte  vermehrt. 


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Kurze  Anzeigen.  451 

der  im  Ganzen  sich  billig  stellt  (3  fl.  30  kr.  der  Band),  getadelt  werden 
könnte.  Eben  so  sind  dieselben  im  Druck  ganz  correct  gehalten  nnd  lassen  die 
Sorgfalt  erkennen,  welche  durchweg  nuf  diesen  Gegenstand  verwendet  worden 
ist  Um  handschriftliche  Hulfrmittel  hat  sich  der  Herausgeber,  zu  der  beabsich- 
tigten Bessergestaltung  des  Textes,  gleichfalls  umgesehen;  auch  sind  seine  Be- 
mübimgen  nicht  ganz  vergeblich  gewesen,  wiewohl  bei  aller  Anerkennung,  die 
man  diesem  Bestreben  zollen  wird,  doch  in  der  kritischen  Behandlung  schwer- 
lich alle  die  Wünsche  oder  vielmehr  Anforderungen  erfüllt  sind,  welche  man 
jetzt  in  Dcutechland  an  den  Herausgeber  einer  alten  Schrift,  einer  mittelalterli- 
chen oder  kirchlichen  ebensogut  wie  einer  profanen  und  sogenannt  klassi- 
schen, zu  stellen  berechtigt  ist. 

Die  Ausgabe  der  Opera  Aldhelmi  beginnt  nach  der  (englisch  geschrieben 
nen)  Vorrede  und  dem  Verzeichnis«  der  in  diesem  Bande  enthaltenen  einzelnen 
Schriften  Aldhelms  mit  einem  (ebenfalls  englisch  geschriebenen)  Leben  Aldhelm's 
(Life  of  Aldhelm  S.  XI  -Will  I,  das  keinen  grossen  Raum  einnimmt.  Warum, 
beides  nicht  auch,  so  gut  wie  diu  am  Schlnss  des  Bandes  S.  387 (F.  (olgenden 
Notae  et  vnriae  lectiones  des  Herausgebers,  in  lateinischer  Sprache,  schon  um 
der  Gleichförmigkeit  und  des  lateinischen  Titels  wegen,  abgefasst  ist,  vermögen 
wir  nicht  abzusehen.  Den  Anfang  unter  den  Schriften  Aldhelms  macht  die  in 
Prosa  abgerasstc:  De  laUdibus  virginitalis  sive  de  virginitntc  Sanctorum,  eine 
schon  früher,  aber  nicht,  wie  der  Herausgeber  meint,  zuerst  von  Canisius  be- 
kannt gemachte  Schrift,  indem  dieser  nur  die  poetische  Bearbeitung  zuerst  her- 
ausgab (s.  Antifjtf .  Lectt.  1.  p.  708  ed.  nov.),  die  prosaische  gar  nicht  edirte, 
die  mit  der  poetischen  auch  in  der  Bibllofhcca  Patrum  (Lugd.  1667.  T.  Xffl.) 
abgedruckt  ward,  und  spfltcr  noch  einmal  in  einer,  wie  hier  erinnert  wird,  un- 
genauen und  fehlerhaften  Weise  von  Wharton,  hinter  Bedae  Opuscula  (London, 
1693);  in  dem  neuen  Abdruck  ist,  wie  uns  ausdrücklich  versichert  wird,  diese 
grosse  Zahl  von  grammatischen  i  Genauigkeiten  beseitigt;  die  Varianten  einer 
nach  dem  Abdrucke  des  Textes  verglichenen  Bedleianisehcn  Handschrift  werden 
am  Schlüsse  des  Bandes  S.  387  ff.  nachträglich  mitgetheilt;  dort  lesen  wir  auch 
die  allerdings  etwas  auffallende  Aensserung:  rSed  monendus  est  lector,  ne  of- 
feodatur,  si  in  textu  plnrima  sunt  ad  Orthographiam,  Ifteras  majusculas  etc.  spec- 
tantia,  qnac  a  reeepto  more  aliquantnlnm  recedunt.  Warn  postqunm  diu  frostra 
exemplar  editionis  Whartonianae  emere  eonatus  sum,  amicus  quidam  siiom  er- 
eroplar  mihi  commodavit,  quod  ne  nimin  corrcctionc  macularetur,  ea  tantom  ma- 
tavi,  qnae  ad  sensum  perlinebant,  relictis  mnltis,  quae  mos  hodiernus  non  om- 
nino  approbat.41  Aus  diesem  offenen  Geständniss  mag  entnommen  werden,  In 
wie  weit  hier  eine  Consetraenz  und  feste  Dttr«Oifuhrung  in  dem  angenommenen 
kritischen  Verfahren  erwartet  werden  kann,  wo  die  Rücksicht  auf  Schonung  des 
dem  Freunde  entliehenen,  zum  Abdruck  bestimmten  Exemplars  die  Art  und 
Weise  des  Abdrucks  und  die  Gestaltung  des  Textes  bedingt  hat.  Uebrigens  sind 
uns  keine  besondere  Abweichungen  von  dem,  was  hier  als  „mos  hodiernus*  be- 
zeichnet wird,  vorgekommen,  indem  der  Druck  gleichmässig  und  correct  vor- 
wärts schreitet. 

Nun  folgt  S.  83 ff.  Epislola  ad  Gcruntium  nnd  S.  90  die  kurze  Epistola 
ad  Osgitham  Sororem,  zwei  in  der  Sammlung  der  Briefe  des  Bonifacius  bisher 
befindliche  Briefe,  S.  91  Epistola  ad  Eahfridum  ex  ffiberni«  in  patriam  rever- 

39* 

s 

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sum,  schoo  früher  von  Usser  und  Wharton  herausgegeben,  S.  96 ff.  Epislohi  ad 
Heddam  Episcopum,  früher  ebenfalls  in  der  Sammlung  der  Briefe  des  Bonifatius 
befindlich;  der  Brief  ist  in  Besag  auf  die  Studien  des  Aid  heim  in  der  Metrik 
und  Prosodie,  wie  in  der  Astronomie  und  Astrologie  nicht  ohne  Wichtigkeit 
S.  98  Anonymi  cujusdam  Scoti  Epistola  ad  Aldhelmum  abbaten  Malmesburien- 
sem,  eine  Bitte  um  Aufnahme  in  den  Unterricht;  S.  100  Ethelwaldi  Epistola  ad 
Aldhelmum  und  S.  103 ff.  Anonymi  Epistola  ad  Sororem  Anonymem,  beide  eben- 
falls entnommen  aus  der  Sammlung  der  Briefe  des  Bonifacius,  wohin  der  letztere 
•jedenfalls  seinem  Inhalte  nach  und  nach  der  darin  vorkommenden  Erwähnung  des 
Bonifatius  mit  mehr  Recht  gehören  wird,  als  unter  die  Briefe  des  Aldheltnus, 
unter  die  er  hier  aus  dem  Grnnde  gesetzt  wfrd ,  weil  den  diesem  Briefe  ange- 
hängten Versen  Aldhelm's  Namen  vorgesetzt  ist.  Indessen  bezweifeln  wir,  wenn 
wir  die  ganze  Fassung  dieser  Verse  berücksichtigen,  sehr  die  Autorschaft  des 
Aldhelm,  dessen  ächte  Poesien  grosse  Verschiedenheit  von  den  ihm  hier  beige- 
legten Versen  zeigen.  Dasselbe  durfte  wohl  auch  von  den  unter  Nr.  VIII  fol- 
genden, wie  von  den  daran  weiter  sich  anschliessenden  Versen  gelten,  welche 
in  Hexametern,  die  der  Verfasser  mit  vielem  Geschick  und  mit  strenger  Beobachtung 
4er  von  der  frühern  Zeit  aufgestellten  und  auch  später  noch  festgehaltenen  Re- 
geln zu  handhaben  versteht,  gehalten  sind.  Das  erste  Gedicht  De  ba-silica  aedi- 
üeata  a  Brügge  filia  regia  Angliae  erscheint  hier  nach  dem  von  Mai  (Gass. 
Audi.  V.  p.  387  ff.)  aus  einer  Vaticanischen  Handschrift  zuerst  gegebenen  Ab- 
druck, und  unter  Benutzung  einer  Pariser  Handschrift,  in  der  es  mit  dem  nächst 
folgenden  Gedicht  (Poema  de  aris  beatae  Mariae  et  duodeeim  Apostolis  dedica- 
tis),  das  bisher  irrthürolich  unter  den  Werken  des  Rabanus  und  des  Alcuin  er- 
schien, ein  Ganzes  bildet.  Beide  Gedichte  verrsthen  einen  ziemlich  gleichen  Ton 
und  lassen  auf  einen  und  denselben  Verfasser  schliessen.  Die  nun  S.  129  fol- 
genden Hexameter:  Versus  in  honorem  Apostolorom  scripti,  dum  au  clor  eccle- 
siam  eorum  Roinae  intraret  sind  aus  des  Faricius  Vita  Aldhelmi  genommen,  das 
S.  130  folgende,  nicht  ganz  anderthalb  hundert  Hexameter  zählende  Gedicht  er- 
scheint hier  aus  einer  Pariser  Handschrift  zum  erstenmal  abgedruckt  unter  der 
Aufschrift:  Fragmentum  ut  videtur,  de  die  judieii.  Allerdings  scheint  das  Ganze 
nur  ein  Bruchstück,  das  nicht  vollständig  auf  uns  gekommen  ist;  namentlich 
fehlt  der  Anfang  des  vom  jüngsten  Gericht  handelnden  Gedichtes,  das  einige 
Lücken  und  Verderbnisse  zeigt,  und  daher  auch  einige  Schwierigkeiten  bietet, 
deren  Beseitigung  der  Herausgeber  jedoch  Andern  überlassen  zu  müssen  ge- 
glaubt bat!  (—  textum  et  sensum  aliis  expediendum  relinquo  S.  389).  Die  Verse 
selbst  sind  iiiessend,  die  Sprache  ist  im  Ganzen  auch  ziemlich  einfach  gehalten. 
Nun  folgen  die  beiden  grösseren,  auch  früher  schon  (s.  Bibl.  Max.  Patr.  Lugdan. 
1667.  T.  XIII  am  Anfang)  bekannten  Gedichte  De  laudibus  virginum  und  De 
octo  prineipalibus  vitiis,  die  in  manchen  Handschriften  miteinander  verbunden 
sind,  und  in  so  fern  auch  eine  solche  Verbindung  begünstigen,  als  das  zweite 
Gedicht  sich  nach  seinem  Inhalte  nur  als  eine  Fortsetzung  des  erstem  be- 
trachten lässt,  indem  die  Ueberwlndung  der  Laster  durch  die  Gottgeweihtea 
Jungfrauen  den  Gegenstand  dieses  Gedichts  mit  ausmacht.  Der  Herausgeber  hat 
den  ziemlich  verdorbenen  Text,  unter  Benutzung  von  Pariser  Handschriften  wie 
einer  Bodleianischen,  zu  berichtigen  versucht,  er  bemerkt  jedoch  ausdrücklich 
-  S.  389;  nec  nunc  ouidem  omnino  mendis  carent.    Und  dies*  ist  nur  allzuwahr. 


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Karze  Anzeigen. 


Nach  andern  Handschriften  hat  sich  der  Herausgeber  nicht  umgesehen,  also  auch 
nicht  nach  den  sehr  alten  Münchner  Handschriften,  wo  sich  sogar  althochdeutsche 
Glossen  beigefügt  finden,  was  für  die  frühe  Verbreitung  dieser  Gedichte  auch 
in  Süddeutschland  und  den  Zusammenhang  der  hier  beginnenden  Cultur  mit  der 
gelehrten  Bildung  Englands  und  Irlands  in  einer  früheren  Periode  ein  nicht  za 
übersehendes  Zeugnis  abgibt.  Nun  folgt  S.  216 ff.:  Epistola  ad  Acircium  s.  li- 
ber  de  Septenario  et  de  metris,  aenigmatitms  ac  pedum  regulis.  Hiervon  wa- 
ren die  Aenigmnta  schon  früher  mehrmals  (zu  Basel  1557,  zu  Mainz  von  Bf.  A. 
Delrio  1601,  in  der  Biblioth.  Palr.  Max.)  im  Druck  erschienen,  als  ein  besonde- 
rer Rest  von  Poesien  des  Aldhelmus;  das  Uebrigo  gab  zuerst  Mai  aus  einer  Va- 
ticanischen  Handschrift  (Class.  Audi.  V.  .p.  51 1 IV. )  heraus,  nnd  es  hat  sich  jetzt 
gezeigt,  dass  die  Aenigmata  eigentlich  nur  einen  Theil  dieser  grösseren  Schrift 
ausmachen  und  in  deren  Mitte  gehören,  da,  wo  sie  der  Herausgeber  nun  auch 
eingeführt  hat,  der  uns  also  die  ganze  Schrift  zum  erstenmal  in  ihrer  ursprüng- 
lichen und  vollständigen  Gestalt  vorlogt;  bei  den  Aenigmata  standen  ihm  sieben 
Pariser  Handschriften  zu  Gebot,  darunter  eine  des  zehnten  Jahrhunderts,  welche 
auch  die  Metrik  enthalt.  Aber  leider  ist  die  Benützung  dieser  Handschrift  nur 
unvollständig  geblieben.  „Utinam",  ruft  der  Herausgeber  S.  390  aus,  „equidem 
totum  hunc  codicem  perlcgere  potuissem ;  at  post  longam  apud  Parisios  commo- 
rationem,  in  quam  me  satis  pecuniae  erogassc  nemo  dubitet,  necessitate  urgen- 
tissima  domum  redivi  nec  plus  quam  dimidium  istius  codicis  percurrere  potui. 
Sunt  vero  pauca  notanda  quae  sequunlur."  Diess  wenige  folgt  allerdings  S.  390 
und  391.  Es  wird  demnach  eine  erneuerte  Untersuchung  nöthig  seyn,  bei  der 
auch  die  schätzbaren,  von  dem  Herausgeber  gleichfalls  übersehenen  Beitrage  von 
Mone  (Anzeiger  1838  p.  32  ff.  u.  1839  p.  217  ff.)  zu  benutzen  sind.  Denn  diese  Schrift 
Aldhelm's,  an  den  König  Acircius  (in  dem  Mai  den  König  Alfred  von  Nordhumberland 
685  —  701  erkennen  will)  gerichtet,  enthält  neben  den  Bemerkungen  über  die  Heilig- 
keit der  Siebenzahl  eine  ziemlich  vollständige,  mit  Beispielen  jeder  Art  in  jedem 
einzelnen  Fall  belegte  Metrik,  wie  sie  vor  dem  Verf.  noch  Niemand  zu  liefern 
versucht  hatte;  „ —  constat,  so  heisst  es  in  dem  Schlusswort  an  Acircius,  „ne- 
minem nostrae  stirpis  prosapia  genitum  et  Germanicae  gentis  cunabulis  con Votum 
in  hujuscemodi  negotio  ante  nostram  medioeritatem  tantopere  desudasse 
propriorumque  argumenta  ingeniorum  juxta  metricae  artis  disciplinam  literarum 
textum  tradidisse.u  Es  kann  aber  diese  Schrift,  welche  in  die  Form  eines  Dia- 
logs zwischen  einem  Lehrer  und  Schüler  eingekleidet  ist,  wie  diess  Augustinus 
und  Isidorus  (auf  welche  der  Verf.  sich  beruft)  ebenfalls  schon  gethan  hatten, 
dazu  dienen,  uns  einen  Begriff  zu  geben  von  der  Bildung,  wie  sie  um  diese 
Zeit  —  um  das  Ende  des  siebenten  Jahrhunderts  —  in  den  englischen  Klöstern 
und  unter  der  dortigen  Geistlichkeit,  die  freilich  in  Aldhelm  eines  ihrer  ausge- 
zeichnetsten Glieder  besass,  geherrscht  haben  muss.  Jedenfalls  müssen  die  äl- 
teren lateinischen  Grammatiker  und  Metriker,  die  wir  jetzt  auch  nur  zu  dem  ge- 
ringsten Tbeile  kennen,  damajs  noch  vorhanden  gewesen  seyn,  indem  Aldhelm 
daraus  den  Stoff  seiner  umfassenden  Abhandlung  schöpfte.  Dann  aber  auch  se- 
hen wir  in  den  Beispielen,  neben  Versen  des  Virgilius  insbesondere  Verse  aus 
den  Satiren  Juvenals,  die  hier  nach  Büchern  citirt  werden,  nnd  aus  Lucanus  zahl- 
reich angeführt,  eben  so  auch  aus  Persius  und  Andern,  einmal  (S.  319)  sogar 
ans  den  Tragödien  des  Seneca:  Lucius  Annaeus  Seneca  in  sexto  volumine, 


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Kuno  Anzeiget]* 


und  dann  folgt  der  Vers  au»  Agamemnon  719:  ein  merkwürdiges  Citat,  das 
wohl  auch  ao  gut  wie  die  Zeugnisse  älterer  romischer  Schriftsteller  für  die  Au- 
torschaft des  Seneca  als  Verfasser'*  dieser  Tragödien,  wird  angeführt  werden 
können.  Volumen  bedeutet  hier,  wie  auch  iu  andern  Ci  taten,  das  Buch  oder 
die  Abtbeilung,  das  sechste  unter  den  zehn  Stücken  des  Seneca.  Cicero  wod 
sogar  in  dieser  Weise  citirt;  so  x.  B.  S.  331:  „ Cicero  in  libro  XV  Ouiues  im- 
ploro  et  obtestor.tt  liier  kann  wohl  kaum  eine  andere  Stelle  als  In  Yen*.  V, 
72:  Deos  onines  imploro  atque  oblestor  gemeint  seyo.  Eine  andere  Stelle,  die 
aus  In  Yerr.  IV,  26  entnommen  ist,  wird  S.  323  citirt:  „Cicero  in  libro  XIII/ 
Einmal  wird  auch  S.  310:  „Saliustius  bistoriographus  iu  Iugurthino"  angeführt, 
mehremal  Piinius  (einmal  S.  290  mit  dem  Prädikat  Physicus,  ein  andermal 
S.  288:  „Piinius  Secundus  physicas  rerum  hislorias  sagaciter  euplaoans")  und 
Solinus,  letzterer  einigemal  (S.  323)  als  Julius  Solious  in  collectanea  rerum  me- 
morabilium  oder  üi  collecta  rerr.  mirabb.  (S.  293),  einigemal  wird  Terenlius  an- 
geführt, vrgl.  S.  242,  einmal  (S.  308)  im  Phormio,  das  anderemal  (S.  322)  in 
den  Adolphen;  einmal  Ovidius  (p.  293),  einmal  (S.  310)  wird  sogar  ein  Vers 
des  Enning  citirt;  da  derselbe  aber  bei  Prisrisn  vorkommt  (s.  Eutin  Aonall.  fragmm. 
von  Spangeiiberg  S.  7),  Prisciauus  aber  eine  Ilauptaulorilat  für  Aid  heim  bildet, 
der  sich  unter  Andern  auf  ihn  S.  297  ausdrücklich  beruft  und  eben  so  am 
Schlüsse  des  Ganzen  seiner  noch  besonders  gedenkt,  so  wird  aus  diesem  Citat 
kein  Beweis  für  das  Vorhandenseyn  der  Annalen  des  Eon  ms  in  jeuor  Zeit  ge- 
nommen werden.  Von  andern  alteren  lateiu.  Grammatikern  kommen  ausserdem  noch 
Valerius,  Phocas  und  Albinus  in  libro  quem  de  motris  scripsit  (wie  bei  Yietorinus  p. 
1957  ed.  Putsch.)  vor,  von  christlichen  Schriftstellern,  neben  Orosius,  Augustinus,  Hie- 
ronymus, Gregorius,  Iaido  rus,  Lactantius,  insbesondere  die  Dichter  Prosper  und 
Arator,  dann  auch  Juvencus,  Symposius  (S.  244.  245),  Paulinus,  Sedulius,  Am- 
brosius „Mediolunensis  ponlifex" ,  wie  er  S.  276  heisst;  auch  der  Yirgilianische 
Ceuto  der  Probe,  die  hier  „inier  poetas  clarisairoa"  heisst  (S.  312),  wird  genannt. 

Neu  war  uns  das  Citat  (S. 309)  Virgilius  in  tetrastichis  tbeatra- 
libus,  worauf  der  Vers  folgt:  „Sic  vos  non  vobis  mellificatis  apes",  der  aus 
dem  Gedicht  auf  den  Dichter  Balkyllus  (bei  Donatus  Vit.  Virgil.  17)  entnom- 
men ist;  s.  Antholog.  Lat.  II.,  69  oder  Ep.  88  cd.  Meyer;  vergl.  denselben  T.  L 
p.  XVII  und  Nike  (ad  Vater.  Caton.  Dias.  1.  de  Virgil,  üb.  juven.  ludi  p.  235), 
welcher  dieses  Gedicht  nicht  Tür  ein  achtes  des  Virgilius  gelten  lassen  will.  Eben 
so  neu  erscheint  (S.  284):  Virgilius  libro  qui  puedagogua  praetitulatnr,  mit 
einem  Verse  (reddetur  titulus  purpureusque  nitor),  welcher  tu  einem  Distichum 
gebort,  das  mit  einem  andern  Distichum  verbunden  unter  demselben  Titel  p.  232 
citirt  wird:  Virgilius  in  libro  quem  Paedagogom  praetitulavit,  cujus  prindpi  um  est: 

Carolina  si  fuertnt,  te  jndice  digna  favorc, 

Reddetur  titulus  purpureusque  nitor 
Si  minus,  aestivas  poteris  convolvcre  sardas 

Aut  ptper  aut  calvas  hinc  operire  nuces. 

■ 

Wir  haben  vergeblich  diese  Verse  unter  den  bisher  bekannten  kleinem 
Dichtungen  Virgils,  sowie  in  der  lateinischen  Anthologie  gesacht.    Ein  neuer, 
bisher  nicht  bekannter  christlicher  Dichter  ist  wohl  der  S.  232  mit  einem  Vera 
*     cittrte  Andreas  Orator  und  der  einigemal  (8.  231.  238.  239  hier:  in  grntia- 


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Karze  Anzeigen. 


455 


rom  actione)  citirte  Paulos  Quaustor.  Das  merkwürdige  Citat  S.  283  Lu- 
canus de  Orpheo: 

Nunc  (inquit)  plenna  posuere  coloa  et  stamina  Parcae 

Multaqoe  dein  Iis  hacserunt  saecula  Ulis 

kann  wohl  als  ein  neuer  Beleg  des  Vorhandenseyns  des  jetzt  verlorenen  Ge- 
dichts Orpheus  in  der  früheren  Periode  des  Mittelalters  gelten,  in  der  es  jeden- 
falls noeh  existirle;  s.  Gesch.  d.  Röra.  Lit.  §.  78.  not.  5  der  dritten  Ausg.  Der 
Ausdruck  ist  ganz  ähnlich  dem  des  Dichters  in  der  Pharralia,  in  welcher  z.  B. 
III,  9.  VI,  779  ebenfalls  die  stamina  Parcae  vorkommen. 

Den  Rest  de»  Bandes  füllt  der  Abdruck  einiger  Briefe  Aldhelm's,  sowie 
einiger  auf  ihn  bezüglichen  Urkunden,  welche  aus  Wilhelm  von  Malmcsbury, 
Alfred's  Annales  Eccles.  Anglic.  und  Beda  entnommen  sind;  den  Schluss  macht 
die  dem  Faricius  beigelegte  Vita  Aldhelmi  und  eine  andere  kurze  Vita  Aldhelmi 
e  Capgravii  Legeudis  nu vis  Angliae.  Iodices,  wie  man  sie  wohl  hätte  wünschen 
mögen,  sind  dieser  Ausgabe  nicht  beigefügt.  • 

2.  Die  gleichzeitig  unternommene  und,  namentlich  was  Druck  und  Papier 
betrifft,  auch  in  derselben  Weise  ausgeführte  Ausgabe  der  Schriften  des  Boni« 
facius  ist  allerdings  die  erste,  in  welcher  die  verschiedentlich  unter  dem  Na- 
men des  Bonifatius  bekannt  gewordenen  Schriften  vereinigt  erscheinen,  aber  sie 
wird  darum  doch  kaum  für  eine  vollständige  Ausgabe  dessen  gelten  können, 
was  uns  von  diesem  Bischof  überhaupt  noch  zugekommen  ist.  Auch  vermissen 
wir  die,  wio  uns  scheint,  keineswegs  überflüssige  Notitia  literaria  und  da- 
mit den  näheren  Nachweis  Über  diese  Schriften  im  Ganzen  wie  im  Einzelnen,  über 
die  noch  erhaltenen,  wie  die  verlorenen,  sowie  über  die  ganze  Wissenschaft« 
liehe  und  schriftstellerische  Thätigkeit  des  Mannes;  was  doch  nach  dem  Allem, 
was  darüber,  namentlich  in  Deutschland,  geschrieben  worden,  keine  so  schwie- 
rige Aufgabe  war.  Aber  der  Verf.  scheint  diese  Arbeiten  gar  nicht  zu  kennen; 
das  einem  neuen  Herausgeber  der  Werke  des  Bonifacius  unentbehrliche  Pro- 
gramm von  F.  B.  M.  Schwarz  (Comm.  de  Bonifacii  Germ.  Apost,  vita  enarranda 
et  de  epistoll.  ejus  nova  editione  adornanda,  Monachi  1838.  4)  ist  ihm  eben 
so  unbekannt  gablieben,  wie  die  Schriften  von  PfafT,  Seiters,  Wiss  u.  A.,  die 
wir  hier  nicht  alle  aufzählen  wollen.  Unter  solchen  Umstanden  mag  es  genü- 
gen, hier  kurz  den  Inhalt  der  beiden  Bände  anzugeben,  indem  von  eigenen 
Leistungen  des  Herausgebers,  wenn  man  von  der  Besorgung  des  Druckes  absieht, 
hier  keine  Rede  seyn  kann.  Im  ersten  Bande  finden  wir  einen,  soweit  wir 
wahrnehmen  konnten,  correcten  Abdruck  der  Briefe  nach  Würdtwein's  Ausgabe 
mit  ganz  geringen  Aeoderungen,  und  ohne  dass  an  die  not h wendige  Verglei- 
chung  der  Wiener,  schon  von  Pertz  (s.  Archiv  HL  p.  170.  X.  p.  567)  vergli- 
chenen Handschrift,  sowie  der  zu  Montpellier,  Wolfenbüttel  u.  a.  0.  befindlichen, 
wenn  auch  spätereo  Handschriften  gedacht  wäre;  vorangestellt  ist  ein  nach 
Fassung  und  Inhalt  ganz  entbehrliches,  englisch  geschriebenes  Leben  des  Boni- 
facius, der  hier  Erzbischof  von  Metz  heist,  wie  denn  Mainz  ( Mayen ce)  und 
Metz  stets  von  dem  Verf.  verwechselt  oder  vielmehr  für  Eine  und  dieselbe  Stadt 
genommen  werden!! 

Der  zweite  Band  beginnt  mit  dem  Abdruck  des  (bisher  unter  den  Brie- 
fen mit  abgedruckten)  Jaramentum  und  der  Concilia  und  Statuta,  nebst  dem  klei- 
nen Artikel  De  Poenitentia;  daran  reihen  sich  S.  53  ft  die  bei  Marlene  Amplis- 


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458 

« 


Kurte  Anzeigen, 


sima  Collectio  T.  V.  p.  186  ruerst  abgedruckten  Scrmones,  wobei  hier  und  dort 
eine  Pariser  Handschrift  benutzt  ward,  dann  S.  109 ff.  die  aus  einer  Handschrift 
des  brittischen  Museums  hier  zum  erstenmal  abgedruckten  Aenigmata  de  virtu- 
tibus  quae  misit  S.  Bonifacius  ad  sororem  suam,  ganz  ähnlich  nach  Fassung  und 
Gehalt  denen  des  Aldhelm;  zuletzt  S.  117  ff.  die  dem  Bonifacius  beigelegte  (aber 
bestrittene)  Vita  et  Martyrium  S.  Livini  Episcopi  et  Martyris.  Als  eine  Zugabe 
zu  den  Schriften  des  Bonifacius  erscheint  S.  143  ff.  Vita  Bonifacii  von  Wilibald 
(s.  die  Monumm.  Germ.  T.  II);  dann  kommen  Notae  et  Variae  Lectionee,  meist 
ein  Abdruck  der  Noten  von  Würdlwein,  und  von  S.  273  an  Tabulae  ad  illu- 
strandam  chronologiam  Epistolarum  S.  ßouifaeii.  In  einem  Nachwort  auf  der 
letzten  Seite  des  Ganzen  verspricht  der  Herausgeber,  dass  er,  wenn  es  ihm  ge- 
lingen sollte,  noch  etwas  Neues  zu  finden,  dasselbe  alsbald  in  einem  Supplement 
nachzuliefern  gedenke.  lod  damit  ist  Alles  zu  Ende.  Der  Herausgeber  hätte 
aber  doch  wissen  müssen,  dnss  A.  Mai  im  siebenten  Bunde  der  dass.  Auctt. 
eine  Ars  Domni  Bonifacii  archiepiscopi  et  martyris  herausgegeben 
bat,  die  freilich  nicht  sehr  bedeutend  ist,  da  sie  meist  aus  Charisma  und  An- 
dern zusammengesetzt  ist,  aber  doch  unter  den  Werken  des  Bonifacius  eine 
Stelle  verdient  hätte.  Auch  die  Caesurae  versuum  (s.  bei  Gaisford  Scriplt. 
rei  raetrr.  p.  577),  die  schon  Heusinger  abdrucken  liess,  erscheinen  in  einer 
ehedem  pfälzischen,  jetzt  zu  Rom  befindlichen  Handschrift  unter  dem  Namen 
des  Sa netus  Bonifacius  (s.  keil  Anall.  Gramm,  p.  20),  und  es  ist  in  der 
That  kein  Grund  anzunehmen,  warum  nicht  Bonifacius,  den  wir  aus  dieser  Aus- 
gabe als  Dichter  kennen,  auch  über  Metrik  und  Grammatik  geschrieben  haben 
sollte,  so  gut  wie  Aldhelm  und  Beda,  da  gleiche  Zwecke  des  Unterrichtes  und 
dessen  Förderung  bei  ihm  vorlagen.  Endlich  hatten  auch  wohl  die  Annalcs 
Sancti  Bonifacii  (im  dritten  Bande  der  Monumcnta  Germaniae)  hier  einen 
Abdruck  verdient. 


Joannis  Sareshericnsis,  postea  Episcopi  Carnolensis  Opera  omnia  nunc 
pritnum  in  unutn  collegU  et  cum  codieibus  munuscriptis  contulit  J.  A.  Gi- 
lest  ji<r.  civ.  Doctor  et  collegii  Corporis  Chiisti  Oxon.  olim  socius.  Oxo- 
tUi,  apud  J.  H.  Parker  MDCCCXL  VIII sqq.  Vol.  I:  Epistolae.  XVI  und 
3U  S.  Vol.  II:  Epistolae.  XI  und  30S  S.  Vol.  HI:  Polycratici  Itbri 
J-F.  VI  und  3U  S.  Vol.  IV:  Pohjctalivi  libii  VI.  382  S.  Vol.  Vi 
Opuscula.  VII  und  383  S.  in  gr.  8. 

Diese  Ausgabe  ist  allerdings  die  erste,  in  welcher  die  sämmtlichen  Schrif- 
ten des  Johannes  von  Salesbury,  auch  die  in  neuester  Zeit  erst  bekannt  gewor- 
denen, vereinigt  sind  und  dadurch  einem  grösseren  Kreise  zugänglich  ge- 
macht werden,  wozu  der  gute,  correcte  Druck,  die  gleichen  Lettern  und  das 
schöne  Papier  diesen  Abdruck  insbesondere  eignet.  Auf  alles  Andere,  was  man 
etwa  von  dem  Herausgeber  eines  so  wichtigen  Schriftstellers,  der  durch  clas- 
aische  wie  philosophische  Bildung  so  sehr  unter  seinen  Zeitgenossen  hervorragt, 
erwarten  könnte,  muss  man  jedoch  im  Voraus  verzichten  und  selbst  das  auf  dem 
Titel  mit  grösserer  Schrift  gedruckte:  ..et  cum  codieibus  manuscriptis  contulit8 
nicht  so  genau  nehmen.  Die  zwei  ersten  Bände  enthalten  einen  Abdruck  der 
Briefe,  und  zwar  nach  der  Pariser  Ausgabe  von  1611,  in  welcher,  so  heisst  es 


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Kurze  Anzeigen. 


457 


am  Schluss  der  englisch  geschriebenen  Vorrede,  sie  jedoch  so  corropt  erschei- 
nen, dass  es  unmöglich  war,  einen  Sinn  herauszubringen.    Diesem  Umstand  hofft 
der  neue  Herausgeber  insoweit  abgeholfen  zu  haben,  dass  diese  Briefe  jetzt 
wenigstens  lesbar  und  verständlich  erscheinen,  obwohl  auch  so  der  Text  noch 
keineswegs  als  völlig  gereinigt  erscheinen  könne.    Auf  welchem  Wege  und  in 
welcher  Weise  diess  nun  bewirkt  worden  ist,  darüber  vermissen  wir  freilich  im 
Einzelnen  den  nöthigen  Nachweis ;  denn  die  wenigen,  auf  anderthalb  Seiten  am 
Schluss  des  ersten  Bandes  und  auf  drittehalb  Seiten  am  Schluss  des  zweiten 
Bandes  gegebenen  Notizen  oder  Voriae  Lrctiones  werden  dafür  wahrhaftig  nicht 
angesehen  werden  können..    Aus  dem  dem  zweiten  Bande  angehängten  Inder 
Epistolarum  Alphabelicus  ersehen  wir  übrigens,  dass  dem  Herausgeber  nam- 
hafte handschriftliche  Hülfsmittel  zu  Gebote  standen,  indem  hier  nicht  weniger 
als  dreizehn  Handschriften,  Pariser,  wie  englische  (zu  Oxford,  Cambridge  etc.) 
angeführt  werden,  und  darauf  angegeben  wird,  in  welchen  derselben  jeder  ein- 
zelne Briefe,  wie  sie  hier  in  alphabetischer  Reihenfolge  nach  den  Anfangsbuch- 
staben zusammengestellt  sind,  sich  findet.    Auf  diese  Angabe  beschränkt  sich 
der  kritische  Nachweis.    Wir  sind  daher  in  völliger  Ungewissheit  über  jede  von 
dem  Herausgeber  vorgenommene  Aenderung  des  Textes  gelassen,  inwieweit  die- 
selbe auf  urkundlicher  Autorität  oder  auf  Willkühr  beruht,  und  das  ganze  Ge- 
schalt der  Kritik  wird  also  von  Neuem  beginnen  müssen,  was  bei  einem  Schrift- 
steller, der  kein  so  grosses  Publicum  hat,  um  wiederholt  herausgegeben  za 
werden,  etwas  sehr  Missliches  ist.    Dasselbe  mag  von  dem  Abdruck  des  Po- 
lycraticus  gelten,  welcher  den  dritten  und  vierten  Bind  einnimmt.  Für 
diese  Schrift  ward  eine  Handschrift  von  Cambridge  sorgfältig  und  durchweg 
verglichen  und  daraus  zahlreiche  Irrthümer  verbessert.    So  sagt  die  Vorrede 
S.  VI,  und  hinter  jedem  der  beiden  Bände  folgen,  auf  drei  und  auf  zwei  Seiten, 
einige  spärliche  Variae  Icctiones.    Und  diess  ist  Alles,  was  wir  erfahren;  darauf 
beschränkt  sich  die  ganze  kritische  Kechenschaftsahlage.    Der  fünfte  Band  (Opus- 
cula)  enthält  zuerst  den  Metalogicus,  dessen  Text  auch  hier  mit  dem  Cam- 
bridger Manuscript  sorgfältig  soll  verglichen  worden  seyn.    Der  ganze  Nach- 
weis dieser  Vergleichung  beschränkt  sich  auf  die  in  einem  Umfange  von  an- 
derthalb Seiten  dürftig  verzeichneten  Variae  lecliones.    Dann  folgt  S  209  ff.  eine 
hier  zum  erstenmal  aus  einem  Harlejanischen  Manuscript  durch  den  Druck  ver- 
öffentlichte Schrift  De  septem  septenis,  von  der  jedoch  der  Schluss  fehlt.  Die 
den  sieben  einzelnen  Abschnitten  vorausgehende  Zusrhrift  (Prologus  epistolaris) 
ist  an  einen  angesehenen  Mann  gerichtet,  der  dem  Johannes  die  Veranlassung 
zu  Abfassung  dieser  Schrift  gab;  wir  kennen  jedoch  den  Namen  desselben  nicht. 
Wir  wollen  zur  Charakteristik  dieses  über  die  Siebenzahl  und  deren  Bedeutung 
(Ueber  die  sieben  Wege  der  gelehrten  Bildung,  Ueber  die  sieben  Wege  der 
Seele,  Ueber  die  sieben  Fenster  der  Seele,  Ueber  die  sieben  Kräfte  der  Seele, 
Ueber  die  sieben  Tugenden,  Ueber  die  sieben  Arten  der  Betrachtung  und  Ueber 
die  sieben  Grundprineipien  aller  Dinge)  sich  verbreitenden,  mit  manchen  An- 
whrnngen  selbst  des  Heraclitus,  Plato  u.  A.,  sowie  des  Augustinus,  und  zahl- 
reichen Bibelstellen  gespickten,  aber  auch  in  manchen  Spielereien  sich  gefallen- 
den Aufsatzes,  der  uns  an  Aehnliches  erinnert,  was  Hammer  (Wiener  Jahrbb. 
Bd.  123  u.  124,  besonders  p.  39 ff.  nnd  49 ff.)  beigebracht  hat,  nur  Eine  Stelle 
aus  dem  eben  erwähnten  Prologus  epistolaris  beifügen.   Der  Yerf.,  den  Schein 


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der  Anpassung,  über  einen  so  schwierigen  Gegenstand  m  schreiben,  von  sich 
ablehnend,  fahrt  dann  fort:  „Praesuinpsit  Aerius  scribendo  Caesar i  eui  noluit 
assurgere  in  collegium  poetarum  venienti,  Propertius  voro  scripsit  Angosto;  quo- 
niaui  et  in  ipso  studiornm  spes  erat  et  ratio.    In  allero  Musa  mendicabat  sine 
virtote;  in  altera  Musa  inendicans  triumphabat  ex  humilitate.   Scientia  tarnen 
sine  potentia  poenn  erat  in  ntroque.   Scientia  vero  sola  in  Actio  inflabat :  virtus 
cum  scientia  in  Properlio  mores  et  animum  honeslius  componebat.   Proinde  ve- 
strnc  praerogativac  dignitatis  nostrae  Musa  parvitatis  scribit,  non  ut  Accius  te- 
nuis,  non  ut  Propertius  exilis,  quoruin  ingenia  consumpta  sunt  in  septem  rerum 
prineipiis."  —  Auf  den  Abdruck  dieses  Aufsalses  folgt  S.  239  ff.  der  von  Pe- 
tersen in  Hamburg  1843  herausgegebene  Entheticus  sive  de  dogmatc  philo- 
sophorum,  unter  Vcrgleichung,  wie  es  p.  VI  der  Vorrede  heisst,  von  zwei  Hand- 
schriften, der  einen  zu  Cambridge,  der  andern  im  britischen  Museum.  Der 
Nachweis  dieser  Vergleicbung  besteht  in  der  Anführung  von  Varianten  an  sehn 
Stellen,  und  dnran  schliesst  sich  S.  299  (f.  ein  Abdruck  des  von  Fabricius  in  der 
Bibl.  med.  et  inf.  Latinit.  Bd.  IV  mitgeteilten  Gedichtes  De  membris  con- 
spirantibus;  S.  305 ff.  ein  Abdruck  der  Vita  Anselm  i  Archiepiscopi 
Cantuariensis  aus  Wharton's  Anglia  Sacra;  S.  350(1'.  Vita  Sancti  Tho- 
uie,  abgedruckt  nach  der  zu  London  und  Oxford  1645  erschienenen  Vita 
Sancti  Thomae  etc.   Den  diesem  Johannes  von  Salesbury  mit  Unrecht  beigeleg- 
ten Commentar  über  den  Colosserbrief,  sowie  die  einem  andern  Joannes  Deca- 
nus  Saresberiensis  beizulegende  Summa  de  Poenitentia  hat  der  Herausgeber  mit 
gutem  Grunde  weggelasaeu.    Aber  er  hätte  dafür  durch  einige  weiter«  Lei- 
stungen seiner  Ausgabe  einen  grösseren  Werth  vei leihen  können.    Dabin  rech- 
nen wir  /..  B.  die  gänzlich  unterlasseue  Nachweisung  der  vielen  im  Texte  der 
verschiedenen  Schriften  dieses  gelehrten  und  classiscb  gebildeten  Mannes  eiltrten 
Stellen  aller  Schriftsteller  und  auderer  dahin  einschlägigen  Anspielungen;  wer 
die  Bedeutung  des  Jobannes  von  Salisbury  auch  in  dieser  Beziehung  kennt, 
wird  den  Mangel  jeder  derartigen  Rücksicht  von  Seiten  des  Herausgebers  fühl- 
bar empfinden.    Und  ebenso  vermissen  wir  auch  die  Zugabe  von  Registern,  die 
uns  bei  derartigen  Schriftstellern  doch  als  eine  wahre  Notwendigkeit  für  den 
Gebrauch  erscheinen.    Selbst  zu  den  einzelneu  Schriften  wären  sorgfältige  und 
gründliche  Einleitungen,  mit  den  nöthigen  literarhistorischen  Notizen  verseheo, 
dringend  zu  wünschen.    Was  über  Leben  und  Charakter  des  Autors  in  der  Vor- 
rede bemerkt  ist,  enthält  nur  das  Gewöhnliche;  der  Verf.  wurde  in  der  That 
besser  gethan  haben,  wenn  er  aus  Wright  Biograph,  britannic.  Iiier.  (Anglo- 
Norntan  Period)  den  betreffenden  Artikel  (S.  230  ff.),  dem  auch  em  genaues 
Verzeichniss  der  bisher  erschienenen  Ausgaben  (welches  hier  gans  fehlt)  bei- 
gefügt ist,  hätte  abdrucken  lassen.    Ebenso  fehlt  auch  jede  nähere  Einleitung 
in  die  einzelnen  Schriften,  deren  Abfassung  u.  s.  w.  Für  den  Polycraticus  fugen 
wir  dem  schon  bei  Wright  p.  236  erwähnten  Zeugniss  noch  ein  anderes  ans 
der  Chronik  des  Alberich  bei,  der  dieses  Werk  um  das  Jabr  1157  ansetzt. 

Bei  diesem  Maugel  müssen  wir  uns  also  damit  begnügen,  einen  durck 
ein  gefälliges  Aeussere  ansprechenden  und  wenigstens  lesbarer  gewordenen  Ab- 
druck der  verschiedenen,  hier  zum  erstenmal  in  ein  Ganzes  vereinigten  Schrif- 
ten eines  Maunes  zu  erhalten,  der  als  einer  der  hervorragendsten  und  gebildet- 


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sloa  Geister  des  zwölften  Jahrhunderts,  zugleich  auch  all  einer  der  Hauptre- 
prasentanten  der  Gelammtbildung  jener  Zeit  gelten  muss. 

• 

Grammalici  incerti  de  generibus  nominum  rite  de  dubio  geilere  ojmsculum  primum 
ex  parte  ab  Maur.  Uaupt  in  ed.  Ovid.  llalieut.  cctt.  Lips.  1838.  e  cod. 
Vindolonensi,  postea  integrum  ab  Le  Clerco,  in  Catalogue  general  des  Ma- 
nuscrits  des  Bibliotheques  publique*  des  departemenls  T.  I  Paris  18W  e  cod. 

mentariolo  instruetum  cum  appendice  locorum  Sertianorum  Fhilarguriorum- 
f/ue  in  Virgilium  de  generibus  nominum  edidii  indicesque  adjeeit  Dr.  Fr  id. 
Guil.  Otto,  prof.  exlraord.  colUtborator  semin.  philol.  Giss.  Gissae,  t\j- 
pis  G.  D.  Bruehli  I.    MDCCCL.    76  S.  in  gr.  4L 

Diese  Schrift  ward  hervorgerufen  durch  eine  besondere  Veranlassung; 
denn  sie  ist  ein  Glückwunsch,  dargebracht  dem  Hrn.  Professor  Osann,  dem  Di- 
rektor des  philologischen  Seminars,  zum  Gudächtniss  an  die  von  ihm  nun  ein 
Vicrteljahrhundert  hindurch  geleitete  und  durch  ihn  zu  neuem  Leben  und  zu 
neuer  Thätigkeit  gerufene  Anstalt;  und  da  sie  ihrem  Inhalte  nach  über  einen 
merkwürdigen  und  noch  wenig  bekannten  Rest  lateinischer  Sprachforschung  des 
Alterthums  sich  verbreitet,  60  schliesst  sie  sich  auch  von  dieser  Seite  passend 
der  Reihe  von  gründlichen  Forschungen  an,  dir  wir  gerade  auf  diesem  Felde 
dem  Manne  verdanken,  dessen  segensreiche  Wirksamkeit  hier  gefeiert  werden 
soll.  Die  noch  unlängst  in  diesen  Blattern  (1849.  p.  787  IT.)  besprochene  Abhand- 
lung über  Agrötius  und  Ca  per  bietet  selbst  insofern  daiu  einen  Anlass,  als 
manche  Nachklänge  aus  den  Schriften  des  zuletzt  genannten  angesehenen  latei- 
nischen Grammatikers  auch  in  dem  Bruchstücke  sich  finden,  das  uns  hier  Herr 
Otto  in  einer  erneuerten  und,  so  weit  dicss  jetzt  möglich  ist,  erschöpfenden  Be- 
arbeitung vorlegt.  Schon  im  Jahre  1838  hatte  M.  Haupt  seiner  Ausgabe  der 
Hslieutica  des  Ovidius,  der  Cynegetica  des  Gratius  u.  s.  w.  S.  74  ff.  aus  einer 
Wiener,  ehedem  Salzburger  Handschrift  des  neunten  Jahrhunderts  ein  Stück 
eines  alten  Grammatikers  beigefugt,  das  mit  Bestimmung  der  verschiedenen  Ge- 
nera einzelner  Nomina  in  alphabetischer  Ordnung  sich  beschäftigt,  und  insbe- 
sondere durch  diu  grosse  Zahl  von  Belegstellen,  aus  älteren,  bekannten  wie 
unbekannten  Autoren,  zunächst  Dichtern,  die  Aufmerksamkeit  auf  sich  gezogen 
hatte.  Indess  fehlte  dazu  der  Anfang,  sowie  auch  der  Titel  des  Ganzen,  wel- 
chen der  erste  Herausgeber  (De  generibus  nominum)  hinzufügte.  Später  ward 
dasselbe  Stuck,  aber  vollständig,  also  mit  dem  in  der  Wiener  Handschrift  Feh- 
lenden, die  Buchataben  A,  B  und  einen  Thcil  von  C,  ergänzenden  Anfang  in 
einer  Handschrift  zu  Laon  entdeckt,  welche  aus  der  schon  im  sechsten  Jahr- 
hundert in  der  Nähe  von  Laon  gestifteten  Benedictiner  Abtei  von  St.  Vincent 
stammt  und  dem  zwölften  Jahrhundert  angehört,  nicht  dem  sechsten,  wie 
unser  Verf.  (S.  8.  15)  den  französischen  Herausgeber  annehmen  lässt,  der  (S.  249 
am  gleich  anzuführenden  Orte,  vergl.  S.  247)  bloss  von  der  im  sechsten 
Jahrhundert  gestifteten  Abtei  spricht,  aus  welcher  die  Handschrift  stammt.  Die- 
selbe beginnt  mit  dem  durch  den  Druck  (Venedig  1587.  6.)  bereits  bekannten 
Ciccroiüs  Über  de  synonymis  ad  Veturium,  lässt  darauf  Einiges  über  Mass  und 
Gewicht,  über  Festtage  und  dergleichen  folgen,  und  dann  kommt  dieses  Glossar, 


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an  welches  noch  eine  Reihe  von  andern,  meist  kleineren  Schriften  verschiedenen 
Inhalts  aas  dem  Gebiete  der  kirchlichen  and  theologischen  Literatur  des  Mittel- 
alters sich  anreiht  (s.  Cataloguc  general  des  Mss.  etc.  I.  p.  246 ff.),  namentlich 
Schriften  des  Hugo  von  St.  Victor.  Hiernach  ward  von  Le  Clerc  in  dem  an- 
geführten Werke  (S.  649  ff.)  ein  mit  einer  Einleitung  und  erklärenden  Noten 
versehener  Abdruck  des  Ganzen  veranstaltet,  welcher  die  Grundlage  dieses 
neuen  Giesscncr  Abdrucks  und  damit  auch  der  Schrift  bildet,  von  der  wir  einen 
kurzen  Bericht  hier  abzustatten  gedenken.  Dass  die  Aufsätze  beider  Handschrif- 
ten aus  Einer  und  derselben  Quelle,  jedenfalls  ans  einer  noch  ziemlich  alten  und 
guten  stammen,  dürfte  kaum  zu  bestreiten  seyn;  denn  die  Abkürzungen  der 
Handschrift  von  Laon  bei  einigen  Theilcn  kommen  auf  Rechnung  des  Schreibers, 
der  aus  Nachlässigkeit  oder  Bequemlichkeit  einzelne  Belege  weggelassen  hat. 
Diese  alte  Quelle  sucht  der  deutsche  Herausgeber  in  einer  der  Schriften,  wel- 
che De  dubio  genere  handelten,  und  diess  veranlasst  ihn,  eine  Erörterung  über 
diejenigen  Grammatiker  vorauszuschicken ,  welche  über  diesen  Gegenstand ,  so 
weit  wir  wissen ,  geschrieben ,  und  am  Schlüsse  des  Ganzen ,  hinter  dem  Ab- 
druck des  Glossariums,  lässt  er  noch  eine  Zusammenstellung  aller  der  Stellen, 
welche  auf  diese  Lehre  sich  beziehen,  aus  den  Commentaren  des  Servius  und 
Phylargyrius  zu  Virgils  Aeneide  folgen.  S.  60 ff.  Unter  den  alten  Grammatikern, 
welche  über  das  wechselnde  Genus  der  Nomina  oder  De  Dubio  genere  ge- 
schrieben, wird  an  erster  Stelle  Capor  aufgeführt,  dessen  einschlägiges  Werk 
leider  nur  aus  wenigen  Fragmenten  noch  bekannt  ist,  welche  in  der  Abhand- 
lung von  Osann  S.  Uff.  zusammengestellt  sind.  Auf  Caper  lusst  Herr  Otto  den 
Valerius  Probus  folgen  —  „Caprum  insecutns  est  Valerius  Probus*  (S.  12), 
oder:  e  Capro,  quo  etiam  Probut  usus  videtur  (S.  13),  was  wir,  in  der  Weise 
hingestellt,  bezweifeln,  indem  Valerius  Probus  schon  der  Zeit  nach  dem  Caper 
vorausgehen  wird,  wozu  wir  in  der  Stelle  des  fharisius  I.  p.  94:  „Flavius  tarnen 
Caper  Alecto  monoptoton  esse  Valerium  Probum  putare  ait,  banc  Aleclott,  eine 
Nachweisung  finden,  welche  eher  zu  der  entgegengesetzten  Annahme  uns  be- 
rechtigen wird.  Dass  übrigens  Valerius  Probus  über  denselben  Gegenstand  ge- 
schrieben, setzt  eine  Stelle  des  Priscianus  ausser  allen  Zweifel.  Sonst  fuhrt 
der  Verf.  noch  Plinius  und  Charisius  auf,  welcher  letztere  die  Schriften  des 
Caper  uud  Valerius  Probus  benützte,  oder  vielmehr  plünderte.  Auch  Servius 
mag  in  seinen  Commentaren  zu  Virgil  Manches  der  Art  aus  Caper  entnommen 
haben;  und  so  glaubt  denn  auch  Herr  Otto  (S.  14),  den  Verf.  des  hier  in  Rede 
stehenden  Verzeichnisses  den  späteren  Grammatikern  beizählen  zu  können,  wel- 
che die  Schriften  des  gelehrten  Caper  für  ihre  Zwecke  ausbeuteten,  uns  aber 
immerhin  dankenswerthe  Reste  der  alten  Sprachforschung  anf  diese  Weise  er- 
halten haben;  und  wenu  er  (S.  15)  denselben,  mit  Bezug  auf  die  in  diesem 
Glossar  citirten  Isidorus  und  Fortunatas,  in  das  siebente  oder  achte  Jahrhundert 
nach  Christus  verlegen  möchte,  so  wird  man  ihm  darin  kaum  Unrecht  geben 
können.  Auch  Ref.  dachte  an  das  Karolingische  Zeitalter,  und  zwar  an  die 
frühere  Periode  Karls  des  Grosseu  selbst,  in  welche  auch  der  Virgiliua  Maro 
fallt,  dessen  grammatische  Schriften,  wie  sie  Mai  im  fünften  Bande  der  Claasici 
Auetores  herausgegeben  hat,  uns  die  grosse  Thätigkeit  zeigen ,  welche  zu  jener 
Zeit  auf  diesem  Gebiete  der  lateinischen  Sprachforschung  herrschte,  und  uns 
mit  den  zahlreichen  Schulen  und  den  darin  lehrenden  Grammatikern,  anter  de- 


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Ben  vielleicht  auch  der  Verfasser  dieses  Glossars  sich  befand,  bekannt  machen. 
Ans  der  in  dem  fiianuscript  von  Laon  vorkommenden  Stelle,  wo  es  unter  Ar- 
bor  (Nr.  8)  heisst:  „sed  plenins  in  seqaenti,  cum  de  arboribns  propria  scribi- 
raus  (oder  vielmehr  scribemus,  wogegen  jedoch  das  nächstfolgende  Präsens 
spricht)  declaramus"  schliessen  auch  wir  keineswegs  auf  eine  Schrift  De  arbo- 
ribus,  wie  sie  einem  Appulejas  oder  Colamelia  beizulegen  wäre,  wohl  aber 
möchten  wir  daraus  die  Vermuthung  schöpfen,  dass  das  vorhandene  Glossar  nur 
ein  Stück  oder  Excerpt  eiues  grösseren  derartigen  Glossars  gebildet,  in  welchem 
ein  eigener  Abschnitt  über  das  Genus  der  Bäume  vorkam,  worin  die  verschie- 
denen Benennungen  der  Bäume  nach  ihrem  verschiedenen  Genus  zusammenge- 
stellt gewesen. 

Wenn  nun  der  Werth  dieses  Bruchstücks  hauptsächlich  mit  in  den  zahl- 
reichen Belegstellen  liegt,  welche  ungefähr  in  der  Art,  wie  diess  bei  Charisius 
der  Fall  ist,  bei  jeder  Erklärung  beigefügt  werden,  und  uns  manches  neue 
Fragment  bringen,  so  hat  der  neue  Herausgeber  auch  diesem  Punkte  seine  volle 
Aufmerksamkeit  zugewendet,  tbeils  in  den  dem  Text  untergesetzten  Noten,  theili 
in  der  vorausgehenden  Erörterung.  Es  wird  hier  eine  Masse  von  Schriftstellern, 
insbesondere  von  Dichtern  citirt,  unter  welchen  Virgil  die  erste  Stelle  einnimmt, 
neben  welchem  zwar  auch  mehrere  heidnische  Dichter  der  älteren  klassischen 
Zeit,  aber  insbesondere  dann  die  christlichen  Dichter,  Juvencns,  Prudentius,  Pau- 
linus, A vitus,  Sedulius  n.  A.  bis  auf  Fortunatus  herab,  angeführt  werden;  auch 
Lactantius  wird,  wenn  wir  anders  richtig  gezählt  haben,  an  acht  Stellen,  ans 
dem  Gedicht  über  den  Phönix  angeführt,  das  man  also  hiernach  wohl  für  eifi 
achtes  Produkt  dieses  Kirchenlehrers  um  jeno  Zeit  gehalten  hat.    Dass  freilich 
bei  diesen  Anführungen  nicht  immer  mit  der  gehörigen  Aufmerksamkeit  und 
Genauigkeit  verfahren  worden  ist,  wir  wissen  nicht,  ob  aus  Nachlässigkeit  des 
Concipienten  oder  des  Abschreibers,  am  Ende  aber  wohl  eher  aus  Schuld  des  Er- 
stem, zeigen  mehrfache  Verwechslungen.    So  werden  z.  B.  an  zwei  Stellen 
(nr.  336.  360)  Worte  des  Varro  citirt,  welche,  das  einemal  aus  Virgilius, 
das  anderemal  aus  Ovidius  stammen,  so  wird  unter  nr.  136  ein  Vers  des 
Virgilius  citirt,  welcher  dem  Tibull  angehört;  die  Stelle  ans  den  Büchern 
der  Könige  unter  nr.  179  ist  aus  dem  Jesaias  u.  s.  w.    Diess  wird  uns  nament- 
lich da  vorsichtig  machen  müssen,  wo  Stellen  aus  noch  vorhandenen  Schriftstel- 
lern citirt  werden,  die  wir  jetzt  darin  nicht  mehr  finden,  wie  diess  hier  einige- 
mal bei  Stellen,  angeblich  des  Ausonius  (nr.  121),  des  Ambrosius  (nr.  211),  des 
Ovidius  (nr.  76.  352)  u.  A.  dei  Fall  ist.  Unter  nr.  19  wird  „Cicero  ad  Pan- 
s  a  mu  citirt,  also  aus  der  verlorenen  Briefsammlung  an  Pansa,  die  wir  auch  noch 
ans  einigen  andern  schwachen  Resten  kennen ;  so  kommt  unter  nr.  79  ein  Frag- 
ment des  Cicero  vor,  das  wahrscheinlich  seiner  Bearbeitung  des  Xenophonteischen 
Oeconomicus  entnommen  ist.  Aach  die  Fragmente  des  Varro  enthalten  manche  Berei- 
cherung, z.  B.  nr.  19. 26.79. 280  (»Varro  Quaestionum  Epistolicarum")  306,  (Varro  in 
Actionibus  Scenicis)  318,  „Varro  in  Neronem",  wo  wir  wobl  mit  dem  Herausgeber 
besser  a  d  (statt  i  n)  lesen  und  an  die  auch  sonst  bekannten  Briefe  Varro's  an  Nero  den- 
ken. Dass  übrigens  in  allen  diesen  Citaten  nur  an  den  Varro  von  Beate,  nicht  an  den 
Varro  Alacinus  (wie  Le  Clerc  S.  655  zu  glauben  scheint)  zu  denken  ist,  liegt 
zu  Tage.    Unter  nr.  38  wird  der  Dichter  Bibaculus  citirt;  Ennius  mit  zwei 
bisher^  nicht  bekannten  Fragmenten  (nr.  56.  »23),  Melissas,  ron  dem  wir 


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gar  keine  Reite  mehr  besitzen,  nr.  61,  eben  so  Scfiyola  nr.  72, 
lieb  der  bisher  nur  an«  einer  Stelle  der  Briefe  des  jungem  Plinios  (V,  3)  be- 
kannte Dichter ;  Aemilius  Macer  (zweimal  nr.  75.  348),  CorneliusSeverus 
(nr. 286. 370. 304),  Rabirius  (nr.  107. 110. 315),  Plautus u.  A.,  anch  Ma c  enas 
(nr.282),  und  Cäsar  De  analogia  (nr.  64),  Asinins  Pollio  (nr.  49.340),  Li- 
vius  (nr.  348,  vrgl.  68),  Sallnstius  (wahrscheinlich  aus  den  Historien  nr.  359), 
Trogu»  (nr.  361),  Cato  u.  A.  Ungewiss  wird  wohl  vorerst  noch  der  Dichter 
Valentin us  (nr.  85)  bleiben,  indem  unter  den  verschiedenen  Personen  dieses 
Namens,  welche  Le  Cierc  hier  anführt,  doch  keiner  recht  passen  will.  Eben  so 
ungewiss  wird  auch  das  Citat  Gracchus  (nr.  102  bei  dem  Worte  Purpura  und 
Diadema)  bleiben;  nn  einen  der  beiden  Redner  und  Staatsmänner  Cajus  oder 
Tiberius  zu  denken,  wird  kaum  zulässig  erscheinen,  wesshaib  Ref.  lieber  an  den 
von  Ovidius  (Ex  Ponto  IV,  16,  29)  genannten  Dicbtcr  Gracchus  denken  möchte, 
«us  dessen  Thyeates  eine  Stelle  bei  Priscianus  VI.  p.  719  citirt  wird,  und  der 
vielleicht  auch  bei  ISonius  p.  202s.  v.  Cardo  herzustellen  ist,  wo  „Graius  in 
Peliadibus"  citirt  wird.  Aehnliche  Schwierigkeit  bietot  der  nr.  46  mit  einem 
Verse  angeführte  Volumnius,  ein  uns  bisher  ebenfalls  unbekannter  Dichter* 
namen,  indem  doch  hier  kaum  an  den  angeblichen  Verfasser  etrorischer  Tragödien, 
Yolunnius,  den  blos  Varro  nennt,  zu  denken  ist.  Eher  könnte  allerdings  mit 
Le  Clcrc  an  den  römischen  Senator  Volumnius  Eutrapelus ,  den  wir  aus)  Cicero's 
Briefen  (ad  Famill.  VII,  32.  33.  IX,  26)  kennen,  gedacht  werden,  wenn  nicht 
auch  hier  jeder  weitere  Anhaltspunkt  fehlte.  Einen  solchen  könnte  uns  eher  die 
Stelle  des  von  A.  Mai  (Claas.  Auctt.  V.  p.  103)  edirten  Virgilius  bieten,  wo  wir 
lesen:  „ut  illud  est  M.  Volumnii:  ionicum  navigaberc  ponUim",  was  den  Schlurf 
eines  Hexameters  bildet,  in  dem  navigabere  nach  des  Virgilius  Erklärung  für 
navigare  steht  Indessen  dürfen  wir  nicht  verhehlen,  dass  M.  Volumnii 
keine  urkundliche  Lesart,  sondern  Verbesserung  von  A.  Mai  ist,  welcher  aus- 
drücklich hinzufügt,  dass  M  in  der  Handschrift  zweifelhaft  erscheine,  und  da- 
rauf voluimus  folge.  Auf  derselben  Seite  bei  Mai  wird  auch  ein  Alexander 
citirt,  den  wir  mit  dem  in  dem  vorliegenden  Glossar  erwähnten  (unter  nr.  257) 
wohl  für  Eino  und  dieselbe  Person  halten  möchten,  wenn  nicht  auch  hier  jeder 
weitere  Anhaltepnnkt  fehlte.  Ob  diess  dann  aber  auch  der  bei  Servius  zu  Ae- 
neiaVHI,  330  erwähnte  Alexander  ist,  lässt  sich  zwar  jetzt  noch  nicht  be- 
weisen, aber  auch  nicht  mit  bestimmten  Gründen  widersprechen ,  da  die  beiden 
Anfuhrungen,  in  dem  Glossar  und  bei  Servius,  wohl  aus  Einem  Werke  entnom- 
men seyn  können.  Unser  Herausgeber  will  lieber  an  einen  Heiligen  dieses  Na- 
mens denken,  was  wir  hier,  wie  hei  dem  nr.  132  angeführten,  sonst  auch  nicht 
weiter  bekannten  A  pol  Ion  ins  bezweifeln.  Eben  so  unbekannt  ist  der  nr.  125, 
nnd  zwar,  wie  es  scheint,  als  Dichter  angeführte  Dynamius;  Le  Clerc  will  nicht 
entscheiden,  ob  es  der  von  Ausonius  besungene  Rhetor  von  Bordeaux  oder  der 
Patricias  von  Arles  sei,  dessen  Gedichte  Fortunatus  so  sehr  rühme  (d.  h.  Dy- 
namius, der  Rektor  von  Marseille,  bei  Fortunalos  VI,  11.12;  vrgl.  dazn  Bro- 
weri  nott.  p.  169).  An  den  Dynamius,  unter  dessen  Namen  wir  zwei  Hei- 
ligengeschichten, eine  Vitn  S.  Marii  und  eine  Vit»  S.  Max  im  i,  besitzen,  scheint 
man  nicht  gedacht  tu  haben,  obwohl  er,  da  er  gegen  Ende  des  sechsten  Jahr- 
hunderts fällt,  eben  so  gut  hier  in  Berücksichtigung  kommen  kann;  s.  Hist.  Hl 
da  la  Fraace  III.  p.  457 aqq.   Bei  mehreren  Kamen,  wie  z.  B.  Brutus,  Ho* 


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468 


merus,  Cälina,  ist  das  Fragment  iu  kurz,  am  irgend  einen  weiteren  Schiusa 
■nf  den  Verf.  zu  gestatten.  Prudentius  contra  Paganos  nr.  130  wird 
als  ein  allgemeines  Citat  aufgefasst,  wobei  an  die  Schrift  gegen  Symmachus  zu 
denken  ist.  Anderes ,  was  bereit«  richtig  hier  aufgefasst  ist,  wie  die  Disci- 
puli  ad  Fron  ton  in  in  nr.  150  übergehen  wir,  da  aus  dem,  was  wir  bisher 
angeführt,  hinreichend  die  Wichtigkeit  dieses  Glossariums  für  die  bemerkten  Be- 
ziehungen ersichtlich  ist. 

Was  nun  die  Leistungen  des  deutschen  Herausgebers  hinsichtlich  der  Tex- 
tesgestaltung betrifft,  so  glauben  wir  das,  was  er  beabsichtigte,  am  Besten  mit 
den  eigenen  Worten  desselben  geben  zu  können:  „ — hanc  rem",  sagt  er  S.  14, 
„ita  administrandam  putavi,  ut  exemplo  Hauptiano  pro  fundamento  uterer,  in 
quo  quae  recte,  ut  mihi  videlur  atque  indubie  Hauptius  et  I.c  Clerc  emendassent, 
haud  dubitantcr  in  orationera  ipsam  reeiperem,  quae  magis  dubia  videreulur,  in 
notis  tractarem;  locos  scriptorum  vcl  ab  Hauptio  vel  ab  Le  Clercio  accurate  in- 
dicatos  repeterem  et  si  quid  primus  reperissem  communicarem,  denique  obscu- 
ras  significationes  gammatici  quanlum  possera  adbibilis  similibus  veteruni  gram- 
maticornm  locis  explicarem,  indicem  denique  nomioum  et  scriptorum  adjicerem." 
Diesa  ist  auch  Alles  in  befriedigender  Weise  geschehen:  die  dem  Text  unter- 
gestellten ."Voten  enthalten  nicht  nur  das  ganze  kritische  Material  mit  den  da- 
rauf bezüglichen  Erörterungen  des  Herausgebers,  sondern  verbinden  damit  auch 
eine  Fülle  von  weiteren,  auf  den  Gegenstand  selbst  bezüglichen  Nachweisungen 
und  Erörterungen,  welcho  zur  richtigen  Auflassung  des  Ganzen  und  zur  ge- 
rechten Würdigung  desselben  nicht  wenig  beitraget!.  Den  sehr  genau  und  sorg- 
fältig ausgearbeiteten  Registern  gehl  als  Appendix  des  Glossars  noch  S.  60  ff. 
die  schon  oben  erwähnte  Zusammenstellung  aus  den  Commcntaren  des  Servius 
und  Philargyrius  vorher,  welche  die  auf  den  in  der  alten  Wortforschung  so  be- 
deutenden Abschnitt  De  dubiis  generibus  sich  beziehenden  Stellen  dieser  Com- 
mentare  in  einer  zweifachen  Abiheilung  vereinigt,  indem  die  erste  die  allge- 
meinen Regeln,  die  andere,  die  Vorschriften,  welche  auf  das  Geschlecht  einzelner 
Romina  sich  beziehen,  befasst. 

Von  Seiten  der  äusseren  Einrichtung,  in  Druck  und  Papier,  empfiehlt  sich 
die  Schrift  nicht  wenig;  auch  der  corrcete  Druck  verdient  Anerkennung;  nur 
S.  10  wird  die  Stelle:  ut  recentiores  grammaticae  magistri  —  ex  copia  cxein- 
pforum  —  suos  hortus  irrigarunt  ac  quasi  illinc  sese  aluerunt  zu  corrigi- 
ren  seyn.  Den  durch  die  Gewissenhaftigkeit  des  Herausgebers  etwas  zu  aus- 
führlich gewordenen  Titel  des  Buchs  würden  wir  lieber  in  abgekürzter  Form 
gegeben  und  die  Erwähnung  der  Uaupt'schen  wie  der  Le  Clerc'schen  Heraus- 
gabe auf  dem  Titel  des  Ganzen  weggelassen  haben.  Die  auf  diesem  Titel  der 
Handschrift  von  Laon  gegebene  richtige  Bezeichnung:  Codex  Laudunensia 
finden  wir  im  Texte  mehrfach  verlassen,  und  dafür  Codex  Laonensis  gewählt, 
eine,  so  weit  wir  wissen,  nirgends  sonst  in  älteren  Quellen  vorkommende  Be- 
zeichnung, da  die  Stadt  Laon  stets  in  den  lateinischen  Quellen  des  Mittelal- 
ters bis  auf  die  neueste  Zeit  herab  Laudunura,  Laudunensis  urbs,  auch 
Lugdunum  clavatuin,  nirgends  aber  Laonum  oder  Laonensis  urbs  ge- 
nannt wird. 


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464 


Kurze  Anzeigen. 


Leitfaden  \ur  Geschickte  der  römischen  Literatur  von  E.  Ho  r  mann.  Magde- 
burg, 1851.  Heinrichslwfen'sche  Buchhandlung  (Encyclopädie  der  klassischen 
Alterthumskunde,  ein  Lehrbuch  für  die  oberen  Klassen  gelehrter  Sclutlen. 
Von  Luducig  Schoo  ff.  Fünfte,  ttmgearbeitete  Ausgabe.  Ersten  Theils  ueeitt 
Abtheilung:  Römische  Literatur  von  E.  Hon mann.)  IX.  und  143  S.ingr.8. 

Dem  in  diesen  Jahrbüchern  (Jahrgg.  1849,  p.  790  ff.)  angezeigten  Leit- 
faden zur  Geschichte  der  griechischen  Literatur  entspricht  dieser  in  Anlage 
und  Ausführung  gleich  gehaltene  Leitfaden  der  römischen  Literatur;  er 
wird  daher  in  gleicher  Weise,  sowohl  was  die  Genauigkeit  und  Richtigkeit  der 
einzelnen  Angaben,  als  insbesondere  die  mit  kleinerer  Schrift  milgetheilten  Ver- 
zeichnisse der  Ausgaben  betrifft,  von  welchen  keine  der  bedeutenderen  hier 
vermisst  wird,  allen  Denen,  die  sich  etwas  näher  auf  dem  weiten  Gebiete  der 
römischen  Literatur  umsehen  wollen,  empfohlen  werden  können,  als  ein  Leitfa- 
den, mittelst  dessen  sie  den  bemerkten  Zweck  wohl  erreichen  dürften,  zumal 
da  ungeachtet  des  beschränkten  Raumes,  der  ein  Eingehen  in  das  Detail  der 
einzelnen  Schriften  nicht  verstattete,  doch  nichts  Wesentliches  von  dem  vennist 
wird,  was  in  einem  solchen  Leitfaden  erwartet  zu  werden  pflegt.  Was  die 
Anordnung  des  Stoffes  betrifft,  so  ist  auch  hier  die  Abtheilung  nach  Perioden, 
deren  fünf  im  Allgemeinen  angenommen  werden,  beibehalten;  innerhalb  jeder 
Periode  werden  dann  die  einzelnen  Disciplincn  unterschieden,  um  so,  wie  es 
scheint,  j«uch  der  systematischen  Anordnung  ihr  Recht  widerfahren  zu  lassen, 
und  gewissermassen  beide,  die  chronologische  und  die  streng  wissenschaftliche, 
miteinander  zu  verschmelzen.  Wenn  bei  der  ßehaodlung  der  griechischen  Li- 
teratur ein  solches  Verfahren,  vorausgesetzt,  dass  die  Perioden  nicht  zn  enge 
gefasst  sind,  passend  erscheint,  so  wird  diess  bei  der  römischen  Literatur,  die 
keinen  so  grossen  Zeitraum  durchlaufen  hat,  ungleich  schwieriger,  und  fuhrt,  da 
doch  in  den  einzelnen  Fächern  unterschieden  werden  soll,  leicht  Verstückelun- 
gen oder  unangenehme  und  lästige  Trennungen  herbei,  welche  den  Ueberblick 
über  das  Ganze,  was  in  einem  besondern  Zweig  der  Poesie  oder  der  Wissen- 
schaft geleistet  worden  ist,  erschweren.  Indessen  wollen  wir  auch  hier  nicht 
unbedingt  absprechen,  wo  es  um  einen  Leitfaden  sich  handelt,  der  auch  auf  die 
Bedürfnisse  der  Schule  insbesondere  Rücksicht  nehmen  und  deragemäss  die  chro- 
nologische Abtheilungsweisc  nicht  verlassen  soll.  Von  den  fünf  Perioden,  inner- 
halb deren  die  Geschichte  der  .römischen  Literatur  hier  behandelt  wird ,  befasst 
die  erste  die  Vorzeit,  die  zweite  reicht  von  Livius  Andronicus  bis  zn  Cicero, 
die  dritte  bis  auf  den  Tod  des  Augustus,  die  vierte  bis  auf  Trajan's  Tod,  die 
fünfte  bis  ins  sechste  Jahrhundert  n.  Chr.,  die  Zeit  des  Verfalls.  Bei  jeder  Pe- 
riode wird  zwischen  Poesie  und  Prosa  unterschieden,  und  dann  eben  so  wieder 
bei  den  einzelnen  Zweigen  dieser  beiden  Hauptabtheilungen  unterschieden.  In 
Folge  dessen  finden  wir  einigemal  getrennt,  was  wir  lieber  miteinander  ver- 
bunden gesehen  hatten,  z.  B.  sind  die  Satiren  des  Horatius  getrennt  von  den 
Episteln ;  obwohl  beide  von  einander  in  gewissen  Beziehungen  verschieden  sind 
und  hier  allerdings  ein  Unterschied  anzunehmen  ist,  so  ist  doch  ein  Grundcharakter 
beiden  Dichtungen  so  gemein ,  dass  wir  sie  nicht  von  einander  trennen  dürfen, 
Wie  dies  ja  auch  schon  die  Alten  durch  die  beiden  Gedichten  gemeinsam  zu- 
getheilte  Benennung  Sermon  es  gefühlt  und  ausgesprochen  haben. 

(Schluss  folgt.) 


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Nr.  30.  HEIDELBERGER  1851. 

JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR. 


Kurze  Anzeigen. 

(Schluss.) 

Dasselbe  möchten  wir  in  Bezug  auf  Ovidius  bemerken,  dessen  Epi- 
siolae  ex  Pento  von  den  libri  Tristium  bier  getrennt  sind,  indem  die 
letaleren  der  Elegie  ($.  53),  die  erstem  der  Epistel  (§.  47)  augewiesen  werden, 
Ueberhaupt  würden  wir  bei  den  Unterabtheilungen  der  Poesie  der  dritten  Pe- 
riode den  Abschnitt  Epistel  (welcher  die  Uoraaischen  Episteln,  Ovid's  EpisU 
Ex  Ponto  und  die  Heroides  befasst)  lieber  ganz  weggelassen  haben.  Derselbe 
ist  hier  aufgeführt  als  ein  Bestandteil  der  lyrisch-epischen  Poesie,  welche 
in  erster  Stelle  die  Satire  (Horalius,  des  Valerius  Cato  Dirae  und  des  Ovidius 
Ibis),  in  dritter  die  bucoliscltc  Poesie  und  in  vierter  das  Epigramm  (?)  befasst. 
In  der  vierten  Periode  wird  auch  die  Fabel  (§.  85)  dieser  Abtheilung  der 
Poesie  zugezihlt,  wobei  wir  eben  so  wie  bei  der  Satire  unser  Bedenken  nicht 
zu  unterdrücken  vermögen.  Bei  der  Elegie  ($.  53)  wollen  wir  bemerken,  dass 
die  Elegie  an  die  Livia  über  den  Tod  des  Drusus ,  die  bisher  bald  dem  Pedo 
Albino vanus,  bald  dem  Ovidius  beigelegt  ward,  nach  Haupts  Ausführung  (die 
der  Verf.  bei  Abfassung  seines  Leitfadens  übrigens  kaum  kennen  konnte)  nicht 
mehr  als  ein  Werk  des  Alterthums  wird  angesehen  werden  können,  sondern 
eher  Tür  das  Produkt  eines  geübten  Dichters  neuerer  Zeit,  etwa  des  XV.  Jahr- 
hunderts gelten  muss.  Ein  ähnlicher  Fall  wird  wohl  auch  bei  der  $.  89  er- 
wähnten Satire  des  Turnus  auf  Nero  anzunehmen  seyn.  Bei  den  unter  dem 
Namen  des  Cornelius  Nepos  gehenden  Vitae  excellentium  imperatorum  hat  der 
Verf.  die  Frage  nach  der  Abfassung  derselben  durch  Cornelius  Nepos  (den 
keine  der  bis  jetzt  bekannten  Handschriften  nennt)  nicht  von  der  Hand  ge- 
wiesen, wohl  aber  richtig,  wie  wir  glauben,  in  der  Weise  beantwortet,  dass  er 
nach  innern  wie  äussern  Gründen,  insbesondere  auch  im  Hinblick  auf  die  Sprache, 
den  Cornelius  Kepos  zwar  als  Verfasser  anerkennt:  „doch  (wird  dann  hinzuge- 
fugt S.  61)  ist  das  unzweifelhaft,  dass  die  jetzige  Gestalt  durch  üeberarbeitung, 
Abkürzung  und  Interpolation  entstanden  ist  (worin  wir  eben  das  Werk  des  Ae- 
milius  Probus  erkennen);  die  Vitae  Catoois  und  Atüci  (die,  der  handschriftlichen 
Autorität  zufolge,  dem  Buch  De  hisloricis  angehören)  unterscheiden  sich  vor- 
teilhaft uno"  scheinen  ganz  acht  zu  seyn.u  C  u  r  t  i  u  s  wird  (§.  90)  unter  Ves- 
pasianus  verlegt,  was  auch  uns  die  richtigere  Annahme  zu  seyn  scheint.  Aber 
die  in  dieselbe  vierte  Periode  der  römischen  Literatur  fallenden  Sylvae  des 
Statins  würden  wir  nicht,  wie  hier  geschehen  (§.  87),  unter  die  lyrische  Poesie 
zu  bringen  gewagt  haben,  da  in  ihnen  doch  mehr  der  Charakter  der  beschrei- 
benden Poesie  und  des  erzählenden,  darstellenden  Epos,  auch  in  der  metrischem 
Form  hervortritt.  Bei  den  unter  Seneca'g  Namen  auf  uns  gekommenen  Tragö- 
dien ($.  77)  bleibt  der  Verfasser,  was  wir  billigen,  bei  dem  Philosophen  Seneca, 
als  dem  wahrscheinlichen  Verfasser  dieser  Dramen,  etwa  mit  Ausnahme  der 
OcUYi«  stehen.  Nachzutragen  aus  dem  Gebiete  der  neueren  Literatur  wir* 
XLIY.  Jobrg,  3.  Doppelheft,  30 


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Kurie  Anzeigen. 


man  kaum  Etwas  Coden,  in  sofern  man,  wie  billig,  den  Charakter  des  Leitfa- 
dens und  den  Raum,  in  welchem  derselbe  sich  tu  bewegen  hat,  in  Erwägung 
zieht.  Nur  bei  Einer  Stelle  wird  man  wohl  einen  solchen  Zusatz  wünschen, 
(S.  15)  In  der  Note,  wo  von  den  angeblichen  Büchern  Numa's  die  Rede  ist, 
und  Lassaulx's  Abhandlung  (in  den  Schriften  der  Akad.  d.  Wissensch,  zu  Mün- 
chen V,I,  S.  81  ff.  Vergl.  diese  Jahrbb.  1848,  p.  53  IT.)  genannt  werden  konnte. 
Anderes  will  Ref.  nicht  berühren:  er  wollte  mit  seinen  Bemerkungen  ohnehin 
nur  dem  Verfasser  dieses  nützlichen  und  empfehlenswerthen  Leitfadens  seine 
Aufmerksamkeit  beweisen,  sowie  seinen  Bemühungen  die  gerechte  Anerkennung 
aussprechen.  Die  Äussere  Ausstattung  des  Buchs  ist  befriedigend,  der  Druck 
correct.  Die  Ungleichheit,  wornach  bei  manchen  Ausgaben  und  Büchern  du 
Format  angegeben,  bei  andern  weggelassen  ist,  dürfte  bei  einer  erneuerten  Auf- 
Inge durch  gleichmässig  durchgeführte  Angabe  des  Formats  auszugleichen  seyn. 
8.  14  Z.  11  Ton  unten  ist  au  lesen  Ca  den  bar  h  statt  Cladenbacb.  S.  10  Z.  11 
Ton  oben  'Pe>u.aiot  statt  V    Eoi.    Ein  Register  über  die  Namen  fehlt  nicht 

Chr.  Bfthr. 


Uta  et  er;  Lehrbuch  der  Differential"  und  Integralrechnung  etc.,  deutsch  herausge- 
geben und  mit  einer  Abhandlung  über  die  Methode  der  kleinsten  Qua- 
drate begleitet  von  Dr.  Th.  Wittstein.  Zwei  Bände.  Hannover  in  der 
Hahn' sehen  Hofbuchliandlung.  1848-1849. 

Ich  kann  mich  hier  auf  die  Beurtheilung  der  Abhandlung  des  Uebersetsers 
fiber  die  Methode  der  kleinsten  Quadrate  beschränken,  da  ich  über  das 
Na  vier 'sehe  Werk  selbst  bereits  in  den  göttingeschen  Geiehrtenanzeigen  Jahrg. 
1848,  Stück  149  n.  Jahrg.  1849,  Stück  134,  135  u.  136  das  Nöthige  gesagt  habe, 

Herr  Wittstein  will  durch  seine  Abhandlung  zunächst  den  Schülern  der 
polytechnischen  Schule  zu  Hannover  eine  möglichst  klare  und  einfache  Einlei- 
tung in  das  Verstindniss  der  Methode  der  kleinsten  Qu  a  d  ra  le  geben  — 
Und  bemerkt,  dass  seine  Abhandlung  im  Wesentlichen  eine  elementare  Repro- 
duktion der  ursprünglichen  Darstellung  des  fraglichen  Gegenstandes  von 
Citrus s  fn  der  theoria  motus  corpor.  coelcstium  1809  und  in  der  Zeitschrift  ftr 
Astronomie  von  v.  Lindenau  und  Bohnenberger  1816  sei.  —  Nur  in  Be- 
siehung auf  die  Begründung  der  Methode  der  kleinsten  Quadrate -habe  er  es 
Vorgezogen,  den  Gang  des  Erfinders  zu  verlassen  und  sich  an  Hagen's  Dar- 
stellung zu  halten.  —  Als  Rechtfertigung  dieses  Schrille«  bemerkt  H.  W.,  dass, 
so  lange  man  den  Satz  vom  arithmetischen  Mittel  der  Methode  der 
"kleinsten  Quadrate  zum  Grunde  lege  (wie  bei  der  ersten  Gauss'schen 
Darstellung),  man  damit,  streng  genommen,  nichts  Anderes  ausgesagt  habe:  ab 
dass  in  allen  Gattungen  von  Beobachtungen,  in  denen  man  bei  der  Aufsuchung 
einer  unbekannten  Constantc  aus  beobachteten  Werthen  derselben  sich  des 
arithmetischen  Mittels  zur  Bestimmung  des  wahrscheinlicheten  Wer- 
Ihes  dieser  Constante  bedient,  die  Anwendung  der  Methode  der  kleinsten 
Quadrate  auch  auf  alle  complicirtern  Aufgaben  gerechtfertigt  ist,  welche 
die  Bestimmung  beliebig  vieler  unbekannter  Constanten  aus  den  beobach- 
teten Werthen  beliebiger  Funktionen  dieser  Constanten  fordern.  (!)  —  Die 
Zulässlgkcit  der  Methode  der  kleinsten  Quadrate  zur  Bestimmung  der  Werthe 
unbekannter  Constanten  werde  also  in  jeden  einzelnen  Falle  abhängig  gemacht 


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Kurse  Anzeigen. 


467 


von  der  Zulässigkeit  eines  gewissen  b  esondern  ^ alles  dieser  Methode,  wel* 
eher  tw«r  der  einfachste  unter  allen  möglichen  sei,  für  dessen  Zulässig- 
st it  selbst  jedoch  keinerlei  Art  von  Kriterium  gegeben  werde,  son- 
dern lediglich  dem  Meinen  und  Dafürhalten  anheimgestellt  bleibe.  —  Man 
könne  zugestehen,  dass  dem  Erfinder  der  Methode  eine  solche  Zurückführung 
ihrer  Anwendbarkeit  bei  der  ersten  Darstellung  seiner  Erfindung  vollkommen 
freistand,  weil  damit  die  Methode  selbst,  wenigstens  vorläufig,  sichergestellt, 
nämlich  auf  eine  Thatsa che  gestützt  werde,  der  man  im  täglichen  Leben  — 
wenn  auch  ohne  deutliches  Bewusstsein  des  Grundes  -  Anerkennung  niemals 
versage!  —  (Hr.  W.  scheint  allerdings  kein  sehr  deutliches  Bewusstsefn 
des  Grundes  des  Princips  des  arithmetischen  Mittels  gehabt  zu  ha- 
ben! — )  Aber  offenbar  sei  dadurch  die  Frage  nach  der  Begründung  (?) 
des  Satzes  vom  arithmetischen  Mittel  keineswegs  erledigt,  sondern 'bloss 
vertagt,  d.  h.  es  bleibe  noch  die  Forderung  offen:  durch  tieferes  Ein- 
gehen in  die  Natur  und  Entstehung  der  zufälligen  Bcobachtungsfehler  eine 
so  allgemeine  Grundlage  der  Methode  der  kleinsten  Quadrate  zu 
erlangen,  dass  darin  sowohl  die  einfachsten,  wie  die  verwickeisten  Auf- 
gaben, welche  man  dieser  Metbode  unterlegen  möge,  die  Sphäre  ihrer  Zulfisslg- 
keil  gezeichnet  Enden!  —  Dieses  scheint  nun  dem  Verfasser  der  von  Hagen 
(Grundzüge  der  Wahrscheinlichkeitsrechnung  1837)  eingeschlagene  Weg  auf  ein« 
höchst  einfache  Weise  (?)  zu  leisten,  welcher  sich  auf  die  Hypothese  stützt: 
Der  Bcobachtungsfehler  ist  die  algebraische  Summe  aus  un- 
endlich viclen(?)  (unendlich  kleinen)  elementaren  Fehlem,  die 
alle  gleich  gross  sind  (?)  und  wovon  jeder  einzelne  ebenso  leicht 
positiv,  als  negativ  sein  kann!  — 

Die  Anwcnduug  der  Methode  der  kleinsten  Quadrate  zur  Bestimmung  un- 
bekannter Constanlen  soll  nach  der  Meinung  des  Verf. 's  überall  gerechtfertigt  sein, 
wo  die  Ha  gen' sehe  Hypothese  über  die  Natur  der  Bcobachtungsfehler  als  zu- 
lässig angesehen  werden  darf  —  oder  vielmehr:  sie  werde  (da  letzteres  nie  in 
aller  Strenge  der  Fall  sein  könne)  desto  mehr  gerechtfertigt  sein,  je  näher  in 
dem  einzelnen  Falle  diese  Hypothese  mit  der  Natur  der  vorhandenen  Beobach- 
tnngsfebler  zusammen  t  un.  —  Hierin  liege  mithin  das  Kriterium  (?)  für 
die  Anwendbarkeit  der  Methode  der  kleinsten  Quadrate  ausgedrückt, 
welches  aller  numerischen  Rechnung  voraufgehen  müsse  —  und  welches,  wie 
man  leicht  sehe,  immer  wenigstens  noch  die  Möglichkeit  offen  lasse,  dass  auch 
der  Satz  vom  arithmetischen  Mittel  vielleicht  nicht  in  allen  denkbaren 
Fällen  zulässig  sei  —  wie  man  sonst  anzunehmen  pflege.  (Welcher  Galimatias!) 

Der  Verf.  gesteht  selbst  zo :  dass  die  H  a  g  e  n  'sehe  Hypothese,  wie  er  sie  be- 
nutzt, noch  gegründete  Bedenken  zulasse  —  und  ihre  vorzüglichste  Ei- 
genschaft soll  nur  darin  bestehen,  dass  sie  die  einfachste  sei,  welche  man 
machen  könne  (?!)  —  und  die  auf  sie  begründete  Rechnung  sich  so  einfach 
gestalte!  —  Eine  tiefere  und  erschöpfendere  Behandlung  des  fraglichen 
Gegenstandes  habe  übrigens  Bessel  in  gleicher  Anerkennung  der  in  der  Gaus s- 
schen  Theorie  gebliebenen  Lücke  (?!)  gegeben  (astronomische  Nachrichten  für 
1638.  Bd.  15,  Nr.  35S-359). 

Dieses  ganze  Raisonnement  des  Verf.'s  ist  total  unbegründet.  —  Dcc 

objectivt  Grund  Tür  die  Annahme  des  arithmetischen  Mittels  aus 

mehrern  unmittelbaren  Beobachtungen  derselben  Grösse  als  des  wahr-» 

30* 


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Kurte  Anzeigen. 


scheinlichsten  Werthes  dieser  Grösse  ist  kein  anderer,  als  der:  dass  ans  dem  Be- 
griffe des  zufalligen  unvermeidlichen  Beobachlungsfeblers  unmittelbar 
folgt:  dass  gleicbgrosse  positive  und  negative  unvermeidliche  zufallige 
Fehler  gleich  möglich  (wahrscheinlich)  sind.  —  Wer  also  das  letztere  an- 
nimmt, hat  damit  auch  das  Princip  des  arithmetischen  Mittels  angenom- 
men—  dieses  liegt  also  auch  implicite  in  der  IIa  gen 'sehen  Hypothese.  —  Was 
diese  Hypothese  sonst  noch  enthält,  ist  ebenso  überflüssig,  als  unzulässig.  Dass 
jeder  unvermeidliche  zufällige  Beobachtungsfehlcr  aus  mehreren  Quellen  (Ur- 
sachen) entspringt,  liegt  auf  der  Hand  —  und  ist  auch  von  Gauss  ausdrücklich 
bemerkt  —  denn  er  unterscheidet  errores  simplices  und  errores  totales  —  dass 
aber  die  Anzahl  dieser  Fehlerquellen  unendlich  gross  (?)  und  die  daraus 
entspringenden  Fehler  alle  unendlich  klein  und  einander  gleich  sein 
sollen  —  ist,  wie  gesagt,  eine  ebenso  unstatthafte  als  unnütze  Hypothese.  Der 
Verf.  scheint  unter  dem  tiefern  Eingehen  in  die  Natur  und  Entstehung 
der  zufälligen  Beobacbtngsfehler  das  Aulstellen  complicirter,  unwahr- 
scheinlicher Hypothesen  für  einfache,  unmittelbar  aus  der  Natur  der 
Sache  fliessende  zu  verstehen.  Wenn  sich  der  Verf.  schmeichelt:  das  Princip  des 
arithmetischen  Mittels  deducirt  (bewiesen)  zu  haben,  so  ist  diess  wohl 
nur  eine  Täuschung  —  denn  dasselbe  ist,  wie  bereits  bemerkt,  in  der  Ha- 
gen'sehen  Hypothese  schon  implicite  enthalten.  Er  hat  also  bei  der  Bestim- 
mung des  Wabrscheinlichkeitsgesetzes: 

y  =  y0  e  -»*  (V) 
der  zufälligen  unvermeidlichen  Beobachtungsfehlcr  jenes  Princip  unbewusst 
▼  or ausgesetzt.    Bei  der  Ableitung  der  Formel  (et)  ist  der  Verf.  auch  noch 
genöthigt:  die  Anzahl  der  unendlich  vielen  unendlich  kleinen  Ele- 
mentarfehler als  eine  gerade  anzunehmen. 

Mit  Voraussetzung  des  Principes  des  arithmetischen  Mittels  kann 
man  aber  die  Formel  (a),  so  wie  das  Princip  der  Methode  der  kleinsten 
Quadrate: 

lQx*)  =  x*l+x\  +  x\  +  =  <>, 

wo  Xt,  X{,  X3, .  . .  die  zufalligen  unvermeidlichen  Beobachtungsfehler  bezeichnen, 
viel  einfacher  erhalten,  als  nach  der  Hagen 'sehen  Hypothese.  Am  besten  thut 
man  aber,  wenn  man  den  Gang  einschlägt,  welchen  Gauss  in  seiner  letz- 
ten Darstellung  der  Methode  der  kleinsten  Quadrate  (Theoria  combinationis  ob- 
servalionum  erroribus  minimis  obnaxiae  und  Supplementum  theor.  comb,  observ. 
error,  min.  obnox.  Guttingae,  1823 — 1828)  genommen  hat,  die  bis  jetzt  von 
Andern  weder  übertroffeo,  uoch  selbst  nur  erreicht  ist.  Da  sich  über  die  Be- 
gründung der  Methode  der  kleinsten  Quadrate  ganz  verkehrte  Ansichten 
zu  verbreiten  scheinen,  wovon  wir  eben  ein  Beispiel  kennen  gelernt  haben  — 
und  wohin  selbst  die  Ansiebt  eines  ßessel  gehört,  wie  wir  bald  zeigen  wer- 
den, so  ist  es  nothwendig,  zuvor  die  Fundamentalbegrifle  der  in  Rede  stehen- 
den wichtigen  Lehre  nach  der  vollendetsten  Darstellung  ihres  Erfinders  in  aller 
Kürze  hier  anzuführen.   In  den  augeführten  Abhandlungen  sagt  Gauss: 

„Error um  regularium  consideratio  proprio  ab  instituto  nostro  excludi- 
tnr  ....  Errores  observationum  ad  idem  genus  per tinenti um ,  qui  a  canssa  sim- 
plici  determinata  oriantur,  per  rei  naturam  certis  limitibm  sunt  circumscripti, 

1 


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qaos  sine  dnbio  exaete  assignare  beeret,  si  indoles  ipsius  caussae  penitus 
set  perspecla.  Pieraeque  errorum  fortuitorum  caussae  ita  sunt  comparatae,  ut 
secundum  legem  continaitatis  omnes  errores  intra  istos  limites  comprehensi  pro 
possibilibus  haben  debeant,  perfeclaque  caussae  cognitio  etiam  doceret,  utrum 
omnes  hi  errores  aequali  facilitate  gandennt  nn  inacquali,  et  quanta  probabili- 
tas  relativa  in  casu  posteriori  cuivis  errori  tribnenda  sit.  Kadern  etiam  respeetn 
erroris  totalis,  e  plaribus  erroribus  simplicibas  conflati,  valebant,  pnta  in** 

clusis  erit  certis  limitibus  Designando  facilitatem  relativam  erroris  totalis  x, 

in  determinato  observationum  genere,  per  characteristicam  9  x,  hoc  propter  er- 
rorum continuitatem ,  ita  intelligendnm  erit,  probabilitatem  erroris  inter  limites 
infinite  proximos  x  et  x  -f-  d  x  essc~<px  d  x.  Vix,  ac  ne  vix  quidem,  unquam 
in  praxi  posstbile  erit,  hanc  funetionem  a  priori  assignare  ....  In  plerisque  ca- 
sibns  errores  positivos  et  negativos  ejusdem  magnitutinis  aeque  faciles  supponere 
licebit,  quo  pacto  erit  cp  x  =  9  ( —  x).  Purro  quum  errores  leviores  facilius  com- 
mittantur  quam  graviore*,  plerumque  valor  ipsius  9  x  erit  maximus  prox  =  o, 
continuoque  decrescet,  dum  x  augetur.  — a 


„Generaliter  outem  valor  integral  is  ^   9  x  d  x  exprimet  probabilitatem, 

qnod  error  aliquis  nondum  cognitus  iaceat  inter  limites  a  et  b . . . 

„Si  omnes  errorum  causae  simplices  ita  sunt  comparatae,  ut  nulla  adsit 
ratio,  cur  errorum  aequalium  sed  signis  oppositis  affectorum,  alter  facilius  pro^ 
dacatur  quam  alter,  hoc  etiam  respectu  erroris  totalis  valebit,  sive erit <p (— x) 

=  <px,  et  proin  necessario  k  ==J__0d  9X  d*  =  o-   Hinc  colligimus,  qootiei 

k non  evanescat  sed  e. g.  sit  quantilas  positiva,  necessario  adesse  debere  unam 
aJteramve  errorum  caussaiu,  quae  vel  errores  positivos  tantum  producere  pos- 
sit,  vel  certe  positivos  facilius  quam  negativos.  Haecce  quantitas  k,  quae  re- 
vera  est  medium  omnium  errorum  possibilium,  seu  valor  medius  ipsius  x, 
commode  dici  potest  erroris  pars  constans  u 

„Integrale  J     ^xx<pxdx  (seu  valor  medius  quadrati  x  x)  aptissimum 

videtur  ad  incerlitudincm  observationum  in  genere  definiendam  et  dimetiendam" 
ita  ut  e  duobus  observationum  systematibus,  quae  quo  ad  errorum  facilitatem  inter 
se  differunt,  eae  praecisione  praestare  censeantur,  in  quibus  integrale 

X4-oo 
x  x  ;  v  dx  valorem  minorem  obtinet.    Quodsi  quis  hanc  rationem 
—  OD 

pro  arbitrio,  nulla  cogente  necessitate,  cleclum  esse  objiciat,  lubenter  assen- 
tiemur.  —  Quippe  quaestio  haec  per  rci  naturam  aliquit  vagi  implicat,  quod  limi- 
tibus circnmscrlbi  nisi  per  prineipium  aliquatonus  arbitrarium  nequit...." 

„111.  La  place  simili  quidem  modo  rem  consideravit,  sed  errorem  ipsum 
Semper  positive  aeeeptum  tarn  quam  iacturae  mensuram  adoptavit.  At  ni  fal- 
limnr  haecce  ratio  saltem  non  minus  arbitraria  est  quam  nostra;  utrum  enim 
error  duplex  aeque  tolerabilis  putetur  quam  simplex  bis  repelitus,  an  aegriuj, 
et  proin  utrum  magis  conveniat,  errori  duplici  momentum  duplex  tantum,  an 
maius  tribuere,  quaestio  est  neque  per  se  clara,  neque  demonstrationibus  ma- 


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ihcmaticis  dccidenda,  sed  libero  tanlum  arbilrio  remittenda.  Praelerea  negari 
non  |»o lest  isla  ralionc  conlinuilatein  laedi;  et  propter  hanc  ipsam  caussam  n»o- 
dus  ille  tractalioni  analylicae  magis  refragalur*  dum  ea,  ad  quae  principium 
nostrum  perdueit,  mira  tum  simplicilale  tum  generalitate  coromendantur.« 


cabimns  crrorem  medium  metuendum  sive  simplicitcr  c  r  r  o  r  c  m  medium 
observationum,  quarum  errores  indefinit!  x  haben!  probabiülatem  relativam  cp  (x). 
Denominationen!  illam  non  ad  Observation«  immediates  limitabimus ,  sed  cliam 
ad  determinationes  qualescunquc  ex  observationibus  derivatas  extendemus.  Probe 
autem  cavendum  est,  nc  error  medius  cum  medio  arithmetiro  omnium  errorum 
confundatur."  —  

„In  Theoria  motus  corporum  coe1e9tium  ostendimus,  quomodo 
valores  incognitarum  maxime  probabilcs  eruendi  sunt,  si  lex  probabilitatis 
errorum  observationum  cognita  sit;  et  qtium  haec  lex  natura  sua  m  omnibus 
fere  casibus  hypothetica  mancat,  theoriam  illam  ad  legem  maxime  probabi- 
lem  applieavimus,  ubi  probabilitas  erroris  x  quantitali  exponentiali  e  —  hh  «  pro- 

portionalis  supponitur   Poslea  III.  La  place  rem  alio  modo  agressus, 

idem  principium  omuibus  aliis  ctiamnum  praeferendum  esse  doeuit ,  quaecun- 
(jue  fuerit  lex  probabilitatis  errorum,  si  modo  observationum  multitudo  sit  per- 
magna.  At  pro  multitudine  observationum  modica,  res  iulacta  mau  sit, 
ita  ut  si  lex  noslra  hypothetica  respuatur,  mclhodus  quadratoruro  minimorum  eo 
tantum  nomine  prae  aliis  commendabilis  habeuda  sit,  quod  calculorum  concinni- 
tati  maxime  est  adoptata.  —  Geometiis  ilaquc  gratum  forc  sperauius,  si  in  bac 
nova  argumenti  tractationi  doeucrimns,  m  et  he  dum  quadratorum  mini- 
morum exhibere  combinationem  ex  omnibus  optimam,  non  quidem  proxtroe, 
sed  absolute,  quaecunque  fuerit  lex  probabilitatis  errorum,  quaecunque 
observationum  multitudo,  si  modo  nolionem  erroris  rnedii  non  ad  inen  lern 
IU  Laplace,  sed  ita  ut  a  nobis  factum  est  stabiliamns.u 

„Ceterum  expressis  verbis  praemonefe  convenit,  in  omnibus  disquisitioni- 
bus  sequentibus  tantummodo  de  erroribus  irrcgularibus  atque  a  parte  con- 
atanta  liberis  sermonem  rssc,  quum  proprie  ad  perfectant  artein  observandi 
pertineat  omnes  errorum  constantium  cassas  sumuio  studio  amovere.  Quae- 
nam  vero  subsidia  calculator  tales  observationes  tractare  suseipiens,  quas  ab 
erroribus  conslantibus  non  liberas  esse  justa  suspicio  adest,  cx  ipso  calculo  pro- 
babiliu  n  petere  poaail,  disquisitioni  peculiari  alia  occasione  promulgandac  re- 
servamu«.'  — 

Gehen  wir  nun  zu  Bessel's  Arbeit  über. 

Besse  1  sagt:  Um  in  allen  Füllen  anwendbare  Vorschriften  zur  Be- 
nutzung einer  Beobachtungsreihe  zu  erhalten,  habe  Gauss  in  seiner  anfäng- 
lichen Darstellung  der  Methode  der  kleinsten  Quadrate  die  Annahme 
verfolgt:  dass  das  arithmethische  Mittel  aus  einer  Anzahl  gleichartiger 
Beobachtungen  derselben  Grösse  ihre  wahrscheinlichste  Bestimmung  sei. 
Er  habe  gezeigt,  dass  diese  Annahme  gleich  bedeutend  ist  mit  der  Bedingung: 
dass  auch  in  dem  allgemeinen  Falle,  in  welchem  die  betrachtete  Grösse 
»ach  einem  gegebenen  Gesetze  verän  der  lieh  ist,  die  Summe  der  Quadrate 


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der  übrig  bleibenden  Unterschiede  zwischen  den  Beobachtungen  und  der  darauf 
gegründeten  Theorie  den  möglichst  kleinen  Werth  erhält;  ferner,  da»  die 
eine  wie  die  andere  ein  bestimmte«  Gesetz  der  Wahrscheinlichkeit  der  Fehler, 
nämlich: 


fordert,  wo  mm  =  1  xz  <p  x  d  x  ist.  —  Wenn  kein  Grund  vorhanden  sei,  in  dem 


speciellen  Falle  die  Annahme  des  arithmetischen  Mittels  zurückzuwei- 
sen, so  sei  also  auch  keiner  vorbanden,  in  dem  allgemeinen  Falle  von  der 
Metbode  der  kleinsten  Quadrate  abzuweichen;  allein  dieser  Mangel 
eines  Widerspruchs  gegen  das  eine  oder  das  andere  sei  kein  Beweis 
des  Stattfindens  der  Gleichung  (a),  und  man  müsse  sich  nothwendig  von 
ihrer  Anwendbarkeit  auf  eine  gegebene  Beobacbtungsreihe  überzeugen,  ehe  man 
geneigt  sein  könne,  der  darauf  gegründeten  Berechnung  des  wahrschein- 
lichen Fehlers,  sowohl  der  Beobachtungen  selbst,  als  ihrer  Resultate  irgend 
ein  Gewicht  beizulegen  (?!).  - 

Da  aber  nicht  bezweifelt  werden  könne,  dass  die  Funktion  cpx  von  der 
Art  der  Beobachtungen,  auf  welche  sie  angewandt  werden  soll,  abhängig  sei, 
und  man  im  Allgemeinen  den  entsprechenden  wahren  Ausdruck  derselben  nicht 
kenne;  so  müsse  die  Auflösung  der  Aufgabe:  aus  vorhandenen  Beobachtungen 
einer  Erscheinung,  deren  mathematische  Theorie  gegeben  ist,  die  besten  Resul- 
tate zu  ziehen,  auf  die  Betrachtung  einer  willkürlich  bleibenden  Function 
cx  gegründet  werden.  —  Diesem  Gesichtspunkte  seien  Laplace,  Gauss  und 
Poisson  gefolgt,  wogegen  er  eine  andere  Ansicht  verfolgen  werde,  wobei  er 
die  Entstehungsart  der  Fehler  aus  ihren  Ursachen  (?)  zum  Grunde  legen 
wolle.  —  Wenn  man  zunächst  die  Fehler  einer  gewissen  Beobachtungsart  als 
aus  einer,  auf  geg e ben e  Art  wirkenden  Ursache  hervorgehend  betrachte, 
so  werde  ihre  jedesmalige  Grösse  x  eine  gegebene  Function  F  £  eines  Argu- 
ments £,  welches  in  derselben  Art  willkürlich  sei,  wie  das  Fallen  eines  Wür- 
fels. Aus  x  =  F.  £  könne  aber  <p  x  abgeleitet  werden,  so  dass  man  aus  der  be- 
trachteten Beobacbtungsreihe  alle  Folgerungen  der  Wahrscheinlichkeitsrechnung 
gemäss  zu  ziehen  im  Stande  sei.  — 

Bossel  wendet  diese  Bemerkung  auf  ein  paar  Beispiele  an,  um  zu  zei- 
gen: dass  Fälle  vorkommen  können,  in  welchen  es  ein  Interesse  habe,  die  ge- 
wöhnliche Voraussetzung  der  Willkür  der  Funktion  f  x  zu  verlassen.  —  Ge- 
wöhnlich seien  diese  Fälle  jedoch  nicht,  indem  man  meistens  über  die  Function 
F.£  ebenso  zweifelhaft  sei,  als  über  f  I.  —  In  der  Wirklichkeit  sei  es  auch 
selten  erlaubt:  die  Fehler  einer  Ursache  zuzuschreiben;  vielmehr  werden  im 
Allgemeinen  mehrere,  meistens  viele  von  einander  unabhängige  Ursachen 
zusammenwirken,  und  er  sei  dadurch  zu  dem  merkwürdigen  Resultate  gelangt: 
dass  viele  von  einander  unabhängige  Feblerursachen  von  gleicher  Ordnung 
(d.  h.  von  welchen  keine  die  übrigen  an  Intensität  beträchtlich  überwiegt)  durch 
ihr  Zusammenwirken  Fehler  hervorbringen,  deren  Wahrscheinlichkeit  naheruogs- 
weise  dieselbe  ist,  welche  durch  die  Annahme  des  arithmetischen  Mittels,  . 
oder  durch  die  Bedingung  der  kleinsten  Quadrate  gefordert  wird.  — 


1   iL 

M= — >_.e  2mm,  (a) 


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472  Karze  Anzeigen. 

Zunächst  sucht  Beuel  die  Wahrscheinlichkeit  cx  dx,  dass  cid  Beo- 
bachtungsfehler »wischen  x  und  x-f-  dx  falle,  wenn  er  auf  gegebene  Art 
von  einer  Ursache  £  abhängt,  für  welche  jeder  »wischen  xwei  Grenzen 

—  a,  +  a  liegende  Werth  gleichmöglich  ist  (?).  Die  zu  x  und  x  -fc  dx  ge- 
hörigen Werthe  der  Ursache  (?)  seien  £  und  £  +  d£,  ferner  x=F.£,  also 
dx  =  dF.  £;  so  ist  die  gesuchte  Wahrscheinlichkeit  einerseits  =  <p x  dx,  und 

andererseits  =  -iA,  weil  nach  der  Yoraussctrung  jeder  Werth  von  £  »wischen 

2  a 

—  a  und  +a  gleichmöglich  sein  soll.  — 

Man  hat  also: 

und  wenn  man  für  dx  seinen  Ausdruck  d  F.  £  setzt: 

*X  =  2adfl%  W 
woraus  £  durch  die  Gleichung  x  =  F.  £  weggeschafft  werden  kann.  —  Ferner 
findet  man  leicht  für  das  Quadrat  ties  mittleren  Bcobachtungsfehlers: 


mm 


=  fy  xxfx  ax=Lj^+"  (».  0*4  Ii  CS") 


wo  4-  a  SS  -f.  F.  a  gesetzt  ist ;  und  der  wahrscheinliche  Beobachtungsfeh- 
ler  mk  ergibt  sich  aus  der  Gleichung: 


oder  wenn  man  £  einführt,  und  voraussetzt:  dass  Tür  £  =  o  auch  x=ro  und 
F.  (  —  4}  =  —  F.  £  ist,  aus  der  Gleichung: 

woraus  sich  K  ergibt,  und  alsdann  ist: 

mk  =  FK. 

B  es  sei  erläutert  das  Vorstehende  zunächst  durch  die  Annahme: 

x  =  a  sin  £, 

indem  für  £  jeder  Werth  gleichmöglich  sein  soll  oder  a  =  *  «  ist.  Aus 
(1)  u.  (2)  folgt  leicht: 


mm  =  J  aa, 

und  am  (3):  sin  £  d  £  =  |f  ilC  sin  £  d  $, 

also:  1— cosK=j, 

K  =  60°,  und  mk  =  asin  60°  =^£^ 

für  eine  Grösse  p  durch  Beobachtung  die  Werthe  h,  h',  h", 
. .  .  b0>)  erhalten,  so  hat  man  nach  dieser  Theorie  zur  Bestimmung  des  wahr* 
scheinlichsten  Werthe»  derselben  die  Gleichung: 


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während  man  nach  der  Theorie  der  kleinsten  Qndrate  hat: 

0  =  b-  p  +  h'-p  +  ....+  h(n)-p.  C5) 
Ferner  verhält  sich  nach  B e l s e  Ts  Theorie  der  mittlere  Fehler  zu  dem  wahr- 
scheinlichen wie  t:k  =  l:  /Ssis  1,732  nnd  nach  der  Theorie  der 

kleinsten  Quadrate  wie  1:  0,6745. 

Das  vorhergehende  Beispiel  entspricht  dem  Falle,  wo  mit  einem  Kreise 
von  bekannter  Ex centricität  und  einfacher  Ablesung  ein  Winkel  gemes- 
sen werden  soll,  indem  man  von  beliebigen  nicht  gegebenen  1'uncten  der  Kreis- 
theilung  ausgeht,  und  der  Kreis  übrigens  fehlerfrei  ist  und  fehlerfrei  angewandt 
wird.  Oder  wenn  mit  einer  Mikrometerschraube,  welche  sich  innerhalb  einer 
ganzen  Drehung  nicht  den  Angaben  der  Trommel  peoportional  fortbewegt,  aber 
in  verschiedenen  Drehungen  wiederkehrende,  dem  Sinus  des  von  einem  gewis- 
sen Anfangspuucte  an  gezählten  Drehungswinkcls  proportionale  Ungleichheiten 
zeigt,  der  Unterschied  zweier  Längen  gemessen  werden  soll.  — 

Bcssel  bemerkt  hierauf:  dass  der  aus  (4)  abgeleitete  Werth  von  p  de- 
sto weniger  von  dem  aus  (5)  abgeleiteten  arithmetischen  Mittel  abweicht, 
je  grösser  n  sei,  folge  aus  der  von  Laplace  gefundenen  allgemeinen  Eigen- 
schaft, wonach  die  Bestimmung  von  p  desto  freier  von  <px  wird,  je  grösser 
n  üt  -  und  lasse  sich  auch  in  dem  vorliegenden  Falle  leicht  nachweisen.  — 
Wenn  man  von  der  Ursache  der  verschiedenen  beobachteten  Werthe  von  p 
nichts  wisse,  so  sei  kein  Grund  vorbanden,  welcher  sich  der  Auwendung 
des  arithmetischen  Mittels,  oder  allgemeiner,  der  Methode  der  klein- 
sten Quadrate,  auch  in  diesem  Falle  widersetze  —  man  erhalle  aber  da- 
durch nicht  den  wahrscheinlichsten  Werth  von  p,  und  eine  viel  zu 
kleine  Bestimmung  des  wahrscheinlichen  Fehlers  (welcher  2,568  mal  grösser 

Ebenso  behandelt  Bcssel  den  Fall,  wo: 

ist,  und  fugt  hinzu:  dass  in  diesen  zwei  Beispielen  das  Wahrscheinlichkeitsge- 
setz der  Fehler  von  dem  durch  (a)  ausgedrückten  beträchtlich  verschie- 
den sei;  in  dem  ersten  Beispiele  seien  sogar  die  sich  den  Grenzen  nähernden 
Fehler  weit  wahrscheinlicheres  die  kleinen,  wns  in  vielen  und  vermut- 
lich auch  häufig  vorkommenden  Fallen  stattfinde!  —  Wenn  jeder  Fehler  aus  einer 
einzigen  Ursache  entstände,  so  soll  nach  Bossels  Meinung  kein  Grund  vor- 
handen sein:  zu  erwarten,  das*  die  Abnahme  der  Anzahl  der  Fehler  sich 
mit  der  Zunahme  ihrer  Grösse  verbunden  zeigen  werde?!  —  und  jeder 
Versuch,  das  der  Methode  der  kleinsten  Quadrate  zum  Grunde  liegende 
Gesetz  (a)  allgemein  als  das  wirklich  vorkommende  zu  erkennen, 
nothwendig  vergebens  seiu  müsse,  da  die  betrachteten  Beispiele  zeigen:  dass 
Bedingungen,  welche  nicht  blos  mathematisch  möglich  sind,  sondern  auch  praktisch 
erfüllt  werden  können,  auf  davon  ganz  verschiedene  Gesetze  führen  können  (?  —  ). 

Hierauf  untersucht  Bessel  Fälle,  wo  2,  3  und  mehrere  von  einander 
unabhängige  Ursachen  die  Beobachtungsfehler  in  Verbindung  bewirken,  wobei 


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er  der  Einfachheit  wegen  annimmt:  dass  jede  dieser  Ursachen  so  wirkt:  dass 
sie  positiven  und  negativen  Fehlern  von  gleicher  Grösse  gleiche 
Wahrscheinlichkeit  giht.  (Ist  das  wohl  etwns  anderes,  als  das  Princip  des  arith- 
metischen Mittels?—)  Die  Rechnangen  gestalten  sich  aber  schon  bei  3 
Ursachen  so,  dass  Bossel  selbst  gesteht:  der  Fortgang  auf  diesem  Wege  führe 
in  abschreckende  Weitläufigkeit  und  könne  kein  eine  Uehersicht  ge- 
währendes Resultat  geben.  —  Dcsshalb  beschränkt  er  sich  auf  die  Betrachtung 
der  beiden  besondern  Fälle:  1)  wo  die  Fchlerursachen  alle  das  Gesetz  (a)  be- 
folgen, und  2)  wo  die  eimelnen  zusammenwirkenden  Fehlernrsachen  ihren  Wir- 
kungen von  gleicher  Grösse  gleiche,  übrigens  aber  einem  beliebigen  Ge- 
setze folgende  Wahrscheinlichkeiten  geben.  —  Dass  im  letzten  Falle  die  Summe 
aller  Wirkungen  x  -f-v+*-f  =  n  werde,  wo  n  den  Total  fehler  be- 
deutet, sei  offenbar  genau  so  wahrscheinlich,  als  dass  die  Summe  der  Fehler 
von  ebenso  vielen  Beobachtungen  als  Fchlerursachen  vorhanden  sind,  =m  werde.  Die 
Aufgabe  <pn  zu  bestimmen,  sei  also  in  diesem  Falle  von  der  von  La  place  ge- 
lösten Aufgnbo:  die  Summe  der  Fehler  einer  Anzahl  gleichartiger  Beobach- 
tungen zu  finden,  nicht  verschieden  —  und  sie  führe  ebenso  wie  diese,  zu  dem 
merkwürdigen  Resultate:  dass  eine  Anzahl  von  einander  unabhängiger,  nach 
einem  beliebigen,  aber  demselben  Gesetze  wirkender  Fehlerursachen  den 
Ausdruck  von  <pn  der  Form: 

1  -~- 

desto  mehr  nähert,  je  grösser  sie  ist.  — 

Endlich  bemerkt  Bessel:  dass  Fülle,  in  welchen  nicht  viele  von  ei- 
nander unabhängige  Ursachen  zusammenwirken,  um  einen  Beobachtongsfebler  sn 
erzeugen,  wahrscheinlich  sehr  selten  sind ,  und  dass  selbst  bei  sehr  einfach  er- 
scheinenden Beobochtungsarten  oft  zahlreiche  Ursachen  ihrer  Fehler  nachgewie- 
sen werden  können.  —  So  zählt  er  bei  der  Beobachtung  der  Zenitb-  oder  Pol- 
distanz eines  Fixsterns  vermittelst  eines  R eichenbach'scheu  Meridiankreises 
13  solcher  Fehlcrursachen  auf  —  und  zum  Schluss  sucht  er  seine  Hypothese: 
dass  unter  den  aus  den  einzelnen  Ursachen  hervorgehenden  mittlem  Feh- 
lern keiner  die  übrigen  beträchtlich  übertrifft,  aus  der  gleich- 
förmigen Genauigkeit  der  verschiedenen  Theile  eines  guten  Apparates  und 
dessen  gleichförmigen  Behandlung  zu  rechtfertigen  (?).  Bessel  bemerkt 
nochmals:  dass  seiue  beiden  Hypothesen  nicht  ohne  Ausnahmen  zulässig  seien, 
da  er  selbst  ein  Beispiel  (das  erste)  angeführt  habe,  wo  sie  nicht  stattfanden, 
weil  die  eine  Fehlerursache  die  übrigen  an  Intensität  überlroffen  habe  (?)  — 

Aus  dem  Vorhergehenden  geht  klar  hervor:  dass  es  Bossel  gar  nicht 
in  den  Sinn  gekommen  ist,  zu  behaupten:  dass  sich  in  der  G auss' sehen  Theo- 
rie der  kleinsten  Quadrate  eine  Lücke  (?)  beGnde  —  wie  Hr.  Will- 
st ein  behauptet.  —  Bessel  will  nur  einen  andern  Weg  einschlagen,  oder 
eine  andere  Ansicht  verfolgen,  wobei  er  die  Entstehung  der  Beobaca- 
lungsfehler  aus  ihren  Ursachen  zum  Grunde  legen  will!  —  Genau  besehen, 
bat  diese  ganse  Untersuchung  B  es  s c  I  's  eigentlich  mitder  Methode  der  kl  e  ta- 
sten Quadrate,  soweit  sie  bis  jetzt  von  ihrem  Erfinder  entwickelt  ist,  gar  nichts 
tu  thun  —  da  sich  letztere  nach  Gauss 's  ausdrücklicher  Bemerkung  (f.  oben) 


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lediglich  mit  zufälligen  Beobachtungsfehlern  beschäftigt  —  während  die  von 
Besscl  betrachteten  Beispiele  offenbar  regelmässige  oder  constante  Feh- 
lerquellen enthalten,  für  welche  natürlich  das  Wahrscheinlichkeitsgeietz  der 
Fehler  ein  ganz  anderes  sein  muss,  als  das  durch  (a)  ausgedrückte,  weil  die 
regelmässigen  oder  constanlcn  Fehlerquellen  zuletzt  über  die  unregel- 
mässig en  oder  zufälligen  das  Ue  berge  wicht  bekommen.  —  Die  Be- 
obachtungen selbst  lehren,  ob  die  bei  der  Gauss'schen  Theorie  der  kleinsten 
Quadrate  gemachten  Voraussetzungen  in  einem  besondern  Fnlle  stattfinden,  oder 
nicht  —  d.  h.  ob  man  es  bloss  mit  zu  fall  igen  (unregelmössigen)  Beobachtungs- 
fehlern zu  tbun  hat,  oder  such  regelmässige  (constantc)  Fehlerursachen  mit- 
gewirkt haben.  —  Die  Bessel'sche  Theorie  beschäftigt  sich  also  mit  den  Con- 
sta nie  n  Beobachtungsfeblern,  und  es  kann  dcsshalb  eine  spceicllere  Kritik  der- 
selben hier,  wo  es  sich  Mos  um  zufällige  Beobachtungsfehler  handelt,  füglich 
wegfallen  —  umsomehr,  da  aus  dem  Mitgeteilten  hervorgeht,  auf  welchen 
Hypothesen  sie  beruht  und  zu  welchen  Resultaten  sie  führt.  Waa  die 
neueste  Gau  ss* sehe  Theorie  der  kleinsten  Quadrate  leistet  und  leisten  soll,  geht 
aus  den  weiter  oben  mitgethciltcn  eigenen  Worten  von  Gnuss  zur  Genüge  hervor. 

Was  endlich  die  weitere  Darstellung  des  Herrn  Wittstein  betrifft,  so 
ist  sie,  abgesehen  von  der  vermeintlichen  Begründung  der  Methode  der  klein- 
sten Quadrate  —  recht  nett,  klar  und  concis;  jedoch  glauben  wir,  dass  er  für 
seinen  Zweck  noch  besser  gethan  hätte,  wenn  er  statt  der  theoretischen 
Deduktionen  mehr  die  praktische  Handhabuug  der  fraglichen  Methode 
berücksichtigt  hätte  —  etwa  in  der  Weise,  wie  sie  Gerling  in  seinen  Aus- 
gleichungsrechnungen  gegeben  hat. 


Schul*  von  Strassnitiki  (Prof.  der  Mathematik  an  dem  polytechnischen  Institute  zu 
Wien).  Handbuch  der  Geometrie  für  Praktiker.  Witn ,  Verlag  von  Carl 
Gerold.  1850. 

Der  Zweck  dieses  Werkes  wird  schon  durch  den  Titel  hinreichend  an- 
gezeigt und  der  Verf.  bemerkt  in  dem  Vorworte:  „Da  der  Fortschritt  der  Zeit 
grossere  Anforderungen  an  die  Praktiker  macht,  so  sucht  das  vorliegende  Buch 
den  gesteigerten  Bedürfnissen  der  Neuzeit  Genüge  zu  leisten  und  enthält  daher 
Mehreres,  welches  in  den  Elementarwerken  über  Geometrie  nicht  vorzukommen 
pflegt4*.  Dass  dieses  wirklich  der  Fall  ist,  erhellet  aus  der  folgenden  kurzen  An- 
gabe de«  Inhaltes: 

Erster  Theil:  Die  Lehre  von  den  ebenen  Gebilden.  Gerade 
Linie,  Winkel,  Parallellinien,  Dreiecke  (Eigenschaften  und  Gleichheit  derselben), 
Aehnlichkeit  der  Dieiecke,  Anwendung  der  Lehre  von  der  Aehnlichkeit,  Trans- 
versalen, harmonische  Theilung,  Vier-  und  Vielecke,  Fläeheninhält,  Kreis  an 
Sich  und  in  Bezug  auf  regelmässige  Vielecke,  Conslruktionsnufgaben ,  Aufga- 
ben über  Proportionalität,  Verwandlung  der  Figuren,  Theilung  der  Figuren, 
Appollonische  Aufgaben,  ebene  Trigonometrie,  Anwendung  derselben  auf  Drei- 
ecke, Vielecke  und  den  Kreis;  Kegelschnitte,  krumme  Linien  höhrer  Ordnungen, 
transcendente  Curven. 

Zweiler  Theil:  Die  Lehre  von  den  räumlichen  Gebilden* 
Gerade  Linien  und  Ebenen  im  Räume,  Projektionen,  sphärische  Trigonometrie 


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(ziemlich  ausführlich),  Prismen  und  Cylinder,  Pyramiden  nnd  Kegel,  Kugel  und 
andere  Rotationskörper,  Polyeder. 

Der  Vortrag  dos  Verf.'s  ist  klnr  und  ausführlich,  mit  sehr  vielen  Zahlen- 
beispielen  erläutert.  Slrengwissenschaflliche  geometrische  Feinheiten  darf  man 
freilich  hier  nicht  suchen. 


Pfriem  er,  E.  1909  theoretische  und  praktische  Aufgaben  über  ebene  Geometrie, 
ebene  Trigonometrie,  Kegelschnitte,  Stereometrie  und  sphärische  Trigonometrie 
Zu  Schulz  v.  Strassnitzki'  s  Handbuch  der  Geometrie  für  Praktiker. 
Wien,  1850.    Verlag  von  Karl  Gerold. 

Diese  Sammlung  enthalt  nur  Aufgaben  aber  die  allertrivialsten  geome- 
trischen Lehren,  kann  jedoch,  wenn  die  Resultate  correct  sind,  beim  ersten 
Unterrichte  immerbin  benutzt  werden.    Eigentümliches  bietet  sie  gar  nicht  dar. 


Rogner,  J.  (Prof.  an  der  steierm.  stand.  Realschule  des  Joanne  ums  zu  Gr  atz). 
Sammlung  ton  Aufgaben  aus  der  Arithmetik  und  Algebra.  Wien,  1850. 
Verlag  von  Karl  Gerold. 

Der  sehr  bescheidene  Verfasser  will  selbst  sein  vorliegendes  Erstlings- 
Werk  „den  ähnlichen  vortrefflichen  Werken  der  Neuzeit  nicht  zur  Seite  stellen, 
ist  aber  der  Meinung,  dass  an  Aufgaben  und  Beispielen  für  den  Lehrer 
und  Lernenden  der  Mathematik  nicht  leicht  ein  Ueberfluss  entstehen  könne.*1  — 
Diesem  Urlheile  kann  man  nur  beistimmen  —  nnd  wir  fögen  hinzu:  dass  die 
in  Rede  stehende  Aufgabensammlung  bei  dem  Unterrichte  der  ersten  Anfan- 
ger sehr  wohl  mit  Yortheil  benutzt  werden  kann.        Dr.  Schmisc. 


Handbuch  des  im  Königreiche  Würtemberg  geltenden  Privatrechts.  Von  Dr.  Karl 
Georg  v.  Wächter ,  Kanzler  der  Universität  Tübingen  u.  s.  W.  2.  Bd. 
Allgemeine  Lehre.    1.  2.  und  3.  Abtheil.  8.  Stuttgart,  Metzler.  1896.  1851. 

Je  entschiedener  in  neuerer  Zeit  der  Werth  einer  wissenschaftlichen  Be- 
arbeitung der  Partikularrechle  Deutschlands  anerkannt  wird,  im  so  wichtiger 
ist  es,  die  Yorfragc  festzustellen,  in  welchem  Umfange  die  subsidiären  Rechte 
in  den  Kreis  der  ganzen  Darstellung  gezogen  werden  sollen.  Abgesehen  von 
aolchen  Werken,  die  allein  eine  an  sich  brauchbare  Stoffsammlung  darbieten, 
wollen  viele  Schriftsteller  der  deutschen  Partikularrechte  eine  Entwicklung  der 
fremden  Rechte  nur  insoweit  geben,  als  sie  eingreifen.  Allein  ein  derartiger  Ver- 
such ist  schon  desshalb  ganz  verwerflich,  weil  die  geschichtlichen  Stoffe  ge- 
wöhnlich bloss  als  tatsächliches  Material  zusammengefssst  werden,  und  weil 
die  Verbindung  solcher  Elemente  zu  einem  System  einen  innern  organischen  Zu- 
sammenhang voraussetzt,  welcher  bei  diesen  verschiedenen,  in  der  Regel  nicht 
gleichmassig  und  höchst  äusserlich  erörterten  Rechten  geradezu  mangelt.  Viel- 
mehr muss  der  Autor  die  Eigeuthümlichkeit  der  römischen,  deutschen  nnd  ein- 


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heimischen  Rechte  genau  umfasst  haben,  er  muss  die  Charakterzüge  derselben 
in  jedem  Institut ,  ihre  leitenden  Principien  in  jedem  einzelnen  Gesetz  erkennen, 
vor  Allem  muss  er  die  Verbindung  all  dieser  Sülze  und  Institute  in  ihrer  Wir- 
kung zur  Klarheit  gebracht  haben.  Es  ist  demnach  mit  Recht  bereits  von  ver- 
schiedenen Seiten  her  als  ein  originaler  Vorzug  des  Wae  hier*  sehen  Werks 
betrachtet  worden,  dass  hierin  der  Inhalt  der  fremden  Quellen,  besonders  der 
des  römischen  und  deutschen  Rechts,  soweit  er  einen  Bestandteil  des  in  Wür- 
temberg  geltenden  Rechts  bildet,  ebenso  wie  das  einheimische  Recht  selbst  dar- 
gestellt wird  in  seinem  genauen  Detail,  und  dass  der  Geist  und  das  Grandwesen 
der  einzelnen  Rechtsinstitute  klar  erfasst  und  zu  einem  anschaulichen  organischen 
Ganzen  gestaltet  wird.  —  Durch  diese  Gcsammtdarstellung  des  einheimischen, 
gleichwie  des  fremden  subsidiären  Rechts  hat  v.  Wächter  für  die  Behandlung 
der  Partikularrechtc  überhaupt  eine  neue  Bahn  gebrochen ,  er  hat  der  wissen- 
schaftlichen Bearbeitung  derselben  durch  Fortbildung  und  Ergänzung  der  un- 
mittelbar geltenden  Rechtsverhältnisse  eine  neue  geistige  Erhebung  eröffnet.  — 
Dieser  trefflichen  organischen  Entwicklung  entspricht  nicht  minder  die  äussern 
Darstellung.  Mit  vieler  Schärfe  und  Feinheit  des  Gedankens  verbindet  der  Verf. 
Klarheit  und  Gewandtheit,  es  ist  ihm  in  einem  hohen  Grade  gelungen,  überall 
das  Bedeutende  und  Wesentliche  plastisch ,  gross ,  in  edler  Einfachheit  und  le- 
bendiger Frische  hinzustellen. 

In  der  jetzt  vorliegenden  dritten  Abtheilung  des  zweiten  Randes  werden 
die  Entstehung  und  der  Untergang  der  Frivatrcchte  und  Privatrechtsverhältnisse 
entwickelt  und  damit  die  allgemeinen  Lehren  abgeschlossen.    Allein  bevor  wir 
auf  die  Erörterung  des  materiellen  Inhalts  dieser  Abiheilung  übergehen,  scheint 
es  zweckmässig  zu  seyn ,  eine  Inhaltsübersicht  über  den  ganzen  zweiten  Band 
vorauszuschicken,  dessen  detaillirte  Mittheilung  über  das  System  des  Verf.'s  und 
ober  die  Reichhaltigkeit  des  verarbeiteten  Materials  eine  nähere  Auskunft  ge- 
währt.  Während  nämlich  der  erste,  1146  Seiten  umfassende,  Band  eine  wfir* 
tembergische  Rechtsgescbichte  von  einem  Umfang  und  einer  Tiefe  enthält,  wie 
sie  wohl  schwerlich  je  dem  Handbuche  eines  Parlikularrechts  zu  Theil  gewor- 
den ist,  während  hierin  nicht  allein  eine  ausführliche  Darstellung  über  die  be- 
treffenden Quellen,  sondern  auch  eine  Geschichte  der  wissenschaftlichen  Bear- 
beitung, dcssgleichen  der  Einwirkung  der  Gerichte  und  des  Gewohnheitsrechts 
auf  die  Fortbildung  des  Rechts  vorangestellt  worden  ist,  soll  in  den  übrigen 
vier  Banden  das  geltende  Recht  vom  praktischen  Standpunkte  aus  folgen.  So 
werden  daher  die  allgemeinen  Lehren  in  dem  vorliegenden  zweiten  Bande  ab- 
gehandelt, dessen  übersichtlicher  Inhalt  nun  folgender  ist:  Erste  Abtheilung. 
Dieselbe  zerfallt  in  sechs  Kapitel,  deren  erstes  sich  auf  die  Natur  des  Privat- 
rechts bezieht.   Hierin  wird  im  Einzelnen  der  allgemeine  Charakter  des  Pri- 
vatrechts erörtert;  das  Princip  der  Autonomie,  gebietendes  und  ergänzendes 
Recht,  gemeines  und  partikulares,  generelles  und  speciellcs,  regelmässiges  und 
singulfires  Privatrechl,  Privilegium.  —  Das  zweite  Kapitel  betrifft  die  einzelnen 
Entstehungsgründe  des  Privatrechts  und  ihr  Verhältniss  zu  einander.  Hierin 
Wird  die  geltende  Theorie  näher  dargestellt  und  untersucht,  welche  Entstehungs- 
arten des  Rechts  überhaupt  zur  Zeit  ezistiren,  unter  welchen  Bedingungen  und 
Grundsätzen  sie  stehen,  welches  ihr  Verhältniss  zu  einander  sey  und  nach  wel- 
chen Grundsätzen  «ich  ihre  Anwendung  bestimme.  Demnach  werden  hier  ab- 
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gebändelt:  Gesetz  im  engeren  Sinne,  nnd  zwar  BegTifT  und  Erfordernisse  des 
Gesetzes;  die  Verordnungen;  der  Anfangspunkt  der  Gültigkeit  und  Wirksamkeit 
des  Gesetzes;  die  ßeurtheilung  der  Gültigkeit  der  Gesetze  und  Verordnungen 
durch  den  Richter;  die  vor  der  Verfassungsurktinde  erlassenen  Anordnungen  der 
Staatsgewalt  und  die  Anwendung  des  Unterschieds  zwischen  Gesetz  und  Ver- 
ordnung auf  dieselbe.  Hieran  reihen  sich  Ausführungen  des  Vcrf.'s  über  Ge- 
wohnheitsrecht, Gerichtsgebrauch,  Observanz,  Juristenrecht,  Ober  autonomwehe 
Pestsetzung  der  Privaten,  und  über  das  Verhältnis!  der  Rcchtsqucllcn  zu  ein- 
ander. —  Der  Bürger  kann  in  seinen  Rechtsverhältnissen  nur  dem  positiven 
Hechte  unterworfen  seyn.  Gibt  daher  dasselbe  über  vorkommende  Falle  und 
Fragen  keine  ausdrückliche  Entschetdungsnorm ,  so  muss  eine  solche  im  Geiste 
und  aus  dem  Geiste  des  positiven  Rechts  gebildet  werden.  So  wird  daher  kB 
dritten  Kapitel  die  Ergänzung  der  Lücken  der  rrivRtrechtsqnellen  und  zwar  zu- 
erst die  Gesetzesanalogie,  dann  die  Rechtsanalogie  (ocquilas,  Billigkeit)  abgehan- 
delt. —  Das  vierte  Kapitel:  „Anwendung  und  Umfang  der  Anwendbarkeit  des 
Privatrechtsgesetzesu  umfasst  folgende  Gegenstände:  Umfang  der  Anwendbarkeit 
überhaupt;  Anwendbarkeit  des  Privatrechts  auf  den  Staat  (privilegia  und  jon 
fisci);  Anwendbarkeit  des  Privatrechtsgcactzes  «uf  den  König;  Anwendung  un- 
serer Privatrechtsgesetze  auf  Fremde  und  auf  Verhältnisse,  welche  mit  dem 
Anstände  in  Beziehung  stehen  (Collision  der  Privatrechtsgesetze  verschiedener 
Stauten);  Anwendung  der  Privatrechtsgesetze  bei  Irrt  Im  m  und  Unwissenheit  des 
Belheiligten;  über  die  Befuguiss  der  Staatsgewalt,  Ausnahmen  von  der  Anwen- 
dung der  PrivalrechUgesctzc  zu  machen.  Erthcilung  von  Privilegien  und  Dis- 
pensationen. —  Die  Auslegung  und  Kritik  der  Privatrechtsgcsetze,  und  zwar  die 
wissenschaftliche  Gesctzesauslegung  und  deren  Grundsätze  werden  im  fünften 
Kapitel  abgehandelt.  Hierauf  folgen  die  besondern  Hüirsniittcl  zur  Auslegung 
der  würteuibcrgischen  Gesetze,  besonders  die  ständischen  Verhandlungen;  die 
authentische  und  gewohnhcitsrcchtlicho  Auslegung;  zuletzt  die  Kritik  des  Tex- 
tes der  Gesetze.  —  Der  blosse  Nichtgebrauch  eines  Gesetzes,  Veränderung  der 
Zeitumstände,  dcssglcichen  das  Aufhören  der  ersten  Veranlassung  eines  Gesetzes 
entzieht  demselben  seine  verbindliche  Kraft  nicht,  vielmehr  gilt  jeder  gehörig  ein- 
geführte Hccbtssatz  so  lange,  als  er  nicht  rechtsgültig  aufgehoben  wird.  Für 
die  fortdauernde  Gültigkeit  desselben  streitet  daher  die  Vermuthung,  wesswegen 
bei  jeder  Stelle  eines  Gesetzes,  deren  Aufhebung  behauptet  wird,  ihre  Ungültig- 
keit in  Folge  eines  Erlöschungsgrundes  bestimmt  nachgewiesen  werden  muss. 
So  werden  demnach  im  sechsten  Kapitel  „Abänderung  und  Aufhebung  der  Pri- 
vatrechtsgcsetze'4, zunächst  die  Aufhebungsgründc  näher  erörtert.  Hierauf  folgt 
die  Bestimmung  des  Umfangs,  iu  welchem  die  Aufhebung  oder  Aenderung  eines 
Gesetzes  wirkt,  sodann  das  Verhaltniss  des  neuen  Rechts  zum  aufgehobenen ; 
Ausschluss  der  Rückwirkung  neuer  Gesetze:  1.  Grundsatz.  2.  Nähere  Bestim- 
mung nnd  Anwendung  des  Grundsatzes.  Ausnahmen  von  demselben.  —  Hier- 
mit schliesst  die  erste  Abtlieilung  dieses  Werkes  ab,  nnd  die  nunmehr  folgende 
zweite  Abtheilung,  welche  „von  den  Privat  rechten  nnd  den  Privatrechm- 
vcrbältnisseu  an  sich  und  ihrem  Schulze"  bandelt,  wird  im  7.  und  8.  Kapitel 
mit  der  allgemeinen  Natur  der  Privatrcchlsvcrhaltnisse  und  mit  dem  Subjekt 
päd  Gegenstand  der  Privatrechte  eröffnet.  In  letzterer  Hinsicht  werden  beson- 
ders die  Sachen  näher  hervorgehoben,  nnd  zwar  1)  Sache;  Vermögen;  körper- 
liche, unkörperliche  Vermögensteile.  2)  Bcweglicho  und  unbewegliche  Sachen. 
3)  Vertretbarkeit  der  Sachen.  4)  Zusammensetzung  und  Verhaltniss  der  Sachen 
tu  einander,  und  zwar  Sarhgcsammlhcitcn,  Haupt-  und  Nebensachen  (Pertinen- 
zen).  5)  Die  Einkünfte  aus  Sachen  und  der  Aufwand  auT  Sachen.  6)  Tbei- 
lung  und  Thcilbarkeit  der  Sachen.  7)  Sachen  als  möglicher  Gegenstand  des 
Verkehrs  (res  in  commercio,  extra  commercium ).  —  Das  9.  Kapitel 
Hauptarten  der  Privatrechte  und  Rechtsverhältnisse  und  ihre  versebiee 
nnd  handelt:  1)  von  Personenrechten,  von  Vermögensrechten  und  zwar 
dinglichen  Rechten  (Sachenrechten),  von  persönlichen  Rechten  (Obligattonen, 
Forderungsrecblen) ,  und  Vermögensrechten  gemischter  Nttnr.  2)  Von  höchst- 
persönlichen Rechten,  Roalrechten.  3.  Von  selbständigen  Rechten  (Nebeerecb- 
leir).  -  Das  10.  Kapitel  stellt  die  Sicherung  der  Rechte  uod  den 


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einzelner  Sicherungsrai  ttel  auf  das  Rechtsverhältniss  dar:  Einleitung»  Si- 
cherheitsleistung (Tau hon);  Vermehrung  und  Vorbehalt  (Protestation,  Reserva- 
tion); richterliche  Beschlagnahme  (Arrest  und  Sequestration);  Sicherung  durch 
Einträge  in  die  öffentlichen  Bücher,  und  zwar  durch  die  Einträge  in  die  Lager- 
bucher  und  in  die  Protokoll!) iicher  der  Notare,  und  durch  die  Einträge  in  die 
Gerichtsbücher  —  besondere  Bedeutung  der  Gcrichtshöcher  für  Sicherung,  Wäh- 
rung nnd  Ausdehnung  der  Wirksamkeit  gewisser  Rechte.  —  Die  Verteidigung 
und  Verfolgung  der  Rechte  wird  im  11.  Kapitel,  und  werden  zunlchst  die  Fälle 
der  erlaubten  Selbsthülfe  betrachtet,  weiche  als  Nothmittel  und  als  Pfändungs- 
recht vorkommen  kann.  Hierauf  folgen  die  durch  richterliche  Hälfe  vermittel- 
ten Fille,  in  welchem  Abschnitt  ausser  mehreren  Abhandlungen,  i.  B.  Über  die 
Grundlage,  Begründung  und  Beweis  der  Klage,  besonders  die  scharfsinnige  Dar- 
stellung der  so  sehr  bestrittenen  Lehre  von  dem  Zusammentreffen  der  Klagen 
die  Aufmerksamkeit  anf  sich  zieht.  Ausserdem  werden  hier  erörtert  die  ge- 
richtliche Verteidigung  (besonders  die  Einrede),  die  Bekräftigung  und  Unter- 
stützung des  Angriffs  und  der  Vertheidigung  durch  Koplik,  Duplik  u.  a.  w.,  end- 
lich der  Einfluss  des  Processes  auf  das  materielle  Recht.  —  Zuletzt  wird  im 
12.  Kapitel  das  „Verhältnis  der  Rechte  zu  einander  und  der  Verbindlichkeiten 
bei  ihrem  Zusammentreffen"  erörtert,  und  zwar  1)  das  Zusammentreffen  in  einem 
Subjekte.  2)  Die  Theilnahme  Mehrerer  an  einem  Rechtsverhältnisse;  Gemein- 
schaft, Theilung  und  Thcilbarkeit  der  Rechte  und  Verbindlichkeiten.  3)  Zusam- 
mentreffen mehrerer  aus  verschiedenen  Rechtsverhältnissen  Berechtigter.  —  Den 
Schluss  des  ganzen  zweiten  Bandes  und  der  allgemeinen  Lehren  überhaupt  bil- 
det die  jetzt  vorliegende  dritte  Abtbeilung:  „Erwerb  und  Verlust  der  Pri- 
vatrechte",  worin  zunächst  die  Erfordernisse  des  Rechtserwerbs,  dann  die  Ver* 
schied enheil  nach  den  Erwerbsarien,  und  das  Rechtsverhältniss  des  Erwerbers, 
besonders  die  Rechtsnachfolge  betrachtet  werden.  Hierauf  folgen  die  Portdauer 
nnd  der  Verlust  des  Rechts,  und  die  einzelnen  Erwerb-  und  Verlustgründe.  — 
Die  Thatsachen,  mit  denen  das  Recht  die  Wirkung  der  Entstehung  oder  des 
Verlustes  von  Rechten  verknüpft,  bestimmen  sich  in  der  Regel  durch  die  be- 
sondere Natur  der  betreffenden  Rechte.  Sie  bestehen  theils  in  Handtungen  des 
Erwerbers  oder  Desjenigen,  welcher  verlieren  oder  verpflichtet  werden  soll, 
theils  in  anderen  von  einer  Handlung  unabhängigen  Thatsachen,  welche  hier  in 
diesem  Gegensätze  zufällige  Ereignisse  genannt  werden.  Die  wichtigsten  der 
Thatsachen,  welche  als  Entstehung*-  und  Erlcdigungsgründe  von  Rechten  vor- 
kommen und  welche  für  einen  grossen  Thcil  derselben  eine  allgemeine  Be- 
deutung haben,  sind  die  Rechtsgeschäfte,  besonders  die  Verträge  (14.  Kapitel), 
die  unerlaubten  Handlungen  (15.  Kapitel)  und  einige  zufällige  Ereignisse,  wie 
s.  B.  Untergang  des  Gegenstandes  des  Rechtsverhältnisses,  Tod  des  Subjekts  des 
Rechts  und  der  Verbindlichkeit,  Einmtss  der  Zeit  anf  Erwerb  und  Verlust  von 
Hechten  (16.  Kapitel).  An  diese  werden  angereiht  die  Erwerb-  und  Verlust- 
g runde  der  Privilegien,  welche  bei  den  verschiedenen  Rechtsverhältnissen  ein- 
greifen können  (17.  Kapitel),  und  die  Grundsätze  über  Wiederherstellung  ver* 
forener  Privatrechle,  namentlich  über  die  Wiedereinsetzung  in  den  vorigen  Stand 
(18.  Kapitel). 

Diess  das  System  v.  Wächter's  über  die  nunmehr  gans  vollendeten  all- 
gemeinen Lehren,  über  das  sich  sogleich  folgende  Betrachtungen  aufdrängen. 
Zunächst  sollen  nach  dem  Entwürfe  des  Verf. 's  die  sämmtlichen  Elemente,  aus 
welchen  das  partikuläre  würtemhergische  Recht  besteht,  also  namentlich  auch 
das  römische  und  deutsche  Recht  vollständig  dargestellt  werden.  Dass  dieser 
umfassende  Plan  bis  jetzt  von  den  Schriftstellern  der  deutschen  Partikularrechte 
nicht  befolgt  worden  ist,  hat  wohl  seinen  Grund  darin,  dass  hiernach  eine  gleich- 
gründliche Kenntnis*  des  deutschen  wie  römischen  Rechts  vorausgesetzt  wird, 


eine  Vereinigung,  wie  sie  nur  bei  sehr  wenigen  unserer  Rechtsgelehrten  sich 
Mass  demnach  die  Ausführung  dieses  Plans  dem  Verf.  zum  grossen  Ver 
angerechnet  werden,  nnd  wird  offenbar  nur  durch  eine  solche  Darstel- 


lung der  Gesetzgeber  in  den  Stand  gesetzt,  mit  einem  Blicke  das  ganze  Gebäude 
des  im  Staate  geltenden  Privatrechts  überschauen  zu  können;  so  fragt  es  sieb, 
ob  in  diesem  Werk  die  Institute  deutschrechtlichen  wie  römischen  Ursprungs 
gleichmäßig  abgehandelt  worden  sind.  Und  in  der  Thal  bietet  sich  hier  die 


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eigentümliche  Erscheinung  dar,  das*,  während  der  ganze  erste  Band  für  den 
Germanisten  ein  reiches  Feld  rechlshistorischer  Forschung  eröffnet,  der  nunmehr 
vollendete  zweite  Band  mit  sichtbarer  Vorliebe  für  Institute  römischen  Ursprungs 
ausgearbeitet  worden  ist.  Man  glaubt  in  vielen  Lehren  einen  selbständigen  Cur- 
aus des  Pandektenrechts  zu  besitzen.  Ist  demnach  gerade  dieser  Band  für  die 
Civilisten  von  besonderem  Interesse,  so  entsteht  die  fernere,  weit  schwierigere, 
Frage,  in  welchem  Umfange  v.  Wächter,  um  seinen  Plan  consequent  und  ohne 
Gefährdung  der  Klarheit  und  Bestimmtheit  durchzuführen,  das  römische  Recht 
dargestellt  habe.  Gewiss  ist,  dass  dieser  Theil  der  Arbeit  nicht  leicht  war,  weil 
das  Unternehmen  so  ganz  neu  ist,  dass  der  Verf.  nicht  einmal  die  Versuche  frü- 
herer Vorgänger  benutzen  konnte-  Ucberraschend  aber  ist  in  der  Thal  die  Si- 
cherheit und  der  richtige  Takt,  womit  wir  ihn  diese  Aufgabe  lösen  sehen.  Vor 
Allem  wird  in  den  Text  nur  die  dogmatische  Darstellung  der  Lehren  selbst  auf- 
genommen, mit  gänzlicher  Ausscheidung  der  unpraktischen  Falle  des  älteren  rö- 
mischen Rechts.  Hierüber  wird  gewöhnlich  in  den  Anmerkungen  eine  nähere 
Nachweisung  gegeben ,  wie  z.  B.  S.  455  in  der  Lehre  von  der  Klagenkonkur- 
renz. Ferner  werden  gemeinrechtliche  Streitfragen,  mit  Angabe  der  verschie- 
denen Ansichten  der  Civilisten,  dann  nur  kurz  berührt,  wenn  sie  von  dem  ein- 
heimischen Recht  auf  das  Bestimmteste  bereits  entschieden  worden  sind,  i.  B. 
Uber  die  Rückwirkung  der  Resolutivbedingungen  S.  714,  über  die  stärkere  Wir- 
kung der  Schuldenverjuhrung  S.  818  ff.  Dasselbe  gilt  von  solchen  Controversen 
des  gemeinen  Rechts,  deren  detaillirtc  Darstellung  das  Ebeninass  stören  würde, 
wie  s.  B.  die  über  den  error  in  matcria  S.  748  u.  s.  w. 

Endlich  braucht  bei  einem  Werke,  das  vorzugsweise  eine  praktische  Ten- 
denz hat,  wohl  kaum  bemerkt  zu  werden,  dass  der  Verf.  in  allen  Lehren,  in 
welchen  das  neuere  «institutionelle  Recht,  oder  ein  entschiedenes  deutsches  Ge- 
wohnheitsrecht einen  Fortschritt  gemacht  hat,  durch  eine  innere  Ausbildung  der 
practischen  Rechtsbegriffe ,  und  durch  eine  analoge  Anwendung  und  Erweite- 
rung derselben  auf  verwandte  Falle  das  Recht  mit  den  Anforderungen  und  Be- 
dürfnissen der  Gegenwart  zu  vermitteln  gesucht  hat.    Alan  vergleiche  hierüber 
z.  B.  die  Abhandlungen  über  die  Gültigkeit  und  Wirksamkeit  der  Gesetze  und 
Verordnungen,  über  die  Kritik  des  Textes  der  Gesetze,  und  im  verwandten  Sinn 
die  wichtige  Lehre  von  der  Stellvertretung,  S.  24.  154  und  675 ff.  —  Eine 
zweite  allgemeine  Betrachtung,  die  hier  nngeslellt  werden  muss,  betrifft  das  von 
dem  Verf.  zum  Grunde  gelegte  System.    Wahrend  von  Manchen  des  System 
gegründet  wird  auf  die  subjective  Grundlage  der  Rechte,  deren  Verschieden- 
heiten nach  ihrem  Gegenstande  die  llauplglicderungen  desselben  bilden,  fasst 
v.  Wächter  das  System  nicht  als  ein  System  des  Privatrechts,  sondern  der  Pri- 
vatrechte auf.    Dns  Recht  besteht  hiernach  zunächst  in  den  Rechtsverhältnissen 
''  und  die  Rechte  gehören  nur  zu  dem  Inhalte  derselben.    Die  Hauptglicderungea 
des  Systems  liegen  daher  in  den  Gegenständen  der  Rechtsverhältnisse,  die  Un- 
terglieder  in  den  in  diesen  enthaltenen  specielleren  Verhältnissen.    Die  Wahr- 
heit dieses  objectiven  Systems  tritt  um  so  klarer  hervor,  wenu  man  das  Pri- 
vatrecht nicht  isolirt,  sondern  als  einen  Theil  der  gesammten,  in  öffentliches  und 
Privatrecht  zerfallenden  Rechtsordnung  betrachtet    Die  Gliederung  nach  den 
Verhältnissen  erscheint  dann  als  eine  wesentliche  Bedingung  der  Einheit  des 
ganzen  Rechtssystems.  —  Endlich  darf  nicht  unbeachtet  bleiben,  dass  das  vor- 
liegende Werk  in  demselben  Masse,  in  welchem  es  sich  durch  Geist,  Scharfsinn 
und  durch  eine  praktische  Auffassung  auszeichnet,  auch  vollständige  literarische 
IN  ach  Wehningen  enthält. 

Sollen  wir  noch  ein  Schlusswort  hinzufügen  über  die  Kunst  des  Verfas- 
sers, mit  der  er  die  verschiedenen  Elemente  zu  einem  cinbeitsvollen  Ganzen  zu 
•  verbinden  gewusst  hat,  so  gleicht  er  einem  sinnreichen  Baumeister,  dessen  ord- 
nender Geist  die  auf  bisher  wenig  bebautem  Felde  zerstreut  liegenden  Bausteine 
zusammenzufügen  verstand,  so  dass  unter  seiner  Hand  ein  wohlgeordnetes  Ge- 
bäude von  vorher  nicht  geahntem  Ebenmasse  emporsteigt. 


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HEIDELBERGER 

JAHRBÜCHER 

DER 

LITERATUR. 


Vier  und  vierzigster  Jahrgang. 
Zweite  Hälfte. 

Juli  bis  December. 


Heideibers. 

Akademische  Verlagahand  lang  tob  J.  C.  B.  Mohr. 

1851. 


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Nr.  31. 


HEIDELBERGER 


1851. 


JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR 

    1    iJTiTnTf     *    ■  ■ 

Das  leben  des  Feldmarschalls  Grafen  York  ton  Wartenburg,  ton  Job. 
Gust.  Drogsen.  Erster  Band.  Berlin,  185t.  Bei  Veit.  VUl  und 
554  Seiten  8. 

„Aber  so  ist  estt,  sogt  Friedrich  der  Grosse,  „den  mensch* 
liehen  Dingen  besebieden,  doss  überall  die  Unvollkommenheit  in  ihnen  her- 
vortritt. Es  ist  Loos  der  Menschheit,  sich  mit  dem  Mangelhaften  tu  be- 
gnügen. Was  geht  denn  aus  diesem  Kriege  hervor,  welcher  ganz  Europa 
in  Bewegung  setzen  wollte?  Dass  einstweilen  Deutschland  wider  die  kai- 
serliche Gewaltherrschall  gesichert  ist,  dass  der  Kaiser  (Joseph  II)  eine 
Art  Demüthigung  erlitt,  und  herausgab,  was  er  genommen  hatte.  Aber 
welche  Wirkungen  wird  dieser  Krieg  für  die  Zukunft  hervorbringen?  Wird 
der  Kaiser  fortan  vorsichtiger  werden?  Wird  Jeder  sein  Feld  mit  Rnhe 
bestellen  können?  Wird  der  Friede  gesichert  bleiben?  ■ —  Wir  können 
auf  diese  Fragen  nur  als  Zweifler  (Skeptiker)  antworten.  Gegenüber  der 
Zukunft  liegt  jedes  Ereigniss  in  der  Möglichkeit  der  Dinge.  Unsere  Au- 
gen sind  zu  beschränkt,  um  künftige  Entwicklungen  durch* 
dringen  zu  können;  es  bleibt  uns  Nichts  übrig,  als  darin  Alles  der 
Vorsehung  oder  dem  Fat  um  anheimzustellen  *,  diese  werden  das  Künf- 
tige anordnen,  gleichwie  sie  die  Vergangenheit  und  die  unendliche 
Zeit  einrichteten,  welche  verfloss,  bevor  die  Natur  uns  hervorbrachte." 
Diese  einfachen,  scharfsinnigen  Worte  dos  grossen  Königs  am  Schluss  sei- 
ner Denkwürdigkeiten  über  den  Krieg  des  Jahres  1778  (Oeuvres 
de  Frederic  le  Grand.  VI,  179  der  neuesten  Ausgabe)  passen  ganz  auf  die 
zunächst  abgeschlossene  Vergangenheit  der  leutschen  Angelegenheiten;  sie 
kehren  nach  fast  dreijähriger,  bisweilen  stürmischer  Unruhe,  welche  den 
Frieden  Europas  zu  bedrohen  schien,  allmäblig  in  das  Geleise  früherer  Tage 
zurück ;  Heidelberger  Notabelnversammlungim  Badischen  Hof,  vor- 
mals goldenen  Ochsen,  Vorparlament,  Fünfzigerausschuss, 
Parlament  und  Nachpar lainent,  Kaiserverfassung  und  Reichs- 
verweserschaf I,  Interim  und  „mit  dem  Schalke  hinter  imu,  Erfur- 
ter Reichstag  und  Union,  halber  Fürstenkongress  zu  Berlin  und 
halber  Bundestag  zu  Frankfurt,  Schleswig -Ho  Istein,  der  Fecht- 
boden des  wiedergebornen,  in  Nebel  und  Luft  schwebelnden  Reichs,  durch 
hunderttausende  von  Gut  und  Blut  bietenden  Unterschriften  und  eigenen 
XLIV.  Jahrg.  4.  Doppelheft.  31 


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4S2  Droyaen:   Leben  de«  Grafen  York. 

Leichtsinn  ins  Unglück  hineinadressirt  nnd  dann  im  Angesicht  einer  tapfern 
Armee  von  40000  Mann  bei  Nacht  und  Nebel,  über  Kopf  und  Hals  cot- 
waflnet,  nach  furchtbarem  Kriegsgerassel  zwischen  der  Donau  und  Spree 
freie  Dresdener  Konferenzen  —  diese  nnd  verwandte  Akte  der  ge- 
waltigen Nationalbewegung  treten  jetzt  als  grossartige,  Menschen  und 
Geld  mit  unermüdlicher  Gier  fressende  Puffs  hervor;  der  so  o/t  verhöhnte, 
von  hochweisen  Staatslenkern  und  Volksvertretern  über  Bord  geworfene 
Bundestag,  „diu  modernde  Leiche,  der  Klub  in  der  Eschenheimer  Gasseu  etc. 
sitzt  wieder  am  Steuerruder;  auch  das  konstitutionelle  Neu-Preus- 
sen,  von  seinem  stets  reisefertigen  Gefolge  begleitet,  steuert  trotz  feier- 
lich dawider  eingelegter  Verwahrung  endlich  mit  Fug  und  Recht  nach  dem 
alten  Hafen  der  Sicherheit,  Ruhe  und  Ordnung,  ein  Ereigniss,  welches  ne- 
ben dem  allmäligen  Wiederaufbau  der  heiligen  Allianz  jedenfalls  von  welt- 
historischen, vielleicht  nicht  immer  glücklichen  Folgen  seyn  wird,  keinen 
unbefangenen  Beobachter  konnte  die  letzte  Wendung  der  Dinge  überra- 
schen; sie  ist  mehrmals  in  diesen  Blattern  unmassgeblich  vorhergesagt,*) 
und  selbst  dem  Frankfurter  Parlament  in  den  Tagen  seiner  ungebrochenen 
Glorie  und  Volkshokeit  als  praktischer  Weg  föderalistischer  Reform, 
natürlich  fruchtlos,  anempfohlen  worden.  „Nicht  durch  die  Einheit  eines 
mehr  oder  weniger  phantastischen  Kaiserreichs44,  lautete  bereits  im  October 
1048  die  aus  Nachdenken  und  Geschichte  geschöpfte  Ansicht,  „wohl  aber 
durch  die  annäherungsweise  etwa  gewonnene  Concentralioa  eines  leuischen 
Hcii  Iis  b  und  es  wäre  auch  für  Preusseu  gesorgt  B  (Jahrbücher  Nr.  48. 
S.  633.)  „In  der  PauUkirche44,  lautete  etliche  Monate  später  das  Urtheit, 
„verordnete  man  ein  ueues  Deulschkönig-  nnd  Kaiserscbiesaen,  und  erklärte 
sich  nach  kurzer  Umschau  —  wer  sollte  es  glauben?  —  für  Preussen,  wel- 
chem die  grosse  Mehrheit  um  Pfingsten  des  vorangegangenen  Jahres  unter 
schallendem  Gelächter  die  beantragte  provisorische  Ceutralge  walt  ab- 
gesprochen hatte.44  -  -  Hinsichtlich  der  dem  abgeschlagenen  Kaiserthum  rasch 
folgenden  Union  wnrde  neben  Anderm  höchst  unbescheiden  nnd  zum  Skan- 
dal hiesiger  und  anderweitiger  Wetterhähne  (trimmers)  bemerkt :  „B a - 
den  hätte  je  wobl  an  der  ersten  Reichster fassung  eine  Lehre,  wel- 
che vor  einer  zweiten,  vielleicht  auch  wieder  schifTbrüchigeu  warnen  sollte. 

 '  

*)  Z.  B.  Kr.  32.  1850:    „Mit  Voss  möchte  es  daher  bald  in  Betreff  des 

frühem  Bundes  beissen: 

Stillschweigend  stand  ich  auf  vom  Sitze, 
-*•••*  Ein  wohlgerog'ner  Ehemann, 

,     Verschob  aufs  eine  Ohr  die  Mütze 
Und  zog  den  alten  Flausrock  an.u  — 

i'       20.  Mai. 


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Droysen:   Leben  des  Grafen  York. 


483 


—  Wer  die  Zeichen  der  Zeit  einigermaßen  tu  deuten  w«ss,  dem  Weiht 
es  wahrscheinlich,  das»  Preüssen  wie  Oeslerreich  vor  dem  Gedanken 
eines  Uber  kurs  oder  lang  feindseligen  D  u  a  I  i  s  m  u  s  erschrecken  und  eben 
desshalb  zweckmässig  in  die  Bahn  der  reformirten  Bundesakte  einlenken 
werden"  u.  s.  w.  —  Jetzt,  da  nach  vielfachen  Fehlgriffen  und  Irrfahrten 
die  alte  Föderation  wieder  ab  rechtlicher  Ausgangs-  und  Mittelpunkt  an- 
erkannt ist,  bleibt  wohl  die  Aussicht  auf  endliche  Beilegung  der  langen 
Wirren  gesichert ;  man  betritt  den  Boden  der  Wirklichkeit  und  hat  ideale 

• 

phantastische  Plane  der  einen  und  audern  Art  ernsthaft  aufgegeben.  Die 
ISoth wendigkeit  der  B u ud es re form  wird  hoffentlich  nichtsdestoweniger 
ihre  Kraft  behalten,  das  in  Dresdeu  vorgeschlagene  Ali  n  im  um  der  Con- 
centration  Anerkennung  linden  und  die  Pflicht,  wahrhaft  demokratische 
Errungenschaften,  wie  P  r  e  s  s  f  r  e  i  h  e  i  t,  Schwurgerichte,  in  die  schirr 
naende  Bundesgesetzgebung  aufzunehmen,  gleichen  Sehritt  halten  mit 
der  Sorge  für.  handelspolitische  materielle  Interessen.  Diesen 
mächtigen  Hebel  der  gegenwärtigen  Menschheit,  welche  Tor  Allem  aus  leben 
und  gewinuen  will,  wurde  aber  eine  einfache,  grossartige  Massregel  am 
kräftigsten  fördern,  die  Aufnahme  liesammt-Preuasens  und  Ge- 
sammt-Oesterreichs  in  den  T e u t s c h e n - B u n d.  Da  bereits  erste- 
res  ins tmkt massig  den  erwähnten  Schritt  gethan  hat,  und  schwerlich  ihn 
zarücknehmea,  oder  sich  March  auf  lächerliche  Weise  freiwillig  ver- 
kleinern wird,  so  steht  nicht  nur  Oesterreich  dieselbe  Stellung  nach 
dem  Gesetz  des  Rechts  und  der  Bill  i  gk  ei  t  zu,  sondern  wird  ihm  auch 
zur  Pflicht  und  Ehrensache.  Die  vorteilhaften  Folgen  eines  so  gross- 
artigen, seit  den  schönsten  Tagen  des  lettischen  Mittelalters  unerhörten 
konstituirenden  AJite*  liegen  auf  der  Uand;  das  in  Frankfurt  so  oft  aus  den 
Munde  der  unglückselige!]  Kaiser  muc  Ii  er  gehörte  Wort:  „Macht  und 
wiederum  Macht  und  noch  einmal  Macht!  •  würde  zur  Wahrheit,  der 
schon  vorhandene  Anfang  der  teulscheu  Flotte  bekäme  einen  festen  Grund  und 
Fortschritt,  das  etwas  trage  Blut  der  Tcntschen  würde  durch  den  regen  Völker- 
verkehr und  allfallige  Wechselheiralhen  einen  frischereu  Umschwung  gewinnen, 
der  lächerliche  Nationalitätshass  abnehmen,  mit  der  Zeit  ganz  ver- 
schwinden und  dem  Kulturptiucip  weichen,  die  Kleinstaaterei,  ein  altes 
Krebsübel,  zerbröckeln  und  zuletzt  versiegeu,  das  ethnographisch- 
aistor  iscb-philologiscbe  Studium,  das  Hauptgewicht  gegen  den 
oberflächlichen  Leichtsinn,  ausserordentliche  Erweiterung  bekommen,  yor 
Allem  aber  Teutschland  langsamen,  sichern  Tritts  der  Türkei  sich 
nähern  und  der  asiatischen,  von  einem  Tage  zum  andern  an  Gewicht 
wachsenden  Welt  die  erobernde  oder  schülzendo  Hand  reichen.    Auf  die 

31* 


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Proteste  des  Auslandes,  namentlich  Frankreichs  und  Englands,  dürfte 
und  mttsste  man  bei  dieser  innern  Nationalangelegeeheit  kein  Gewicht 
legen,  nötigenfalls  die  Waffen  gebrauchen.  Frankreich  ist  überdies« 
durch  die  Einverleibung  Algiers,  die  Trennung  Belgiens  und  Hol- 
lands,  endlich  durch  seine  Februarrevolution  längst  von  Buchsta- 
ben und  Geist  des  Wiener  Vertrags,  welcher  auf  i  n  n  e  r  e  Organisationen 
nur  mittelbar  zurückgreift,  abgewichen,  und  England,  gegenüber  den 
jonischen  Inseln,  in  derselben  Lage,  dabei  noch  unlängst  von  der  Makel 
der  griechischen  Landsporre  und  des  an  dem  General  v.  Hayn  au  ver- 
übten Skandals  behaftet,  —  dieses  England  protestirt  nur  aus  —  Brot- 
neid. —  Der  letzte  Feind  wäre  der  sogenannte  sonderbündlerische  Klein- 
teutsche,  welcher  einst  im  goldenen  Ochsen  oder  Badiscben  Hof  un- 
wissentlich die  ersten  Grundlinien  der  doktrinär-burschikosen  Be- 
wegung des  Jahres  1848  sog  und  trotz  des  Bankerottes  immer  noch  den 
Kopf  hoch  tragt,  höber  oder  niedriger,  je  nachdem  die  .Windmühlen  in 
Berlin  gehen.  Da  nun  aber  letzteres  bekanntlich  mit  der  Gesa  mm t- 
monarchie  dem  wiederhergestellten  Bunde  beigetreten  ist,  so  werden 
die  Herren  Unionisten  bei  der  Anwendung  des  gleichen  Princips  auf 
Oesterreich  verstummen  oder  in  offenen  Widerspruch  mit  sich  selber 
gerathen  müssen.  Der  wohlfeilere  Preis  des  Tokaier  Weins  und  anderer 
Erzeugnisse  wird  dabei  den  gutmütbigen  Zorn  rasch  abkühlen. 

Bei  diesem  Stand  der  teutsche  n  Angelegenheiten,  welche  keines- 
wegs so  düster  wie  die  Zeitungen  aussehen,  ist  es  erfreulich,  nach  lan- 
gem Stocken  wiederum  ein  gutes  Geschicbtswerk  aus  dem  hohen,  bisher 
'  kriegerisch  -  politisch  bewegten  Norden  zu  erhalten.  Der  Verfasser,  vor 
der  diluvianischen  Zeit  bereits  rühmlich  bekannt  durch  die  Geschichte  Alex- 
anders des  Grossen  uud  des  Hellenismus,  bat  sich  nach  den  Marztagen 
vielfach  an  den  Versuchen  des  tbatsachlicben  Geschichtemachens 
betheiligt;  er  hat  gefrankfurtert ,  gegothaert  und  geschleswig-holsteineri, 
also  aus  dem  Leben  geschöpft,  praktisch  gelernt  und  dadurch  allerdings 
auch  für  die  Behandlung  eines  schon  fern  liegenden  Stoffs  mancherlei  ge- 
wonnen; das  bene  facere  und  das  bene  dicere  geht  hier  Hand  in  Hand. 
Wer  noch  unlängst  die  Gedanken  der  konstitnirenden  Nationalversammlung 
belauschte  und  die  Plane  des  Verfassungsratbs  zu  Papier  brachte,  der  hat 
auch  wohl  Zeug  für  den  mürrischen,  alten  General  v.  York,  welcher 
am  31.  Hai,  am  Tage  der  Thronbesteigung  Friedrich* s  II,  zu  Berlin 
seine  gebührende  Festfeier  und  eherne  Statue  bekommen  soll.  *)  Das  Bach 

*)  Allgem.  Augsb.  Zeitung.  Nr.  109.  Berlin,  den  15.  April.    ..Die  Feier 
des  Geburtstages  Friedrichs  des  Grossen  am  31.  Mai  d.  J.  wird  mit  ganz 


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Droysen:  Leben  dea  Grafen  York«.  485 

bildet  ein  im  Ganzen  würdiges  Seitenstück  zu  dem  trefflieben,  wenn  auch 
nicht,  wie  die  Zeitungsmacher  sagen,  klassischen  oder  unbedingt  mei- 
sterhaften Leben  des  Staatsministers  Stein  von  Perts;  beide  Ehren- 
männer, welche  einander  in  der  Wirklichkeit  oft  abstiessen  und  dennoch 
zuletzt  für  dasselbe  edle  Ziel  arbeiteten,  haben  nach  dem  Tode  ihrem  Ver- 
dienst entsprechende  literarische  Denkmäler  erhalten ;  auch  wird  dem  gros- 
sen Staatsmann  mit  der  Zeit  nicht  das  geziemende  Standbild  aus  Marmor 
oder  Metall  fehlen;  denn  warum  sollten  nicht  Manner  des  Friedens  und 
Gedankens  neben  den  Schwertträgern  noch  dem  Vorgang  der  antiken  Welt 
auch  bei  den  Neuem  in  Gusseisen  prangen  ?  —  Wie  jede  historische  Ar- 
beit, wenige  vollendete  Musterschriften  ausgenommen,  ihre  starken  und 
schwachen  Seiten  hat,  so  treten  beide  auch  hier  hervor.  Die  erste, 
vorteilhafte  Eigenschaft  zeigt  sich  in  dem  pflichtmassigen,  aber  schwieri- 
gen Sammeln  des  vielfach  Eerslreuten,  hier  und  da  dürftigen  oder  lü- 
ckenhaften Stoffes.  Ihn  lieferten  Familiennachrichten,  Erzühlungen  und 
Berichte  noch  lebender  oder  erst  jüngst  verstorbener  Kriegsgefährten,  i.  B. 
Boyens,  des  Freiherrn  v.  Canitz,  der  Grafen  v.  B r a n den b urg  nnd 
v.  Donnersmark,  vor  Allem  die  bis  zum  Jahre  1808  von  Valen- 
tini  fortgeführte,  handschriftlich  vorhandene  Biographie  des  Generals  von 
York,  endlich  Aufsätze,  Briefe  und  Depeschen  des  letztern  und  seines 
Geschäflskreiaes.  Dergleichen  Aktenstucke  sind  theils,  und  mit  Recht,  in 
die  Darstellung  verwebt,  theils,  eilf  an  der  Zahl,  in  den  Beilagen  nieder- 
gelegt. Vieles  Andere  ist  verloren  gegangen  oder  bisher  wenigstens  nicht 
aufgefunden.  —  Ferner  hat  der  Verf.  den  häufig  sehr  spröden,  mangel- 
haften und  in  der  Masse  sich  leicht  verlierenden  biographischen  Stoff  mit 
geschickter  Hand  zu  gliedern  verstanden,  und  der  anfangs  untergeord- 
neten Persönlichkeit  seines  Helden  durch  Einschaltungen  (Digressio- 
nen)  stets  den  angemessenen  Platz,  ein  gewisses  Relief,  zu  bereiten 
gewusst.  Diess  ist  wahrlich  bei  dem  oft  einförmigen,  schweigsamen  und 
geiitig  wenig  bewegten  Soldaten  neuerer  Zeit  nicht  leicht,  nnd  es  bedarf 
mindestens  einer  kleinen  Neigung  zum  Abentheuerlichen,  wenn  die 
Tbeilnahme  und  Spannung  sollen  erhalten  werden.  Einen  Anflug  dieses, 
dein  neuern  Wesen  unbekannten,  abentheuerlichen  Zuges  scheint  wirklich 
der  General,  wenn  auch  der  Darstellende  Begriff  und  Wort  nicht  gebraucht, 
noch  in  reifern  Jahren  besessen  zu  haben.  Das  starke  Selbst-  und  Ehr- 
gefühl, welches  nötigenfalls  den  Zweikampf  als  Gottesgericht  wählt, 


besondere  Festlichkeiten  verbunden  seyn.B  —  Diess  ist  irrig;  der  König  wurde 
am  24.  Jänner  geboren;  am  31.  Mai  bestieg  er  den  Thron.   Kleinigkeiten!  — 


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Droysen:   Leben  des  Grafen  York. 


der  edle  Trotz  gegen  ein  neidisches  Schicksal,  der  schnelle  Entschluss, 
auf  der  Wanderschaft  und  im  Auslande  zu  finden,  was  die  Heimath  ver- 
weigert, die  Kunst,  sich  leicht  in  der  Fremde  Bahn  zu  brechen  und  den- 
noch stets  die  Sehnsucht  nach  Rückkehr  in  das  soldatische  Ktosterlebeo 
der  vaterländischen  Erde,  —  diese  und  ähnliche  Merkmale  bezeichnen  den 
ritterlich-abentheuerlichen  Charakter  auch  im  achtzehnten  und  neunzehnten 
Jahrhundert  noch.  So  etwas  ist  angeboren,  nicht  gemacht ;  es  klingt  selbst 
in  der  berühmten,  folgenreichen  Tbat  des  Generals  bei  Tauroggen  durch 
nnd  dient  mit  als  erklärender  Schlüssel.  Solche  Soldatennaloren,  strenge 
und  doch  fahrende  Söhne  des  Mars,  brachte  das  sechszehnte  Jahrhundert 
häufiger  hervor,  z.  B.  Frondsberg.  Vater  und  Sohn,  Sebastian  Schärt- 
lin,  Herrn  v.  Burtenbach,  und  Andere:  im  achtzehnten  Jahrhundert 
traten  sie  meisteus  gar  nicht  oder  nur  verzerrt  (karrikirt)  auf,  z.  B. 
St.  Germain.  York  bewahrte  sich  den  bessern  Theil.  Die  Gliederung 
seines,  wie  gesagt,  in  den  allgemeinen  Gang  der  Dinge  durch  Digressio- 
nen  verflochtenen  Lebens  zerfallt  zweckmässig  in  zwei  Abschnitte  oder 
Bücher,  von  welchen  der  erste  bis  zur  Lübecker  Schlacht  (1759— 
1806),  der  zweite  bis  zur  Convention  von  Tauroggen  (30.  Dec.  1812) 
hinaufreicht,  und  den  ersten  Band  schtiesst.  Das  erste  Capitel  behandelt 
die  Jugendjahre.  Hans  David  Ludwig  v.  York,  Sohn  des,  Familien- 
naebrichten  zufolge  von  Seiten  der  Vorfahren  England  angehörten  prens- 
sischen  Hauptmanns  David  Jonathan  und  der  Potsdamischen  Handwerker- 
tochter Maria  Pflugin,  geboren  am  26.  Sept.  1759  wahrscheinlich  auf  dem 
binterpommerschen  Gütchen  Gutzkow  (Vorwerk  unweit  dem  gleichna- 
migen Städtlein ?) ,  wuchs  zu  Königsberg,  der  Garnison  des  Vaters, 
unter  strenger  Zucht  und  ohne  sorgfältige  Erziehung  auf,  trat  mit  dem 
vollendeten  zwölften  Jahre  als  Fahnenjunker  dem  Luckschen  Infanteriere- 
giment bei,  erlernte,  auch  hier  wissenschaftlich  vernachlässigt,  den  einsei- 
tig strengen  Dienst,  welcher  nur  das  Dienstreglement  und  das  Gebetbuch 
kannte,  wurde,  allen  Militärübungen  gerecht,  1777  Lieutenant,  machte  als 
solcher  (zweites  Capitel)  den  Ba  irischen  Erbfolge-  oder  Kartoffel- 
krieg, welcher  wenig  ansprach,  mit  (1778.  1779),  bekam  bald  daranf 
in  Folge  eines  Disciplinarvergehens,  Fruebt  seines  Trotzes,  den  Abschied, 
trat  darnach  in  den  holländischen  Dienst  (1781—1785.  Drittes 
Capitel),  wohnte  der  Seeschlacht  von  Doggers  bank  bei  (vergl.  den 
ergänzenden  Bericht  im  politischen  Journal  1781.  II.  177 ff.),  besuchte 
als  Officier  des  Schweizerregiments  Meuron  die  Caps  ladt,  focht  bei 
Trincomale  auf  Ceylon  unter  dem  französischen  Seehelden  Suff  reo,  sei- 
nem Vorbilde,  wider  die  Englander  (vergl.  polil.  Journal  1782.  IL 


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Droysen:  Leben  des  Grafen  York. 


S.  550  ff.  und  1783.  II.  S.  117  s.,  die  ergänzenden  Nachrichten),  ent- 
sagte, nach  der  Capstadt  heimgekehrt,  mit  männlicher  Selbstüberwindung 
der  Liebe  zu  einem  jungen  Mädchen,  welches  darauf  der  bessern  Versor- 
gung wegen  ein  reicher  Kaufmann  heirathete,  langte  1785  wieder  in  Hol- 
land an,  vielfach  durch  das  Leben  gereift,  und  trat,  von  unüberwindlicher 
Sehnsucht  getrieben,  nach  mancherlei  Schwierigkeilen  wieder  in  den  preu Ba- 
sischen Kriegsdienst  ein  ( Cap  4),  dessen  wechselnde  Garnisonen  zu 
Breslau  und  in  Polen  (1787 — 1796),  Johannis  bürg  und  Mittenwalde  (1796 
bis  1804)  (CbP.  5— 7)  gegen  den  blutlosen  Marschauszug  (1805) 
(Csp.  7)  und  den  ernsthaften,  tragischen  Krieg  von  1806  ausgetauscht 
wurden  (Cap.  8  u.  9).  Hier  zeichnete  sich  zuerst  York  als  Führer  des 
von  ihm  musterhaft  eingeübten  Jägerregiments  bei  Jeua  nnd  in  den  vom 
Yerf.  genau  beschriebenen  Gefechten  bei  Alten  zäun,  unweit  der  Elbe, 
Wahren  im  Mecklenburgischen  und  Lübeck  aus.  —  Das  zw  ei  te  Buch 
behandelt  im  ersten  Capitel  den  Tilsiter  Frieden,  im  zweiten  die 
Stein 'sehen  Reformen,  im  dritten  die  Vorgänge  von  1809  und  1810, 
im  vierten  die  Agonien  (?  etwas  pretiös)  von  1811,  im  fünften 
den  Anfang  des  Feldzugs  von  1812,  im  sechsten  die  Zerwürfnisse  nnd 
Unterhandlungen,  und  im  siebenten  die  Convention  von  Tnuroggen. 
Die  dritte,  vorteilhafte  Seite  des  Buchs  tritt  in  der  meistens  klaren, 
reinen  und  einfachen  Sprache  hervor-,  jedoch  hat  sie  nicht  immer  den 
gedrungenen,  schlichten  Ausdruck,  welcher  vor  Allem  den  Denkwürdig- 
keiten eines  alten  Soldaten  geziemt;  sie  wird  hin  und  wieder,  nach  dem 
Pikanten  strebend,  gesucht  und  rhetorisch.  Das  ist  zum  Theil  die  natür- 
liche Folge  der  wörtlich  eingeschalteten  Aktenstücke  und  fremdartigen, 
dem  Vorgänger  Valentini  entlehnten  Schildereien,  zum  Theil  die  Frucht 
absichtlichen  Strebens.  Dahin  gehören  die  häufigen  Fr a go n,  welche  bei 
seltenem  Gebrauch  ihre  Wirkung  Ibun,  unzeitig  aufgeworfen  den  Leser 
nicht  spannen,  sondern  ermüden  oder  täuscheu.  Auf  der  Kanzel  oder 
Yolkstribüne  mögen  dergleichen  Zierathen,  vom  angemessenen  Ton  und  Ge- 
bärdenspiel begleitet,  auch  wohl  im  Namen  des  Hörers  beantwortet,  wir- 
ken, aber  in  Memoiren,  besonders  kriegerischen,  bleiben  sie,  oft  wieder« 
holt,  ohne  den  beabsichtigten  Eindruck.  Diess  geschieht  z.  B.  S.  451, 
wo  in  einem  Alhemzuge  fünf  Fragen  aufgeworfen  und  nicht  beantwortet 
werden,  viele  andere,  ähnliche  Fälle  hier  zu  Übergehen.  Derartige  Bern- 
langen  (Appellationen)  an  das  Schicksal  und  Mögliche,  frageweise  gestellt, 
verschwimmen  desshalb  gewöhnlich  im  Allgemeinen  und  sind  nicht  gerade, 
wie  es  seyn  sollte,  auf  rein  konkrete,  gegebene,  Verhältnisse  berech- 
net.   So  beisst  es  z.  B.  S.  158  von  den  Preussen  auf  dem  Rückzüge 


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Droyaen:  Leben  dei  Grafen  York. 


unter  Hohenlohe:  „Warum  hatte  sich  keiner  mit  seinen  Pulverwagen 
in  die  Luft  gesprengt,  warum  keiner  den  Versuch  gemacht,  lieber  bis  auf 
den  Tod  zu  kämpfen,  als  ein  durch  Schande  doch  nutzloses  Leben  zu  ret- 
ten? Waren  das  die  Folgen  der  „Intelligenz" ,  dess  man  die  Pflichten 
gegen  diess  sich  selbst,  gegen  das  Selbst  der  armseligen  und  eotedelten 
.  Existenz  höher  stellte,  als  die  gegen  den  König  und  das  Vaterland,  die 
der  Ehre?"  u.  s.  w.  So  konnte  Leonidas  fragen  und  eine  der  Todes- 
weihe günstige  Antwort  gewürtigen,  so  Schil  bei  Stralsund,  —  ..der 
Unbesonnene  und  Verirrte"  (S.  347),  so  der  Dithmarser  Bauer  im 
letzten  Freiheitsstreit  (1559),  so  Jeder,  welcher  wahrhaften  Heldengeist 
nährte.  Für  den  gewöhnlichen  Menschenschlag  passt  das  Alles  nicht,  wie 
ja  auch  ganz  neue  Vorgänge  beweisen,  und  bedarf  eben  desshalb  keiner 
rhetorischen  Ausschmückung.  Wenn  man  dergleichen  Phrasen  über  poli- 
tische, diplomatische  und  militärische  Ereignisse  abrechnet,  so  ist  die  Spra- 
che des  Verf.,  was  doch  immerhin  viel  sagen  will,  klar,  angemessen  und 
frei  von  Auswüchsen.  —  Die  s  c  h  w  a  c  h  e  u  Seiten  des  Buche  treten  da- 
gegen iu  der  übertriebenen  Weitschweifigkeit  und  dein  theil weisen 
Mangel  an  faktisch -  psychologischer  Kritik  hervor.  Rücksicht- 
lieh  des  ersten  Punkts  zeugen  schon  die  genannten  Capilelüberscbrifteo  für 
den  geräumigen  Bauplan;  er  umfasst  den  grüssten  Theil  der  mit  dem  Ge- 
genstand der  Biographie  gleichlaufenden  Zeitgeschichte,  und  hat  dennoch 
natürlich  weder  Müsse  noch  Beruf,  den  für  das  gesammte  Zeitbild  nöthi- 
gen  Forderungen  Genüge  zu  leisten.  So  erführt  man  z.  B.  etwas  vom 
baierischen  Erbfolgekrieg,  etwas  von  den  holländischen  Uniuhen  und  dem- 
jenigen, was  mit  ihnen  zusammentrifft;  auf  eine  ähnliche  Weise,  nur  aus- 
führlicher und  dennoch  nicht  hinläuglich  und  unparteiisch,  werden  die  preus- 
sischen  Innen-  und  Aussenverhältuisse  kurz  vor  und  nach  der  Katastrophe 
des  Jahres  1806  geschildert,  wobei  denn  ein  besonders  starkes  Gewicht 
auf  die  St  eingehen  Reformen  und  die  Schwankungen  (Agonien) 
in  den  Jahren  1811  und  1812,  hier  wohl  mit  einigem  Grunde,  fällt.  Es 
ift  aber  entschieden  unstatthaft,  eine  Persönlichkeit,  welche  nicht  den 
Schwer-  oder  Gravit8tionspunkt  der  Begebenheiten  bildet,  über- 
all gleichsam  welthistorisch  aufzufassen  und  handeln  zu  lassen.  Diesen 
Anspruch  kann  nur  der  Heid,  sey  er  Staatsmann,  Feldherr  oder  Denker, 
machen,  welcher  wirklich  im  Hittelpunkt  der  Dinge  als  schöpferische 
oder  auch  theilweise  zerstörende  Kraft  steht.  Diesen  gleichsam  universal- 
historischen  Grundzug  trüge  z.  B.  die  Biographie  Karl'*  oder  Fried- 
rich'* des  Grossen.  Gegenüber  dem  mehr  untergeordneten,  an  sich  höchst 
verdienstvollen  Fachmann  oder  Speci  alcharakter  wird  es  dem  Le- 


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Droyien:  Leben  de«  Grafen  York. 


bensbcschreiber  genüge d,  in  kurzen  Umrissen  das  Allgemeine,  in  wei- 
tern das  Besondere,  auf  welchem  der  Ruf  des  Handelnden  ruht,  nach 
gründlicher  Forschung  darzustellen :  je  eigentümlicher  und  fruchtbarer  die 
Persönlichkeit  war,  desto  mehr  wird  sieb  auch  der  Rehmen  des  Gemälden 
erweitern.  Da s s  dabei  möglichst  viele,  individualisirende  Züge  auf- 
genommen werden,  versteht  sich  von  selber;  denn  sonst  würde  man  ja 
eben  keine  Biographie  haben.  Ihr  Hauptgesetz  und  ihre  Hauptschwie- 
rigkeit liegt  gerade  in  dem  richtigen  Abwägen  des  Allgemeinen  und 
Besondern;  wer  aber  beide  Faktoren  ohne  Rücksicht  auf  die  Befähigung 
uod  den  Lebensberuf  des  Gegenstandes  willkührlich  durcheinander  wirft, 
der  macht  sich  nicht  nur  unnütze  Mühe,  sondern  verfehlt  auch  trotz  gnter 
Studien  und  schriftstellerischer  Eigenschaften  leicht  das  vorgesteckte  Ziel. 
Es  wäre  daher  hier  dem  künftigen  Soldaten  und  Feldherrn  vollkommen 
Genüge  geleistet,  wenn  sich  der  Verf.  auf  das  Kriegswisseuschaft- 
liebe  dem  Wesentlichen  nach  beschränkt,  die  einschlagenden  Reglemente, 
Uebeagen,  wie  sie  auch  in  mehren  Capileln  recht  gut  behandelt  sind,  mit- 
geteilt nnd  die  übrigen  Lebensmomente  nur  kurz  und  wie  beiläufig  mit- 
getlieilt  hatte.  Dadurch  wäre  ungeheuer  viel  Raum,  Fleiss  und  Geld  er- 
spart, und  der  General  v.  York,  „diese  strenge,  ztih  energische  Natur, 
scharf  wie  ein  gehacktes  Eisen"  (S.  3),  erschiene  in  einem  straffen,  ge- 
bührenden Gewand,  nicht  in  weiten  Pluderhosen  und  modernem  Paletot. 
—  „Slriclius  assutae  vesles",  heisst  es  bei  Sidonius  Apollinaris  von 
dem  altteulschen  Rock,  „procera  coercent  membra  virüm."  —  Dann  würde 
er  sicher  bei  dem  vielen  Guten  seiner  äussern  Hülle  ähnlich  dem  Archen- 
bolzischen  Siebe nja Ii rkrieg  oder  dem  Blücher  Varnhagen's  unab- 
hängig vom  billigern  Preise  einen  sehr  grossen  Leserkreis  finden.  Auch 
liegt  in  der  StofTfülle  des  Befreiungskampfes,  welcher  von  Neuem 
bei  den  Mittelstufen  der  literarischen  Generation  Theilnahme  weckt,  ein 
Nebengrund  zur  haushälterischen  Beschränkung;  denn  auch  Taucnzien, 
Kleist,  Scharnhorst,  Gneiseuau  und  andere  berühmte  Generale 
jener  Zeit,  um  nur  Preussen  hier  zu  neunen,  entbehren  des  bio graphi- 
schen Denkmals.  Am  angemessensten  geht  dasselbe  wohl  von  einem 
Fachgenossen  aus;  denn  die  eigentlichen  Männer  der  Feder,  wenn 
sie  selbst  nicht  eine  kleine  Kriegsprobe  bestanden  haben,  unterscheiden 
schwer  das  Wesentliche  von  Nebendingen,  und  erznhleu  wohlgcleitete  Ti- 
railleurgefechte ,  z.  B.  bei  Wahren  (S.  164),  mit  Homerisch-epischer 
Weitschweifigkeit,  wie  sie  etwa  entscheidenden  Schlachten  oder  für  den 
kleinen  Dienst  bestimmten  Musterattaken  der  leichten  Truppen  gebührt« 
„Eine  rechte  Waidmanuslust",  heisst  es  da  pretiös,  „in  diesem  mit  vielem 


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Droysen:   Leben  des  Grafen  York. 


Unterholz  versehenen  Revier  den  Feind  in  pirschen  (!) ;  es  schlichen  sieh 
die  Jäger  von  Busch  zu  Busch,  oft  nuf  dreiisig  und  zwanzig-  Schritt  an 
den  Feind,  immer  auf  die  Kühnsten  oder  Offiziere  die  sichere  Büchse  rich- 
tend, mit  heilloser  Wirkung,  mit  immer  grösserem  Jagdeifer.  —  Da  liess 
York  —  die  Feinde  schössen  in  die  losen  Büsche  hinein,  trafen  doch  Man- 
chen (So?)  — das  Signal  Zurückruf  zum  Soutien  blasen;  die  Jäger  hat- 
ten sich  so  verbissen  (waren  es  denn  Hunde ?J,  dass  es  schwer  hielt, 
sie  los  zu  machen;  es  bedurfte  einiger  Kreuzdonnerwetter  u.  s.  w.u  — 
Derartige  Schlachtenmalerei  oder  vielmehr  Schlachtenpinselei ,  ist  eben  so 
leicht  als  unfruchtbar;  man  könnte  sie,  welche  der  einfachen  Wirklichkeit 
nicht  gerade  widerstrebt  aber  hochrothe,  gezwungene  Verkünstelung  auf- 
legt, die  byzantinische  Manier  nennen ;  ihr  Gegensatz  ist  dei  schlichte, 
natürliche,  welche  von  der  Realität  ausgeht  und  Nichts  übertreibt  oder 
mit  Bombast  ausstattet. 

Die  zweite  schwache  Seite  des  sonst  vielfach  guten  Bnchs  tritt 
in  dem  mehrmals  sichtbaren  Mangel  an  historisch -  psychologischer 
Kritik  hervor.  Der  Herr  Verf.  hat  sich  nämlich  trotz  seioer  tüchtigen 
und  ausgebreiteten  Studien  von  vorne  herein  ein  zu  düsteres  Bild  der 
alt-preussischen  Verhältnisse ,  Persönlichkeiten  und  Zustünde  gebil- 
det; er  spricht  sich  desshalb  Uber  sie,  natürlich  mit  Ausnahme  der  Trä- 
ger des  neuen,  reformirenden  Geistes,  durchweg  verdammend  aus,  Ober- 
geht die  bessern  Eigenschaften  und  Leistungen  der  allerdings  vielfach  ge- 
brechlichen Gesetze,  Staatsmänner  und  Heerführer,  malt  immer,  wenn 
auch  nicht  mit  Tschüs'  Griffel  und  Wehmutb,  in  das  Schwarze  nnd 
Aschgraue  hinein,  halt  sich  fast  ausschliesslich  an  die  ordinären,  durch 
Zeitatigen  und  andere  Organe  in  Fltiss  gesetzten  Ueberliefernngen  und 
schildert  desshalb,  wo  er  darauf  kou.mt,  nicht  sowohl  den  allmühligen 
Verfall  als  deu  plötzlichen  Verwesungsprozess  der  alt-preus- 
sischen Monarchie;  mit  einem  audern  Wort,  diese,  die  Schöpfung  Fried- 
rich^ des  Grossen,  kränkelt  und  stirbt  nicht,  wie  es  geschichtlich 
begegnet ,  sondern  sie  liegt  von  vorne  herein  auf  der  Todteubahre  und 
haucht  noch  im  Leben  Leicliengeruch  aus.  —  Spuren  und  Beweise  dieser 
melancholischen,  zu  rigoristischen  und  morosen  AutTassungs-  und  Darstel- 
lungsart kommen  sehr  häufig  vor;  denn  sie  herrscht  nun  einmal  und  stützt  sich 
auf  gangbare  (kurrente),  auf  die  Mittelgeneration  vererbte  Ueberliefernngen, 
denen  auch  der  Schreiber  dieser  Zeilen  geraume  Zeit  so  lange  unbedingt 
folgte,  bis  ihn  Umgang,  Studium  und  Erfahrung  milder  und  gerechter  stimm- 
ten. Rs  mag  genügen,  durch  etliche  Falle  den  gerügten  Mangel  an  wohl 
•bwigender  Kritik  zu  bewahrheiten.  —  S.  136  wird  angedeutet,  die  frtt- 


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Dr oy«en :  Leben  de«  Grafen  York. 


here  Friedenspartei  des  Ministeriums  habe  plötaltoh  aus  Furcht  vor 
dem  esprit  public  im  Spätsommer  180G  für  den  verhöngniasvollen  Krieg 
gestimmt,  und  die  Politik  der  Haugwitz  und  Lombard  Bey  eben  so 
feig  als  habgierig  gewesen.  Abgesehen  von  dem  iuuern  Widerspruch 
des  Satzes  ist  die  erste  Hälfte  falsch,  die  zweite  tbeilweise  unwahr.  Nickt 
das  Ministerium,  sondern  die  Opposition  ausserhalb  desselben  in  der  Ge- 
schäfts- und  Armeeverwaltung  drängte  zum  Kriege,  wie  ja  der  Verfasser 
selber  vorher  andeutete  und  wie  er  es,  das  jüngste  Zeugniss  nur  zu  er- 
wähnen, in  voller  Ausführlichkeit  bei  Pertz,  dem  Biographen  Steinte, 
lesen  konnte.  Ohne  gerade  die  preussische  Politik  seit  dem  Jahre  1795 
oder  dem  Basler  Frieden  billigen  zu  wollen,  muss  man  doch  einräumen» 
dsss  sie  im  Ganzen  Jahre  lang  konsequent  blieb  und  gegenüber  den  stärk- 
sten Lockungen  keinen  plötzlichen  Umschlag  beliebte.  Die  eiuzige,  offen- 
bare Verletzung  des  Friedens-  und  Neutralitälsprincips  geschah 
dadurch,  dass  Preussen  die  Occupatio  des  Churfürstcnthums  Hannover 
ruhig  geschehen  liess  und  dadurch  den  Franzosen  Gelegenheit  gab,  aich 
im  nördlichen  Teutschland  einzunisten.  Umsonst  hatte  gerade  Haugwitz, 
hier  einmal  kriegerisch,  Widerstand  angerathen  und  eben  so  fruchtlos  die 
Aufbewahrung  des  Landes  durch  Preussen  bis  zum  Frieden,  jedoch  mit 
Vorbehalt  der  neutralen  Flagge,  vorgeschlageo.  England  lehnte  aua 
Stolz  den  billigen  Antrag,  welcher  im  Einverständnis*  mit  Frankreich  ge- 
macht wurde,  ab,  und  traf  eben  so  wenig  Anstalt  für  die  Beschirmung* 
des  nun  auch  von  Preusseu  wie  dem  teutschen  Reich  preisgegebenen  Lan- 
des. Diesen  Entwicklungsgang  hat  man  häufig  übersehen,  auf  bequeme 
Weise  Alles  dem  Minister  der  auswärtigen  Angelegenheiten  zugeschoben. 
Freilich  war  derselbe  damals  wie  später  kein  felsenfester,  dem  Aeusser- 
steo  zuneigender  Charakter  wie  etwa  Lord  Chat  harn,  oder  in  vater^ 
hindischeu  Dingen  Freihorr  v.  Stein,  aber  eben  so  wenig  ein  feiger 
und  habgieriger  Mensch,  wie  ihn  der  Verf.  S.  136  und  die  herkömm- 
liche Tradition  schildern.  Ohuc  hier  an  mündliche  Aussagen  ron  Leuten, 
welche  den  Minister  kannten,  zu  erinnern,  will  ich  nur  an  ein,  der  mitt- 
lem oder  gar  jüngsten  Generation  wenig  bekannte?  Büchlein  erinnern.  In 
den  materiaux  pour  servir  a  Phistoire  des  anae'es  180.5,  1806,  1807, 
dedies  aux  Prnssiens  par  un  ancien  compatriote.  1808.  heisst  es  S.  60 
von  Haugwitz:  „Haugwitz,  riche,  plus  qirindifförent  pour  Kargen!, 
blase  sur  les  distinetions  et  par  cette  raison  seule  plus  fait  que  d'autres 
pour  une  place  entourdc  de  pieges  avoit  apportc  dans  la  sienne  des  qua- 
b'tes  preeieuses,  un  coup  d  o eil  parfait,  nn  calme  imperturbable  et  le  la- 
tent de  persuader."  —  Von  dem  ebenfalls  während  seines  Glücks  zu  hoch 


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Droysent  Üben  des  Grafen  York. 


und  nach  dem  Fall  M  niedrig  gesellten  Kabinetsrath  Lombard  wird  ge- 
urlbeilt :  ner  war  ein  ehrlicher  Mann,  übrigens  träge  in  Folge  seiner  kör- 
perlichen Schwäche  und  ohne  Ehrgeis  in  Folge  der  Trägheit"  (S.  57). 
Feige  und  habgierig  waren  also  diese  Männer,  die  Sündenbücke  des 
preussischen  Verfalls  und  Falls,  gerade  nicht,  wie  sie  denn  auch  keines- 
wegs zum  plötzlischen  Bruch  mit  Frankreich  gerathen  haben.  Ihr  Fehlgriff 
lag  hauptsächlich  indem  Neutralitäts-  und  Friedensprincip  oder 
der  nordteutschen  SonderbUndelei,  welche,  einmal  durch  die  Genüsse 
und  materiellen  Vortheile  der  Ruhe  befestigt,  nicht  so  leicht  aufgegeben 
werden  konnte.  Um  so  auffallender  ist  es,  wenn  der  kriegerische  Verf. 
die,  seiner  und  York 's  Meinung  nach,  Übertriebene  Verehrung  der  für 
die  Waffenthat  stimmenden  Königin  als  eine  Art  Modesache  belächelt 
(S.  119),  von  Schills  Verirrungen  (S.  347)  spricht,  von  wel- 
chen etliche  Grane  noch  unlängst  der  sch  les  wig-holsteinisch  en 
Sache  vielleicht  eine  bessere  Wenduug  gegeben  bitten,  den  Namen  des 
„obersten  Kriegsherrn"  für  jene,  fern  gelegene  Tage  gar  tu  oft  gebraucht 
und  selbst  den  berühmtesten,  aus  einem  edlen  Impuls  patriotischer  Unge- 
setzlichkeit entsprossenen  Schritt  York's,  die  Capitulation  von  Taurog- 
gen, durch  eine  lange  Reihe  von  Deduktionen  kasuistischer  Gattung  fast 
aller  Spontaneität  oder  Freiwilligkeit  entkleidet.  Wenn  man  gar  zu  viel 
drehet,  ausgleicht  und  mäkelt,  so  bleibt  am  Ende  kein  durchschlagender 
Charakter  mehr  übrig;  die  kühnsten  Theten  und  gewaltigsten  Revolutio- 
nen schrumpfen  zusammen  und  gestalten  sich,  in  die  Nussschale  des  cor- 
pus iuris  und  Catechismus  hineingezwängt,  als  Erzeugnisse  zwingender  Um- 
stände und  gewöhnlicher  Menschenkraft.  So  sehr  man  deu  Buchsta- 
ben des  Rechts  festhalten  muss,  es  gibt  Fälle,  welche  durch  den  Bruch 
des  veralteten  Rechts  eine  neue  Regel  schaffen  müssen.  Das  gilt  von  je- 
der frischen  Orgnnisirung,  nicht  allein  vom  Herschebrgeii ,  auf  wel- 
chen das  bekannte  Dichterwort  zielt: 

„Si  violandum  est  jus,  regnaudi  grutia 
Violaodum  est;  caeteris  rebus  pielatem  colas." 

Dieser  Grundsatz  könnte  z.  B.  auf  dem  wiederhergestellten  Bun- 
destage gegenüber  dem  polnischen  ..liberum  vetott  oder  der  buchstäb- 
lich geforderten  Einstimmigkeit  Anwendung  finden,  es  wäre  denn, 
dass  man  aus  unluulern  Absichten  auch  hier  gar  Nichts  ändern,  sondern 
nur  blauen  Dunst  und  neue  Kosten  machen  wollte. 

Bisweilen  lässt  sich  auch  der  Verfasser  durch  übertriebenen  Na- 
tionalitätseifer zu  unkritischen  Annahmen  verführen.  Dieaa  gilt  z.B. 
von  dem  geheimnisvollen  General  von  dem  Knesebeck,  welcher  mehr- 


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Droysen:   Leben  de«  Grafen  York. 


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nah,  vielleicht  nach  den  Vorgänge  Pertzens,  als  der  unsichtbar  lei- 
tende Gedanke  des  russischen  Hauptquartiers  im  Feldzuge  des  Jahres  1812 
und  als  der  eigentliche  Erfinder  des,  den  Franzosen  so  verderblich  ge- 
wordenen Rückzugsplanes  in  das  Innere  des  Reichs  angedeutet  wird. 
So  heisst  es  S.449:  „Jene  grossen  Combinationen  Knesebeck' s  hat- 
ten sich  bis  zu  dem  Punkte  erfüllt,  wo  Preussen  handelnd  eintreten  musste.« 
Und  S.  320 :  „Knesebeck  halte  berechnet,  wie  man  den  Feind  liefer  und 
tiefer  nach  Russin nd  hineinlocken  müsse,  um  ihn  dann  endlich  seiner  ei- 
genen Schwere,  dem  Clima,  dem  Mangel  erliegen  zu  machen  u.  s.  w." 
In  geheimer  Mission  nach  St.  Petersburg  eilend,  habe  nun  der  General, 
heisst  es  weiter,  den  Feldzugsplan  bei  dem  Kaiser  Alexander  durch« 
gesetzt  und  dergestalt  den  eigentlichen  Ausschlag  der  gewaltigen  Kata- 
strophe gegeben. u  Die  nähern  Beweise  des  allerdings  nicht  uuwicbtigeu 
Satzes  fehlen  aber,  wie  denn  überhaupt  die  Belegstellen,  oft  auch 
für  wichtige  Angelegenheiten,  nur  sehr  dürftig  erscheinen.  Wahrschein- 
lich hat  als  Zeuge  Graf  Henckel  von  Donnersmark  gedient,  welcher 
in  den  gehaltreichen  Erinnerungen  (S.  96 ff.)*)  seinem  Schwager, 
dem  General  von  Knesebeck,  die  Autorschaft  des  russischen  Feldzugs- 
plans beilegt.  Das  Nähere  wird  jedoch  verschwiegen.  —  Dagegen  ist 
nnn  zu  erinnern,  dass  trotz  der  gewiss  durch  Knesebeck  gegebenen 
Rathschläge  Kaiser  Alexander  schon  lange  vorher  auf  andere  Autori- 
tät hin  den  angedeuteten  strategischen  Gedanken  gefasst  und  für  den  eintre- 
tenden Fall  gleichsam  bereit  gehalten  hatte.  Obrist  v.  Wolzogen  nämlich 
soll  ihn  bereits  1809  in  einer  Denkschrift  entwickelt  und  bei  dem  Kai- 
ser beliebt  gemacht  haben.  (Erinnerungen  aus  dem  Feldzuge  des  Jabrei 
1812  vom  Herzog  Eugen  vou  Würtemberg.  Erste  Beilage  S.  191  ff.) 
Ueberdiess  war  das  Missverhältniss  der  Streitkräfte  Anfangs  so  gross,  dass 
nur  aliein  der  Plan  des  langsamen  Zurückweichens  und  raschen  Wieder- 
kehrens retten  konnte ;  man  wollte  und  konnte  Napoleon  desCras- 
sos  Schicksal  gegen  die  Parther  bereiteu  (Eugen,  S.  19),  war  aber 
dazu  unvermögend,  wenn  der  Angreifende,  wie  ihn  einen  Augenblick  zu 
Smolensk  die  Lust  dazu  anwandelte,  in  dem  eroberten  Gebiet  überwin- 
terte und  im  nächsten  Frühling  den  zweiten  Feldzug  eröffnete  (s.  Com** 
mentaries  on  the  war  in  Russia.    By  Colonel  Cathcart  p.  59.). 

Hin  und  wieder  wird,  wie  gegenüber  den  Persönlichkeiten 
und  Zuständen,  so  in  Betreff  des  reinen  Thatsachlicuen  keine  hin- 
längliche Kritik  oder  sorgfaltige  Prüfung  des  Faktischen  geübt.  Dafür  sol- 

  .! 

♦)  &  Jahrbücher  1847.  Nr.  22.  S.  339. 


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494 


Droysen:   Leben  des  Grafen  York. 


len  hier  nur  zwei  Beispiele  aU  erläuternde  Belege  dienen.  Der  bayrische 
Erbfolgekrieg  wird,  sey  es  nach  der  Handschrift  Valentinas  oder  ei- 
genen  Mitteln,  ziemlich  fahrlässig  beschrieben,  beinahe  als  ein  diploma- 
tisch-militärisches Schaustück,  wie  es  leider  ia  den  jüngsten  Ta- 
gen theilweise  diess-   und  jenseits  der  Elbe  aufgeführt  wurde.  Grosse 
Heldentaten  lieferte  freilich  allerdiugs  auch  die  sogenannte  Kartoneinfehde 
1778  ond  1779  nicht,  indess  war  sie  keineswegs  ohne  biltero  Ernst  und 
von  beiden  Parteien  wohl  durchdachten  Operationsplen;  es  kam  da- 
tier am  Ende  auch  zu   einer  verständigen  Ausgleichung  ohne  aus- 
schliesslichen Schimpf  und  Glimpf  für  den  einen  oder  andern  Theil;  matt 
siebt,  es  handelten  Männer,  gegliederte  Hegieruogen.  Nun  wird  von  un- 
ser« Verfasser  fast  überall  Friedrich^  des  Grossen  Schlaffheit  und  Zau- 
derwesen gertigt,  ohne  dass  man  die  Beweise  vernimmt.     „Mau  stand", 
heisst  es,  „von  der  Milte  Mai  an,  den  ganzen  Juni  hindurch,  den  Befehl 
mm  Aufbruch  erwartend"  (S.  17).   Warum  das  geschah?  entwickelt  der 
„oberste  Kriegsherr14  selber;  „obsthon  der  König  wussteu,  sagt  er,  „dass 
bei  dem  Zogern  Josepb  Zeit  für  volle  Rüstung  gewinnen  werde,  knüpfte 
man  dennoch  Unterhandlungen  (freilich  fruchtlose)  an,  pour  ite  poinl  ebo- 
quer  In  France  et  la  Russieu  (Oeuvres,  VI.  p.  144).  —  Der  ganze  Feld- 
eng  wurde  übrigens,  wie  der  vortreffliche,  in  das  Einzelne  eingehende 
Aufsatz  des  Königs  beweist,  schulgerecht  geführt,  wenn  es  auch  nicht 
gerade  eu  grossen  Schlachten  kam.    Diese  hatte  aber  der  zwanzigjährige 
York  erwartet;  daher  seine  unzeitige  Missstimmung.  In  Betreff  des  von 
den  Kroaten  wider  das  Städtchen  Habelschwer  dt  and  das  Lockscbe 
Regiment  (in  welchem  York  stand)  glücklich  ausgeführten  Handstreichs 
bemerkt  Friedrich:  „II  ne  faut  attribuer  cetfe  catastropbe  honteuse 
qu'a  fignorance  de  cc  jeune  prince  (von  Ilessen-Philjppslhal),  qui  faisait 
sa  premiere  campagne,  et  auqnel  on  naurait  poiot  drt  conlier  de  com« 
mandement  separe4  (p.  160).—  Es  ist  dalier  schwer  zu  begreifen,  wie 
die  Ungnade  Friedrich'.*  nach  dem  Verfasser  S.  22  dem  Regime ate 
gelten  und  bei  einem  gegebenen  Anlass  gerade  den  jungen,  diserptin wid- 
rigen York  treffen  konnte,  welcher  sieb  doch  bei  dem  lieberfall  wacher 
benommen  und  durchgeschlagen  halle.    Man  bedarf  aber  für  die  Erklä- 
rung der  einjährigen  Festnngsstrafe  nicht  der  königlichen  Gereiztheit,  son- 
dern tnuss  den  Grund  einfach  in  dam  subordiuationswidrigen,  wenn  an  sich 
auch  nicht  unehrenhaften  Benehmen  des  Lieutenants  suchen. 

In  dem  Gebrauch  der  Vertregsucku  öden,  welche  gewöhnlich 
nicht  buchstäblich  oder  in  grössern  Auszügen  mitget heilt  werden,  slöstt 
man  hier  und  da  auf  unbestimmten  oder  unrichtigen  Aufdruck.  So  heisst 


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Droysen:   Leben  des  Grafen  York. 


495 


es  S.  317:  „York  halle  keine  Ahnung  von  den  geheimen  Artikeln  des 
Oktobervertrags  (von  1808),  in  denen  siel»  der  König  nicht  bloss 
verpflichtete,  höchstens  42,000  Mann  au  halten,  sondern  euch  Na  po- 
le od  im  Kriege  gegen  Oesterreich  mit  16,000  Mann  au  folgen."  — 
Hier  ist  doch  unzweifelhaft  die,  vom  Prinzen  Wilhelm  mit  dem  Kaiser 
der  Franzosen,  nicht  im  Oktober,  sondern  am  8.  September  1808  zu  Pn- 
rii  abgeschlossene  Uebereinkunft  gemeint.  Bisher  bandelte  es  sich  aber 
nur,  so  viel  mir  bekannt  ist,  um  die  Feststellung  der  preussiseben  Hee- 
resstärke, nicht  um  das  Verheissen  einer  Auxiliar macht  gegen  Oe- 
sterreich. Daher  musste  der  darauf  bezügliche  Artikel,  welcher  eine  un- 
geheure DemUthigung  enthalt,  so  gut  von  dem  Herrn  Droyseu  als  sei- 
nen wahrscheinlichen  Vor-  und  Gevaltermaun  Pertz  (Lebeu  Steine  II. 
246)  genao  und  buchstäblich  mitgethcilt  werden.  Bis  dahin  darf  mau 
den  Gegenstand  für  unerledigt  halten. 

Blickt  man  endlich  auf  das  Cb a r ak terbi Id  York's,  wie  es  sich 
aus  den  reichhaltigen,  wenn  auch  häufig  durcheinander  geworfenen  Nach- 
richten entwickelt,  so  tritt  da  zuerst  das  streng  Soldatische  als  vor- 
herrschender Grundsalz  auf.  Der  Dienst  und  in  ihm  das  Reglement,  stehet 
von  allen  Pflichten  oben  an;  unerbittlich  waren  Zucht  und  Strenge,  aber, 
wenn  etwas  gelang,  derch  etliche  Worte  des  Lobes,  welche  auf  die  Menge 
wirken,  die  vielfachen  Entbehrungen  und  Plackereien  ausgeglichen.  Die- 
ser Amtsdespotismus,  in  geselligen  Kreisen  durch  manche  Stachel- 
reden gewürzt,  kannte  keinen  Unterschied  der  Personen,  nur  Gerechtig- 
keit; er  forderte  von  Andern,  was  ihm  selber  als  Ausgangspunkt  galt  — 
Gehorsam  (Vrgl.  S.  292,  293,  371  il  329).  Unter  der  barschen 
Hülfe  barg  sich  aber  praktische  Verstandosscharre,  welche  stets 
für  die  Vervollkommnung  des  Technischen  sorgte  und  dabei  auf  fei- 
ner, aus  dem  Leben  geschöpfter  Meuscbenkeuutniss  rubele.  Kriegs- 
wissenscheftliehe  Studien,  besonders  den  Werken  grosser  Taktiker 
und  Strategen,  namentlich  des  Marschalls  von  Sachsen,  entlehnt,  fehl- 
ten zwar  nicht,  den  HsuptstoiT  lieferte  aber  die  Praxis.  Dürftig  war  die 
literarische  Bildung;  sie  ging  nicht  über  die  Kennlniss  der  Franiösi* 
sehen  und  etlicher  teutschen  Klassiker  hinaus;  Jugend  Versäumnisse  konnten 
auch  hier  durch  spatern  Fleiss  nicht  nachgeholt  werden.  Inmitten  der  mi- 
litärischen Morel  stand  der  Pflicht  gegen  König  und  Vaterland  ganz  nahe 
das  stärkste  Ehr-  und  Selbstgefühl,  der  Wächter  des  männlichen 
Charakters.  Bei  persönlichen  Verwicklungen  wurde  daher  trotz  des  fried- 
lichen Wesens  selbst  der  Zweikampf  nötigenfalls  als  Ausweg  gewähll 


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496  Droysen:    Leben  de«  Grafen  York. 

(s.  z.  B:  S.  288)*},  bei  dem  anvertrauten  Wirkungskreise  jede  fremd- 
artige Einmischung  barsch  zurückgewiesen.  „  Was  ich  am  Ende",  hiess 
CJ,  „allein  yerantworten  muss,  will  ich  such  allein  ausführen*  (S.  298). 
—  Seine  Vaterlandsliebe  beschrankte  sich  nur  auf  Preussen;  er 
hätte  sich  lieber  zerhacken ,  denn  dasselbe  nach  einer  neuern  Redensart 
in  Teutschland  aufgehen  lassen.  Einmischung  in  die  Politik,  so  das» 
etwa  General,  Staatsmann  and  Diplomat,  neben-  und  ineinander  wirken 
tollen,  blieb  ihm  fremd  und  gehässig.  Befangen  von  den  alten  Gewöhn- 
heilen,  Brauchen  und  Corporationsrechten,  selbst  Standesprivilegien,  hatte 
er  keinen  Sinn  für  Staatsreformen,  sogar  wenn  sie  das  Billige  und 
Notwendige  trafen.  Die  grossnrtigen  Entwürfe  Stein'*,  welcher  doch 
auch  dem  Adel  angehörte,  waren  ihm  daher  ein  wahrer  Gräuel  und  Ein- 
griff in  das  Althergebrachte.  „Der  Mann"  (Stein),  schreibt  er  1808% 
„ist  zu  unserm  Unglück  in  England  gewesen,  und  hat  von  dort  seine 
Staatsweibheit  hergeholt;  und  nun  sollen  die  in  Jahrhunderten  begründe- 
ten Institutionen  des  auf  Seemacht,  Handel  und  Fabrikwesen  beruhenden 
reichen  Grossbritanuiens  unserm  armen,  ackerbautreibenden  Prcoi- 
aen  angewöhnt  werden.  Wie  hat  er  geeilt,  mit  seinen  Absiebten  tum 
Vorschein  zu  kommen.  Gleich  bei  seiner  Ankunft  in  Memel  das  bewirkte 
Edikt,  dass  Jeder  ohne  Unterschied  ein  Rittergut  kaufen,  der  Adel  da- 
gegen jedes  bürgerliche  Gewerbe  treiben  dürfe.  —  Eine  eigentliche  Ab- 
schaffung, mau  möchte  sagen,  Verhöhnung  des  Adels  ist  dem  Geist  un- 
seres Monareben  und  unsers  Volks  durchaus  zuwider.  Wird  der  Gewürz* 
kramer  oder  der  Schneider,  der  das  Gut  erwirbt  oder  der  Spekulant,  der 
auf  seinen  Profit  gedacht  hat  und  schon  auf  Wiederverausserung  sinnt, 
wird  er  auch  im  Unglück  seinem  Monarchen  „zu  Dienst  seyn  mit  Gut  und 
Blut?"  —  Als  nun  aber  die  Feuerprobe  kam,  da  bestanden  viele,  doch 
ritterschaftliche  Grundherrn  das  Missgeschick  keineswegs  mit  hinlänglicher 
Opferbereitwilligkeit. —  „Die  Anstrengungen  der  Polen,  meldete  der  feu- 
rige Gegner  St  ei  n'scher  Reformen  1811,  verdienen  wahrlich  alle  Achtung; 
man  bringt  unbeschreibliche  Opfer.  Wie  anders  ist  es  bei  uns,  wo  man 
jede«,  Recruten  von  seiner  Gruudberrschaft  erkämpfen  muss,  und  wo  ein 
elender "Kgoismus  die  allein  herrschende  Leidenschaft  ist."  (S.  386.)  — 


)  „Der  Friede  wird  also  auch  von  hier  weichen;  ich  lasse  meine  alten 
Kuchenreutcr  sofort  hl  Stand  selten;  denn  ich  bin,  wie  von  meiner  Existent 
überzeugt,  dass  Bülow  (der  später  berühmte  Feldherr)  und  ich  keine  8  Tage 
zusammen  sind,  ohne  uns  an  den  Haaren  zu  haben."  —  Aus  einem  Briefe  an 
Schornhorst  vom  Jahr  1811. 

(Schluu  foty.) 


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ffr.  32.  HEIDELBERGER  1851. 

JÄHRBÖGHER  OER  LITERATUR. 


Droy sein  JLebeii  de«  Grafen  York« 

(Schlnss.) 

Weiter  bemerkt  der  General  in  dem  ersten  Briefe:  „Wird  der  neue 
Herr  seine  Bauern,  die  ihn  wohl  mit  Ziegengemecker  an  der  Ehrenpforte 
empfangen,  mit  sich  in  der  Treue  festhalten,  wie  der  alte  Erbbesitzer  that, 
der  in  seinem  Dorf  über  die  Gemülher  mit  Liebe  und  Anhänglichkeit  herrschte? 
Dass  die  sogenannte  Sclaverei  der  Bauern  u.  s.  w.  nur  philanthropisches  Ge- 
schwätz ist,  wissen  wir  Alle."  (J5ic.) 

Doch  läuft  es  eigentlich  darauf  hinaus,  dass  ein  Grundbesitz  seyo  soll 
wie  ein  Thaler  Geld,  der  durch  die  Circulation  sich  vervielfältigt,  wobei 
noch  durch  die  Slempelgebüliren  Etwas  für  den  Staat  abfällt.  Keine  lan- 
desYälerliche  Idee  nach  dem  Sinne  des  Königs.  —  So  Etwas  kann  nur  in 
der  Kanzlei  eines  Banquiera  oder  von  einem  Professor,  der  einen  schlecht 
verdauten  Adam  Smith  vom  Katheder  docirt,  ausgeheckt  werden.  Leider 
bat  sich  dergleichen  Geschmeiss  des  genialen  Ministers  bemächtigt. — 
Mao  sieht  ja,  wie  es  von  allen  Seiten  herbeiströmt  und  was  sie  in  ihrer 
Collerie  schon  zu  Tage  bringen.  Hörte  man  nicht  sogar  schon  den  de- 
mokratischen Uusinn,  dass  alle  Stellen  im  Staat  durch  Votiren 
des  Volkes  besetzt  werden  möchten?44  u.  s.  w.  (S.  211).  York 
sah  bei  diesem  demokratischen  Entwickluugsprocess,  welcher  in  kritischen 
Tagen  unvermeidlich  und,  richtig  geleitet,  sehr  wohlthätig  ist,  wobl  nur 
Gespeoster  und  Gestalten;  Blücher,  Gneisenau,  Stein  und  andera 
bedeutende  Männer  alten  Adels  wurden  von  den  Visionen  nicht  heimge- 
sucht, hauptsächlich  weil  ihnen  die  Galle  und  Lauge  des  ehrenwerthen 
Cameraden  fehlten.  Derselbe  glich  andererseits  seinen  barschen  und  offe- 
nen Beformhass  durch  verschiedenes  Ablehnen  fremdartiger  Ge- 
schifte  aus ;  er  weigerte  sich  z.  B. ,  die  ehrenvolle  und  lockende  Stelle 
des  kronprinzlichen  Erziehers  anzunehmen,  und  zeigte  hier  wie  bei 
andern  Gelegenheiten  die  des  ächten  Weisen  würdige  Bescheidenheit. 
Das  Ablehnungsschrciben  (8.  Aug.  1807)  enthält  gute  Winke  zur 
Prinzen  er  z  iehun  g:  *)  Ketntniss  des  Staats,  des  Menschen  und  eine 

*)  Alle«  ist  trefllich  gedacht  und  dargestellt.    York  hatte  daher,  wenn 
XUY^Ja^jr.  4.  DoppelhefT  ^         *  '      *  33  ^ 


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498  Droysen:   Leben  de«  Grafen  York. 

Art  encyclopädiseber  Uebersicht  werden  dabei  besonders  von  dem  Lehrer 
und  Führer  gefordert.  „Meines  Wissens",  heisst  es  unter  Audenn,  „gibt 
es  nur  zwei  Hebel,  die  Kräfte  des  Menschen  vorteilhaft  zum  Zweck  des 
allgemeinen  Guten  in  Bewegung  zu  setzen.  Diese  Hebel  sind  Hoffnung 
und  Furcht  Aber  es  ist  keine  genieine  Kenntnis*,  beide  Hebel  gehörig 
in  Wirkung  zu  bringen.  Die  Wege  anzuzeigen,  diese  Kenntniss  zu  erlan- 
gen, ist  wieder  kein  gemeines  Wissen."  Dagegen  ist  die  Trennung  zwi- 
schen der  Moral  des  Fürsten  und  des  Privatmanns  (nach  dem  jus  divinum 
regum?)  dunkel,  ja  falsch  ausgedrückt.  „Ein  König",  sagt  der  Gene- 
ral, „ist  eine  irdische  Gottheit  (?) ;  wie  die  Gottheit  das  Unglück  zum 
Zwecke  des  allgemeinen  Glückes  geschehen  lässt,  so  muss  der  Fürst  auch 
nur  den  Zweck  des  Ganzen  im  Auge  haben.  —  Die  Moral  des  Fürsten  ist 
daher  auch  anders  als  die  des  Privatmannes.  Zu  viel  Gefühl  für  einzelnes 
Unglück  macht  zu  weich  und  bringt  das  Ganze  aus  der  Wage ;  zu  grosse 
Gleichgültigkeit  gegen  das  Unglück  macht  gefühllos ;  der  Zweck,  zur  Kraft 
zu  führen,  würde  Tyrannei  schaffen."  (S.  195.)  Wenn  übrigens  der  Herr 
Verf.  (nach  Pertz)  aussagt  (S.  193),  der  bisherige  Führer,  Delbrück, 
habe  für  den  so  reich  begabten  Zögling  weder  Charakter  noch  Geist  ge- 
nug besessen,  so  ist  das  schwerlich  richtig.  Persönliche  Bekanntschaft  in 
der  Schweiz  im  Jahre  1812  hat  das  Gegentheil  gefunden;  der  Fehler 
Delbrück1*  lag  in  zu  starker  Hingebung  an  die  Höchstgeslellten  und 
in  einer  mit  dem  Ernst  der  Zeit  und  des  Amtes  nicht  ganz  übereinstim- 
menden Weichheit  des  Herzens.  Man  wird  davon  gelegenheillich  etliche 
charakteristische,  gerade  auf  York's  Abfall  bezügliche  Ansiebten  mittheilen 
können.  —  Bei  aller  Vaterlandsliebe  und  Schroffheit  blieb  der 
General  gerecht;  er  liess  sich  weder  durch  jene  bestechen,  noch  durch 
diese  verführen;  gute  Eigenschaften  oder  Vorzüge  des  Feindes  wurden 
offen  anerkannt,  Gebrechen  und  Fehler  des  Feindes  ohne  Hehl  gerügt 
„Die  Desertion",  schrieb  er  z.  B.  aus  Ostpreussen  1811,  „ist  hier  sehr 
stark,  doch  mehr  von  Deutschen  und  Polen,  als  von  Franzosen.  Auch  ich 
bin  überzeugt,  dass  die  Franzosen  des  Schlagens  müde  sind;  kommt  es 
aber  dazu,  so  schlägt  sich  diess  Volk  gut,  denn  Jeder  schlägt  sich  aus 
eigenem  persönlichen  Ehrgefühl  und  weil  er  National  stolz  hat 
Leider  ist  das  bei  uns  nicht  der  Fall.  Unser  Recrulirungssystem  ist  falsch; 
ich  habe  es  oft  gesagt,  und  höre  nicht  auf  es  zu  sagen."  Man  hatte  noch 


geurtheilt;  er  sagte  nämlich  oft:  „Die  verdammten  mirs  nnd  michs;  beim  Schrei- 
ben geht  es  noch;  da  macht  man  einen  Zug,  und  Jeder  kann  es  lesen  wie  er 
will,  aber  heim  Sprechen  muss  man  heraus  damit."  (S.  10.) 


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Droysee:   Leben  des  Grafen  York. 


nicht,  bemerkt  der  Biograph,  die  allgemeine  Wehrpflicht  (S.  287.)  Diese 
galt  jedoch  schon;  aber  auch  die  Militärreform  konnte  nicht  mit  einen 
Scilage  wirken. 

So  war  seinen  wesentlichsten  Zügen  nach  der  Hann,  welcher  für 
Preussc  n  und  einen  grossen  T  Ii  eil  Teutschlands  durch  den  Absohlnsa 
der  Tauroggen  er  Co  n  v  en  ti  oti  (30.  Dec.  1812)  gleichsam  die  S  turmglocko 
des  Befreiuogskrieges  läutete.   Der  Verf.  hat  diesen  folgenreichen, 
ungewöhnlichen  Schritt  fast  zu  weitläufig  behandelt;  er  führt  die  Motive 
grösstenteils  auf  den  vorangegangenen  Zwist  mit  dem  Marschall  Mab* 
donald  und  die  militärische  Ueberlegeubeit  der  Russen  zurück;  Blut  - 
vergiesseu  zu  sparen  u.  a.  w. ,  habe  nun  der  preussische  General,  ohne 
die  entscheidende  Vollmacht  des  Königs  abzuwarten,  dem  tiefgeworzelten 
Hess  gegen  Napoleon  Baum  gegeben  und  den  Abfall  tob  demselben 
zur  grossen  Freude  der  Heerabtheilung  bewerkstelligt.     Allein  diese  und 
ähnliche  Versuche,  die  1 1 1  e g  o  Ii  t  ü  t  zu  entschuldigen,  sind  eben  so  frucht- 
los als  unnölliig,  jeues,  weil  York  hinlängliche  Streitkräfte  besass,  um 
sich,  wenn  er  wollte,  ohne  erhebliche  Verluste  durchzuschlagen,  dieses, 
weil  ungewöhnliche  Menschen  in  ausserordentlichen  Verhältnissen 
den  Buchstaben  des  Gesetzes  zu  brechen  selten  Bedenken  tragen.  Die 
Verantwortlichkeit  steht  aber  dann  allein  bei  den  Urhebern  der 
ungesetzlichen,  ausserordentlichen  Entschlüsse  und  Handlungen;  sie  über- 
nehmen kühn  die  Folgen,  Tod  oder  Sieg,  und  berechnen  nicht  kaltblütig 
die  etwaoigen  Zwischenfälle  oder  ISothbrücken.    So  dachte  und  handelte 
Büch  York;  er  wagte  freiwillig  eine  Ungesetzlichkeit,  der  Hoff- 
nung, dadurch  das  Zeichen  der  nationalen  Erhebung  zu  geben.  Wahr  and 
offen  wird  das  in  dem  Schreiben  vom  3.  Jänner  1813  gradezo  ausge- 
sprochen.   „Ew.  König I.  Majestät  Monarchie14,  heisst  es  neben  An- 
derm,  „obgleich  beengter  als  1805,  ist  es  jetzt  vorbehalten,  der  Erlöser 
und  Beschützer  Ihres  und  aller  deutschen  Völker  zu  werden.   Ea  liegt  zu 
klar  am  Tage,  das«  die  Haud  der  Vorsehung  das  grosse  Werk  leitet. — 
Der  Zeitpunkt  muss  aber  schnell  benutzt  werden.    Jetzt  oder  nie  ist  der 
Moment,  Freiheit,  Unabhängigkeit  und  Gröne  wieder  zu  erlangen,  ohne 
zo  grosse  und  blutige  Opfer  bringeu  zu  müssen.   In  dem  Ausspruch  Ew. 
Majestät  liegt  das  Schicksal  der  Welt.  -  Ew.  Majestät  kennen  mich  als 
einen  ruhigen,  kalten,  sich  in  die  Politik  nicht  mischenden  Mann.  So  lange 
Alles  im  gewöhnlichen  Gange  ging,  musste  jeder  treue  Diener  den  Zeil- 
umständen folgen;  das  war  seine  Pflicht.    Die  Zeitumstünde  aber  haben 
ein  ganz  anderes  Verhäitniss  herbeigeführt,  und  es  ist  ebenfalls  Pflicht, 
diese  nie  wieder  zurückkehrenden  Verhältnisse  zu  benutzen  —  Ich  erwarte 

33* 


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Streuber:   Basier  Taschenbuch. 


ooo  sebosochtsroll  den  Aussprach  Ew.  Majestät,  ob  ich  gegen  den  wirk- 
lichen Feiod  vorrücke,  oder  ob  die  politischen  Verhältnisse  erheischen, 
dass  Ew.  Majestät  mich  verurtheileo.  Beides  werde  ich  mit  treuer  Hin- 
gebung erwarten,  und  ich  schwöre  Ew.  Kunigl.  Majestät,  dass  ich  auf 
dem  Sandhaufen  eben  so  ruhig,  wie  auf  dem  Schlachtfelde, 
auf  dem  ich  grau  geworden  bin,  di  e  Kugel  er  warten  wer- 
de.« (S.  504.) 

Diese  würdevollen  Worte  enthalten  deutlich  den  Schlüssel  der  Hand- 
lung ond  beweisen  die  volle  Freiwilligkeit  derselben. 

Möchte  der  Verf.  bald  den  zweiten,  wichtigsten  Band  des  anzie- 
henden und  lehrreichen  Werks  erscheinen  lassen !  —  Der  bin  und  wieder 
bisher  sichtbare  Beigeschmack  des  aotiösterreichischen  sogeheisseoeo  Go- 
thaismus wird  sicherlich  bei  der  bekannten  Coope rat ioo  Preossens  uod 
Oesterreichs  im  Befreiungskriege  gänzlich  ausbleiben. 


Basier  Taschenbuch  für  das  Jahr  1851.  Herausgegeben  ton  Dr.  Wil- 
helm Streuber.  Zweiter  Jahrgang.  Basel,  bei  Schveighäuser. 
VI.  Vorwort.  S.  287.  12. 

Dem  ersten,  früher  angezeigten  (Nr.  2.  1851.)  Jahrgange  schliesst 
sich  die  Fortsetzong  auf  entsprechende  Art  ao ;  sie  behandelt  vaterländische, 
theilweise  aoch  auf  allgemeines  Interesse  berechnete  Gegenstände.  Dahin 
gehört  schon  der  erste,  aus  seltenen  Quellen  bezogene  Aufsatz  Aogost 
Burckhardt's,  überschrieben:  „Die  Freistätte  der  Gileo  and 
Lahmen  auf  dem  Kohlenberg-;  er  gibt  einen  lehrreichen  Beitrag 
zur  Geschichte  des  Proletariats  im  Mittelalter.  Eioe  förmliche  Bett- 
ler- ond  Landstreicherzooft  wurde  etwa  in  dem  dritten  Jabrzebent  des 
fünfzehnten  Jahrhunderts  auf  dem  sogenannten  Kohlenberge  in  Basel 
angesiedelt  ond  mit  allerlei  K  o rp  o r a  t i  o n  s rec  h  ten  wie  Pflichten  aus- 
gestaltet. Den  eigentlichen  Kern  bildeten  die  Zigeuner  oder  heute 
von  Egyptenland,  deren  erste  Bande  unier  dem  Herzog  Michel  (dem 
Vorgänger  der  heutigen  Majestät  ?)  1422  in  der  Stadt  erschien  und  sich, 
mit  mannigfaltigem  Gesindel  vermengt,  uuter  dem  Schutz  der  Freistadt  haos- 
häblich  auf  dem  erwähnten  Hügel  innerhalb  der  Alt-  und  Neustadt  ein- 
richtete. Ohne  Bürger-  oder  Einsassenrecht  genossen  diese  Kohlen  ber- 
ger oder  Freiheitsknaben  Duldung  und  mancherlei  Befugnisse-,  Hu- 
tens ond  Wachens  frei,  mossten  sie  ausschliesslich  die  Strasse  kehren,  Säcke 
tragen  uod  bei  der  Beerdigung  der  TodteD,  besonder!  in  pestileniialischen 


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Tagen,  Hand  anlegen.  Als  Korporation  halten  sie  bei  Klagen  um  Geld- 
schulden,  Fried-  und  Frevelsachen,  d.  b.  in  Schlag-  und  Scheltbändeln, 
ein  eigenes  Gericht;  es  stand  unter  dem  Reichsvogt,  seit  Erwerbung 
des  Blutbanns,  dem  Rath  der  Stadt,  zahlte,  wenn  der  Reichsvogt  nicht  selbst 
absprach,  sieben  Geschworne,  welche  natürlich  nur  aus  der  Bett- 
lergilde genommen  wurden.  Der  Aelteste  hiess  Richter,  die  an- 
dern nannte  man  Urtheilsprecher.  „Unter  jenem  Schattenbaume", 
heisst  es  S.  19,  „welcher  anfänglich  der  Gilen  (Gelben?  oder  Geilen? 
=  Frechen}  und  Lahmen  alleiniges  Obdach  gewesen,  wurden  nun  die  gc- 
vierten  Schranken  errichtet,  innert  deren  das  Koblenberger  Gericht  sass, 
der  Richter  auf  einem  Stuhl  in  der  Mitte,  den  Stab  des  Gerichts  in  der 
Hand,  das  rechte  Bein  bis  Uber  das  Kaie  entblösst  und  den  Fuss  in  einem 
neuen  Zuber  mit  Wasser  (um  etwa  symbolisch  den  Zorn  und  die  Partei- 
lichkeit abzukühlen?) ,  zu  beiden  Seiten  auf  Bänken  die  Urtheilssprecber, 
auch  mit  entblöstem  Schenkel  (Symbol  der  Armuth  ?).  Hinter  dem  Richter 
Staad  der  Reichsvogt,  hinter  den  Urtheilssprecbern  erschienen  rechts  und 
links  die  vier  Amtleute  des  Stadtgerichts  mit  aufgerichteten  Stäben.  Als 
Aktuar  diente  des  Stadtgericbtsschreibers  Substitut,  oder,  wenn  dieser 
noch  zu  unerfahren  im  Process  war,  der  Gerichtsschreiber  selbst. u  —  Da- 
rauf geschah  die  Verhandlung  wie  vor  den  gewöhnlichen  Stadt-  und  Land- 
gerichten; Kläger  und  Antworter  begehrten  vom  Gerichte  Fürsprecher, 
welche  der  Parteien  Sachen  vortrugen;  Klage  und  Antwort,  Rede  und 
Widerpart  lösten  einander  ab.  Zuletzt  erfolgte  der  S  p  r  u  c  h  oder  Dank, 
welchen  die  Geschwornen  in  der  St.  Jakobsstube  vor  Vogt  und  Amtleuten 
fällten,  der  Richter  oder  Aelteste  der  Geschwornen  verkündigte,  der  Schrei- 
ber zu  Urkund  brachte  und  der  Reichsvogt  besiegelte.  Zum  Zeichen  des 
parlamentarischen  Schlusses  stiess  nun  der  Richter  mit  dem  Fuss  den  Was- 
serzaber um;  nach  altteutscher  Sitte  beendigte  am  Abend  ein  Gelage  den 
Gerichtstag  der  Koblenberger  oder  gefreiten  Bettler,  für  welche  der  Vogt 
ein  Viertheil  Wein  zu  liefern  hatte.  —  Während  oder  bald  nach  der  Re- 
formation endigte,  scheint  es,  die  Bettlerkolonie  und  mit  ihr  das  Kohlen- 
berger  Gericht;  die  ganze  Freistätte  wurde  schon  in  der  zweiten  Hälfte 
des  sechszehnten  Jahrhunderts  ein  R  e  c  h  t  s  a  1 1  e  r  t  h  u  m,  dessen  letzte  Spo- 
ren im  17.  Jahrhundert  verschwinden.  Diese  merkwürdige,  auch  in  andern 
Städten  des  Mittelalters  bisweilen  sichtbare  Be t Her z  un ft  gibt  einen  gu- 
ten Wink  für  die  heutige  Behandlung  des  Proletariats;  man  muss  es 
in  grossen  Städten  unter  staatlicher  Aufsicht  korporationsmässig 
einzurichten  und  zu  beschäftigen  suchen,  auf  dem  Lande  wüste  Striche  znr 
Urbarmachung  anweisen,  kurz,  an  Arbeil  und  Selbstgefühl  gewöhnen. 


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502 


öireuDer.    uasier  lascuenDiicn. 


Geschieht  das  nicht,  so  kommt  allerdings  zuletzt  der  Krieg  zwischen  dem, 
der  Viel  and  Etwas  hat,  und  dem,  der  Nichts  oder  weniger  als  Nichts 
besitzt.  — 

Die  von  Dr.  Fechter  bruchstückweise  herausgegebene  Autobio- 
graphie des  Andreas  Ryff  enthält  den  Entwicklungsgang  eines  gebildeten 
und  kaufmännisch  erfahrnen  Baslers,  welcher  1594  durch  sein  verständiges, 
biederes  Benehmen  den  drohenden  Sturm  des  Rappenkrieges  beschwich- 
tigte, nach  der  Escalade  von  Genf  als  Friedensmittler  zwischen  dem 
Herzog  von  Savoyen  auftrat  und  viele  andere  Mistionen  mit  Umsicht  und 
Treue  besorgte.  In  der  Sprache  zeigt  sich  das  aueh  jetzt  noch  übliche 
Basler-Teutsch,  in  der  Darstellung  der  strenge,  gemessene  und  den- 
noch oft  naive  Geist  des  Reformationszeitalters.  Der  harte  and 
gegen  die  Lehrbuben  oft  rauhe  Kaufherr  in  Genf  halt  z.  B.  jeden  Morgen 
und  Abend  mit  Weib,  Kind  und  Gesind  liausandoebt,  „durch  wel- 
ches mittel  ich  warlich  inbrünstig  keil  der  religion  erlangt 
*nbu  (8.  3»);  in  Strassburg  feiert  Herr  Ryff  seine  Verlobung  mit 
der  reichen  Kaurmannstochter  Kirchhofer,  „welche  sich  ganz  geneigt 
zeigt,  was  gott  und  ireo  eitern  gefielt ,  dessen  war  sy  woll  zufrieden* 
(8.  59};  der  Bräutigam  rühmt  nach  Hanse  die  Schönheit,  Jugend,  Haus- 
baktungskunst,  der  Eltern  Reichthum  und  stattliches  Gewerb,  „also  dass  ich 
woll  hoffen  mocht  mein  nutz  zu  fierdern.tt  Man  siebt,  und  das  ist 
noch  in  der  Ordnung,  die  Liebe  reebnete  schon  damals  in  Basel  wie  anderwo. 
—  Der  dritte  Aufsatz,  von  Dr.  8  treu  b  er,  betrachtet  den  West  phäni- 
schen Frieden  nach  seinen  Folgen  für  dieSchweiz,  welche 
die  staatsrechtliche,  faktisch  schon  lange  anerkannte  Unabhän- 
gigkeit, Einschluss  der  Reformirten  in  den  allgemeinen  Religions- 
frieden und  Gleichstellung  derselben  mit  den  Augsburgischen  Pro- 
lestanten gewann  und  einen  kleinen  Schritt  vorwHrts  zu  Gunsten  der  Cen- 
tralisation  that.  Denn  der  Ausdruck:  „Die  vereinig  ten  Cantooe 
der  Schweiz*  —  Helvetiorum  uniti  Cantones  —  stelle,  meint  der  Verf., 
die  Eidgenossenschaft  dem  Aus  lande  zuerst  als  Gesammtstaat  ge- 
genüber. Diess  ist  insofern  wahr,  als  die  früher  gewöhnliche  Formel: 
„Die  Liga  Ober- Allem  anniens*  und  Aehuliches  auf  den  noch  nicht 
ganzlich  abgestreiften  Reichsverband  hinwies  ;  davon  abgesehen,  ge- 
wann aber  die  Schweiz  nichts  an  Concentration  oder  Einheit,  im 
Gegentheil  wurzelte  die  Cantonalsou  verfinetlt  tiefer  denn  je,  führ- 
ten bürgerliche  und  religiöse  Zerwürfnisse  zu  einem  so  weiten 
Brach,  dass  ihn  nur  die  Abspannung  und  Ohnmacht  wahrend  des  achtzehn- 
ten Jahrhunderls  nothdttrftig  verdeckten.    Historische  MisceHen  uad 


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Stiefel:  Universalgeschichte. 


503 


eise  lTebersicht  der  Baslerischen  Literatur  von  1850  boschli  essen  dea 
prosaischen  Theil.  Der  poetische  enthält  eine  Ronaose  Oser's: 
„Die  Basier  vor  Bloch  raont  1449tt,  von  einem  schönen  Bilde 
des  vaterstädtischen  Künstlers,  Herrn  Landerer,  begleitet,  und  ein,  in 
sprachlicher  wie  sachlicher  Rücksicht  schön  gearbeitetes  Drama: 
Adalbert  Meyer,  von  Theodor  Mey  er-Merian.  Nach  dem  beige- 
fügten kurzen  Wortlaut  einer  ungedruckten  Chronik  schildert  der  Verf. 
den  Sieg  gleissueriscber  oder  falscher  Frömmigkeit  über  die 
offene,  rücksichtslos  vorwärts  strebende  Wissenschaft.  Der  Haupt- 
Leid,  Adalbert  .Meyer,  fällt  mit  dem  Tochtermann  und  der  Tochter 
als  Opfer  der  Tücke  und  des  Aberglaubens;  sie  müssen  als  Schwarn- 
kiasUer  ihre  Wissbegier  und  ihr  bisweilen  zum  Stolz  gesteigertes  Selbst- 
gefühl büssen.  Die  wenig  bekannte  Geschichte  gehört  dem  siebenzehnten 
Jahrhundert  an,  dessen  religiöse,  politische  und  kulturhisto- 
rische Merkmale  und  Eigentümlichkeiten  recht  gut  geschildert  werden. 
In  den  Feinden  Meyer*,  tritt  der  ächte  Tartüffe  hervor.  Man  sollte 
das  Stück  diess-  und  jenseit  des  Rheines  über  die  Bühne  geben  lassen, 
wie  die  herkömmliche  Redensart  lautet,  dann  in  der  Augsburgischen  und 
etlichen  andern  Zeitungen  Lärm  schlagen,  und  der  Verf.  könnte  mit  ei- 
nemmal bei  stillem  Tagen  eine  dichterische  Celebrität  werden.  Talent  hat 

PT   lArtonfull  ■   

•T  JvUCUIBllS.  — ~ 


■ 

DU  Universalgeschichte  ah  Entwicklung*-  und  Erziehungsgeschickte  der 
Menschheit  übersichtlich  dargestellt  ton  Heinrich  Stiefel,  Se- 
minarlehrer. Erster  Theil.  Die  Geschichte  des  Alterthums  bis  zur 
Völkerwanderung.  Zürich,  bei  Höhr  1851  VIII  Vorw.  S.  378  gr.  8. 

Der  Verf.  beklagt  es  vielleicht  mit  Reoht,  dass  die  meisten  über- 
sichtlichen Darstellungen  der  allgemeinen  Geschichte  am  Mangel  leitender 
Gesichtspnnkte  nnd  Grundsätze  kränkeln,  den  reichhaltigen  Stoff  nur  äus- 
serlich  aneinander  reihen,  dadurch  Verwirrung  erzeugen,  den  Wald  vor 
lauter  Bäumen,  wie  das  Sprichwort  sage,  nicht  erblicken,  oder  höchstens 
Geschichten,  nicht  aber  Geschichte  lehren.  Er  will  daher  diesen 
Uebelständen  nach  Kräften  begegnen,  die  Entwicklung  der  Menschheit  als 
ein  organisches  Ganzes  nachzuweisen  trachten  und  die  schlagenden  Mo- 
mente der  einzelnen,  Ton  angebenden  Erscheinungen  oder  die  Pnlsgedan- 
len,  wie  sein  Ausdruck  lautet,  aufsuchen  und  hervorheben.  Das  Buch  ist 
besonders  den  Lehrern  an  höhern  Unterrichtsanstalten  und  gebildeten 
Geschichtsfreunden  bestimmt,  welche  hier  die  Endergebnisse  vieler 


504 


Flegler:  Das  Reich  der  Longobarden. 


einzelnen,  böndereichen  Forschungen  und  Schildereien  erhallen,  anregende 
und  verknüpfende  Winke  für  die  Uebenicht  des  zerstreuten,  unermessli- 
ehen  Stolfes  gewinnen  sollten.  Die  gcsammte  Entwicklung  wird  von  ihm 
eingetheilt  in  das  erste  Mensch heitsalter,  welches  in  drei  Zeiträu- 
men den  Orient,  Griechenland  und  Rom  bis  zur  Völkerwanderung 
nmfasst,  in  das  zweite  Henschheitsalter  oder  die  Geschichte  der 
neuern  Zeit  mit  zwei  Zeiträumen,  von  welchen  der  erste  in  drei  Perio- 
den dem  Mittelalter  anheimfällt,  der  zweite  die  neuere  Kultur  be- 
handelt, und  zwar  in  drei  Perioden.  Die  erste  derselben,  auf  die  Ent- 
stehung der  Neuzeit  gerichtet,  behandelt  die  Entdeckungen  der  Erd- 
oberfläche durch  die  Portugiesen  und  Spanier,  die  Reformation  und 
Religionskriege;  die  zweite  will  den  BlUthestand  der  neuem 
Kultur  in  Holland  und  England,  Frankreich,  Russland,  Preisen  und  Ost- 
reich nachweisen,  die  dritte  Periode  endlich  den  Verfall  der  neuern 
Kultur  und  die  Vorboten  einer  neuen  Zeit  schildern,  wie  sie  sich  in 
der  amerikanischen  und  französischen  Revolution,  in  dem  na- 
poleonischen Weltreich  und  —  der  konstitutionellen  Monar- 
chie —  ankündigten.  Der  letztern  blüht  aber  kein  rechter  Weizen;  in 
Frankreich  hat  sie  Bankerott,  in  Teutschland  Fiasco  gemacht*,  die  nächste 
Zukunft  ist  für  Republik  oder  starke  Monarchie;  das  Messing- 
metall hat  allen  Klang  verloren;  man  will  reine  Münze,  bestehe  sie 
aus  Eisen  oder  Gold.  —  Der  verständigen  Abtheilung  des  Buchs  entspricht 
auch,  soweit  Ref.  nach  stellenweiser  Durchsicht  urtbeilen  kann,  der  In- 
halt. Die  Erzählung  ist  klar  und  auf  das  Nolh wendigste  gerichtet,  die 
Sprache  rein,  ohne  Schwulst  und  Ziererei,  die  Verknüpfungsweise  des  Frü- 
hern und  Spätem  nicht  ohne  philosophiscb-praklischeu  Geist.  Auf  neue 
Forschungen  und  Ansichten  wird  keineswegs  Jagd  gemacht,  wohl  aber  das 
jeweilen  Beste  benutzt,  dabei  die  Ueborsicht  eines  Zeitraums  durch  geo- 
graphische Rückblicke  zweckmässig  erläutert.  Die  Namen  sind  jedoch 
nicht  immer  richtig  abgedruckt,  eine  Nachlässigkeit,  welche  bei  Lehrbü- 
chern möglichst  gemieden  werden  sollte.  Es  ist  zu  wünschen,  dass  der, 
wie  es  scheint,  noch  junge  Verf.  auf  dieselbe  Weise  fortfahre  und  sein 
Werk  vollende;  man  kann  auch  dann  genauer  in  das  Einzelne  eintreten. 


Das  Königreich  der  Longobarden  in  Italien.  Von  Alexander  Fleg- 

~       ler.    Leipzig,  bei  Geibel  1851.    VI.  63  S.  8. 

•  * 

Diese  kleine  Schrift  kann  man  einer  hie torisch-kri tia eben 
Studie  vergleichen,  welche,  durch  Fleiss,  Gelehrsamkeit  und  hier  and  de 


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Fleffler:  Das  Reich  der  Lonsrobarden. 


505 


glücklich  angewandte  Combinationsgabe  ausgezeichnet,  sich  den  Weg  zu 
einer  weitern  Aufgabe,  der  Entwicklungsgeschichte  desLongobarden- 
volks,  bahnt.  Der  Verf.  bat  nur  darin  gefehlt,  daas  er  in  den  engen 
Grenzen  eines  historischen  Vortrags  die  Endergebnisse  seiner  gründlichen 
Forschungen  zusammendrängen  und  durch  später  angehängte,  oft  lehrreiche 
Anmerkungen  tbeils  begründen,  theils  ergönzen  musste.  Der  Gegenstand 
selber  ist  nämlich  für  eine  akademische  Rede  offenbar  zu  umfassend 
und  wiederum  za  abstrakt,  als  dass  dort  Vollständigkeit,  hier  An- 
schaulichkeit erreicht  werden  konnten.  Lateinisch  geschrieben 
würde  sich  dagegen  das  Ganze  auch  als  oratorisches  Stück  ganz  gut  ana- 
nehmen, als  tentsche  Abhandlung  durch  die  dann  eingetretene  Auf- 
nahme der  Anmerkungen  und  grössere  Ausführlichkeit  einen  verstärkten 
Werth  und  weitern  Leserkreis  gewinnen,  natürlich  aber  für  den  nächsten 
Zweck  der  slündigen  Rede  wegen  der  Ausdehnung  ungeeignet  erscheinen. 
Abgesehen  von  diesen  formellen  Mängeln  gibt  die  Monographie  viel 
Vortreffliches  und  beurkundet  einen  Maun,  welcher  seines  schwierigen 
Stoffes  nicht  nur  Meister  ist,  sondern  ihn  auch  an  vorangegangene  und 
folgende  Entwicklungen  des  Mittelalters  anzuknüpfen  versteht.  Von 
letzterem,  der  eigentlichen  Fund-  und  Goldgrube  auch  für  die  neuere  und 
neueste  Geschiebte,  heisst  es  ganz  richtig,  dass  nur  unwissende  Anmassung 
den  Vorwurf  tausendjähriger  Nacht  entgegenschleudern  könne.  „Die  Ei- 
nenu,  meldet  S.  1,  „werden  je  nach  dem  Volke,  dem  sie  angehören, 
parteiisch  und  ungerecht,  oder  sie  mustern  die  Kirche  des  Mittelalters  mit 
den  Augen  der  Gegenwart,  oder  modeln  die  damaligen  Parteistellungen 
Dach  den  Gesichtspunkten  des  modernen  Liberalismus,  der  so  in  dem  Mit- 
telalter nirgends  gefunden  wird.  Den  Andern  ist  diese  Zeit  eine  Welt  der 
höchsten  Poesie,  die  ihnen  romantisch  entgegendämmert,  wie  die  Umrisse 
eines  fernes  Gebirges,  dessen  kable  Stoppelfelder  im  bläulichen  Dufte  des 
Aetbers  verschwinden.  Manche  greifen  in  sie  hinein  wie  in  eine  muster- 
gültige Vorrathskammer,  nicht  übel  gelaunt,  die  dort  hergenommenen  Stoffe 
mit  dem  neuesten  chemisch  zu  verbinden,  und  so  die  dunkeln  Rätbsel  der 
Sfinx  zn  lösen.  Und  alle  diese  Widersprüche  erscheinen  im  Kreise  ge- 
schichtlicher Studien  so  gut  als  auf  dem  Boden  des  praktischen  Lebens; 
sie  sind  in  Büchern  niedergelegt  und  bis  in  die  kleinsten  Ritzen  friedlicher 
Folianten  eingedrungen."  Diese  fehlen  jedoch  seit  einer  Reibe  von 
Jahren,  etwa  mit  Ausnahme  der  von  einzelnen  Regierungen  und  Privat- 
gesellschaften unterstützten  Urkundenbücher  und  Onginalscbriftsteller.  — 
Der  Verf.  bereitet  nun  seinen  Hauptgegeustand  dadurch  vor,  dass  er  die 
Constitution  des  römischen  Kaiserreichs  den  wesentlichen  Zügen 


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Flegler:  Das  Reich  der  Longobarden. 


nach  schildert,  die  Macht  des  Oberhauptes  und  der  Beamtenhierarchie  her- 
vorhebt, darauf  die  dauernden  Stutzen  und  Träger  der  auf  Vermögen  und 
materiellen  Interessen  ruhenden  Gesellschaft  beschreibt,  d.  b.  die  sena- 
torischen Geschlechter,  den  Stand  der  Decurionen,  die  sogenannten 
Possessoren  oder  Grundbesitzer,  die  (Korporationen  und  Co I le- 
gi en,  die  Colonen  und  endlich  die  blossen  Sklaven  staatsrechtlich 
oder  nach  ihrer  verfassungsmässigen  Steile  betrachtet.  Dabei  wird,  wie 
ea  icheint,  mit  Grund  wider  von  Savigny  (R.  G.  I,  39)  polemisirt, 
(Anm.  4),  welcher  die  Gemeindeverfassung  der  Dörfer,  Weiler  und  Ka- 
stelle unvollständige  Organisationen  nennt.  Die  beigebrachten 
Zeugnisse  und  Folgerungen  beweisen  jedoch,  dass  die  korporative  Ent- 
wicklung hier  formell  so  vollständig  wie  in  den  grössere  Ortschaften  war 
und  erst  mit  dem  allgemeinen  Elend  der  Barbarenstürme  aus  den  Fugen 
wich.  —  Dem  weit  liehen  Imperatorenstaat  achliesst  sich  in  freier,  ans 
demokratischen  Elementen  ursprünglich  entsprossener  Gliederung  die 
christliche  Kirche  an,  deren  Gang  kurz  beieichnet  wird.  Dasselbe 
geschieht  in  Betreff  der  örtlichen  Freiheit,  welche  sich  seit  Gallienua 
dem  despotischen  Centralisationsprincip  des  Kaisertums  mit  Er- 
folg entgegenstämmt.  Diess  wird  namentlich  nachgewiesen  an  der  io  den 
Anmerkungen  vielfach  erläuterten  Genesis  Yenedigs  und  an  dem  kirch- 
lich-staatsrechtlich umgewandelten  Yerhältniss  Roms.  —  Warum?  und 
wie?  die  dortigen  Bischöfe  in  Folge  der  zwingenden  Umstände  nach 
dem  geistliehen  Prineipat  als  idealem  Ziel  streben  mnssten,  wird  mit 
wenigen  treffenden  Worten  entwickelt  Nach  dieser  Grundlegung  der  po- 
litischen und  kirchlichen  Verhältnisse,  wie  sie  sich  kurz  vorher 
abgeschlossen  hatten,  kommt  der  Verf.  tu  der  Stiftung  des  Longobar- 
denreichs,  und  zeigt,  warum  es  gerade  keine  andere  als  die  bekannt- 
lieh achwankende  und  halb  vollendete  Ausprägung  gewinnen  konnte.  Hier 
wäre  es  für  den  Gegenstand  und  Zweck  des  Vortrags  Zeit  gewesen,  die 
doch  mögliche  Charakteristik  des  eigenthUmlichen  Volks  und  seiner 
zunächst  vorangegangenen  Schicksale,  wie  seiner  leitenden  Persönlichkei- 
ten genauer  zu  geben.  Diess  geschieht  nun  nicht;  die  Rede  springt  so- 
gleich und  ohne  selbst  den  wesentlichen  Gang  des  Kampfes  tu  schildere 
auf  die  organischen  Einrichtungen  Uber.  Letztere  werden  übrigens 
sorgfältig  und  mit  Beseitigung  mancher  irrthümlicben  Ansiebten  behandelt, 
dabei  meistens  auf  die  römischen  Formen  und  Verhältnisse  richtig  zu- 
rückgeführt. Hin  und  wieder  muss  man  aber  Einrede  erheben;  so  wird 
I.  B.  S.  11  die  longobardische  Dreitheilung  lediglich  auf  das  kaiser- 
liche Gesetz  bezogen,  taut  welchem  die  römischen  Heere  in  ihren  Hos- 


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Flegler:  Das  Reich  der  Longobarden.  507 

pifien  oder  Quartieren  die  RKu  ml  ich  keifen  mit  den  Kostgebern  (heilten, 
gemeine  Soldaten  ein  Drittel,  höhere  Offiziere  die  Hälfte  erhielten.  Aber 
wovon?    Von  den  Landeserzeugnissen  oder  Naturalien,  bemerkt 
die  Note  ganz  richtig.  Allein  schwerlich  haben  »ich  die  erobernden,  rau- 
hen Teutschen  lange  mit  so  bescheidenen  Ansprüchen  begnügt;  sie  gingen 
weiter  und  Hessen  sich  in  Italien  wie  anderswo  geradezu  den  dritten  Ttaeil 
des  in  Besitz  genommenen  Grund  und  Rodens  abtreten.    Diess  hat  der 
Verf.  nicht  gehörig  hervorgehoben.  (S.  meine  Abhandlung:  „Königthnm, 
Dienstmannensehaft,  Landeslheilung."  Basel  1822.  S.29.)  Ohne  eine  förm- 
liche Assignation  hülle  die  territoriale  Besitznahme  keinen  Sinn; 
die  elwanige  Ablieferung  des  Drittels  der  Landeserzengnisse  würde  ja  den 
besiegten  Römer  zum  Herrn  des  Fremden  gemacht  haben  ;  dieser  aber 
wollte  wirklicher  Grundherr  werden,  und  wurde  es  auch  trotz  seiner 
Abneigung  gegen  den  Ackerbau  und  überwiegenden  Raufsucht  und  Jagd- 
liebhaberei.   Adel  und  freilich  noch  unreifes  Lehen wesen  hatten  al- 
lerdings bei  den  Longobarden  ein  bedeutendes  Gewicht,  dennoch  wurden 
noch  lange  zu  den  wichtigsten  Staatshandlungen  sömmtliche  Gemeinfreie 
als  Volksversammlung  beigezogen.   Der  Verfasser  lilugnet  d&gcgen 
(S.  l.">}  diese  Mitberecbtigung,  welche,  wie  er  glaubt,  wohl  den 
Germanen  des  Tacitus,  nicht  aber  den  Urbebern  und  Zeugen  der  Völker- 
wandernngszeil  gebühre.    Obschon  nun  der  Adel  allerdings  die  Initiative 
des  Öffentlichen  Lebens  früh  erstreble  und  theilvteise  anch  gewann,  ist 
dennoch  die  Gesammtheit  nicht  ohne  Berechtigung  geblieben.  So 
heisst  es  bei  Paul.  Diac.II,  31:  „Longobardi  omnes  communi  con- 
silio  Cleph  sibi  regem  constituernnttt,  d.  h.  doch  wohl,  die  Vornehmen, 
namentlich  die  Angehörigen  der  Faren  (Geschlechter,  gentes),  machten 
den  Antrag,  das  Volk  genehmigte  ibn;  man  ging  aus  der  Aristokra- 
tie des  Herzogthums  durch  gemeinsamen  Beschlnss  zum  Gesammtkö- 
nigthum  wieder  über.    Ferner  Paul.  Diac.  III,  16:  „Longobardi,  cum 
per  annos  decem  sub  potestale  dueum  fuissent,  (andern  communi  con- 
silio  Autbari,  Clephonis  filium,  regem  sibi  statuerunl."     Dagegen  wird 
PauL  Diac.  III,  36.  ausdrücklich  die  Volksgemeinde,  welche  der  Köni- 
gin Theodelinde  die  Regentschaft  übertrügt  und  die  Wahl  eines  Gemahls 
empfiehlt,  von  dem  Ausschuss  oder  Rath  der  Weisen  (prudentes,  d.  h. 
wohl  des  Adels,  der  Vornehmen)  getrennt,  Beweis,  dass  bei  souverä- 
nen Akten  die  Milbe  rech  tigung  des  Volks  noch  lange  anerkannt 
wurde.  —  Ueberhaupt  wäre  es  hier  am  Platz  gewesen,  genauer  die  Volks- 
rechte, wie  sie  sieh  auch  in  der  Verwaltung  des  Rechts  gegenober 
dem  römischen  Beamtenkreise  darstellten,  zu  prüfen  nnd  die  dafür  vor- 


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508     Schriften  über  StrafrechUpflege  von  Naumann,  Probst  n.  Mehring. 

faandenen  Zeugnisse  wie  andere  Spuren  sichtend  zn  verfolgen.  —  Wie 
dagegen  die  Longobarden  weit  mehr  denn  die  isolirten,  spröden  Ostgo- 
then vielfach  durch  die  Religion  und  Kirche,  Lebensart  uud  Kultur,  Besitz 
und  Ehen  mit  den  wohlhabenden  Römern  gemach  so  einer  Nation 
stellenweise  verschmolzen,  wird  von  dem  Verf.  entgegen  der  her- 
kömmlichen Ueberlieferuug  gut  nachgewiesen.  Auch  darin  muss  man  ihm 
beistimmen,  dass  die  römische  Hnnicipal-  oder  SWdteverfassung ,  ob- 
schon  vielfach  verkommen,  keineswegs  ausstarb  oder  oboe  woblthätige 
Reaktion  auf  die  eingedrungenen  Fremdlinge,  das  erfrischende  Element, 
blieb.  (S.  2 1  IT.)  Eben  so  unbestritten  ist  der  am  Schluss  aufgestellte  nnd 
klar  nachgewiesene  Card  in  aisatz:  „Die  lokale  Entwicklung  bildet 
den  Grundzag  der  ganzen  Geschichte  der  Halbinsel,  den  die  grosse  Welt- 
herrschaft wohl  niederdrücken,  aber  nicht  ersticken  konnte.  Italien  be- 
gann seine  neuere  Zeit  mit  derselben  Verschiedenartigkeit 
politischer  Bildungen,  mit  der  es  einst  in  die  Geschichte 
eingetreten  war."  (S.  23.)  Auch  der  am  Ende  ausgesprochene  Ge- 
danke wird  vielen  kleingläubigen  und  nur  auf  der  Oberfläche  des 
jeweiligen  Factum s  herumspazierenden  Zeitgenossen  als  Lehre  die- 
nen köonen.  „Das  aberu,  heisst  es  S.  24,  „ist  der  Trost,  den  uns  die 
Geschichte  bietet,  dass  die  Menschheit  sich  nie  selber  zn  verlieren  ood 
aufzugeben  vermag,  uud  dass  grade  die  heftigsten  Erschütte- 
rungen das  Gefühl  von  der  Noth wendigkeit  einer  dauern- 
den Organisation  um  so  mächtiger  und  lebendiger  her- 
vorrufen." 

20.  Mai.  Hortuni. 


lieber  die  Strafrechlstheorie  und  das  Pönitentiarsystem.  Von  Christian 
Naumann,  der  Königl.  Univers,  zu  Lund  Sekretär  und  Syndikus. 
Aus  dein  Schwedischen  übersetzt  und  mit  einem  bevorwortenden 

Schreiben  ton  Prof.  David.  Leipzig.  1849.  Verlag  von  C.  B.  Lorch, 
gr.  8.  IV.  u.  57  S. 

Zur  Wiedergeburt  der  Strafrechtspflege.  Gedanken  und  Vorschläge  ton 
Rudolf  Probst,  Oberjustizassessor.  Esslingen.  i848.  Verlag  von 
Dannheimer.  46  S.  gr.  8. 

Die  Zukunft  der  peinlichen  Rechtspflege,  aus  dem  Standpunkte  der  See- 
lenlehre betrachtet  von  G.  Mehring.  Schwäbisch  Hall.  Verlag 
von  W.  Nitzschke.  1848.  IV.  und  80  S.  gr.  8. 

Eine  gewisse  Verwandtschaft  der  vorstehenden  drei  Schriften  ergibt 
schon  ihr  Titel  nnd  ihre  gemeinsame  Richtung  auf  Das,  was  im  Gebiete 
des  Strafrechts  entweder  schon  im  Werden  ist  oder  doch  werden  tollte, 


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Schriften  aber  Strafrechtipflege  von  Naumann,  Probst  u.  Mehring.  509 

auch  wenn  die  Verf.  in  ihren  Ansiebten  hierüber  sieb  nur  in  mehren  Haupt- 
punkten begegnen  und  die  Art,  wie  sie  diese  Ansichten  ausführen,  höchst 
ungleich  ist.  Ref.  halt  es  gewissermassen  für  seine  Pflicht,  durch  diese 
Anzeige  beizutragen,  dass  hie  und  da  wenigstens  ein  Mann  yom  Fach) 
dem  nicht  das  Fortkneten  am  alten  Sauerteig  das  Höchste  ist,  auf  diese 
Schriften  aufmerksam  werde.  Denn  dass  die  Unverbesserlichen,  nach  ihrer 
allen  Weise,  auch  hier  wieder  Alles  mit  Schweigen  übergehen,  Was  ihnen 
unbequem  ist,  darf  man  überzeugt  sein.  Namentlich  1  äss t  sich  Diess  schon 
jetzt  in  Bezug  auf  die  geistvolle  Schrift  von  Mehring  behaupten,  die 
eiaen  besonders  wunden  Fleck  der  heutigen  Strafrechtspflege,  die  Frage 
der  Zurechnung,  mit  jenem  Scharfsinn  beleuchtet,  von  dem  alle  dem  Ref. 
bekannten  Schriften  de?  Verf.  Zeugniss  geben,  besonders  seine  vortreffliche 
Untersuchung  .der  Formalismus  in  der  Lehre  vom  Staat",  die  viel  zu  wenig 
bekannt  ist.  Die  Schrift  von  Probst,  obwohl  sie  nur  leicht  hingewor- 
fene Gedanken  enthalten  soll,  verrath  doch  überall  den  denkenden  Prak- 
tiker und  hält  sich,  wie  die  seines  Landsmanns  Mehring,  frei  von  der 
Zwangsjacke  der  HegeTschen  Methode  und  Schulsprache,  in  der  sich 
noch  immer  Manche,  zumal  in  HegeTs  schwäbischer  Heimat,  so  wohl 
zu  fühlen  acheinen  und  die  ein  gleich  gutes  Mittel  ist  einerseits  gute  Ge- 
danken zu  verzerren  und  entstellen,  andrerseits  Gedankenarmuth  zu  ver- 
stecken nnd  dem  Unwahren  und  Nichtigen  einen  Anschein  von  Tiefe  we- 
nigstens für  Die  zu  geben,  die  diesen  Hokus-Pokus  noch  nicht  durch- 
schauen gelernt  haben.  Zu  diesen  Letzteren  gehört  offenbar  der  schwe- 
dische Verf.  der  ersterwähnten  Schrift,  die,  was  sie  Gutes  enthält,  nicht 
wegen,  sondern  trotz  des  von  Hegel  und  seinen  Jüngern  ihrem  Verf. 
noch  anhaftenden  Schulslaubes  enthält,  den  wir  ihn  stellenweise  schon  fast 
im  Begriff  sehen  von  seinen  Füssen  zu  schütteln.  Wir  wünschen  Diess 
um  so  lebhafter,  als  auch  der  Verf.  Uberall  da,  aber  nur  da,  wo  er  an 
HegeP sehen  Stiebworten  und  „dialektischen"  Gedankenbewegungen  fest- 
hält, wie  besonders  iu  der  ersten  Hälfte  seiner  Schrift,  es  zu  nichts  An- 
derem bringt  als  zu  halber  Wahrheit  oder  ganzer  Unwahrheit.  Einen  klei- 
nen Beitrag  wenigstens,  um  ihm  darüber  hinauszuhelfen,  glauben  wir  ihm 
schuldig  zu  sein  um  der  Zweifel  und  besseren  Ahnungen  willen,  die  sich 
überall  bei  ihm  kundgeben.  Wir  haben  anderswo  bereits  gezeigt,  Was 
die  Nachtreter  Hege  Ts  entweder  nicht  wissen  oder  nicht  zu  wissen  vor- 
geben, dass  dessen  Rechtsbegriff  fast  ganz  hinausläuft  auf  den  in  Kauder- 
welsch übersetzten  Rechtsbegriff  Kant's.  Ebenso  ist  der  Kern  seiner 
Sätze  Ober  Strafrecht  abermals  nichts  Anderes  als  eine  wahrlich  nicht  ver- 
besserte Auflage  der  Kantischen  Sätze.  Davon  wird  sich  ein  Jeder  sofort 


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510     Schriften  Über  Strafrochtspflege  von  Naumann,  Probat  «.  Mehring. 

überzeugen,  der  sich  an  Kant 's  formales  Kriterium  des  Sittlichen  und 
des  Rechts  erinnert:  die  Möglichkeit  der  Erhebung  der  Maxime  des  Han- 
delnden zum  allgemeinen  Gesetz  für  das  Handelo  Aller,  —  das  10  ziem- 
lich Dasselbe  ist  mit  dem  Alten:  Thun  Andern  nieht  Was  du  nicht  willst 
dass  sie  dir  thun  —  sowie  an  den  in  jeder  Hinsicht  verfehlten  Versuch, 
hieraus  gewissermassen  das  Wiedervergeltungsrecht  abzuleiten,  der  sich 
bei  Beiden  findet,  bei  Hege I  z.  B.  deutlich  io  der  vom  Verf.  (Anm.  13) 
mitgeteilten  Stelle,  deren  Schlnss  lautet:  „Denn  in  seiner  fdes  Verbre- 
chers) als  eines  Vernünftigen  (KanTa  „homo  noumenonu)  Handlung  liegt, 
dass  sie  etwas  Allgemeines,  dass  durch  sie  ein  Gesetz  (?)  aufgestellt  ist» 
das  er  in  ihr  für  sich  anerkannt  bat,  noter  welches  er  also  (!)  als  un- 
ter sein  (!)  Becht  subsumirt  werden  darf.14    Auch  dass  Jedem  Das  wi- 
derfahre in  der  Strafe,  „was  seine  Theten  werth  sind",  ist  sogar  Kait's 
Aasdruck.  Wie  aber  dieser  Werth  zu  ermitteln  ist,  Was  der  Verbre- 
cher verdient  bat,  worin  seine  Verse b uldu ng  besteht  und  wie  gross 
•ie  ist,  wie  das  rechte  Verhiiltuiss  zwischen  Schuld  und  Strafe  her- 
zustellen ist,  über  diese  (und  ähnliche)  gleichbedeutenden  Fragen  fehlt 
hier  wie  dort  jede  auch  nur  entfernt  genügende  und  bestimmte  Auskauft, 
wie  es  auch  nicht  anders  seiu  kann  (s.  I! ehr iug  S.  4 ff.  58);  und  darum 
tragen  alle  Theorien  der  Wiedervergeltung  den  Stempel  der  Unfruchtbar- 
keit und  Unbrauchbarkeit  an  der  Stirn,  wie  der  Verf.  selbst  (S.  40)  fühlt. 
Uns  scheint  Hegel  vielmehr  der  Wissenschaft  einen  sehr  schlechten  Dienst 
geleistet  zu  haben,  indem  er  die  sichtlich  unhaltbare  Kant'scbe  Begrün- 
dung des  Strafrechts  für  so  Viele  unsichtbar  gemacht  bat  durch  den  Fir- 
nis? der  Worte  und  der  sofis tischen  Gedankenverrenkung,  die  sich  „dia- 
lektische Bewegung  des  Gedankens"  schelten  lässt  und  deren  Geheimnis* 
(darin  besteht,  dass  sie  auf  das  Willkürlichste  zwei  Unwahrheiten  „an  sich* 
und  „für  sich"  setzt  und  entgegensetzt,  um  sodann  aus  diesen  Vorder- 
sitzen, gleich  einem  Deus  ex  maeuina,  die  vollendete  Wahrheit  des  „Aa 
und  für  sich"  hervorspringen  zu  lassen.    Treffend  sagt  auch  Mehring 
in  seiner  vortrefflichen  Widerlegung  jenes  verunglückten  Begrüudungs Ver- 
suchs der  Vergeltung  (S.  30  f.  34,  36):  „Eines  der  klarsten  Beispiele, 
dass  jene  doppelte  Negation,  aus  welcher  bei  Hegel  die  Position  wieder 
hervorspringen  soll,  nichts  Andres  sei  ala  eine  verdoppelte  Null  (wenn 
nicht  ganz  anderswoher  als  aus  der  zweiten  Negation  die  Position  kommt), 
ist  die  Art  und  Weise,  wie  er  diese  Entwicklung  der  Strafe  als  Vergel- 
tung darstellt«,  und  führt  Diess  näher  ans.  Ebenso  zeigt  Kahle  (Darstel- 
lung und  Kritik  der  Begebenen  Philosophie,  S.  50),  dass  ea  bei  Hegel 
unerklärt  bleibe,  nwie  denn  die  änssere  Verteilung,  welche  derStra- 


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I 

Schriften  über  Strafrechtepflege  von  Naumann,  Probit  u.  Mehring.  511 


fenJe  dem  Verbrecher  doch  allein  anthun  kann,  die  innere  (Selbst-)  Ver- 
letzung des  Verbrechers  aufheben  könne",  dass  vielmehr  io  der  hinzu- 
kommenden zweiten  Verlegung  kein  Gegensalz  zur  ersten,  also  keine  Wie- 
derherstellung des  Rechts,  sondern  nur  eine  Verdoppelung  des  Unrechts 
liege.  —  lieber  die  Befangenheit  in  Hege  Ts  „unbefangenem  Unrecht" 
ist  der  Verf.  hinaus;  er  gibt  sich  aber  doch  die  eitle  Mühe  einen  Sinn  zu 
entdecken  io  Köstlin's  hege  Iis  ire  oder  Erklärung  des  Polizei  verge- 
bens für  ein  „bloss  mögliches  Unrecht«,  —  das  aber  dennoch  als  wirk- 
liches Unrecht  behandelt,  d.  h.  mit  Strafe,  also  mit  einer  Rechtsfolge  des 
Unrechts,  belegt  werden  soll  (S.  8);  er  hält  dafür,  dass  guter  Glaube 
dss  Unterscheideode  des  Zivilvergehens  sei,  da  doch,  Wer  z.  B.  dem 
Viodikanten  den  Besitz  ableugnet,  keineswegs  io  bona  fide  zu  aein  braucht, 
damit  ihn  die  römische  Zivilrechtstrafe  treffe.    Wenn  der  Verf.  (S.  18) 
nur  gutheissen  will,  dass  man  die  ewige  Idee  des  Rechts  von  ihrer  zeit- 
lichen Gestaltung  unterscheide,  so  ist  dagegen  Nichts  einzuwenden;  allein 
die  dafür  von  ihm  angeführte  Stelle  Köstlin's  gibt  einen  abermaligen 
Beleg,  dass  es  durch  das  Einüben  jener  verschrobensten  aller  Methoden, 
die  je  die  Well  gesehen  hat,  Hegel'»  Schülern  zur  andern  Natur  ge- 
worden ist,  im  Nachsatz  Das  immer  wieder  aufzuheben,  was  sie  im  Vor- 
dersatz aufgestellt  haben ;  denn  es  wird  hier  von  vornherein  auf  gut  He- 
gelisch eine  ewige  Idee  („ein  Orakel«)  des  Rechts  als  „schlechthin  un- 
praktisch" geleugnet,  natürlich  „hierbei  aber  nicht  stehen  ge- 
blieben", sondern  plötzlich  doch  wieder  eine  Idee  ab  Endziel  für  die 
Weiterbildung  des  positiveo  Rechts  eingeschmuggelt  und  ein  Stufengang 
io  der  Entwickelung  dieser  Idee  anerkannt,  so  dass  also  doch  zuletzt  nur 
nach  der  Idee  selbst  gemessen  werden  kann,  welche  Stufe  die  derzeitige 
Gestaltung  eines  positiven  Rechts  bereits  erreicht  hat.  Ueber  den  Gegen- 
satz zwischen  dem  Standpunkt  des  Ich  nnd  dem  der  pantheistischea  Welt« 
aoschauong,  die  den  Namen  des  objektiven  Idealismus  für  sich  in  Anspruch 
nimmt,  ist  der  Verf.  nicht  hinausgekommen,  da  Krause1 s  tiefere,  jene 
Einseitigkeiten  und  Extreme  vermeidende  Auffassung  ihm  unbekannt  ge- 
blieben ist.   Diess  ist  nm  so  mehr  zu  bedauern,  als  der  Verf.  selbst  durch- 
zufühlen scheint,  dass  bei  Hegel  der  Einzele  als  Selbstwesen  (Person), 
sein  Wohl,  seine  Freiheit  und  Sittlichkeit  zur  Null  herabsinkt,  d.  b.  dem 
Staatsmolocb  geopfert  wird ;  daher  der  Verf.  eingeräumt  wissen  will,  dass 
es  im  Staat,  nicht  erst  durch  den  Staat,  andere  sittliche  Mächte  gebe, 
wie  Religion,  Wissenschaft  nnd  Kunst,  und  dass  der  Staat  doch  auch 
für  den  Menschen  da  sei.    Man  sollte  Das  wenigstens  denken  1  Denn 
wenn  er  nicht  für  AUe  da  ist,  die  ihn  beleben  und  bilden,  also  euch  für 


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512     Schriften  über  Strafrecbtspflegc  von  Naumann,  Probst  u.  Mehring. 

jedes  seiner  Glieder  (Was  freilich  nicht  gleichviel  bedeutet  wie:  dass  er 
bloss  Mittel  für  den  Ein  seien  sei),  für  Wen  ist  er  denn  da?  Mit 
der  ebenso  hocbklingenden  als  hohlen  Antwort:  „er  ist  Selbstzweck", 
wird  kein  denkender  Mensch  sich  abfinden  lassen,  dem  sein  Bewusstsein 
sagt,  dass  der  Staat  eine  mehr  oder  minder  vollkommene  Einrichtung  ist, 
die  von  den  in  ihm  vereint  lebenden  Menschen  ins  Leben  gerufen  und  ge- 
staltet wird  zu  einem  mehr  oder  minder  klar  gedachten  Zweck,  der  da- 
rum aber,  gleichwie  der  Zweck  der  Ehe,  nicht  etwa  ein  beliebiger,  son- 
dern ein  durch  die  Menschenbestimmung  selbst  vorgezeicbneter  ist.  Des  Verf. 
obige  Aeusserung  zeigt,  dass  er  auf  dem  Wege  ist  Ober  HegeTs  all- 
mächtigen, alle  menschlichen  Bestrebungen  hofmeisternden,  Staat  hin- 
auszukommen. Wir  knüpfen  daran  die  Bemerkung,  dass  die  „  sittliche 
Idee",  „der  sittliche  Geist",  gerade  so  wenig  das  Grundprinzip  des  Staats 
ist,  wie  das  z.  B.  eines  Wissenschaft-  und  Kunstvereins.  Das  Recht,  in 
dessen  Verwirklichung  des  Staates  nächste  Aufgabe  besteht,  ist,  gerade 
wie  das  Wahre  und  Schöne,  etwas  ganz  Anderes  wie  das  Sittliche,  nicht 
aber  etwa  die  äussere  Verkörperung  oder,  vornehm  unverständlich  aus- 
gedruckt: „das  objektive  Dasein"  der  Sittlichkeit  (wie  S.  32—34  ge- 
sagt wird),  und  es  steht  mit  dieser  auch  durchaus  in  keiner  andern  und 
näheren  Beziehung  als  mit  dem  Schönen  und  Wabren  oder  mit  dem  Re- 
ligiösen auch.  Wenn  der  Verf.  (S.  30)  eine  Stelle  bei  Ab  egg  rühmt 
—  was  Dieser  ihm  nicht  übel  genommen  zu  haben  scheint  —  so  möch- 
ten wir  wohl  wissen,  ob  der  Verf.  ebenso  erbaut  wäre,  wenn  ihm  Eben- 
das  mutatis  mulandis  in  Bezug  auf  einen  Kranken  etwa  so  gesagt  würde: 
„Der  Arzt  hat  kein  Recht  dem  Kranken  Arznei  zu  geben,  weil  er  ihn 
heilen  will,  sondern,  indem  er  Diesem  von  Rechtswegen  Arznei  gibt, 
weil  er  sich  eine  Krankheit  zugezogen  bat,  so  bat  er  zu- 
gleich die  Pflicht,  die  gehörige  Arznei  mit  Rücksicht  auf  die  wo  möglich 
su  erzielende  Heilung  einzurichten."  Es  wäre  doch  wohl  möglich,  dass 
dieses  Gteichniss  gerade  in  der  Beziehung  durchaus  nicht  hinkt,  in  der 
wir  es  hier  anführen.  Wir  gestehen  ehrlich,  nicht  zu  begreifen,  wie  ir- 
gend Jemanden,  ja  wie  A  b  e  g  g  selbst  das  Fehlerhafte  der  Kreisdrehung 
entgehen  konnte,  die  in  seinem  vom  Verf.  angeführten  Satze  liegt:  dass 
die  absolute  Theorie  dennoch  einen  Zweck  habe  in  der  gerechten  Ver- 
geltung, dass  diese  Selbstzweck  sei.  — 

(ForlseUung  folgL) 

•    i  < 

*         •       1  •     •  «  •  • 


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Nr.  33.  HEIDELBERGER  1851. 

JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR. 


Schriften  Aber  Stra  fr  echt  »pflege  von  HTt 

M*M-<hl*a#  Ba mm  dt  Waltwlna- 
*  r»HBl   «Hilft  ITÄdirMl^« 


(Fortsetzung.) 

Dass  man  vom  Standpunkt  eines  solchen  angeblichen  Rechts- 
grundes und  Zwecks  der  Strafe,  wobei  auch  Henke  stehenblieb,  selbst 
wenn  man  statt  Vergeltung  den  noch  unbestimmteren  Ausdruck  „Gerechtig- 
keit" unterschiebt,  zu  einer  bestimmten  Antwort  auf  die  Frage  nach  dem 
Grundsatz  für  Art  und  Mais  der  Strafe  nicht  kömmt,  wie  es  schon  oben 
in  Bezug  auf  Kant  und  Hegel  gesagt  worden  ist,  —  Diess  hat  Ref.  in 
seiner  Kritik  der  „Gerechtigkeitstheorie"  des  Herrn  von  P  reuschen  in 
den  „kritischen  Jahrbüchern  für  deutsche  Rechtswissenschaft"  von  1841 
so  ausführlich  gezeigt,  dass  es  Ueberfluss  wäre,  hier  darauf  zurückzukom- 
men.   Folgerecht  war  es  daher  nicht  von  Henke,  wie  ihm  der  Verf. 
mit  Grund  vorwirft,  wohl  aber  war  es  ein  Fortschritt  zur  Wahrheit,  wenn 
er  bei  dem  todten  Begriil  der  Vergeltung  nicht  stehen  blieb,  sondern 
von  da  aus  eine  Brücke  zur  Anwendung  im  Leben  zn  schlagen  suchte, 
d.  Ii.  wenn  er  auf  die  bestimmte  Frage:  wie  fangt  man  es  denn  an,  die 
innere  Schuld  zu  vergelten  —  weder  mit  unsern  bisherigen  Gesetzge- 
bungen antworten  wollte:  „durch  Peinigung  und  Misshandlung  in  gesetz- 
lich oder  doch  gerichtlich  geoau  vorausbestimmter  Weise",  —  noch  mit 
unsern  alten  Strafanstalten:  „durch  Verschlechterung  der  Sträflinge",  — 
noch  endlich  mit  Ahegg  dadurch,  dass  je  nach  Umständen,  d.  Ii.  in  der 
Thal  nach  Willkür,  in  der  „verdieiiten" ,  „gerechten",  „vergeltenden" 
Strafe  bald  dieses,  bald  jenes  s.  g.  Moment  (wie  Abschreckung  u.  s.  w.) 
vorwalten  soll.  Henke  gab  vielmehr  die  einzig  richtige  Antwort:  „durch 
Besserung."  —  Der  Verf.  sagt  zwar  eiuiges  Gute  Uber  das  Schiefe  des 
üblichen  Gegensatzes  von  relativen  und  absoluten,  als  s.  g.  Nutzens-  und 
Gerechtigkeilslheorien  (S.  19  f.);  weil  er  sich  aber  nicht  klar  ist  übet 
den  Begriff  des  Rechtszwecks  in  seinem  Verbältniss  zum  Rechlsgrund,  wie 
denn  durch  Hege  Ts  Rechtsphilosophie  darüber  Niemand  klar  werden 
kann,  so  konnte  er  zur  innern  Lösung  jenes  Gegensalzes  nicht  kom- 
men; er  hält  daher  den  unwahren  Salz  fest,  dass  die  relativen  Theorien 
das  Verbrechen  nur  als  „Gelegenheilsursache"  zum  Strafen  ansehen,  ei- 
XLIY.  Jahrg.  3.  Doppelheft.  33 


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514     Schriften  über  Slrafrechlapflege  von  Naumann,  Probst  n.  Mehring. 

nein  blosi  „«assern  Zweck"  des  Nutzens  für  das  Ganse  oder  den  Ver- 
brecher nachstreben  müssten  u.  dergl.  Er  vermisst  hingegen  richtig  bei 
Ahegg  und  Andern  den  klaren  Nachweis  der  Notwendigkeit,  dass 
Besserung,  Warnung,  Abschreckung  etc.  sich  im  Begriff  der  gerechten 
Strafe  vereinigt  finden  müssten  (als  „Momente");  er  macht  gegen  sie 
den  Satz  geltend,  dass  die  anf  sittliche  Erhebung  des  Verbrechers  ge- 
richteten Massregeln  allerdings  ein  wesentlicher  „Theil  der  Strafe"  seien 
(S.  30;  33  f.).  Wir  sind  überhaupt  bei  dem  Verf.  so  zahlreichen  (wahr- 
fcheinlich  ihm  selbst  nicht  immer  bewussten)  Anklängen  aus  unsrer  klei- 
nen Schrift:  „Zur  Rechtsbegründung  der  Besserungstrafe"  mit  Vergnü- 
gen begegnet,  und  die  Hauptricbtung  seiner  Abhandlung  stimmt  so  sehr 
mit  der  unsrigen  «berein,  dass  wir  uns  überzeugt  halten  dürfen,  dass  er 
derselben  eine  Seite  abgewounen  hat  und  künftig,  wenn  es  ihm  gelun- 
gen sein  wird  sich  gänzlich  von  dem  Banne  HegePscber  Zauberkreise 
und  Formeln  zu  lösen  und  mit  etwas  mehr  Unbefangenheit  unsere  Aus- 
führung der  Lehre  vom  Bechtsgrund  und  Bechtszweck  (s.  „Grundzüge  des 
Raturrechts"  §.  15  u.  16)  zu  durchdenken,  in  der  strengen  Folgerung 
sos  unsern  von  ihm  selbst  (S.  29)  gebilligten  Vordersätzen  nicht  mehr 
eine  „einseilige  Anwendung"  sehen  wird.  Diese  Folgerung  besteht  näm- 
lich in  der  „Erhebung  der  subjektiven  Seite  der  Strafe  (<ler  Sinnesän- 
derung des  Verbrechers)  zur  determinirenden."  Der  Verf.  will  Diess  nicht, 
obgleich  er  selbst  zugibt  (S.  31;  34  f.),  Was  Rer.  des  Nilhern  ausgeführt 
hat:  dass  das  Recht  nicht  eher  ganz  wiederhergestellt  sei,  als  bis 
das  Unrecht  auch  in  der  Gesinnung  aufgehoben  sei;  er  will  mithin  fol- 
gewidrig das  Verfahren  zur  Wiederherstellung  des  Rechts  eingestellt  wis- 
sen, auch  wenn  diese  noch  nicht  bewirkt  ist;  er  erkennt  mit  dem  Ref., 
ja  mit  dessen  eigenen  Worten  an ,  dass  das  Verbrechen  aus  einer  „Fehl- 
richtung des  Willens"  entsprungen  sei,  aus  einer  „rechtswidrigen  Gesinnung, 
als  der  stets  fortfliessenden  Quelle"  auch  des  äussern  Thuns;  er  siebt  im  Ver- 
brechen keineswegs  eine  vereinzelte,  in  sich  abgeschlossene  und  fertige 
Handlung  (S.  24;  30).  Wie  soll  dann  aber,  müssen  wir  fragen,  der 
Staat  dazu  kommen  und  wie  es  anfangen,  nach  S.  34  die  Strafe  doch 
nur  „nach  der  Schuld  zu  bestimmen,  die  in  dem  Verbrechen  zu  Tage 
liegt  in  dem  Augenblick,  wo  es  begangen  wird,  nicht  aber  nach  dem 
erst  künftig  eintretenden  Umstand  der  Besserung  des  Verbrechers" ;  denn 
wie  will  er  die  Schuld  anders  erkennen,  als  im -Zusammenhang  des  ein- 
zelen  Ausbruchs  mit  dem  inneren  Sitz  der  Krankheit?  woher  sonst  ab- 
nehmen, ob  diese  richtig  erkannt,  bebandelt  und  nach  Möglichkeit  geho- 
ben ist,  ob  also  fernere  Ausbrüche  nicht  zu  besorgen  sind,  als  —  an 


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Schriften  über  StrafrechUpflege  von  Maumann,  Probst  o.  Mehring.  515 


dem  guten  oder  schlechten  Erfolg  des  bisherigen  Heilverfahreos?  Dass 
die  Gerichte  auch  ferner,  wie  der  Verf.  will  (S.  52),  auf  Zeit  verur- 
teilen, dagegen  hat  auch  Ref.  Nichts  einzuwenden,  sofern  Diess  nur  bin« 
nen  eines  sehr  weiten  gesetzlichen  Strafrahmens  geschieht  • —  wie  er 
jetzt  üblich  geworden  ist  und  wie  ihn  auch  Probst  und  Mehring  fo- 
dern  —  und  zwar  auf  eine  je  nach  der  Wahrscheinlichkeit  der  Errei- 
chung des  Strafzwecks  binnen  bestimmter  Frist  zu  bemessende  Zeit,  frei- 
lich müssten,  um  Diess  auch  nur  annäherungsweise  richtig  zu  können,  unsre 
Richter  ein  gutes  Theil  bessere  Kenner  des  inneren  Menschen  sein,  als 
sie  es  bis  heute  zu  sein  pflegen.  Was  aber  um  des  klarsten  Rechts 
willen  gefodert  werden  muss,  ist,  dass  man  endlich  die  leere  Erdichtung, 
dieses  so  Uberaus  trttgliche  Unheil  sei  ganz  untrüglich  und  gerecht,  fal- 
len lasse,  dass  man  vielmehr  die  Strafurtbeile  im  Bewusstsein  dieser  Trüg- 
tichkeit  fälle  und  ebendarum  mit  dem  Vorbehalt  späteren  Ab-  und  Zu- 
tbuns  für  den  Fall  jener  genaueren  Bekanntschaft  mit  dem  Inneren  der 
Sträflinge,  wie  man  sie  in  einer  guteingerichteten  Strafanstalt  unfehlbar 
bald  machen  wird,  und  wie  mit  Gh.  Lucas,  St.  Vincent  und  Reich- 
naoa  auch  Probst  (S.  12  u.  16),  v.  Lichtenberg,  Mooser  und 
Mehri ng  (8.  63)  es  verlangen.  Dass,  wie  schon  Henke  will  (s.  Anm. 
31),  auch  eine  solche  nachträgliche  Berichtigung  des  früheren  Urtheils 
nur  wieder  dem  Gericht  zustehen  könne,  und  zwar  auf  den  Bericht 
des  Gesammtvorstaedes  der  Anstalt  hin,  scheint  auch  dem  Ref.  der  einzig 
richtige  Weg  zu  seiu;  nicht  minder,  dass  bei  ganz  unzweifelhafter 
Besserung  oder  Nichlbesserung  vor  oder  bei  Ablauf  der  Strafzeit,  be- 
ziehungsweise Strafnachlass  oder  Slrafverläogerung  rechtlich  oo In- 
wendig sind  —  allen  Träumen  einer  fatalistischen  Wieder  vergeltungs- 
oder  s.  g.  Gerechtigkeitstheorie  zum  Trotz  — ;  dass  es  hingegen,  sobald 
nicht  alle  Zweifel  über  eine  vollständige  Besserung  gehoben  sind,  den- 
noch bei  der  im  ersten  Unheil  bestimmten  Strafzeit  bleiben  muss.  Das 
Nähere  wird  nicht  schwer  zu  bestimmen  sein,  wenn  man  endlich  einmal 
von  der  Wahrheit  durchdrungen  sein  wird,  dass  nur  ein  solche«  Verfah- 
ren dem  Recht  wie  dem  Wohl  des  Staats  und  des  Verbrechers  entspricht, 
dass  nur  es  nicht  geradezu  vernunftwidrig  und  sinnlos  ist.  —  Vielfache 
deutlichen  Anklänge  aus  unsrer  kleinen  Schrift,  die  wir  bei  dem  Verf., 
wie  gesagt,  gefunden  haben,  verrätb  zumal  die  zweite  Hälfte  seiner  Ab- 
handlung, worin  er  die  von  ihm  s.  g.  subjektive  Seite  der  Strafe:  das 
notwendige  Hinwirken  auf  Besserung,  das  man,  wie  er  gut  sagt,  mit 
dem  Namen  des  „Besserungszwangs44  abspeise,  nachdrücklich  betont  und 
näher  ausführt.   So  namentlich  die  Satze ;  dass  das  Verbrechen  zwar  eine 

33* 


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516     Schriften  über  StrafrechUpflege  von  Naumann,  Probst  u.  Mehring. 

Verletzung  des  Rechts,  jedoch  nicht  nothwendig  bestimmter  besondern 
Rechte  sei  (S.  9);  dass  der  eigentliche  Gegenstand  der  Strafe  in  der 
Gegenwirkung  zum  Ersatz  des  inneren  Schadens  bestehe  (S.  10);  dass 
die  s.  g.  bürgerliche  Besserung  nur  eine  halbe  Massregel,  nur  ein  an- 
derer Ausdruck  des  Präventionsprinzips  sei  (S.  24);  dass  der  Verbre- 
cher nm  seiner  selbst  willen  gestraft  werden  müsse  (S.  24);  dass 
die  Strafe  sowohl  negativ,  durch  Entfernung  Dessen  was  von  Aus- 
sen den  bösen  Neigungen  Vorschub  tbut,  als  positiv  zu  Werke  geben 
müsse  (S.  35 ;  43) ;  dass  sie  auch  für  den  Verbrecher  selbst  ein  Gutes, 
eine  Wohltbat,  zu  seinem  Besten  gewandt  werden  könne  und  müsse  durch 
Umstimmung  seines  Willem  (S.  13;  35);  dass  die  hiernach  eingerichte- 
ten Freiheitstrafen  „von  der  grossen  Mehrheit  der  Halbgebil- 
deten ausser  dem  Gefängnis*  als  ein  Uebel  angesehen  werden u  (S. 48) ; 
dass  der  Verbrecher  als  sittlich  Unmündiger  zu  behandeln  sei  (S.  37); 
dass  die  so  beschaffene  Strafe  in  jeder  Hinsicht  anch  die  nützlichste  sein 
werde  (S.  38  f.)  u.  s.  f.  —  Dea  Verf/s  Worte  auf  S.  40  und  andere 
Stellen  lassen  erwarten,  dass  er  künftig,  Was  er  jetzt  schon  ahnt,  völlig 
deutlich  einsehen  werde,  dass  nSmlich  das  ganze  Strafrecht  durchaus 
nur  (na cli  seinem  rechtlichen  Grund  und  Zweck)  als  eine  Art  des  Vor- 
jnundschoftrechts  begriffen  werden  kann.     Damit  ist  aber  freilich  nicht 
gesagt,  d8ss  die  Vormundschaft  „eine  absolute  sei,  die  aicb  selbst  (!)  als 
Rechtsprinzip  setzt« ;  denn  diess  Letzte  wäre  ein  Unsinn ,  und  jede  Vor- 
mundschaft ist  wesentlich  relativ,  d.h.  bedingt  durch  den  stets  wech- 
selnden Zustand  des  Bevormundeten.  Dass  sie  diesem  Zustand  sich  anpasse, 
das  Beste  des  Bevormundeten  fördere,  also  beim  Sträfling  die  Richtung 
auf  Besserung  habe,  Diess  freilich  ist  unbedingt  nothwendig,  nicht  aber 
wie  der  Verf.  wähnt,  bedingt  durch  die  Vereinbarkeit  mit  der  ganz 
unklaren  und  unbestimmten  Bedensart  der  s.  g.  „objektiven  Seite",  dem 
„objektiven  Moment u  oder  ..  objektiven  Zweck «  der  Strafe.    Nach  des 
Verf.  eigner  Erklärung  ist  dieser  objektiven  Seite  genügt  durch  äussere 
Unterwerfung  des  Verbrechers  unter  das  Gesetz,  wodurch  dessen  Herr- 
schaft für  diesen  Fall  wieder  hergestellt  sei  (S.  31);  aber  er  hat  doch 
selbst  gefühlt,  dass  dieses  „äussere  mechanische  Faktum«,  diese  blosse 
Bändigung,  die  blosse  zwingende  Gewalt,  die  sich  z.  B.  auch  im  Umbrin- 
gen oder  beliebigen  Misshandeln,  lebenlangen  oder  arbeitlosen  Einsper- 
ren etc.  geltend  macht,  „das  Verbrechen  nicht  aufheben«  kann;  wie  also 
diess  selbst  völlig  unbestimmte  „objektive  Moment«  den  doch  noth- 
wendig bestimmten  Grundsatz  für  Art  und  Mass  der  Strafe,  wie  es 
die  Grunze  soll  ergeben  können,  innerhalb  deren  allein  das  „subjektive 


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Schriften  über  Strafrechtspflege  von  Naumann,  Probat  n.  Mehring  517 


Moment",  die  Besserung,  statthaft  nnd  berechtigt  sein  soll,  davon  hat 
Ref.  gar  keine  Vorstellung.  Ihm  scheint  vielmehr  alle  und  jede  recht- 
liche Begränzung  für  die  Strafe  gänzlich  verloren  zu  gehen,  sobald  jene 
nicht  aus  dem  nächsten  Recbtsgrund  der  Strafe  (als  einer  Art  der  Be- 
vormundung) hergenommen  werden  soll,  durch  den  sie  von  andern  Rechts-» 
einrichtungen  sich  unterscheidet,  sondern  aus  dem  weitern  Rechtsgrunde, 
der  ihr  mit  allen  andern  solchen  gemein  ist.  Daher  war  es  auch  ein  ganz 
richtiges  Gefühl,  in  dem  der  Verf.  auch  bei  niederen  Graden  der  Straf- 
barkeit an  der  Aufgabe  der  Besserung  festgehalten  wissen  will  (d.  h.  am 
vormundscbaftlichen  Charakter  der  Strafe)  (S.  36),  obwohl  er  bald  nach- 
her die  Folgerichtigkeit  abermals  dem  Traumbild  der  „objektiven  Seite« 
opfert.  Diese  ist  Uberhaupt  die  schwache,  die  subjektive  aber  die  starke 
Seite  seiner  Schrift,  der  ersten  unsers  Wissens  in  Schweden,  die  jenen 
bessern  Geist  alhmet,  dem  entschieden  die  Zukunft  angehört  und  dem  al- 
lein der  Verf.  die  überzeugenden  Gründe  verdankt,  die  er  gegen  das 
starre  und  folgewidrige  Festhalten  des  Grafen  Sparre  an  dem  Gedan- 
ken einer  wiedervergeltenden  Strafgerechtigkeit  ausgeführt  bat  (Ann.  38 
o.  46).  Doch  finden  wir  wenigstens  dessen  Aeusserung:  „die  Freiheitberau- 
bung sei  nur  ein  negatives  Moment,  bei  welchem  das  positive  oder  die 
Strafe  selbst  fehle,  und  das  Gefängniss  sei  ein  Raum  in  welchem  die  Strafe 
vollzogen  werde-  nicht  nur  nicht  oberflächlich,  sondern  sehen  darin  eine 
gebt-  und  ahnungreiche  Bemerkung,  die  ganz  geeignet  wäre,  der  Denk- 
weise ihres  Urbebers  die  rechte  Richtung  zu  geben,  wenn  er  sie  fol- 
gerecht anwendete.  i 
In  der  Schrift  von  Probst  habeu  wir,  und  zwar  nicht,  wie  bei 
Naumann,  getrübt  durch  eine  Beimischung  von  Wieder  vergelterei,  eine 
eigentümliche,  mehr  vom  praktischen  Standpunkt  ausgehende  Entwicke- 
lung  desselben  Grundgedankens  gefunden,  für  den  wir  seit  einer  Reihe 
von  Jahren  in  die  Schranken  getreten  sind.  Diess  gereichte  uns  zu  um 
so  grösserer  Freude  als  wir,  obgleich  der  Verf.  überhaupt  auf  Schriften 
Anderer  nirgends  verweist,  doch  nicht  verkennen  konnten,  dass  wenigstens 
unsre  Abhandlung  über  die  „Besserungstrafe"  ihm  bekannt  gewesen  und 
nicht  ohne  Ginfluss  auf  seine  Darstellung  geblieben  ist.  Jener  Grundge- 
danke ist:  dass,  trotz  aller  noch  herrschenden  Vorurtheile  zu  Gunsten  uns- 
rer  ganzen  bisherigen  Strafrechtspflege ,  die  Alles  über  einen  Kamm  ge- 
schoren, der  entscheidende  Schritt  zu  ihrer  gründlichen  Umgestaltung  in 
einem  andern,  bessern  Geist  endlich  geschehen  müsse,  nnd  zwar  dadurch 
dass  künftig,  wie  überhaupt,  so  auch  durch  das  Strafgesetz  und  seine  An- 
wendung auf  den  Verbrecher,  die  Eigenthümlichkeit  der  Person,  die  In- 


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iividualitBt,  zur  vollen  Geltung  gebrecht  werden  müsse  (S.  7 f.  44). 
Der  Verf.  zeig»,  wie  diese  Foderuog  de«  Achtens  der  Einzelen  eis  Selbst- 
zweck  überdies*  seit  der  ältesten  Zeit  Ubereil  bei  nns  Deutschen  hervor- 
getreten sei,  weil  sie  innig  verwachsen  sei  mit  eosrer  ganzen  Denk-  und 
Gefühl  weise ,  dass  dieser  aber  alle  Einheit  ohne  Manuichfall  (z.  B.  Zen- 
WaKeation),  alle  gewaltsame  Gleichförmigkeit,  völlig  zuwiderlaufe;  er  er- 
innert daran,  dass  man  in  Deutschland  ursprünglich  alle  Fälle  indivi- 
duell, also  auch  nach  dem  Bedttrfniss  des  Orts  und  der  Zeit,  beurtbeüt 
habe,  dass  daraus  dann  allmählich  die  Regel  gebildet  und  endlich  aufge- 
schrieben worden  sei.  Er  besteht  daher  mit  Grund  darauf,  dass  wir,  we- 
gen dieser  unsrer  VolkseigenlhUmlichkeit,  nicht  daran  denken  dürften,  je- 
mals für  die  Mängel  unsrer  Zustände  die  fertige  Abhülfe  nnbesehens  vom 
Auslande  zu  borgen,  namentlich  auch  nicht  in  Hinsicht  auf  Geschwornen- 
gerichte  und  „ amerikanische "  Besserungshünrer.  Diese  scheinen  ihm  (  S.  17), 
sofern  Oberhaupt  von  einem  Universalmittel  sich  reden  lasse  (ß.  24),  ein 
solches  gewissermassen  zu  enthalten,  wenn  sie  den  Sträflingen  nicht  eine 

fuhrt  b  m  'i£  irrt*"  cnnrlnrn  im  narli  ihr  Ar  r  n  n  v  i  I  /f :  tf  I  I  i  \  )  humnccAnn 
^  I  HUI  I  Kiriuo>sl^t      ^      >tMllJLril     JO    lllli.ll      ICIlvl     p^UuL"  Ii     ff  Hui  ▼  I  (III  et  1 1 1 U  l      U tMII"..  SLlI t 

Behandlung  angedeiben  lassen,  ganz  ähnlich  wie  auch  Na  «mann  (8.  49) 
zugibt:  man  könne  nicht  ohne  Grund  behaupten  dass,  wie  alle  Verbre- 
chen eine  gemeinsame  Quelle  haben,  es  auch  wirklich  ein  allgemeines  Heil- 
mittel für  dieselben  gebe,  nämlich:  die  Heue  welche  Besserung  wirkt,— 
die  zu  bewirken  Hauptaufgabe  des  Pönitentiarsystems  sei.  Der  Verf.  führt 
aus,  dass  schon  bisher  allmählich  der  Gedanke  im  Leben  sich  Bahn  ge- 
macht habe,  dass  die  Richter  selbständig  jedem  Verbrechen  seine  Strafe 
ermitteln  sollen,  und  er  verlangt  Erweiterung  dieses  Rechts  ..nach  Nass- 
gabe der  individuellen  Änderungen  einzuwirken«,  dass  sie  mitbin  nach 
der  Individualität  der  Verbrecher**  ein  Wort  bei  der  Strafart  mitsprechen, 
bei  ungewöhnlichen  Fällen  auf  Strafuli ndernug  unter  das  gesetzliche  Mass 
erkennen,  wenigstens  auf  Minderung  im  Gnadenwege  Anträge  stellen  und, 
ob  eine  That  ehrlos  mache,  ausscbliessend  entscheiden  sollen  (S.  45t.);  er 
zeigt  sehr  gut  (Sw  18;  24  etc.),  dass  eine  erschöpfende  Vorausbestira- 
raung  der  Verbrethen  sowohl  als  der  Strafen  —  da  beide  eben  nur  ganz 
individuell  bestimmbar  seien  ~ ~ ~~  gerechter  Weise  durchs  Gesetz  unniö^— 
lieh  ist,  und  die  bisherigen  allgemeinen  äusserlichea  gesetzlichen  Kate- 
gorien, unter  die  man  die  Verbrechen  zu  bringen  versucht  bat,  nur  Pro- 
krustesbetten sind,  die  gewaltsam  das  Ungleichste  gleich  machen  wollen. 
Habe  man  sich  auch  natürlich  nicht  aller  Rücksicht  auf  das  subjektive 
Verhalten  des  Thlters«  entschlagen  können  z.  B.  darauf  ob  er  mit  Ab- 
sicht, wohl  gar  mit  Vorbedacht,  gehandelt  habe  oder  nicht,  indem  sogar 


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Schriften  über  StrafrechtsDlleire  von  Naumann.  Probst  u.  Mchrini».  519 

die  Empfindung  der  Verletzten  selbst  sich  nicht  sowohl  nach  dem  äusseren 
(objektiven)  Ergebnisse  der  Thal  bestimme  ab  nach  der  Art  und  den 
Umfang  der  Absiebt  (S.  11)  — ,  so  habe  man  doch  durchweg  der 
„äusseren  Erscheinung"  der  Tbat  „dem  Objektiven",  „dem  Erfolg"  in 
ganz  ungehöriger  und  unerträglicher  Weise  überwiegenden  EiuQuss  ein- 
geräumt auf  Bestimmung  der  Stufe  der  Strafbarkeit,  statt  zu  begreifen, 
dass  dem  Erfolg  Bedeutung  nur  zukömmt  „insofern  er  im  Willen  des 
Verbrechers  begründet  war  und  diesen  Willen  ebendadureh  als  einen  ge- 
fährlicheren oder  weniger  gefährlichen  darstellt."  Nicht  einmal  versucht 
habe  man,  die  Verbrechen  nach  der  Gefährlichkeit  der  Willensrichtung 
zusammenzustellen  oder  die  entehrende  Gesinnung  —  die  man  vielmehr 
auf  gewisse  äusserliche  Kategorien  hin  z.  B.  die  des  Diebstahls  geradezu 
gesetzlich  erdichte  —  oder  überhaupt  irgendwie  die  Triebfedern  und  die 
Individualität  der  Verbrecher  naher  zu  beachten  (S:  1 9  ff.).  Der  Verf. 
verlangt  nun  nicht  etwa,  wie  Naumann,  dass  dem  subjektiven  Standpunkt 
neben  dem  objektiven  eine  „grössere",  sondern  dass  ihm  die  „ganze 
und  volle"  Bedeutung  verliehen  werde,  die  ihm  nach  der  Natur  der 
Sache  zukömmt  (S.  22).  Das  Verbreeben  besteht  ihm  hauptsächlich  in 
einer  kundgegebenen,  „der  öffentlichen  Ordnung",  „dem  geordneten  Zusam- 
menleben" ( s.  9  u.  12),  —  er  halte  dreist  bestimmter  sagen  dürfen: 
der  Rechtsordnung  —  „widerstreitenden  Richtung  des  Willens",  die  sich 
bald  mehr  bald  minder  in  Verletzung  (Missachtung  und  Sicherheitstö- 
rung) des  Einzelen  oder  der  Gesellschaft  bethätigt  hat.  Diese  Willens« 
riebtuog  ihrer  ganzen  Eigentümlichkeit  nach  wieder  aufzuheben  sowohl 
durch  „negative"  (äussere  Reize  entfernende)  als  „positive"  (eigentlich 
bildende ,  erziehende)  Einwirkung,  den  Willen  „umzustimmen",  wo  mög- 
lich von  Innen  heraus  dnreh  Besserung,  nicht  bloss  auf  dem  unsichere, 
nnr  auf  das  Thierische  im  Menschen  berechneten  Wege  der  Furcht,  er« 
scheint  hiernach  dem  Verf.  als  die  Hauptaufgabe  der  Strafe.  Er  zeigt 
naher,  dass  die  Mittel  zu  ihrer  Lösung  regelmässig  zugleich  die  besten 
sind  um  die  ebenfalls  erfoderliche  Genugthuung  und  Sicherung  im  rech- 
ten Masse  zu  gewähren,  sowie  noch  andere  Vortheile  zu  erreichen  z.  B. 
den  des  Schadenersatzes  durch  die  Arbeit  des  Verbrechers,  die  zu  seiner 
Besserung  ohnehin  unerlässlich  sei  ( s.  10 — 15).  Da  es  nun  unmöglich 
sei,  den  Zeitpunkt  mit  Sicherheit  voraus  zu  bemessen,  wo  der  Wille  sich 
der  verbrecherischen  Richtung  entledigt  haben  wird,  wo  die  Gefahr  mit- 
hin ab  beseitigt  anzunehmen  ist,  da  sich  derselbe  vielmehr  nur  aus  der 
steten  „Beobachtung"  des  der  Strafe  bereits  Unterworfenen  entnehmen  lasse 
(S.  12),  so  müsse  auch  die  Daner  der  Strafe  davon  abhängen  ob  jener 


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S&O    Schriften  über  Strafrechtspflegc  von  Naumann,  Probst  u.  Mehring. 

Zweck  erreicht  sei;  man  möge  daher  eine  gewisse  Zeit  der  Strafe  zum 
Voraus  festsetzen,  „ob  aber  Ober  diese  hinaus  das  Strafmittel  noch  ferner 
nnd  wie  lange  anzudauern  habe,  diese  Frage  wäre  der  Beurtheitung  De- 
rer anheimzugeben,  welche  über  die  erfolgte  Besserung  zu  ortheilen  im 
Stande  sind"  (S.  16).  Der  Verf.  will  überhaupt  die  Art  der  Strafmit- 
lel,  die  ganze  Behandlung  der  Verbrecher  genau  ibren  „nur  sich  selbst 
gleichen"  Verbrechen,  je  nach  der  Besonderheit  der  Antriebe  und  Um- 
stände, angepasst,  nur  nach  der  Individualität  der  Verbrecher  entschieden 
wissen,  ob  sie  nur  beaufsichtet  oder  eingesperrt  und  abgesondert  werden 
müssen  elc.  (S.  12;  15).  Der  Hauptwerth  der  Schrift  des  Verf.  liegt 
mdess  nicht  in  der  Wahrheit  der  eben  erwähnten  Sitze,  die  mit  Dem, 
was  auch  Bef.  seit  Jahren  behauptet  hat,  im  Wesentlichen  ganz  überein- 
stimmen, sondern  in  der  Art  wie  der  Verf.  sie  durch  Beispiele  aus  der 
entgegengesetzten  oder  auch  unmerklich  sich  annähernden  üebung  der  heu- 
tigen Strafrechtspflege  zu  veranschaulichen  gewusst  hat.  Letzteres  zeigt 
sich  nach  ihm  zumal  in  den  weiten  Strafrahmen  unserer  Gesetze,  in  dem 
hie  und  da  dem  Bichter  ertheilten  Hecht,  sogar  unter  das  niederste  Straf- 
mass des  Gesetzes  herabzugehen,  wozu  noch  die  immer  allgemeinere 
Ueberzeugung  komme,  dass  nur  er  über  Ehrlosigkeit  urthcilen  sollte,  nicht 
das  Gesetz.  Zur  Unterstützung  seines  Vorschlags  erinnert  der  Verf.  sehr 
gut  daran,  dass  man  ganz  ähnlich  bei  der  fast  noch  wichtigeren  Be- 
weisfrage endlich  abgekommen  sei  von  der,  früher  auch  hier  üblichen 
mechanischen  Anwendung  starrer  gesetzlichen  Kegeln  und  endlich  begrif- 
fen habe,  dass  der  Bichter,  um  saebgemöss  zu  urtheilen  über  die  That- 
frage,  in  die  ganze  Individualität  des  Falls  eingehen  müsse.  Auch  müsse 
das  Strafgesetz  immer  dem  Bichter  wenigstens  Anhaltpunkte  geben,  nnd 
zwar  ausnahmweise  auch  in  Gestalt  vou  Befehlen  z.  B.  in  Bezug  auf 
Verjährung,  auf  auswärts  oder  von  Ausländern  begangene  Verbrechen, 
durch  Aufzäblong  aller  strafbaren  Handlungen  sowie  der  statthaften  Strafmit- 
tel, unter  denen  der  Bichter  zu  wählen  habe.  —  Zu  den  offenbaren 
Missgriffen  des  Verf.  gehört,  dass  er  zu  diesen  statthaften  Strafmitteln 
noch  Ehrloserklurung ,  Einsperrung  ohne  Arbeit,  Deportation,  ja  sogar 
Galeerensklaverei  und  Berg  werkarbeit  zahlt  und  es  beklagt,  dass  unsere 
Kleinstaaterei  die  letztgenannten  Mittel  unmöglich  mache  (S.  30).  Ebenso 
irrig  ist  seine  Ansicht,  dass  es,  auch  in  Besserungsanstalten  nach  fila- 
d  elf is ehern  Vorbild,  nicht  anders  möglich  sei  als  die  Verbrecher  aus 
besseren  und  aus  niedrigen  Beweggründen  der  „gleichen  Kuru  zu  unter- 
werfen; nur  freilich  darf  nicht  der  ziemlich  häufige  Fehler  begangen  wer- 
den, den  wir  in  einem  Aufsatz  im  neuen  Aren,  des  Krim,  von  1850. 


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Schriften  Ober  Strafrechtspflege  von  Naumann,  Probst  u.  Mehring.  521 


3.  Stück  („zur  Verständigung  über  das  Verhältnis*  der  Einzelhaft  zur  Slraf- 
gesetzgebung«)  gertigt  haben,  das*  man  in  der  blossen  Eintelhaft 
als  solcher  das  Heil  sucht.  Endlich  müssen  wir  die  Voraussetzung, 
dass  es  Verbrecher  gebe,  wo  man  die  Hoffnung,  sie  zu  bessern,  aufge- 
ben müsse,  sammt  der  Folgerung,  dass  man  sie  danach  behandeln  dürfe, 
mit  Mehring  (S.  43)  unbedingt  verwerfen;  in  dem  Ausdruck  aber: 
dass  die  Strafe  den  Verbrecher  „als  Uebel  belasten"  müsse  (S.  16)  und 
ähnlichen  Aeusserungen  sehen  wir  noch  einen  Rest  von  Befangenheit  in 
der  alten  Denkweise,  über  die  der  Verf.  sich  doch  im  Uebrigen  ganz  er- 
hoben hat.  —  Bedingend  für  die  Ausführung  des  Vorschlags,  die  Straf- 
bestimmung den  Richtern  zu  überlassen,  ohne  dass  Diess  bedenklich  würde, 
erscheint  dem  Verf.  eine  gute  Gerichtverfassung  und  ein  zweckmässiges 
Verfahren.  Er  glaubt  zwar,  dass  die  getrennte  Entscheidung  Uber  die 
Tbalfrage  und  die  Rechtsfrage  auch  mit  seinem  Vorschlüge  vereinbar  sei, 
hält  aber  sehr  mit  Recht  dafür,  dass  eine  solche  Trennung,  deren  scharfe 
Durchführung  ohnehin,  wie  er  kurz  und  gut  zeigt,  unmöglich  ist,  nicht 
aus  der  Natur  der  Sache  fliesse,  sondern  mehr  ein  künstliches,  formelles 
Schutzmittel  gegen  Willkür  schlechter  Richter  sei,  das  ttberdiess  das 
Dasein  bestimmter  Strafgesetzo  voraussetze,  deren  Anwendung  Rechts- 
kenntuiss  erfodere.  Er  will  nun  (S.  39  u.  42)  keineswegs  blind  skla- 
visch, nach  dem  Rath  unsrer  Anglo-  oder  Gallomanen,  eine  blosse  Nach- 
betern der  fremden  Einrichtungen  sammt  ihren  zum  Thcil  handgreiflichen 
inif]  ..unerträglichen"  Gebrechen,  sondern  hält  für  die  beste  Auskunft  die 
Zuziehung:  einiger  stündigen  Richter,  —  die  aber  nicht  gerade  die  Re- 
gierung auszuwählen  brauche,  —  um  den  Geschworenen  die  nötbige  Ge- 
setzberücksichtigung  zu  erleichtern,  zugleich  einige  Stetigkeit  der  Recht- 
sprechung zu  verbürgen  und  mit  vollem  Vertrauen  ihnen  in  der  Straf- 
bestimmung-  freie  Hand  lassen  zu  können.  Diess  komme  denn  auch  dem 
Verfahren  zu  Stalten,  in  welchem  ihm,  mit  Vermeidung  der  sachwidrigen 
und  unnatürlichen  fremdländischen  Beschränkungen  (S.  41),  eine  Wie- 
dereinsetzung in  den  vorigen  Stand  wegen  neuer  Beweismittel,  wenig- 
stens zu  Gunsten  der  Verurteilten,  nicht  aber  eine  eigentliche  Beru- 
fungsinstanz, unerlässlich  scheint.  Damit  jene  aber  möglich  sei,  müsse  man 
zu  erkennen  im  Stande  sein,  Was  neu  sei.  Weil  Diess  aber  untbunlicb 
sei  bei  bloss  mündlichem  Verfahren  und  bei  einer  Entscheidung  ohne 
Entscheidlingsgründe,  so  verlangt  er  eine  grössere  Bedeutung  für  die  Auf- 
zeichnungen eines  nicht,  wie  bisher,  parteiisch  dastehenden,  sondern  ganz 
unparteiisch  zu  stellenden  Verhörrichters,  ebenso  Aufzeichnung  der  Haupt- 
punkte (Zeugenaussagen  und  Urkunden)  bei  der  Hauptverhandlung,  end- 


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522    Schriften  über  Slrafrechtspflcsrc  von  Naumann,  Probst  u.  Mehring. 

lieh  schriftliche  Abfassung:  der  Url  heilsgrün  de;  denn  die  Ueberzeugung 
Ton  Schuld  und  Unschuld,  da«  Gesammtbild  (der  s.  g.  Totaleindruck), 
beruhe  unstreitig  auf  bestimm  teu  Gründen,  —  auf  Richtigkeit  der  ein- 
zelen  Züge  und  ihrer  Verbindung  zum  Garnen;  —  die  Darlegung  dieser 
Gründe  könne  aber  wieder  nur  an  beigezogene  Recbtsverständige  verlangt 
werden.  Dass  auch  diese  Vorschläge  des  Verf.  viel  Beacbtenswerthes 
enthalten,  so  sehr  sie  auch  gegen  den  Strich  der  jetzigen  Nachahmungs- 
wuth  sind,  unterliegt  keinem  Zweifel.  Ihre  nähere  Prüfung  liegt  dem 
Hauptzweck  dieser  Anzeige  fern  und  wir  fügen  nur  die  einzige  Bemer- 
kung bei,  dass  das  Vorverfahren  auch  in  Frankreich  und  überall  da  ganz 
unzuverlässig  und  bedeutungslos  bleiben  muss  und,  trotz  der  Aussicht  anf 
das  Öffentliche  Hauptverfahren,  aller  genügenden  Bürgschaft  gegen  Will- 
kürlicbkeiten  entbehrt,  wo  nicht  in  ähnlicher  Weise  für  Überwachung 
des  Untersuchungsrichters  und  eine  Art  von  Oeffentlichkeit  gesorgt  ist, 
wie  es  früher  bei  uns  geschah  durch  zugezogene  Schöppen. 

Wir  wenden  uns  nun  zu  der  Schrift  voo  Mehring,  unstreitig  von 
den  dreien,  deren  Besprechung  wir  uns  vorgesetzt  haben,  der  am  Tief- 
sten eingehenden,  —  einer  Untersuchung,  deren  Tüchtigkeit  sie  der  frü- 
heren Arbeit  des  Verf.  Uber  die  Staatsformen  würdig  an  die  Seite  stellt 
und  sie  vermulhlich  deren  Schicksal  tbeilen  Ittsst,  dass  sie  für  den  gros- 
sen Tross  unsrer  Buchmacher  uud  Tagelöhner  im  Felde  des  Rechts  und 
Staats  so  gut  wie  nicht  vorhanden  sein  und  entweder  schamlos  ignorirt 
oder  vornehm  belächelt  werden  wird.  In  sechs  Abschnitten  gibt  uns  der 
Verf.  seine  Betrachtungen  über  Zurechnungsfähigkeit,  Beweis,  Strafzweck, 

C(i*nfn.lnn         Cl.nfmaj.       .1nil       Cü  f  li  n  frn  iL*rc  irc  hl  m  ji  V,,«      slttn       flM.AL      mm**  liinjn.nli 

oiruiarien,  ointimass  unu  ueiuugnisssysieme.  iiur  iieu  ourcu  sie  uinuurcn 
gehenden  Gedankenfaden  und  die  Hauptsätze  wollen  wir  versuchen  dar- 
zulegen und  mit  einigen  Bemerkungen  begleiten ,  indem  wir  des  Verf/s 
Ueberzeugung  theilen,  dass  sich  —  wenigstens  auf  die  Daner  «—  die 
„peinliche  -  Rechtspflege  den  Ergebnissen  der  Selbsterkenntnis,  d.  b.  der 
psychologischen  Forschung,  nicht  entziehen  könne.  Den  Ausgangspunkt  des 
Verf.  bildet  natürlich  die  Prüfung  der  Zurechenbarkeit  (S.  2— 23), 
die  leicht  noch  schärfer  und  treffender  ausgefallen  sein  würde,  wenn  der 
Verf.  sich  vor  Allem  ganz  bestimmt  darüber  ausgesprochen  hätte,  Was 
er  unter  Zurechnung,  und  zwar  uater  rechtlicher  Zurechnung,  gedacht 
wissen  will  (in  der  Art  wie  der  Psychologe  K.  Möller),  ob  etwa  das 

»T.ll      •!  .     Ammm      I  lm„„,|     J  „,      *  ILnnnnrinn     f\Anw    oit^k     Im     Krorrofnll    ^or  IJ.noAf 

urujeii.  udss  jeiMHuu  im  Aiigcuinueu  uuci   uuvu  iui  rivgciuii  uor  musivut 

von  Recht  und  Unrecht  fähig  gewesen,  folglich  auch  für  die  Rechtsfolge 
des  Unrechts,  die  Strafe,  empfänglich  und  ihrer  bedürftig  sei.  Er  würde 
dann  wohl  auch  nicht  immer  nur  von  Zurechnung  zum  Vorsatz  gern- 


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Schriften  über  Strafrechtepflege  von  Naumann,  Probst  u.  Mehring.  523 

det  haben  (z.  B.  S.  7  u.  21),  obwohl  Dies*  der  Hanptfall  ist  und  man 
Voreatz  gewiss  nur  entweder  ganz  oder  gar  nicht  haben  kann,  dage- 
gen das  ürthcil:  ob  überhaupt  und  welcher  Unrecbtswille  Quelle  einer 
Wirkung  war  —  d.  h.  Zurechnung*-  und  Zumessungsurtbeil  aufs  Engste 
zusammenhängen  und  in  diesem  Sinn  auch  wohl  gesagt  werden  mag, 
dass  Jemanden  ein  Vergehen  mehr  oder  weniger  als  Werk  seines  Wil- 
lens zugeschrieben  oder  zugerechnet,  d.  h.  als  durch  Strafe  zu  tilgende 
Schuld  auf  die  Rechnung  geschrieben  werden  kann.  Unrecht  aufheben 
durch  das  Strafrecht  wollen  Alle,  sogt  der  Verf.,  erst  bei  der  Frage: 
wie  und  wo  das  Unrecht  zu  treffen  und  aufzuheben  sei  —  thoilen  sieb 
die  Ansichten. 

Ist  eine  Miss  et  hat  nur  als  äusserer  Vorgang,  als  Erfolg,  oder  als 
innere  Willensbewegung  aufzufassen?  Im  ersteren  Fall,  sagt  der  Verf., 
könnte  nur  von  Ersatz,  nicht  eigentlich  vou  Strafe  und  Zurechnung  die 
Rede  sein;  man  möchte  so  die  Frage  nach  dem  Innern  der  Handlung  ganz 
nmgehen,  als  ob  sie  nicht  von  dieser  Welt  wäre.  Allein  der  Erfolg,  als 
Wirkung  einer  Ursache,  sei  etwas  eben  so  wenig  Einfaches  wie  diese 
selbst,  die  man  in  ihrer  Zusammengesetztheit  mit  dem  Ausdruck  „die  Um- 
stände" zu  bezeichnen  pflegt;  oder  von  welch1  andrer  Wirkung  wäre 
wohl  der  Schutze  selbst  die  Ursache,  als  von  dem  Druck  auf  den  Drü- 
cker? Wollte  man  also  nicht  nach  dem  blossen  Erfolg  als  Mörder  anch 
Dan  strafen,  der  eiuen  Menschen  erschoss,  den  er  für  einen  Rehbock 
hielt,  wenn  auch  nicht  Jenen,  der  statt  des  gräflichen  Rehbocks  den  eig- 
nen Esel  tödtett,  so  könnte  man  ihm  doch  höchstens  soviel  zumessen 
wie  er  als  Folge  seiner  That  erkannt  hat,  da  nur  soviel  für  ihn  nicht 
ein  Zufälliges  wäre,  also  in  Hinsicht  der  mitwirkenden  Umstände  nur  gleich- 
sam die  intellektuelle  Miturheberschaft.  Das  GegenlhcU  wäre  ein  Ver- 
fallen in  reinen  heidnischen  Fatalismus,  gleich  Hegel,  indem  er  das  Un- 
glück, dem  man  sich  z.B.  durch  einen  Stein wurf  aussetzt,  für  das  Werk 
des  eignen  Willens  erkläre  (S.  5).  Diese  Ungereimtheit  führe  hin  auf 
die  rechtliche  Notwendigkeit  der  Würdigung  des  Innern,  der  sub- 
jektiven Seite  der  Thal,  da  nur  hiernach  diese  Ausdruck  eines  Ge- 
dankens sei,  Mord,  Betrug  etc.  genannt  werde,  und  uls  bestimmte  einzele 
Handlung,  als  Erlolg  des  Wirkens  eines  bestimmten  Einzelen,  sich  ab- 
gramen  lasse.  Zwar  sei  nicht  allein  auf  den  Vorsatz  (unrechtlichen 
Willen  Ref.)  zu  sehen,  sondern  zugleich  auf  den  Erfolg,  aber  nur  so, 
dass  diesem,  der  oft  durch  rein  zufällige  Umstände  gehemmt  oder  ver- 
stärkt werdo,  nicht  wieder  ein  Uebergewicht  zugestanden  werde.  Soll 
hiernach,  wenn  wir  recht  verstehen,  nicht  etwa  der  Erfolg  rein  öosser- 


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524     Schriften  Über  Strafrechtspflege  von  Naumann,  Probst  u.  Mehring. 

lieh  all  ein  selbständig  neben  dem  Willen  zu  berücksichtigender  Straf- 
bestimmgrund aufgefasst  werden,  so  sind  wir  damit  völlig  einverstanden. 
Ob  Etwas  und  Was  an  einem  Erfolg  dem  Vorsat»  (dem  Willen  Ref.)  zu- 
zurechnen sei,  sagt  der  Verf.  weiter,  kann  uns  ganz  deutlich  nur  das 
Geständnis»  erkennen  lassen,  das  aliein  ..das  Geheimniss  der  Persönlich- 
keit'*4 aufzuschiiessen  vermag,  sofern  nämlich,  müssen  wir  beifügen,  der 
Verbrecher  nicht  sich  selbst  ein  Rathsei  ist.  Unsere  Gesetzbücher  gaben 
zwar  zu,  dass  von  einer  Handlung  da  nicht  die  Rede  sein  könne,  wo> 
der  Vcrstandesgcbrauch  fehlt,  aber  sie  sähen  so  wenig  wie  Feuerbach 
ein,  dass  auch  trotz  vorhandenen  Verstandesgebrauchs,  ja  trotz  des  feinsten 
Schlussvermögens  und  der  Fähigkeit  sogar  zur  Durchführung  wissenschaft- 
licher Untersuchungen,  entschiedene  Geisteskrankheit  bestehen  könne.  Oft 
bilde  ganz  oder  theilweise  eine  Wahnvorstellung,  z.  B.  eine  Sinnestäu- 
schung, den  Untersalz  zum  Willcnsrhluss,  und  wo  die  Gränze  jener  und 
der  wahren  Vorstellung,  mithin  der  Zurechnung  sei,  sei  schwer  zu  sagen. 
Der  Verf.  führt  Dies»  scharfsinnig  aus,  ebenso  dass  oft  die  Natnr  der 
Handlung,  z.  B.  als  einer  brandstiftenden,  misskannt  werde,  daher,  wenig- 
stens rechtzeitig,  ihre  Unterordnung  unter  das  Gesetz  ausbleibe,  ebenso 
oft  aber  auch  der  Obersalz,  unter  dessen  Regel  sie  zu  ordnen  sei  (S.  10  f.), 
zumal  bei  der  jetzt  alltäglichen  Aufblähung  des  Ich  zum  Weltgesetz.  — 
Nicht  selten  tyrannisire  auch  Den ,  der  wähne  durch  sich  selbst  bestimmt 
zu  werden,  unbewusst  irgend  ein  herrschender  (i.  B.  ein  kommunistische^ 
Gedanke.  Ebenso  oft  komme  natürlich  das  blosse  strafgesetzliche  Verbot 
su  kurz  gegen  die  positiveu,  Fleisch  und  Blut  habenden  Beweggründe, 
die  zum  Verbrechen  treiben,  um  so  mehr  als  immer  nur  eine  Vorstel- 
lung in  voller  Klarheit  und  Stärke  bestehe,  während  aie  andern  im  Hin- 
tergründe oder  im  Schlummer  siod,  und  jene  doch  nicht  wohl  immer  die 
sittliche  Idee  sein  könne,  vollends  in  einer  Zeit  der  verfeinertesten  Sinn- 
lichkeit und  der  Abtödtung  alles  idealen  Feuers. 

Der  Verfasser  will  nicht  leugnen,  dass  im  Allgemeinen  irgend  eine 
Schuld  jederzeit  allen  (geistigen  lief. )  Fehl-Bildungen  und  Richtungen  zum 
Grunde  liegen  mag,  aber  —  wieviel,  fragt  er,  kömmt  davon  auf  den 
einzelen  Menschen  und  gar  auf  dessen  eiuzele  That?  —  und  Wer  wollte, 
auch  wenn  der  ungeordnete  Geisteszustand  verschuldet  ist,  immer  die 
daraus  entsprungene  Handlung  zurechnen  oder  etwa  dai  in  verschuldeter 
Trunkenheit  verübte  Verbrechen?  Dieser  letztere  Fall,  in  welchem,  we- 
nigstens nach  den  auf  dem  Papier  herrschenden  Lehren,  allerdings  zuge- 
rechnet werden  soll,  scheint  jedoch  dem  Ref.  sehr  wesentlich  von  dem 
enteren  verschieden;  auch  glaubt  er  nicht,  wie  der  Verf.  (S.  18),  an  die 


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Schriften  über  Strafrechlspflege  von  Naumann,  Probat  u.  Mehring.  525 

mania  sine  delirio,  er  sieht  vielmehr  in  diesem  Unding  der  Aufhebung 
der  Selbstbestimmung,  ungeachtet  vermeinten  Daseins  des  vollen  Vernunft- 
gebraochs,  nur  eine  durch  die  Kürze  des  Anfalls  beförderte  Täuschung. 
Dass  aber  bei  Solchen,  die  an  fixen  Ideen  und  an  Irrtrieben  leiden,  vom 
Ziehen  einer  sichern  Grunze  zwischen  Denen,  die  man  einsperrt  oder  die 
man  in  Freiheit  lässt,  welchen  man  zurechnet  oder  nicht,  gar  nicht  die 
Rede  sein  kann,  Diess  muss  man  dem  Verf.  zugeben;  ebenso,  unsers  Br- 
echtens, wenn  man  ihm  ins  Eiozele  seiner  Ausführung  gefolgt  ist,  dass 
die  Zurechnungsfrage,  wie  die  heutige  Strafrechtspflege  sie  aufwirft,  eine 
ganz  unlösbare  Aufgabe  sei  (ß,  20).  Ref.  hat  Diess  bereit*  in  seinen 
„Grundzügen  des  Naturrechts"  §.  50  zugegeben.  Der  Veif.  erinnert  da- 
bei passend  an  FeuerbacVs  richtige  Ahnung:  dass  im  Augenblick  der 
Ausführung  jeder  Ungeheuern  That  eine  Art  von  delirium  oder  Abwesen- 
heit da  zu  sein  scheine,  und  an  die  So kra tische  Ansicht:  das  Böse 
geschehe  nie  freiwillig ,  sondern  nur  weil  man  das  Gute  nicht  kenne 
(S.  22).  Wir  bedauern,  dass  der  Verfasser  diese  tiefsinnige  Ansicht, 
die  er  sich  angeeignet  hat  durch  den  Satz  (S.  15):  „der  Handelnde 
will  immer  Das,  was  ihm  gut  scheint  im  Augenblick  der  Handlung 
und  kann  anch  nichts  Anderes  wollen u,  und  deren  Unvollendetes  er 
doch  einräumt ,  nicht  näher  zu  begründen  und  zu  vollenden  versucht 
hat  —  Die  Aufgabe  des  Beweises  (Kapitel  II.)  setzt  er  richtig 
darin,  die  Vordersätze  zu  dem  Willenschluss  des  Verbrechers  zu  lin- 
den, Was  vollständig  nicht  wohl  anders  als  durch  freiwilliges  Geständ- 
niss  möglich  sei,  da  Zeugen  und  Urkunden  höchstens  die  äussere  Ver- 
ursachung ergeben  könnten,  nicht  den  Vorsatz,  und  da  anch  der  Ver- 
such, auf  eine  meist  sehr  mechanische  Weise  aus  einer  Vielheit  von  An- 
zeichen die  Einheit  der  That  abzuleiten,  wodurch  man  die  widersinnige 
Folter  zu  ersetzen  gesucht  habe,  schwerlich  grosses  Vertrauen  verdiene. 
Nur  dann  sei  Diess  anders,  wenn,  wie  es  allerdings  möglich  sei,  ein  sym- 
pathetisches Sichversetzen  in  des  Verbrechers  Denk-  und  Gefühlweise  hin- 
zukomme und  gleichsam  die  Nachbildung  seines  Verbrechens  auf  analo- 
gisebem  Wege  unterstütze.  Am  Ersten  werde  Das  aber  bei  näherer  Be- 
kanntschaft mit  dem  Thäler,  wenigstens  durch  die  Gemeinsamkeit  der  Le- 
bensweise (Pares),  gelingen.  Darin  allein  liego  auch  die  rechte  Bedeu- 
tung des  Urtheils  durch  Geschworene,  und  dieses,  was  man  mora- 
lische, besser:  analogische  Ueberzougung  nenne,  sei  darum,  weil  es  nicht 
auf  zwei  einfachen  Vordersätzen  ruhe,  sondern  auf  der  ganzen  Lebens- 
einheit, zwar  nicht  in  e  i  n  logisches  Urtheil  zu  fassen,  allein  keineswegs 
unklarer  als  ein  solches  (S.  26).    Jedenfalls  bleibe  es  aber  gefährlich, 


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526     Schriften  ober  StrafrechUpflege  von  Naumann,  Probst  n.  Mehring. 


eine  Handlung  auch  dann  zum  Vorsatz  vollständig  „  zuzumessen  u ,  wenn 
sie  nach  dem  ganzen  bisherigen  Leben  nicht  begreiflich  sei.  Im  3.  Ab- 
schnitt: „Der  Straf  zweck44  (S.  27—40),  Virft  der  Verf.,  io  Folge 
der  UDsicbcrbeii  der  Zurechnung  und  des  Beweises,  die  Frage  auf:  soll 
etwa  die  Strafe  ganz  aufboren?  und  aatwortel  sehr  richtig:  nur  in  der 
bisherigen  Art,  wobei  man  auf  Kosten  der  Wahrheit  und  des  fiechts 
strafte ;  sie  soll  gründlich  umgewandelt  werden.  Er  erinnert  mm 
zunächst  daran,  dass  in  dem  nur  formell  ausgedrückten  Endzweck: 
der  Herstellung  der  Gerechtigkeit  —  alle  Straftheorien  übereinstkunleo 
und  erst  bei  der  unerllisslichcn  weiteren  Frage  nach  den  Mitteln  sich 
trennten;  dass  mau,  weil  Ersatz  bei  persönlichen  Beschädigungen  un- 
denkbar sei,  auf  eine  Ausgleichung  durch  talio  und,  weil  auch  diese  un- 
tunlich ,  auf  eine  moralische  Ausgleichung  durch  den  stellvertretenden, 
aber  ganz  unsichcrn  Begriff  des  Werths  verfallen  sei  und  endlich  in  dem 
Traum  einer  Vergeltung  sich  verloren  habe,  die  Nichts  als  das  vorchrist- 
liche Verhängnis*  sei.  Er  sieht  bei  allen  Theorien  dieser  Art  Nichts  wie 
Verneinungen,  wobei  auch  die  peinliche  Rechtspflege  stehen  geblieben  sei, 
statt  sich  um  ein  bejahiges  Ergcbniss  zu  bemühen.  Ein  solches  aber 
lasse  sich  nur  dadurch  erreichen,  dass  die  im  Verbrecher,  und  durch  ihn 
in  der  Gemeinschaft,  verdunkelte  Idee  der  Gerechtigkeit  wiederhergestellt 
werde.  Diess  aber  sei  nicht  möglich  dnreh  einen  bloss  äusseren  Vor- 
gang, sondern  nur  dadurch,  dass  man  das  Verbrechen  ab  Geist  es  er- 
eigniss  behandle,  nämlich  es  in  dem  Verbrecher,  der  gleich  als  Kranker 
anzusehen  sei,  vernichte,  d.  h.  ihn  salbst  zur  Anerkennung  des  verletzten 
Rechts  zurückführe,  jedenfalls  sich  hierum  bemühe  (da  der  Erfolg  immer 
unsicher  bleibe),  so  aber  die  innere  Notwendigkeit  der  Rechtsidee  dar- 
stelle nnd  dem  rechüichen  GemeinbewussUein  die  verlorene  Kraft  wie- 
dergebe (S.  36).  Das  Erste  müsse  freilich  bleiben,  dass  mau  den  wi- 
derrechtlichen Wülen  in  seinen  ferneren  Aeusscrungen  hemmt,  also  dss 
Ziehen  des  Schlusses  aus  den  noch  vorhandenen  falschen  Vordersätzen 
verhütet.  Zu  dieser  blossen  Verneinung  des  Unrechts  müsse  eher,  als 
Zweites,  wenn  die  strafende  Gerechtigkeit  nicht  eine  bloss  zerstörende, 
sondern  erhaltende  Macht  im  Staat  sein  solle,  die  Umwandlung  der  fal- 
schen Vordersätze  selbst  hinzukommen,  wobei  man  sich,  um  gründlich 
zu  heilen,  nicht  bloss  an  die  Symptome  halten,,  sondern  auf  den  Sitz  der 
Krankheit  eingehen  müsse  Ob  dieser  Sitz  nun  hier  oder  dort  sei  viel- 
leicht  in  Monomanie,  —  diese  Frage  gehöre  nicht  mehr  zur  rechtli- 
chen Beurtheilung ;  sie  könne  das  rechtliche  Verfahren  keinen  Augenblick 
auf  halten  und  die  Antwort  darauf  werde  sich,  früher  oder  später,  sicher- 


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Schriften  über  Strafrechtspflege  Ton  Naumann,  Probgt  u.  Mehring.  527 

lieh  finden  und  das  steto  Augenmerk  Dessen  bleiben  müssen,  dem  der 
Vollzug  de?  Strafe  obliegt.  Es  müsse  zur  Begründung  eines  Strafverfah- 
rens (d.  h.  einer  Bestrafung  Ref.)  genügen,  wenn  man  wisse,  dass  man 
mit  einer  Handlung  zu  thun  hat,  d.  b.  mit  einem  Breigniss,  das  ir- 
gendwie im  Willen  (wenn  auch  z.B.  in  „morbid  vanily)  seinen  Grund 
hat.  Dann  (d.  h.  also  doch  wohl,  wenn  man  auf  Anderes  damit  abzielt, 
als  auf  eben  diese  Gewissheit,  Ref.)  brauche  man  die  bedenkliche,  unbeant- 
wortbare  Frage  nach  der  Zurechenbarkeit  nicht  einmal  aufzuwerfen.  Die 
notwendige  Polgerung,  dass  künftig.  Zuchthaus  und  Irrenhaus  die  beiden 
Flügel  eines  Zwillingshauses  sein  müssen,  die  eine  Verbindungsthür  gar 
nicht  entbehren  können,  h&t  der  Verf.,  vermuthlicu  weil  sie  sich  von  selbst 
zieht,  zu  ziehen  unterlassen.  Er  beklagt  endlich,  dass  Göscbel,  anstatt 
Heg eT s  unhaltbare  Vergeltungslheorie  aufzugeben,  soviel  Mühe  ver- 
schwendet habe  um  ihr  aufzuhelfen.  —  In  dem  folgenden  Abschnitt  IV. 
(S.  40 — 57)  Über  die  Strafarten  wird  nun,  zufolge  des  bisher  Aus- 
geführten, Ausmerzung  aller  solchen  Strafen  verlangt,  die  einen  Geist  der 
Rache  athmen,  irreparabel  sind,  den  Verbrecher  als  Mittel  bebandeln,  die 
Rechtsidee  niederdrücken  und  andere  als  rechtliche  Motive  nähren.  Der 
Verf.  bringt  nun  die  üblichen  Strafen  unter  diese  Kategorien,  die  freilich 
alle  mehr  oder  minder  deutlich  zusammenfallen.  Er  beginnt  mit  der  To- 
desstrafe, in  der  er  eine  GewaltUbung  sieht,  die  weit  über  das  Ziel 
der  Hemmung  des  widerrechtlichen  Willens  hinausgeht,  nur  zerstört,  statt 
wieder  aufzubauen,  wohl  gar  noch  grausam  quält,  wie  es  auch  die  Spiess- 
rnthe,  Katze  etc.  thue.  Ueberdiess  dürfe  Niemand  als  durchaus  unheilbar 
behandelt  werden  und,  je  weniger  ein  bloss  formales  Recht  hier  genügen 
könne,  desto  weniger  dürfe  man  sich  die  Möglichkeit  fortgehender  Be- 
richtigung des  eignen  Unheils  abschneiden,  wie  Dieses  auch  beim  Brand- 
marken etc.  geschehe.  Zwar  will  der  Verf.  keinen  heimlichen  Strafvoll- 
zug, sondern  alle  nöthigo  Ueberwachung  dabei,  aber  keinerlei  öffentliches 
Schauspiel  zur  Abschreckung,  wobei,  wie  er  naher  zeigt  (S.  43  f.),  der 
Zweck  immer  verfehlt  werde.  Er  will  vielmehr  auch  hier  bei  der  Rechts- 
gemeinschaft, wie  beim  Einzelen,  verschämte  Verhüllung  des  Unschönen, 
der  Gebrechen.  Sehr  gut  wird  (S.  44  —  46)  der  Begriff  der  Ebre 
und  die  Verwerflichkeit  der  eigentlichen  Ehrenstrafen  entwickelt,  durch 
welche  man  nicht  etwa  bloss  „die  äussere  Bewegung  des  Lebens  be- 
schränke, um  dadurch  die  innere  zu  verstärken  und  zu  bestimmen,  dasi 
sie  eine  andere,  mit  dem  Besteben  Aller  verträglichere  Richtung  einschlage", 
—  womit  aHein  allerdings,  nach  des  Ref.  Ansicht,  die  vernünftige  Auf- 
gabe alles  Strafen»  gelöst  wäre.  Die  Verkehrtheit  der  Leib e»s trafen 


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528     Schriften  über  Strafrechtspflege  von  Naumann,  Probat  u.  Mehring. 

liege  darin,  dass  sie  sich  bloss  an  die  sinnliche  Seite  des  Menschen  hal- 
len, die  sinnlichen  Triebfedern  in  ihrem  Werth  erhöhen  wollen  (während 
JSparta's  Erziehung  sie  wenigstens  herabzustimmen  suchte),  so  aber  zu- 
gleich entehrend  sind.  Wer  weiss,  welchen  Antheil  die  Abschaffung  der 
Prügel  gehabt  bat  an  den  Erfolgen  der  französischen  Heere,  gegenüber 
den  „ verprügelten  Gamaschenmaschinen44 !  —  ruft  der  Verf.  aus  und  setzt 
zugleich  das  platte  Gerede  ins  rechte  Licht,  dass  man,  weil  der  Verbre- 
cher selbst  seine  Ehre  Nichts  geachtet  habe,  sich  nun  herablassen  dürfe, 
es  nicht  besser  zu  machen  wie  er  und  es  auch  nicht  so  genau  mit  sei- 
ner Ehre  zu  nehmen,  anstatt,  gleich  dem  vernünftigen  Arzt,  die  krank- 
haft herabgeslimmte  Lebenstbötigkeit  wieder  zu  heben.  Ebenso  verfehlt 
ahme  man  dem  Mörder  nach  durch  die  Todesstrafe  (S.  50),  wie 
Hegel  es  doch  irrig  fodere,  und  deren  vermeinte  Rechtsbegründuag 

überhaupt  mit  der  Vergeltungs  und,  hätte  er  beifügen  sollen,  der 

Abschreckungstheorie  stehe  und  falle.    In  seiner  weiteren  Bemerkung: 
dass  durch  einen  Anspruch  auf  dieses  Leben  das  Recht,  was  selbst  nur 
eine  Seite  dieses  Lebens  ausmacht,  sein  Gebiet  weit  übersprungen  habe  — 
begegnet  der  Verf.  ganz  Dem  was  Ref.  S.  116  u.  72  seiner  „Grundzüge 
d.  NaturR.44  ausgeführt  hat.  Nur  Nothwehr,  meint  der  Yerf.  mit  Fichte, 
die  aber  wenigstens  eine  rechtliche  Schranke  habe,  könnte  Tödtung  des 
Verbrechers  rechtfertigen,  und  doch  —  wie  könne  der  Staat  dem  Ein- 
zelen  gegenüber  je  in  diesen  Fall  kommen?  Die  S.  51  aufgeführten  Zwei- 
fel an  der  Statthaftigkeit  der  Frage:  ob  jetzt  schon  der  Zeitpunkt  ge- 
kommen, die  Todesstrafe  abzuschaffen,  wenn  auch  fest  stehe,  dass  sie 
widerrechtlich  sei  —  scheiueu  uns  nicht  stichhaltig.    Allerdings  kann  es 
zeitlich  und  örtlich  unüberwindliche  Hindernisse  der  reinen  und  ganzen 
Verwirklichung  des  Ideegemässen  geben,  die  darum  doch  ewig  und  all- 
gemein das  Ziel  bleiben  muss.    Ob  solche  Hindernisse  da  sind  und  wie 
dadurch,  nicht  unser  Verzichten  auf  das  Ideal,  sondern  unser  Zurückblei- 
ben hinter  demselben  zu  entschuldigen  ist,  wie  weit  wir  uns  ihm  nur  na- 
hern können  und  darum  auch  sollen,  Diess  bat  die  Strafpolitik  in  Bezug 
auf  das  Strafrecht  zu  bestimmen.  Nur  dann  würde  ein  unbegreiflicher  Ver- 
zieht auf  die  Rechtsidee,  eine  grundverkehrte  Auffassung  des  Verhältnisses 
des  Idealen  zum  Realen  vorliegen,  wenn  man,  wie  weiland  Zöpfl,  die  To- 
desstrafe für  im  Recht  begründet  halt  und  dennoch  aus  blossen  Zweck- 
mässigkeitsgründen sich  über  sie  hinaussetzen  zu  dürfen  glaubt.  Nach  Al- 
lem, wird  S.  53  mit  Recht  gesagt,  können  nur  solche  Strafen  übrig  blei- 
ben, wodurch  die  Rechtsgemeinschaft  dem  Verbrecher  zu  Hülfe  kömmt, 

•einer  Verouuft  wieder  zur  Herrschaft  hilft 

(Schlms  folgt.) 


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1fr.  34.  HEIDELBERGER  1851. 

JAHRBOGHER  DER  LITERATUR 


•Schriften  über  Straf rechtspflege  von  Naumann, 

Probet  und  Mehring. 

(Schluss.) 

Solche  Hülfmillel  scheinen  nun  dem  Verf.  weil  weniger  in  Zufü- 
£i»ng  positiver  Uebel  zu  bestehen,  als  in  Entziehung  mancher  Woblthaten, 
deren  Genass  ebendamit  als  bedingt  durch  die  Achtung  des  Rechts  and 
der  Rechtsgemeinschaft  erscheint  und  durch  die  auferlegte  Entbehrung  im 
Werth  steigen  muss.    Beispielshalber  nennt  er:  1)  Entziehung  bürgerli- 
cher Ehren-  und  Dienstrechte,  —  die  Eindruck  mache  kraft  ihrer  inneren 
Notwendigkeit  zufolge  des  Verbrechens  und  aufmerksam  mache  auf  die 
Uoverletzlichkeit  einer  höheren  Ordnung-.    2)  Entziehung  der  Bequemlich- 
keiten des  Lebens,  Kostscbmälerung  n.  dgl.  —  Was,'  als  herabstimmend 
für  die  üeberfülle  der  Sinnlichkeit,  ihm  wohl  empfehlenswert  scheint,  da- 
gegen er  es  empörend  findet  (gleich  Moos  er,  die  Strafanstalt  zu  St. 
Jakob  Ref.),  und  mit  allem  Grund,  wenn  auch  in  der  Strafanstalt  den 
Reicheren  die  Fortsetzung  der  Aristokratie  des  sinnlichen  Genusses  ge- 
stattet wird.  3)  Entziehung  der  Freiheit,  als  die  alle  andern  begleitende 
Haoptstrafart,  die  nach  beiden  Seiten  dan  Zweck  erfülle:  zugleich  den 
Ausbruch  und  die  zerstreuende  Richtung  des  Willens  nach  Aussen  hemme, 
schon  dadurch  aber  aufs  Innere  hinführe  (zur  Einkehr  in  sich  selbst),  zu- 
mal wenn  sie  durch  passende  Behandlung  unterstützt  werde.   4)  Depor- 
tation endlich  Ik.U  der  Verf.  für  eine  Straft,  die  kein  Staat  entbehren 
könne,  die  er  freilich  mit  der  Verbanuung  zusammenwirft.    Nur  von  die- 
ser ist  aber  wahr,  Was  er  von  jener  sagt  (S.  55  f.):  „  dass  sie  gegen 
politische  Verbrecher  das  einzig  angemessene  und  rechtliche  Verfahren  sei, 
eine  Art  homöopathischer  Kur  enthalte  für  Despoten  mit  und  ohne  Hosen", 
—  eine  Einsicht,  der  man  sich  bereits  genähert  habe  durch  die  solchen 
Verbrechern  gewährte  Freistatt;  dagegen  den  Vortheil  auch  die  eigent- 
liche Verbringung  hat,  dass  sie  Gelegenheit  gibt,  anderswo  gleichsam  „von 
Vorn  anzufangen"  und  den  neuen  Menschen  anzuziehen,  ungefährdet  durch 
die  Hauptklippe  der  allen  Verhältnisse  und  Umgebungen.    Dass  das  in 
den  Parlamentsverhandlungcn  gegen  sie  Vorgebrachte  keinen  namhaften 
Grund  gegen  sie  selbst,  wohl  aber  gegen  ihre  bisherige  englische  (und 
nicht  bloss  englische  Ref.)  Einrichtung  ergebe,  mag  wahr  »ein;  bei  den 
XLIY.  Jahrg.  4.  Doppelheft.  34 


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530     Schriften  über  StrafrechUpflcge  tot  Naumann,  Probst  u.  Mehring. 

Lobsprücben  aber,  die  der  Deportation  nach  Sibirieo  er ih eilt  werden,  sind 
dem  Hof.  noch  starke  Bedenken  geblieben.  Im  5.  Abachnitt  über  das 
Strafmass  (S.  £7  ff.)  wird»  als  Vorbeding  vernünftiger  Bestimmung 
desselben,  die  Zurückführuog  der  Strafarten  auf  wenige,  obenan  die  Frei- 
heitslrafe  verlangt,  in  der  K.  S.  ZachariÜ  mit  Recht  die  nölhige  Grund- 
einheit siebt.  Da  indess  die  Hemmung  des  widerrechtlichen  Willens  über- 
all die  gleiche  sein  müsse,  V  o  r  a  us  bestiramung  des  xur  Umwandlung  des- 
selben nüthigeu  Strafmasses  aber  ohne  die  reine  Willkür  der  Zah- 
lenansatze  unmöglich  scheine,  so  wollten  Manche,  wie  C.  v.  Lich- 
tenberg, unter  gewissen  Voraussetzungen  Letalere  ganz  umgehen;  al- 
lein, abgesehen  davon  dass,  wie  früher  sich  gezeigt  hübe,  die  Vergel- 
tungslheorie  an  dieser  Schwierigkeit  sogar  gauz  scheitere,  sei  Dies*  ohne 
Grund;  denn,  wenn  ändernder  widerrechtliche  Wille  erkennbare  Grade 
habe,  so  bedürfe  es  auch  bald  stärkerer,  bald  schwächerer  Gegenwirkung 
um  ibu  aufzuheben,  —  Dieses  z.  B.  bei  kleiner  Eigenthumsverunlreunug, 
Jenes  bei  Angriffen  auf  Person  und  Leben,  bei  Rückfall  und  Ucbertrelun- 
gen  in  verschieducr  Richtung  troU  vielfacher  Abhaltungen  vom  Bösen. 
Diese  Aufhebung  erfolge  nun  jedenfalls  in  bestimmter  Zeit,  und  wenig- 
stens zur  annähernden  Berechnung  dieser  Zeit  zum  Voraus  liege  ein  An- 
walt in  dem  Unistande,  ob  nur  eine  vereinzelte  Vorstellung,  ganz  oder 
theilweise,  oder  eine  mit  andern  verknüpfte  uud  vielleicht  zur  Gewohn- 
heit gewordene  zur  Tbat  antrieb.  Nach  dem  Unterschied  der  Verbrechen 
und  deren  grösserem  oder  geringerem  Zusammenhang  mit  der  gauzen  Le- 
benseatwickelnng  des  Thäters  lasse  sich  also  eine  Regel  für  das  Straf- 
mass aufstellen.  Doch  bleibe  ein  sehr  weiter  gesetzlicher  Strafrahmen  un- 
entbehrlich in  Rücksicht  der  grossen  Verschiedenheit  der  Einzelen  und  der 
möglichen  (aber  höchst  seltnen  und  unwahrscheinlichen,  Ref.}  plötzlichen 
Umkehr  zum  Guten,  ausserdem  aber,  zur  Sicherung  gegen  Verfehlung  des 
fechten  Masses  im  cinzeleu  Fall,  eine  Nachhülfe  in  Gestalt  eines  zweiten, 
▼on  Lichtenberg  s.  g.  Rehabilitationscrkennlnisses.  Der  letzte  sechste 
Abschnitt  (S.  63 — 80}  bespricht  die  Gefangnisssystemc  sehr  ver- 
ständig und  gibt  damit  eineu  sehr  beaehtenswerlhen  Beitrag  zur  Lösung 
dieser  Tagesfrage,  nachdem  er  der  Leichtfertigkeit,  mit  der  man  hier,  im 
Gebiet  des  Geistlebens,  sich  in  vorschnelle  Experimente  gestürzt  habe,  die 
verdiente  Rüge  hat  zukommen  lassen.  Der  Verf.  erkennt  darin,  dass  man 
auf  die  Einzel-  oder  Trennungshaft  („Isolirung" ,  wie  er  sagt,  wird  mit 
gänzlicher  Vereinsamung  gar  zu  leicht  verwechselt}  jetzt  im  Leben  Be- 
dacht nehme,  mit  Grund  ein  bedeutendes  Zugesländniss  an  die  vernunft- 
gemäße Umgestaltung  der  Bestrafung}  er  prüft  die  Wirkung  der  blossen 


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Schriften  über  StrafrcchUpflegc  von  Naumann,  Probst  u.  Mehring.  $3t 


Vereinzelung  als  solcher  mit  gewohnter  Schärfe  (S.  60—74)  und  stellt 
bieruach  die  Bedingungen  auf,  unter  denen  allein  zu  erwarten  sei,  dass 
sie  nicht  geradezu  verderblich,  sondern  wohlthätig  wirken  werde  (S.  74 
ond  79),  nämlich:  nicht  zu  lange,  geschweige  vieljährige  Dauer,  massi- 
ger Umfang  der  Strafanstalten,  damit  es  möglich  bleibe  die  Gefange- 
nen bloss  von  schlechtem  Umgang  nuszuscbliessen,  dagegen  ihnen,  je  nach 
ihrer  Eigentümlichkeit,  guten  Umgang  in  angemessener  Weise  zu  Theil 
werden  zu  lassen,  mit  Hülfe  eines  Bcsseruogsvereins,  endlich  vorsichtiger, 
allmählicher  Uebergang  zur  Freiheit,  ahnlich  wie  man  Wiedergenesende 
nicht  plötzlich  der  freien  Luft  aussetzen  dürfe,  wenn  man  nicht  Rückfalle 
wolle.  Die  Schwierigkeit  liege  auch  hier  wieder  pur  in  dem  Wie  die- 
ses Uebergangs,  wobei  der  Verf.,  gleich  AI  ooser,  nicht  nur  das  erfah- 
rungsroassig  elende  Mittel  der  Polizeiaufsicht  verwirft,  sondern  auch  vor- 
schlägt, die  Schutzvereinc  für  die  Entlassenen  in  dieser  Beziehung  mit 
einer  Art  von  (vormundschafllicher  Ref.)  Gewalt  zu  bekleiden,  um  gleich 
als  Geschworne  über  die  stufenweise  Wiedcrbcfiihigung  zur  vollen  Selb- 
ständigkeit zu  entscheiden  (S.  75  f.).  Die  Gründe  des  Verf/s  gegen  die 
Gemeinschaft  —  die  nicht  durch  eine  natürliche,  sondern  eine  unnatür- 
liche Mauer  (des  Schweigens)  den  Wcchselverkehr  abschneiden  wolle  — 
sind  die  bekannten  unwiderlegbaren,  wegen  deren  diese  Haftart  einen  Ue- 
bungsplalz  für  neue  Ungerechtigkeit  abgebe,  statt  die  alte  zu  heilen.  Er 
gibt  sich  eudlich  die  überttttssige  Mühe,  den  ebenso  widersinnigen  als  bar- 
barischen Einfall  der  „  Isqliruug  der  Sinne'1,  durch  den  Froriep  Allen 
uberboten  bat,  was  wir  von  Aerzten  in  dieser  Art  erlebt  haben,  alles 
Ernstes  zu  widerlegen  (S.  7  7  IT.).  Zum  Scbluss  wollen  wir  nur  andeu- 
ten, dass  «uch  der  Verf.  in  der  Einzelhaft  ein  sicheres  Mittel  sieht,  die 
bisher  iu  der  Aussenwelt  gleichsam  vorloreocn  flanschen  vou  dieser  zu 
befreien  und  der  Innenwelt  su  überantworten,  sie,  zumal  die  lebhaften, 
beweglichen  Geister,  die  bisher  nur  durch  ihre  Umgebung  bestimmt  wur- 
den, zu  sich  selbst,  die  Hauptbeziohungen  ihres  Bewusstseins  z.  B.  tu 
Gott,  Gatten,  Verwaudleu  zur  Geltung  zu  bringen  und  ihr  Gewissen  zu 
wecken;  dass  aber  bei  Stumpfsinn,  bei  Gedankenarmut  oder  Verarmung 
und  bei  fortgäbrender  Leidenschaft  die  blosse  Einsamkeit  ihm  mit  Grund 
am  Gefährlichsten,  die  goeignete  Gegenwirkung  durch  positive  Mittel 
und  geselligen  Verkehr  mit  den  rechten  Leuten  im  rechten  Mass  am  Un- 
erläßlichsten dünkt,  wenn  man  den  Verbrecher  nicht  unterdrücken  oder  viel- 
leicht „durch  die  Wüste  zum  reissenden  Thier  machen"  will  Anwehender  als 
diese  kanten  Satze  und  Ergebnisse  ist  begreiflich  ihre  geistreiche  Ausfüh- 
rung, die  sich  nicht  wiedergeben  IHsjI,  und  in  der  trir,  wie  bei  firüfte- 

34* 


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532 


Die  Nassauischen  Heilquellen. 


rang  des  Gefängnisswesens,  so  beinahe  durchaus  eine  für  uns  ebenso  über- 
raschende als  belehrende  Bestätigung  und  Ergänzung  der  Recbtsbegrün- 
dung  jener  Ausichten  von  Verbrechen  und  Strafe  gefunden,  von  denen 
wir  längst  überzeugt  sind,  dass  ihnen  die  Zukunft  unfehlbar  gehört,  und 
io  deren  Anerkennung  nach  Kräften  heimtragen  wir  uns  zur  Aufgabe 
gemacht  haben. 

Eine  sogenannte  zweite  Auflage  der  Schrift  von  Mehring  ist, 
beim  Lichte  betrachtet,  leider  Nichts  als  der  unverkaufte  Rest  der  ersten 
Auflage,  wozu  nur  der  Titel  mit  der  Jahrzahl  1851  und  dos  Vorwort 
(nnn  ohne  Datum),  endlich  ein  Druckfehlerrerzeicbniss  wirklich  neu 
gedruckt  worden  sind.  Dass  aus  Letzterem  die  Besitzer  der  s.  g.  ersten 
Auflage  Einiges  abnehmen  können,  versteht  sich  hiernach  von  selbst. 

H.  Rftder. 


Die  nassauischen  Heilquellen  Soden,  Cronthal,  Weilbach,  Wiesbaden, 
Schlangenbad,  Schwalbach  und  Ems,  beschrieben  durch  einen 
Verein  ron  AerUen,  nebst  geognosti scher  Skizze  und  Karte  des 
Taunus.  Wiesbaden,  Christian  Wilhelm  Kreidel.  iSoi.  gr.  8. 
SS.  V  und  330. 

Die  Bninnenürzte  Dr.  Thilenius  zu  Soden,  Dr.  Küster  zu  Cronthal, 
Dr.  Gergens  zu  Wiesbaden,  Dr.  Bertrand  zu  Schlangenbad,  Dr.  Genth  zu 
Schwalbach  und  Dr.  v.  Ibell  zu  Bad-Ems  haben  zur  wissenschaftlichen  Be- 
arbeitung der  verwandtschaftlichen  nassauischen  Heilqoelllen  des  Tannns 
sich  vereinigt,  nm  jeder  Quelle  den  Platz  in  der  Pharmakodynamik  anzu- 
preisen, den  sie  nach  ihren  chemischen  Bestandtheilen  und  nach  den  ge- 
nachten Beobachtungen  und  Erfahrungen  in  einer  Reihe  von  Krankheiten 
einzunehmen  berechtigt  ist.  Unter  Benutzung  der  neueste»!  chemischen, 
physikalischen,  mikroskopischen,  physiologischen  und  pathologisch  -  anato- 
mischen Untersuchungen  und  vielfachen  eignen  Beobachtungen  und  Er- 
fahrungen an  Kranken  haben  die  einzelnen  Verfasser  die  Wirksamkeit  der 
Heilquellen  ihres  Wohnorts  dem  ärztlichen  Publikum  zur  nähern  Prüfung 
Torgelegt.  Die  Idee,  durch  vereinte  Kraft  verwandte  Heilmittel  so  prü- 
fen, verdient  Anerkennung.  In  der  Ausführung  dieser  Idee  in  dem  vor- 
liegenden Werke  hatte  man  eine  grössere  Gleichförmigkeit  der  Bearbei- 
tung der  einzelnen  Quellen  erwarten  dürfen,  doch  triflt  diese  Ausstellung 
im  Ganzen  mehr  die  Form  als  den  Inhalt. 

Die  Schrift  beginnt  mit  einer  geognostischen  Skisie  des 
Tanna»  von  Dr.  Fridolin  Saadberger,  rühmlichst  bekannt  durch 
0  ■* 


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Di'o  Nassaulschcn  Heilquellen. 


533 


Mehrere  Aufsatze  io  den  Jahrbüchern  des  Vereini  für  Naturkunde  in 
Nassau,  durch  seine  „Uebersicht  der  geologischen  Verhältnisse  des  Her- 
zogthums Nassau,  1847"  und  die  mit  seinem  Bruder  G.  Sandberger  ge- 
meinschaftlich herausgegebene  „  Systematische  Beschreibung  und  Abbil- 
dung der  Versteinerungen  des  rheinischen  Systems  in  Nassau.  Wiesbaden 
1849  —  1851.  Hit  vielen  Tafeln«  (S.  3  —  31).  Derselbe  gibt  zuerst 
einen  geographischen  Ueberblick  des  grossen  rheinischen  Schiefergebirges, 
welches  sich,  als  Games  betrachtet,  von  Belgien  durch  die  Rheinlande 
bis  zum  Flussgebiele  der  Weser  erstreckt  und  durch  mehrere  innerhalb 
desselben  auftretende  grosse  Flussthöler  getbeilt  wird ,  deren  eigentüm- 
liche geognostische  Zusammensetzung  und  damit  in  Zusammenhang  stehende 
Gestaltung  ihrer  Berge  zwar  dem  allgemeinen  Typus  der  Formation  ent- 
sprechen, jedoch  mancherlei  örtliche  Modifikationen  darbieten,  welche  das 
genauere  Studium  derselben  lohnen.  Diess  ist  insbesondere  mit  dem  Tau- 
nus- oder  Höliengebirge  der  Fall,  dem  Herr  F.  Sandberger  hier  eine 
genauere  Betrachtung  widmet.  Im  weitem  Sinne  umfasst  dasselbe  das 
ganze  Gebirgsland  zwischen  Main-,  Rhein-  und  Lahnthal,  gewöhnlich  in- 
dessen versteht  man  nur  die  steil  emporsteigende  Hauptkette,  welche  mit 
dem  Johannisberge  bei  Nauheim  beginnt  und  aus  Nordost  nach  Südwest 
bis  nach  Assmannshausen  sich  ausdehnt,  wo  sie  durch  das  Rheinthal  von 
ihrer  geognosttseben  Fortsetzung,  dem  Hundsrück  geschieden  wird.  Der 
Herr  Verf.  liefert  dann  eine  kurze  Beschreibung  der  Gebirgskette  mit  ih- 
ren Thalern  und  Bächen.  —  Die  Mineralquellen  von  Langenschwalbach 
liegen  in  zwei  kleinen  Seitenthälern  des  Aarthaies,  andere  wie  z.  B.  die 
Rttckershäutser  in  dem  Aarthale  selbst,  das  Emsthal  enthält  ebenfalls  Mi- 
neralquellen und  zwar  die  berühmten  Selterser. 

Bescbreibong  der  geognostischen  Zusammensetzung  des  Taunus  folgen.  — 
Bei  Betrachtung  der  Taunuskette  von  der  Südseite  fallen  leicht  drei  Te- 
rassen  an  derselben  ins  Auge.  Die  unterste  wird  von  breiten,  flachen 
Hügeln  gebildet,  dann  folgen  etwas  steiler  abfallende,  mehr  kegelförmige 
Berge,  und  endlich  der  Kamm  des  Gebirges  mit  den  steilsten  Abhängen. 
Den  drei  Bergformen  entsprechen  drei  verschiedene  Gesteine.  Die  nie- 
drigste Terasse  gehört  den  Tertiarbildungen ,  die  zweite  den  Schiefern 
des  Taunus  an,  die  dritte  oder  der  Kamm  besteht  in  der  Regel  aus  Quar- 
ziU  Ausserdem  zieht  sich  das  den  Boden  der  Main-  und  Rbeinebone  bil- 
dende Diluvialgebilde  am  Gebirge  häufig  bis  zur  Höhe  der  zweiten  Te- 
rasse hinauf,  ohne  jedoch  auf  die  Grundform  des  Gebirges  wesentlich 
einzuwirken.    Jenseits  des  Kammes  treten  in  der  Abdachung  nach  dem 


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0 

531  Die  Kassa uischcn  Heilquellen. 


Labnthale  und  von  Assmann&hauseu  ans  rheinabwfirts  als  Hochplateau  mit 
»leiten  Abhängen  die  Gesteine  auf,  welche  der  untersten  Gruppe  des  rhei- 
nischen Systems,  der  rheinischen  Grauwocke  angehören. 

/  Mineralquellen  treten  längs  dem  Rande  des  Taunus  sowohl  aus  der 
Tertiärbildung  (Weilbach,  Med),  als  aus  den  Schiefern  des  Tannas  (Nau- 
heim» Homburg,  Soden,  Neuenhain,  Cronlhal,  Wiesbaden,  Schlangcnbad, 
Eltville,  Wald,  Aasmennshausen)  hervor.  Innerhalb  des  Plateaus  der  rhei- 
nischen Grauvfacke  kommen  dagegen  die  Quellen  von  Langenschwalbach, 
WiSperÜial,  Saoerthel,  ßrnubach,  Lahostein,  Ems  u.  s.  w.  zu  Tage.  Ans 
der  Teiüarbilduug  treten  Schwefelquellen,  aus  den  Taunusschiefern  Quel- 
len mit  vorherrschendem  Chlornatriumgebalte,  aus  der  rheinischen  Grau- 
wacke  dagegen  theils  Säuerlinge,  theils  alkalische  Quellen  hervor.  Der 
Herr  Verf.  beginnt  mit  der  Darstellung  der  niedrigsten  Terasse  der  ter- 
tiären Hügel  des  Mainzer  Beckens.  < 

  X  Tertitt rlor matiot.    In  der  vorletzten  Umbildungsepoche  des 

Erdkörpers  bildete  das  Rheintual  voo  Landau  bis  Bingen  ein  grosses  Bin- 
nenmeer, welches  von  den  Vogesen,  dem  Ode-nwalde,  Yogelsberge,  Tau- 
nus, Hundsrück  begrenzt  war  und  höchst  wahrscheinlich  durch  einen  ge- 
waltsamen Durchbrach  bei  Bingen  seinen  Gewässern  Abflass  verschaffte. 
Dieser  noch  gegenwärtig  als  solcher  sehr  kenntliche  alte  Boden  wird 
überall  als  Mainzer  Becken  bezeichnet.  Es  treteti  in  demselben  folgende 
Bildungen  auf:  1)  meeriseber  Sand  und  Sandstein,  2)  meerischer  blauer 
Letten,  3)  Süsswasaerkalk  (lokal,  nur  bei  Hochheira),  4)  Brackwasser- 
kalk, 5)  Brauukohlenletten,  o)  Baryt  führender  Sandstein.  Der  Herr  Verf. 
liefert  nun  in  gedrängter  Kürze  eine  Beschreibung  der  verschiedenen  Bil- 
dungen mit  den  darin  vorkommenden  Verstainerungen.  Die  aufgefunde- 
nen fetrefakteu  sind  groasentheils  voh  Hermann  v.  Meyer  sorgfaltig  be- 
stimmt, in  der  Sammlung  der  rheinischen  naturforschenden  Gesellschaft  za 
Mainz  geordnet  aufgestellt* 
•n  IL  Schicfergesteine  des  Taunus.  Der  Herr  Verf.  will  bei 
seiner  Unterscheidung  einer  zweiten  und  dritten  Terasse  des  Tsunüs  als 
Schiefer-  und  als  Quarzzone  in  keiner  Weise  eine  geognostische  Tren- 
nung ausgesprochen  haben.  Vielmehr  hat  das  verschiedene  Niveau  der 
beiden  Feisarlea  einen  sehr  einfachen  Grand,  nämlich  die  verschieden 
grosse  Verwitterungsfäbigkeit  Wahrend  der  leichter  zersetzbare  Schie- 
fer mechanisch  und  chemisch  zerstört  und  weggeschwemmt  wurde,  war 
diess  bei  dem  fast  unverwilterbareu  Quarzit  kaum  der  Fall,  und  so  ra- 
gen die  von  ihm  gebildeten  Berggipfel  in  der  Regel  hoch  über  die  Schie- 
fer weg,  und  mit  ihrem  Auftreten  ist  gewöhnlich  eine  bei  weiten  stei- 


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Die  flassauiscben  Heilqnellcn.  S35 

lere  Neigung  des  Abhanges  verbanden,  als  diess  in  der  Schieferzone  vor- 
kommt.  Es  erscheinen  allmSlige  Ueberglinge  der  Schiefer  in  den  Quar- 
zit  und  hin  und  wieder  Wechsellagerungen  beider  Gesteine.  Der  Schie- 
fer des  Taunus  kann  in  zwei  Abtheilungen  gebracht  werden,  welche  der 
Hauptsache  nach  gleich  zusammengesetzt  sind,  jedoch  durch  das  Auftreten 
einiger  Uebergemengtheile  leicht  von  einander  unterschieden  werden  kön- 
nen. Die  erste  Abtheilung  nennt  der  Herr  Verf.  die  der  normalen,  dio 
zweite  die  der  bunten  Tauunsschiefer.  Lange  Zeit  galten  beide  als  Talk- 
nod  Chloritschiefer.  Die  neueste  Untersuchung  von  K.  List  hat  die  schon 
1847  vom  Herr  Verf.  gehegte  Vermuthung,  das«  der  Schiefer  des  Tau- 
nus eine  andere  Zusammensetzung  haben  müsse,  zur  Wahrheit  erhoben, 
indem  dieselbe  gezeigt  hat,  dass  alle  Varietäten  des  Tauittisschiefers  auf 
einem  neuen  Minerale,  welches  List  Sericit  nennt,  und  Quarz  jn  verschie- 
denen Verhältnissen  bestehen.  Der  Sericit  hat  Husserlich  die  grössle 
Aehnlichkeit  mit  Talk.  Der  Herr  Verf.  theilt  Lisfs  früher  noeh  nicht 
veröffentlichte  Analyse  des  reinen  Sericit  mit,  bespricht  dann  den  norma- 
len und  bunten  Tounusschiefer  näher,  erläutert  hierauf  ausführlich  den 
Verwitternngsprozess  der  Taunnsschiefer  und  kömmt  endlich  zur  Erörte- 
rung der  Beziehungen,  welche  zwischen  den  Iftnfl  einer  vielfach  gebro- 
chenen Linie  am  Fusse  der  Schieferzone  austretenden  chlornatrinmhaltigen 
Mineralquellen  und  dem  Taunusschiefer  vermuthet  werden  können.  Ver- 
gleicht man  die  Zusammensetzung  heider  miteinander,  so  findet  sich  als 
übereinstimmend  eine  grosse  Quantität  von  Alkalien,  dagegen  ist  in  den 
Mineralquellen  dos  Notron,  in  dem  Tauuusscbiefer  das  Kali  bei  weiten 
vorherrschend.  Der  Herr  Verf.  lässt  sich  nnf  eine  ausführliche,  auf  Thafc- 
sachen  gegründete  Erklärung  dieser  Verhältnisse  ein,  und  bestreitet  mit 
triftigen  Grtlnden  die  Hypothese,  welche  zur  Erklärung  derselben  etwa 
in  der  Tiefe  vorhandene  Stcinsulzlager  zu  Hülfe  ruft.  Hinsichtlich  des 
Cbloroatriums  und  des  kohlensauern  Kalkes  scheint  ihm  die  Vermuthung 
eines  Ursprungs  ans  dem  allerwörts  in  der  Nfihe  der  Mineralquellen  vor- 
kommenden Basalte  gerechtfertigt. 

III.  Quarzite  des  Taunus.  In  der  Regel  besteht  der  Qunrzit 
aus  eckigen  Quarzkömem,  welche  durch  Quarzmasse  miteinander  verbun- 
den sind,  seltener  ist  Thon  das  Bindemittel.  Rundliche,  mitunter  aach 
eckige  Stücke  von  lila  oder  grünlich  gefärbtem  Schiefer  liegen  zuweilen 
im  Quarzit  und  füllen  selbst  fast  ganze  Schichten.  Kupfererze  erscheinen 
hie  und  da  eingesprengt .  jedoch  nur  in  sehr  geringer  Menge.  Bei  der 
Verwitterung  scheiden  sich  der  Eisen-  und  Mangangehalt  des  thonigen 
Bindemitfels  als  Roth-  und  Brauneisenstein,  Psilomelan,  seltener  PftoMC 


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auf  Kluftflächen  ab,  mitunter  bleibt  er  auch  in  dem  ganz  aufgelösten  san- 
digen Quarzit  als  färbende  Substanz  zurück. 

IV.  Grauwacke  zwischen  der  Lahn  und  dem  Rheine. 
Jenseits  der  Quarzitzone  tritt  allenthalben  die  rheinische  Grauwacke  mächtig 
auf,  deren  Grenze  gegen  die  Taunusgesleine  durch  das  Erscheinen  von 
Versteinerungen  öfters  mit  grosser  Sicherheit  bestimmt  werden  kann.  — 
Fast  das  ganze  Gebirgiplatean  auf  dem  Nordabhang  und  westlich  von  der 
Hauptketle  des  Taunus,  ist  von  unveränderter  rheinischer  Grauwake  zu- 
sammengesetzt. Der  Herr  Verf.  beschreibt  die  verschiedenen  Grauwa- 
ekensebichten  und  deutet  die  charakteristischen  Versteinerungen,  welche 
in  den  Sandsteinen  enggedrängt,  in  den  sandigen  Schiefern  öfter  aber 
nur  vereinzelt  vorkommen,  an.  Basalt  erscheint  in  der  Gegend  von  Ems 
an  mehreren  Punkten,  Tracbyt  an  den  prachtvollen  Kegelköpfen  bei  Arz- 
bach. Zwischen  Wiesbaden  und  Ems  siud  aber  solche  vulkanische  Steine 
nicht  bekannt.  Erzgänge  durchsetzen  die  Formation  an  mehreren  Punk- 
ten, ebenso  auch  grosse  Quarzgänge.  —  Die  nächste  Umgebung  von 
Ems  bat  Gange  von  silberhaltigem  Bleiglanz,  Ziukblende,  Eisenkies,  Ru- 
pferkies und  Fahlerz.  In  der  neuesten  Zeit  hat  man  auch  prachtvolle 
Krystalle  von  gesäuerten  Bleierzen  (Grün  -  und  Weissbleierz)  mitunter  von 
der  Länge  eines  Zolles  bei  schöner  Ausbildung  gefunden.  Auf  dem  Kop- 
penstein, zwischen  Braubach  und  Oberlahustein,  kömmt  Kupferoxychlorid- 
hydrat  vor  und  findet  sich  hier  anf  Spalten  an  der  äussersten  Oberfläche 
des  Ganges  mit  Gyps  als  ganz  neue  Bildung,  welche  wohl  der  Zer- 
setzung von  schwefelsaurem  Kupferoxyd  durch  Chlorcalcium  enthaltendes 
Wasser  ihre  Entstehung  verdankt. 

Der  Rand  des  ganzen  Plateaus  nach  dem  Rhein-  und  Lahntbale  zu 
ist  mit  Diluvialabbildungen,  Absetzungen  des  ehemaligen  Bettes  dieser 
Flüsse  bedeckt.  Die  Geschiebeablagerungeu  des  Rheines  unterhalb  Rttdes- 
heim  zeichnen  sich  durch  Porphyre,  Melapbyre  und  andere  Gesteine  des 
Nahelbales,  die  der  Lahn  durch  Schalsteioe,  Kieselschiefer,  Kalke  aus  dem 
obern  Flussgebiete  aus.  Ausser  diesen  Diluvialgebilden  ist  indessen  ein 
Tbeil  der  Höhen  Uber  dem  Kheintbale,  von  Boppard  abwärts,  und  dem 
Lahnthele  von  einem  Erzeugnisse  der  ausgebrannten  rheinischen  Vulkane, 
dem  Bimsteiusan  Je  bedeckt,  welcher  in  den  Thälern  zusammengesohwemmt 
und  durch  Löss  verkittet,  schiebten  weise  abgesetzt  ist. 

Die  Mineralquellen,  die  innerhalb  des  Gebietes  zu  Tage  kommen, 
lassen  sich  nach  ihrem  Gebalte  au  überschüssiger  Kohleusäure  und  Eisen- 
oxydul oder  an  kohlensaurem  Natron  in  zwei  Abtheilungen  bringen,  wo- 
von die  erste  das  höhere  Niveau  einnimmt.    Langenschwalbach  ist  der 


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Die  Nassauischen  Heilquellen. 


537 


Typus  der  einen,  Ems  der  der  andern  Abtheilung.  Der  Herr  Verf.  knüpft 
auch  hier  wieder  seine  Betrachtungen  an  die  Zusammensetzungen  des  Ge- 
steios,  aus  welchen  die  Quellen  hervorkommen,  an,  und  legt  die  einzige 
bekannte  Analyse  des  Granwackemchiefers  von  Berndorf  bei  Coblenz  von 
Frick  sn  Grunde.  Vergleicht  man,  abgesehen  von  der  Kohlensäure,  die 
Zusammensetzung  des  Langenschwalbacher  Wassers  (Weinbrunnen  nach 
Kastner)  mit  Frick's  Analyse  des  Grauwackenscbiefers  und  beachtet  zu- 
gleich, dass  die  grünliche  Farbe  der  meisten  Grauwacketschiefer  das  Vor- 
handensein von  Eisenoxydul  neben  Eisenoxyd  höchst  wahrscheinlich  macht, 
nimmt  man  Ferner  Rücksicht  auf  die  Löslichkeitsverbältnisse  der  einzelnen 
Körper  in  kohlensaurem  Wasser,  so  ist  eine  Erklärung  der  Zusammen- 
setzung der  Langenscbwalbacher  und  der  mit  diesen  ähnlichen  Quellen  aus 
Grauwackegesteinen  nicht  schwierig.  Ganz  anders  verhält  es  sich  aber 
mit  den  Emser  und  übrigen  Quellen ,  welche  kohlensaures  Natron  vor  * 
herrschend  enthalten.  Wenn  es  auch  wahrscheinlich  ist,  dass  bei  ge- 
nauen Analysen  in  den  Grauwackegesteinen  auch  diese  Basis  gefunden  wer- 
den wird,  so  ist  doch  die  Menge  des  kohlensauren  Natron  im  Emser 
Wasser  zu  gross,  als  dass  man  auf  einen  etwaigen  Natrongebalt  des  Ge- 
steins, aus  welchem  sie  zu  Tage  treten,  sich  berufen  dürfte.  Die  alka- 
lischen Basalte  und  Trachyte  in  der  Nähe  der  Emser  Thermen,  welche 
durch  Zersetzung  kohlensaures  Natron  liefern,  und  in  welchen  ein  Gehalt 
von  Chlormetallen  höchst  wahrscheinlich  ist,  sind  schon  oben  berührt 
worden.  Der  Herr  Verf.  bedauert,  Hypothesen  über  die  Herkunft  der 
Mineralquellen  statt  auf  genaue  Analysen  aller  in  ihrer  Umgebung  auf- 
tretenden Gesteine  und  der  Aschen  der  auf  denselben  wachsenden  Pflan- 
zen auf  Analogien  gründen  zu  müssen.  Allein  der  wissenschaftliche  Arzt 
und  Geologe  können  sich  mit  der  Mosen  Analyse  der  Wasser  nicht  be- 
gnügen, sondern  müssen  die  Entstehung  der  Quellen  zu  erforschen  suchen. 

Die  gasförmigen  Bestandteile  der  Mineralquellen  betreffend,  so  sind 
im  Wesentlichen  dieselben  Stickstoff,  Sauerstoff  nud  Kohlensäure,  welche 
in  verschiedenen  quantitativen  Verhältnissen  bei  verschiedenen  Quellen  auf- 
treten, «insichtlich  der  beiden  ersten  ist  ein  Ursprung  ans  der  Atmos- 
phäre, vermittelt  durch  den  Zutritt  von  Tagewossern  in  den  obersten 
Tbeilen  der  Zufübrungskanfile  wohl  der  annehmbarste  Erklürungsgrund.  Die 
Kohlensäure  dagegen  könnte  das  Produkt  verschiedener  chemischer  Pro- 
zesse sein,  als  der  Fäulniss  organischer  Substanzen,  der  Zersetzung  von 
Kalkstein  durch  verwitternde  Eisenkiese  oder  durch  kieselsaure  Salze,  oder 
endlich  Exhalationen  aus  dem  Innern  der  Erde  bilden,  deren  letzter  Grund 
eine  Zersetzung  von  kohlensaurem  Kalk  durch  Glühhitze  wäre,  die  man 


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539 


Die  Nfissnuischen  Heilquellen. 


Dach  dem  Gesetze  der  nach  Innen  zunehmenden  Warme  des  Erdkörpers 
in  gewisser  Tiefe  mit  voller  Sicherheit  annehmen  kann.  Die  zuerst  an- 
gegebenen  Ursachen  werden  durch  geognostische  Verhältnisse  nicht  wahr- 
scheinlich gemacht,  und  es  bleibt  nur  die  Annahme  von  Exhalationen  die- 
ses Gases  übrig,  welche  aus  den  durch  mancherlei  Ursachen  bis  in  die 
Tiefe  des  Gebirges  hinab  geöffneten  Kanälen  aufsteigen  und  von  dem  nie- 
dergesunkenen Wasser  absorbirt,  demselben  in  weit  höherm  Grade  die 
Fähigkeit  verleihen,  lösliche  Bestandteile  der  Gesteine  aufzunehmen. 

P.  Sandberger's  gedic  geuc ,  mit  Scharfsinn  und  Umsicht  geschrie- 
bene, hier  gedrangt  mitget heilte  Arbeit  verdient  den  Dank  der  Aente 
und  Geologen.  Die  von  ihm  entworfene  geogoostische  Uebersichtskarte 
des  Taunus  ist  eine  treffliche  Beigabe  zu  dieser  Abhandlung. 

Soden,  dargestellt  von  Df.  0.  Thi lenius  in  Soden.  (S.  33— 73.) 

Der  Herr  Verf.,  vortheilhaft  bekannt  durch  seine  Schrift:  „Soden s 
Heilquellen.  Frankfurt  a.  M.,  1850".  gibt  hier  aus  dieser  einen  gedräng- 
ten Auszug.  Nach  einer  topographischen  Skisze  von  Soden  bespricht 
derselbe  die  chemischen  und  physikalischen  Verhältnisse  der  zahlreichen 
Quellen.  Bis  jetzt  sind  daselbst  23  Quellen  bekannt,  welche  in  einer 
etwa  400  Fuss  breiten  und  2,400  Fuss  langen  Fläche  zu  Tage  treten. 
Das  Wasser  ist  stets  krystalthell ,  mehr  oder  minder  salzig  schmeckend. 
Die  einzelnen  Quellen  zeigen  bedeutende  Verschiedenheit  in  der  Tempe- 
ratur; während  einige  nur  -)- 9 — 12°  R.  haben,  besitzen  die  meisten 
+  15— 19°  R.,  sind  demnach  lauwarm  und  gehören  in  die  Mittelklasse 
zwischen  Halokrenen  und  Halothermen.  Die  Nassauische  Regierung  liess 
1839  die  Quellen  Nr.  VI,  XVIII  und  XIX  neu  fassen  und  von  Liebig 
chemisch  untersuchen.  Eine  angehängte  Tabelle  Ober  den  Gehalt  an  flüch- 
tigen und  fixen  Bestandteilen  liefert  das  Ergebniss  tier  Analyse  der 
Quellen  Nr.  I  (Milchbrunnen),  Nr.  II  (Winklerbrunnen),  Nr.  IV  (Sool- 
brunneu},  Nr.  V  (Sauerbrunnen),  Nr.  Via  ( \V ilhelmsbrunnen) ,  Nr.  VIb 
(Schwefelbrunnen),  Nr.  VIc  (Trinkbrunnen),  Nr.  VII  (Major),  Nr.  XVIII 
(Wiesen  brunnen)  und  Nr.  XIX  (Champagnerbrunnen).  Die  Quellen  Nr.  I, 
II,  V  und  VII  wurden  1929  von  Schweinsberg,  die  Quelle  VI  1838 
von  W.  Jung  und  die  QueUe  III,  Via,  b,  c,  XVIII  und  XIX  1839  von 
Liebig  analysirt.  Nr.  VIc  erhielt  als  nicht  hinreichend  ergiebig  keine 
neue  Fassung,  Nr.  VII  liegt  noch  in  der  alten  Fassung  und  ist  trübe. 

Die  Wirkung  der  Mineralquellen  zu  Soden.  Bei  Be- 
nrtbeilung  der  Heilkräfte  aller  Mineralquellen  muss  der  wichtige  Einfluss 
des  einfachen  Wassers  durch  die  angewandte  Menge,  WSrmediflerenz  und 
Gebrauchsweise  berücksichtigt  werden.     Charakteristische  Eigenschaften 


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i/ie  liRssduocneii  nencjueiien. 


sina  den  Quellen  zu  Soden  durch  den  Gehalt  an  Chlornalrinm ,  Kohlen- 
säure Dod  Eisen  verlieben.  Die  eigentümlichen  Wirkungen  treten  bei 
dem  Abschli  essen  in  der  vegetativen  Sphäre  des  Organismus  zunächst  in 
den  Nutritions-  und  Secretionsorganen  auf.  Die  örtliche  primäre  Wir- 
kuog  besteht  hierbei  in  einem  Reiz  auf  die  Intestinalschleimbaut  mit  dem 
durch  dieselbe  überall  verbreiteten  sehr  zahlreichen  Drüsenapparate  und 
auf  die  mit  dem  Darmkanal  engverknüpfte  Leber,  somit  in  dem  bethäti- 
genden  Einfluss  auf  das  ganze  Pfortadersystem.  Durch  Anregung  der 
Prozesse,  Vermehrung  der  Absonderung  in  diesem  Organe,  treten  die 
seeuudyren  Wirkungen  hervor  in  der  Beschleunigung  des  Kreislaufes,  na- 
mentlich iu  der  Pfortader,  in  dem  erhöheten  Stoffwechsel,  in  der  Ver- 
flüssigung und  Aufsaugung  von  Rückstünden  früherer  (fibrinöser,  albumi- 
noser)  Exsudationsprozesse,  zumal  im  Parenchym  drüsiger  Organe. 

Nähere  Bestimmungen  zur  Anwendung  der  Quellen. 
Die  angedeutete  Wirkungsweise  der  Sodener  Quellen  zeigt  schon  und  dio 
Erfahrung  bestätigt  es,  dasa  dieselben  ihre  Hauptanwendung  gegen  con- 
stitulionelle  Dysfcrasien  finden,  gegen  solche  Krankheitsprozesse,  die  durch 
ererbte,  individuelle  Anlage  oder  durch  lange  dauernde  schädliche  Ein- 
wirkung der  Süssem  Lebensbedingungen  oder  durch  Abnormitäten  in 
den  Se-  und  Excretionsorganen  und  Zurückhalten  auszuscheidender  Stoffe 
entstanden  sind ,  die  Uberhaupt  eine  fehlerhafte  Krase  zör  Grundlage  ha- 
ben. Die  auftretenden  Lokalleiden  sind  entweder  primirre,  die  krankhafte 
Gesammtkrase  bedingende  oder,  was  viel  häufiger  ist,  secundäre,  ans  der 
anomalen  Süftemasse  hervorgehende.  Leider  hoben  die  vielfältigen,  oft 
m«  grosser  Sorgfalt  angestellten  chemischen ,  physikalischen  und  mikro- 
skopischen Untersuchungen  des  Blutes  noch  sehr  geringen  Aufscbluss  Uber 
die  anomale  Siftemischuog  geliefert.  Nur  selten  zeigt  einerseits  das  Blut 
Anomalien,  wo  nach  den  Krankheitserscheinungen  solche  vorausgesetzt 
werden  müssen,  nnd  anderseits  führen  nnr  die  wenigsten  der  direkt  er- 
mittelten Bluttebler  zur  Brklirung  der  wesentlichsten  Symptome  im  Ver- 
laufe der  Krankheiten. 

Nach  den  Erfahrungen  des  Herrn  Verf.'s  gehören  von  den  consti- 
tntionellen  Dyscrasien  folgende  vor  das  Forum  der  Sodener  Heilquellen: 
1}  die  venöse  Dyskrasie,  2)  Serofulosis  und  Tuberculosis,  3)  Anämie 
und  Chlorosis,  insofern  die  fehlerhafte  Beschaffenheit  des  Blutes  durch 
Verbesserung  der  Digestion  und  fiulrition  beseitigt  wird.  Der  Herr  Verf. 
betrachtet  diese  krankhaften  Zustünde  näher  und  fuhrt  endlich  die  einzel- 
nen Krankheitsformen  an ,  gegen  welche  die  Quellen  Sovens  erfahrungs- 
massig wirksam  sich  zeigen. 


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540  Die 

Anwendung  der  Quellen  Sodeos.  Von  den  oben  be- 
zeichneten Ouellen  werden  zur  Trinkkur  hauptsächlich  benutzt  Nr.  I.  III. 
IV,  Via  oed  b,  XVUI  und  XIX.  Nach  den  gemachten  Beobachtungen 
linden  die  Quellen  Nr.  Via  und  b,  XVIII  and  XIX  vorzugsweise  gegen 
Unterleibskrankheiten ,  Nr.  I,  III  und  IV  bei  Brnstkrankheiten  ihre  An- 
wendung, wo  meistens  ein  Zusatz  von  Molke  oder  Milch  zweckmässig 
wird.  Nr.  VI  b  bringt  nicht  so  leiebt  störende  Aufregung  im  Gefässsystem, 
als  Via  hervor;  Nr.  XVIII  sagt  insbesondere  torpiden  Constitutionen  au; 
Nr.  XIX  kömmt  da  in  Anwendung,  wo  ein  besonderes  Gewicht  auf  die 
Kohlensäure  gelegt  wird;  Nr.  IV  mit  vorherrschendem  Gehalt  an  Koch- 
salz und  geringer  Menge  Kohlensäure  führt  ab  ohne  aufzuregen;  Nr.  I 
und  III  als  die  mildesten  Quellen  sagen  den  gereilten  Schleimhäuten  der 
Unterleibs-  und  Brustorgane  am  besten  zu.  —  Gewöhnlich  lässt  man  2 
bis  6  Becher  in  Pausen  von  10—15  Minuten  am  Morgen,  selten  am 
Abend  trinken.  Die  Diät  ist  dieselbe,  wie  beim  Gebrauche  jeder  Salz- 
quelle. Bäder  werden  von  j-  2  ~C]  Ii.  herab  bis  au  +  22°  R.  genom- 
men. —  Die  klimatischen  Verhältnisse  Sodens  sind  sehr  günstig.  Es 
liegt  in  einem  freundlichen  Thalbecken,  gegen  Norden  und  theilweise  ge- 
gen Osten  und  Westen  durch  die  nur  den  Höhen  bewaldeten  Vorberge 
des  Taunus  geschützt. 

Crouthal  von  Dr.  F.  KUster  in  Cronthal  (S.  75—100). 

Der  Herr  Verf.  hat  schon  in  mehreren  Schriften  und  einzelnen  zo- 

and  Anstalten  zu  Cronthal  gegeben,  so  dass  au  erwarten  steht,  seine 
Erfahrungen  und  Ansichten  seien  dem  ärztlichen  Publikum  hinlänglich  be- 
kannt. Ref.  kann  sich  sonach  in  der  Anzeige  kurz  fassen.  In  Crontbsl 
sind  fünf  Mineralauellen  aefasst  von  denen  nur  die  heiden  reichhaltigsten 
und  wirksamsten,  die  Stahl-  und  die  Wühelmsquelle ,  fast 
benutzt  werden.  Beide  sind  vielfach  chemisch  untersucht, 
W.  Jung,  dessen  Analyse  in  einem  Pfund  zu  16  Unzen  ergab: 

Stahlquelle.  Wilhelmsquellc 

Schwefelsaures  Natron  1,638  0,867 

Salzsaurcs  Natron  27,574  27,303  „ 

Salzsäure  Magnesia  1,921  3,833  „ 

Kohlensaure  Magnesia  0,606  0,945  „ 

Kohlensaure  Kalkerde  3,640  5,400  „ 

Kohlensaures  Eisenoxydul  0,613  0,050  „ 

Thonerde  0,640  0,625  „ 


36,632        39,238  Gran. 

Kohlensaure  33,336        29,627  K.  Z. 

Temperatur  +  9,5°R.  -|-13«R. 


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ftaaann^ftian    Uni  Inno)  lan 

t/ic  liBaSiiuiäcntrii  iiiiKjiiciicn. 


541 


Die  Wilhelmsquelle  soll  durch  eine  neue  im  Herbst  1850  vorge- 
nommene Fassung  an  Gasgehalt  sehr  gewonnen  haben.  —  Der  Herr  Verf. 
hat  Gas-,  Kräutersaft-  und  Molkenkuranstalten  in  Cronthal  errichtet  Die 
Versuche  zur  Respiration  des  Gases  bei  ßlennorrbüen  und  Eiterungen  ver- 
schafften keinen  erheblichen  Nutzen.  Zum  Trinken,  wie  zu  Douchen  hat 
Herr  Küster  das  Gas  zuerst  benutzt  und  die  Anwendungsart  der  Bäder 
wesentlich  verbessert.  Die  Verbindung  der  Gas-  und  Wasserbader  und 
die  dadurch  erzielte  höhere  Wirksamkeit  der  letzten  führte  denselben  zu 
dem  Studium  der  Hydriatrik  und  veranlasste  ihn  1810  seine  Anstalt  io 
der  Art  zu  erweitern,  dass  er  in  geeigneten  Fällen  die  Behandlung  ganz 
'nach  der  Priessnilz'scben  Methode  anordnen  kann.  Wiederholte  Versuche 
überzeugten  ihn,  dass  bei  der  Priessuitz'schen  Methode  die  Bäder  von" 
Crontbaler  Mineralwasser  bei  einer  Temperatur  von  -\-  13°  R.  eine  viel 
kräftigere  Reaktion  hervorrufen,  als  Bader  von  einfachem  Quell wasser  zu 
-f>  7 — 8°  R.  —  Die  Wasserbäder  erhalten  in  Cronthal  eine  Temperatur 
von  +13°  aufsteigend  bis  zu  28°  R.,  dieselbe  Verschiedenheit  der  Tem- 
peratur wird  für  die  Rcgenbiider  und  Wasserdouchen  angeordnet.  Dia 
eiofacheo  Gasbader  haben  die  natürliche  Temperatur  von  -f*  13°,  die  er- 
wärmenden  von  24—25°  R.  Die  Gasdouchen  haben  die  erwähnte  na- 
türliche Temperatur  und  werden  nur  in  einzelnen  Fallen  auf  -\-  30  bis 
36°  erhöhet.  Es  sind  Vorrichtungen  für  Augen-  und  Ohrendouchen  ge- 
troffen. — 

Herr  Küster  lässt  das  Gas  rein  und  unvermischt  aus  elastischen  Röh- 
ren, wozu  jeder  Kurgast  ein  Mundstück  aus  Glas  hat,  trinken. 

Endlich  gibt  der  Herr  Verfasser  die  Indikationen  zum  Gebrauche  der 
Crontbaler  Blineralquellen,  sowohl  des  Wassers,  als  des  Gases  an  und  be- 
zeichnet die  Krankheiten,  in  welchen  sie  nach  seinen  Beobachtungen  An- 
wendung finden. 

Das  Thal  von  Cronthal  liegt  hoch,  aber  geschützt,  die  Luft  ist  rein 
und  mild.  Das  Leben  daselbst  ist  einfach,  und  die  meiste  Zeit  wird  im 
Freien  zugebracht,  die  Umgebung  bietet  Gelegenheit  zu  den  schönsten 
Ausflügen. 

Schwefelquelle  Weilbacb  (S.  101—107). 

Wegen  Abhaltung  des  Brunnenarztes,  Dr.  H.  Rotb,  waren  die  Her- 
ren Verf.  genöthigt,  einen  kurzen  Auszug  aus  dessen  Brunnenschrift  zur 
Vervollständigung  der  Darstellung  nassanischer  Taunuabader  anstatt  einer 
grössern  Abhandlung  beizufügen.  Da  Rotb's  Schrift  über  Bad  Weil- 
bach  in  Nr.  9  des  Jahres  1848  der  Heidelb.  Jahrb.  f.  Literatur  ausführ- 
lich besprochen  worden  ist,  00  genügt  es,  auf  diese  Anzeige  so  verweisen. 


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54* 


Die  ft'assauischcn  Heilquellen. 


Wiesbaden,  beschrieben  von  Dr.  J.  F.  Gergens  in 
Wiesbaden  (S.  109  —  146). 

Unstreitig  gehört  Wiesbaden  seiner  Ueilkräftigkeit  und  seiner  xeit- 
gemüssen  Einrichtungen  wegen,  zu  den  besuchtesten  Kurorten  Europa'«, 
und  keine  andere  Heilquelle  kann  wohl  der  Therme  von  Wiesbaden  in 
der  Mnnaichfaltigkeit  der  Benutzung  und  Wirkung  gleichgestellt  werden. 
Ihr  Ruf  bat  sich  seit  Jahrhunderten  bewahrt  und  Kurgäste  aus  allen  Erd- 
tbeilcu  angezogen. 

Der  Herr  Verf.  hat  sich  die  verdienstliche  Aufgabe  gestellt,  nach 
dem  gegenwärtigen  SUudpunkte  der  Wissenschaft  zu  untersuchen,  ob  die 
Heilquelle  mit  Recht  diesen  grossen  Ruf  verdiene,  ob,  was  der  bisherige 
Gebrauch  geheiligt,  mit  Kecht  oder  Unrecht  der  Heilkraft  der  Therme  zu- 
geschrieben werde.  Ref.  stimmt  der  Ansicht  des  Herrn  Verf.s  vollkom- 
men bei,  dass  die  Pathologie  und  Therapie  diese  Frage  nur  mit  Hülfe 
der  physiologischen  Chemie  entscheiden  kann. 

.  Derselbe  t heilt  die  neuesten  physikalischen  nud  chemischen  Unter - 
tersuchungen  der  Quellen  mit,  damit  von  vornherein  klar  werde,  was  man 
im  Allgemeinen  von  der  Heilquelle  zu  erwarten  habe.  Es  liegt  in  seiner 
Absicht,  möglichst  scharfe  Greuzen  für  die  Wirkung  der  Therrot  zu  zie- 
hen and  die  ihr  zugänglichen  KrankheiUformen  genau  zu  bestimmen.  Die 
Thermen  von  Wiesbaden  treten  in  der  Stadt  selbst  zu  Tage.  Die  Haupt- 
quelle,  der  Kochbrunnen,  entspringt  in  einer  Hobe  von  323  Pariser  Fuss 
über  der  Meeresfläche  und  110  Fuss  über  dem  Spiegel  des  Rheines  mit 
einer  Wärme  von  55°.  Die  Analysen  desselben,  von  Dr.  Lade  1847 
und  von  Dr.  Fresenius  1849  gemacht,  stimmen  im  Wesentlichen  mitein- 
ander überein  und  haben  folgendes  Ergebniss  geliefert. 

Ein  Pfund  Kocbbruoncnwasser  =  7680  Gran,  enthält: 


nach  Fresenius: 
52,49797 
1,11974 
0,00138 
0,12841 
3,61720 
1,55603 
0,02726 
sehr  kleine  Spur 
0,69289 
0,460,1 8 
3,21055 

Kohlensaure  Magnesia  0,07979 
Kohlensaurer  Baryt  Spur 
Kohlensaurer  Strontian  Spur 
Kohlensaures  Eisenoxydul  0,04339 
Kohlensaures  Manganoxydul  0,00443 

•ehrkiSp. 


Chlornatrium 

Chlorkaliuni 

Chlorlilhium 

Chlorammonium 

CMorcalrium 

Chlormagncsiuni 

Brommagnesium 

Jodmagnesiuni 

Schwefelsaurer  Kalk 

Kieselsäure 


nach  Lade: 
52,83019  Gran. 

1,38163 
Spur. 
Spur. 

3,60683 

0,20960 

0,12902 

0,72192 
0,47846 
3,21406 
0,05068 


0,06681 
Spur 


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Die  Nassauiscben  Heilquellen.  543 

nach  Fresenius:  nach  Lade: 

Phosphorsati rer  Kalk  0,00299  Spur 

Arsensaurcr  Kalk  0,00115  —  — 

Kieselsaure  Thonerde  0,00392  Spur 

Organische  Substanzen  Spuren  Spuren 


Summe  der  festen  Bestandteile :     67,3758  t  66,541i>0 

Kohlensäure,  s.  g.  freie         3,90313  3,31998 

Stickgas  0,01540  —    —    '  '  i •< 

Sogen,  fr. Kohlens.  in  C.-Zoll  10,3168«  10,0000 

Stickgas  in  Cubikzollen  0,1030 

*  '•  •  •>■  i 

Ob  duo  alle  aufgefundene  Beslandlheile  auch  io  der  hier  angege- 
benen Verbindung  im  nicht  abgedampflcu  Wasser  sich  befinden  oder,  wie 
Kastner  glaubt,  i.  B.  nicht  schwefelsaurer  Kalk  und  salzsaures  Natron,  son- 
dern der  Kolk  als  salzsaurer  und  dafür  etwas  schwefelsaures  Natron,  ist 
eine  Frage,  die  für  die  Pharmakodynamik  und  Therapcutik  von  Wichtig- 
keit ist.  Sie  kann  nur  von  Chemikern  und  von  diesen  vielleicht  nur  hy- 
polhetisch  beantwortet  worden.  —  In  dem  Becken  des  Kochbrunnens 
und  in  den  Ablaufkanälcn  setzt  das  Wasser  eine  bedeutende  Masse  von 
Sinter  ab,  dessen  Hauptbestaudlhcil  kohlensaurer  Kalk  und  dann  Eisenoxyd 
ist.  —  Die  chemischen  Bestandteile  siud  in  den  verschiedenen  Quellen 

#4  I  I  i  $ 

zu  Wiesbaden  fast  gleich,  doch  fiudet  eine  Temperaturverschiedenheit  des 
Wassers  statt.  Wahrend  der  Kochbruunen  -j-  55°  R.  hat,  haben  mehrere 
nur  gegen  50°,  eine  48°,  eine  andere  nur  38°  Wrürme. 

Eiuwirkung  der  Thermen  auf  die  verschiedenen  or- 
ganischen Funktionen.  Unter  Benutzung  der  neuesten  Forschungen 
und  Untersuchungen  in  der  Wissenschaft  und  vorzugsweise  an  der  Hand 
der  physiologischen  Chemie  thut  der  Herr  Verf.  dar,  dass  durch  die  Vert 
binduog  von  Neulralsalzen,  Alkali,  Eisen,  Kalksalzen  und  Kohlensäure  in 
dieser  Heilquelle  ein  Heilmittel  geschaffen  ist,  welches  einesteils  auflöst 
und  absondert,  andernthcils  wieder  kräftigend  wirkt  und  dabei  noch  die 
Elemente  zu  einer  organischen  Neubildung  darbietet.  Dazu  muss  noch 
die  eigentümliche  Wurme  des  Wassers  in  Anschlag  gebracht  werden. 
Die  Erfahrung  entspricht  vollkommen  dieser  nach  chumisch-physiologisebeo 
Ansichten  vorausgesetzten  Wirkungsweise  bei  der  innen)  und  äussern  An- 
wendung. Die  Therme  übt  einen  mächtigen  Einflusss  auf  die  Metamor- 
phose der  Gewebe  j  die  Absonderungen  des  gauzen  Darmkanals  und  der  dazu 
gehörigen  drüsigen  Organe  werden  verändert  und  stark  vermehrt.  Das- 
selbe ündet  statt,  wenn  auch  weniger  schnell,  in  den  Albmungsorganeo 
und  ihren  Drüsen.  Gleichzeitig  stellt  sich  auch  eine  reichhaltigere  Ab- 
sonderung von  gehaltreicherem  Harn  ein.  Die  Hauptthätigkeit  wird  ver- 
mehrt, es  entstehen  oft  örtliche,  kleberichte  Schweisse.   Ein  blosser  Ba- 


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544 


Die  Nassauischen  Heilquellen. 


degebrauch  mehrt  schon  Haut-  und  Harnabsonderuug,  ohne  auf  die  Darm- 
absonderung  besonders  einzuwirken.  Die  Einwirkung  auf  das  Genitalsy- 
stem ist  eine  zweifache,  entsprechend  der  Wirkung  der  Therme  auf  Mus- 
keln and  Schleimhäute.  Das  Nervensystem  wird  durch  die  Betätigung 
des  Kreislaufes,  Beseitigung  von  Störungen  der  Verdauung  und  Respira- 
tion, also  auch  der  Blutbildung,  durch  Herstellung  der  Thätigkeit  von 
Haut  und  Nieren,  gekräftigt  und  es  stellt  sich  ein  Gefühl  von  Wohlbe- 
hagen und  Esslust  ein.  Dieser  Vorgang  bleibt  jedoch  manchmal  nicht 
ohne  Folgen.  Unter  Verhältnissen,  welche  dio  Entwickelungen  begünsti- 
gen, wird  eine  fieberhafte  Bewegung  durch  die  Steigerung  aller  vorher 
erwähnten  Punktionen  verursacht,  und  das  vorhandene  chronische  Leiden 
wird  sodann  auf  kurze  Zeit  acut.  Dieses  ist's,  was  man  Badekrise  oder 
besser  Keaktion  nennt.  Bei  diesem  Hergange  beobachtet  man  Gichtan- 
fälle in  den  Gelenken,  Steigerung  rheumatischer  Schmerzen,  Hämorrhoi- 
dalblutungen  etc.  In  den  allermeisten  Fallen  heilt  die  Therme  nur  durch 
ollmalige  Ausscheidung  des  Krankbcilsprodukles. 

Die  Anwendung  der  Thermen  beschränkt  sich  selten  nur  auf  Baden, 
weniger  selten  nur  auf  das  Triuken.   Gewöhnlich  wird  beides  verbunden. 

Ausführlich  und  umsichtig  bespricht  der  Herr  Verf.  die  Anwen- 
dung und  Wirkung  der  Therme  als  Hauptmittel  gegen 
Gicht,  Abdominalpletbora  und  Rheumatismus,  dann  das 
Verhalten  der  Therme  gegen  veraltete  Hanl  Verletzungen 
Und  Syphilis,  und  endlich  gegen  Skropheln  und  Tuberkel- 
krankheit. Mit  einer  genauen  Angabe  der  Nachkur,  der  Nach- 
behandlung und  der  klimatischen  Verhältnisse  des  Kur- 
ortes schliesst  Hr.  Gergens  seine  gediegene  Abhandlung  Uber  Wiesbaden. 

Das  Schlangenbad,  beschrieben  von  Dr.  Bertrand  in 
Schlangenbad  (S.  147—213). 

An  dem  südöstlichen  Abhango  des  Taunus,  900  Fuss  hoch  Ober 
der  Meeresflöche,  in  einem  einsamen,  rings  von  hohen  Bergen  umschlos- 
senen Thalgrunde  liegt  das  Schlangenbad.  Freundlich  und  überraschend, 
gleichwie  aus  einem  Versteck,  tritt  es  dem  Besucher  entgegen.  Der  Freund 
der  stillen  Natur  wird  in  den  nächsten  Umgebungen  Schlangenbads  eine 
Befriedigung  finden,  wie  nicht  leicht  anderswo.  Die  Thermalquellen  des 
Schlangenbades  treten  am  Fusse  des  sogenannten  Bärstädter  Kopfes,  ei- 
nes der  höchsten  Bergkuppen  um  Schlangenbad,  gegen  Süden  zu  Tage. 

(ScUvss 


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Nr.  35.  HEIDELBERGER  1851. 

JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR. 


Die  Nassaiilsclieii  Heilquellen. 


(Schluss.) 


Es  sind  acht  Haupiquellen,  nämlich:   1)  die   drei   Quelles  des 
obem  oder  alten  ßadehauses;  2)  die  RöhrenbrunuenquelJe;  3)  die  drei 
Quellen  des  untern  oder  neuen  Badebauses  und  4)  die  Schacbtbrunnen- 
queile.    Eine  neunte  hinter  der  Mauer  des  Pferdebades  (welches  eben- 
falls durch  warme  Quellen  gebildet  wird)  gefasste  Quelle  liefert  das  zur 
Heizung  bestimmte  Thermalwasser  im  untern  Kurbause.  Das  Thermalwasser 
sämmtlicher  acht   Hauntnuellen   hat   folgende   gemeinsame  Eigenschaften: 
1)  es  ist  Uberaus  klar,  durchsichtig,  von  blaulicher  Farbe,  2)  vollkom- 
men geruchlos,  3)  von  schwachsalzigem,  laugenhaftem  Geschmack,  4)  es 
fühlt  sich  ungemein  weich,  fast  fettig  an,  5)  es  entwickelt,  an  der  Quelle 
geschöpft,  keine  Luftblasen;  an  der  Röhre,  aus  welcher  es  strömt,  auf- 
gehst, zeigt  sieb  einige  Gasentwickelung ,  6)  es  erleidet,  lange  Zeit  in 
einer  Flasche  aufbewahrt,  keine  Veränderung;  dagegen  bilden  sich  an  der 
Decke  der  inwendig  vertrassteu  Reservoirs  schöne  ein  bis  zwei  Zoll  lange, 
weise  Stalaciten  von  lamellösem  Gefüge,  aus  kohlensaurem  Kalk  bestehend ; 
von  Badescblamm  findet  sich  in  keinem  der  Reservoirs  des  obem  und  untern 
Kurhauses  eine  Spur,  nach  Kastner  toll  sich  ein  solcher  in  geringer  Menge 
im  Schachtbrunnen  bilden  und  ans  Thonerde  bestehen,  welche  in  Beglei- 
tung von  feinstem  Quarzstaube  dem  Wasser  mechanisch  beigemengt  ist, 
7)  es  hat  eine  zwischen  -f~  22 — 26°  R.  variirende  Temperatur,  8)  che- 
misch untersucht  zeigt  es  in  16  Unzen  Wasser  einen  trockenen  Rückstand 
von  etwas  mehr  als  5  Gran,  9)  sein  vorwaltender  chemischer  Bestand- 
teil ist  kohlensaures  Natron.    In  einer  Tabelle  theilt  der  Herr  Verf.  die 
chemischen  Bestandtheile  der  verschiedenen  Quellen  nach  Kästners  Unter- 
mit.    Eine  neue  Analyse  von  Dr.  Fresenius  stobt  demnächst 


In  der  Regel  rechnet  man  die  Schlaugenbader  Quellen  zu  den  er- 
dig-alkalischen Thermen  und  reiht  sie  jenen  von  Ems  an.  Wegen  ihres 
geringen  Gehaltes  an  festen  Bestandtheileu  und  wegen  des  gänzlichen  Feh- 
lens von  Erdsalzeu  in  den  meisten  derselben  dürften  sie  richtiger  zu  den 
chemischreinen  Warmqueilen  (Akratothermen  nach  Vetter)  gezahlt  und  in 
gleiche  Reihe  mit  Liebenzell,  WUdbad  und  Pfeffers  gestellt  werden. 
XUY.  Jahrg.  4.  Doppelheft.  35 


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Die  Nassmiischen  Heilquellen. 


Im  Allgemeinen  wird  das  Schlangenbader  Wo sscr  aar  zu  Bädern 
gebraucht,  selten  getrunken.  Die  Bewohner  dea  Orts  benutzen  es  zum 
diätetischen  uud  jedem  häuslichen  Gebrauche.  Innerlich  angewendet  ge- 
hört es  zn  den  mild  lösenden,  demulcirenden,  erweichenden,  blutverdün- 
nenden Mitteln  und  wird  seine  allgemeinen  Indikationen  da  finden,  wo  es 
gilt:  1)  einen  Zustand  von  Trockenheit,  Sprödigkeit  und  Spannung  in 
den  organischen  Geweben  zu  beseitigen,  2)  eine  erhöhte  Nervenreizbar- 
keit in  denjenigen  Theilen,  mit  welchen  es  in  direkte  Verbindung  ge- 
bracht werden  kann  (Schleimhaut  des  Mundes,  Halses,  Magens),  zu  bekäm- 
pfen, 3)  das  Blutplasma  zu  verdünnen,  Stockungen  im  Gefässsystem  zu 
heben,  exsudirtc  Stoffe  löslich  zu  machen,  4)  die  natürlichen  Ausschei- 
dungen des  Körpers  auf  die  mildeste  Weise  zu  bethätigen.  Bei  der  ge- 
ringen Menge  fester  Bestandtbeile  ist  diese  Wirkung  natürlicher  Weise  sehr 
schwach  und  untergeordnet.  Wichtiger  ist  die  W  i  r  k  u  n  g  s  w  e  i  s  e  d  e  s 
Schlangenbader  Wassers  bei  äusserem  Gebrauche.  Die  Wir- 
kung als  Bad  ist  als  eine  beruhigende,  das  Nerven-  und  Gefüsssy*tem 
herabslimmenilc,  zugleich  aber  erfrischende  und  belebende  allgemein  ge- 
schildert und  zur  Erklärung  derselben  bald  auf  eine  hyperpbysisohe  Ther- 
malkraft  (den  mystischen  Brunnengeist),  bald  auf  elektro-galvaoisch-mag- 
netisthe  Kräfte,  bald  auf  Urlebwesen  oder  ElemeDlarorganismen  (Kastoer) 
verwiesen.  Hypothetische  Kräfte  nnd  mystische  Wesen  sollten  den  Stoff- 
armuth  der  Thermen  ersetzen.  Mit  Recht  weist  der  Herr  Verf.  diese  Ne- 
beigebilde von  der  Hand  und  verschont  den  wissenschaftlichen  Arzt  mit 
einer  neuen  vielleicht  ebenso  umhüllten  Hypothese.  Nach  Hrn.  fiertrtnd's 
Erfahrungen  schliesst  sich  die  Wirkung  Scblangeubads  im  Allgemeinen  den 
Wirkungen  des  warmen  Wasserbades  an,  modificirt  und  erhöbet  jedoch 
durch  die  besondere  physikalische  und  chemische  Constitution  des  Schlan- 
genbader Wassers.  Die  ganz  eigentümliche  Weichheit  desselben  kommt 
hierbei  besonders  in  Betracht.  Der  schwache  mineralische  Gehalt  ge- 
währt in  vielen  Krankheitsfällen  und  für  manche  Individualitäten  unbe- 
streitbare Vorzöge  vor  bestandtheilreicheren  Quellen.  Der  Herr  Verfasser 
schildert  vorurteilsfrei  die  Primär-  und  Secundärwirkangen  des  äussern 
Gebrauchs  des  Schlangenbader  Wassers  ausführlich  und  gibt  dann  die 
speziellen  Indikationen  zu  dessen  Anwendung  bei  Nervenkrankheiten,  bei 
Gefässkrankheiten,  bei  Hautkrankheiten,  bei  Dyskrasien  and  bei  Krankheiten 
aus  vermehrter  Cohärenz  der  organischen  Tbeile  mit  Umsicht  and  dem 
Standpunkt  der  heutigen  Medicin  gemäss  an.  —  Eine  im  Schlangenbad 
errichtete  Molkenkuranstalt  dient  zur  Unterstützung  der  Therme. 


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Die  IVassnu iselipn  Heilquellen. 


Schwalbacb  von  Dr.  Ad.  Geoth  zu  Schwalbach  (S.  215 
bis  266). 

In  der  Reibe  der  Taunusbäder  repräsentirt  Schwalbach  die  Eisen- 
wasser. Der  Ort  Langenschwalbach,  eine  kleine  Stadt  aus  einer  langen 
Strasse  grösstenteils  bestehend,  liegt  900  Fnss  Uber  der  Meeresflache  nnd 
670  Fuss  über  dem  Rheinspiegel.  Die  Lag«  ist  gesund,  die  Temperatur 
etwas  niedriger,  als  in  den  benachbarten  Bädern.  Schwalbach  mit  sei- 
ner Umgebung  ist  reich  an  Mineralquellen,  Weinbrunnen,  Paulinen-  und 
fioseabrnnnen,  Ehebrunnen,  Stahlbrunnen,  Neu-  und  Brodelbrunnen.  Zum 
Korgebrauche  werden  verwendet  der  Wein-,  Stahl-,  Paobnen-  nnd  Ro- 
seobnnuen.  Die  Temperatur  der  verschiedenen  Brunnen  wechselt  zwi- 
schen +  5 V2— 81/»0  R.  Das  Wasser  ist  kryitallhell,  riecht  nach  Koh- 
Icnsänre,  schmeckt  tinlenartig,  erfrischend.  Es  perlt  stark,  und  anf  dem 
Boden  der  Quellen,  sowie  in  den  Abzugrobren  nnd  Reservoirs  findet  sink 
ein  ockerfarbiger  Sinter.  Naeb  der  neuesten  Untersuchung  Kastner's  ent- 
hält in  16  Unzen  der  Weinbrunnen  Eisenoxydul  1,0542000  Gran,  der 
Stahlbrunnen  1,0292000  Grau,  der  Paulinenbrunnen  0,9016000  Gran. 
Dar  Rosenbrannen  enthält  in  16  Unzen  6  Gran  feste  Bestandtheile  nnd 
besitzt  anter  allen  Schwalbacber  Brunnen  das  meiste  Eisen.  Kohlensaures 
Gas  besitzt  der  Weinbrunnen  27,850  K.  Z.,  der  Stahlbrunnen  29,150 
K.  Z.,  der  Paulinenbrunnen  39,580  K.  Z.  nnd  der  Rosenbrannen  26  KZ. 
in  16  Unzen.  —  Bei  Beurteilung  des  Ueilwerthes  einer  Eisenquelle  musa 
neben  Beachtung  der  Quantität  ihres  Eisens ,  vorzüglich  aar  die  Haltbar* 
keit  des  Wassers  Rücksicht  genommen  werden,  da  bekanntlich  die  Bisen- 
wasser an  der  Luft  sich  leicht  zersetzen,  indem  das  darin  gelöste  Eisen  - 
oxydnl  sich  hoher  orydirt  and  dadurch  anlöslich  wird.  Die  Zersetzung 
der  Eisensäuerlinge  ist  eine  Folge  der  Absorption  des  Sauerstoffes  aus 
dar  Atmosphäre  und  diese  steht  im  innigen  Zusammenbange  mit  dem  Ent- 
weichen der  Kohlensäure:  für  je  20  Raumtheile  entweichender  Kohlen- 
saure werden  0,21  Raumtheile  Sauerstoff  aufgenommen.  Diese  0,21  Raum- 
theile Sauerstoff,  angenommen  es  seien  Cubiksentimeter ,  reichen  gerade- 
hin, 0,265  Grammes  Eisenoxydul  in  Oxyd  überzuführen.  Die  Zeit,  in  wel- 
ober  eine  gewisse  Menge  Kohlensäure  aus  dem  Wasser  entweicht,  ist 
aber  niebt  bei  allen  Säuerlingen  dieselbe;  sie  ist  verschieden  nach  dem 
grösseren  oder  geringem  Gehalt  an  in  reinem  Wasser  löslichen  Salzen, 
so  dass  tun  dem  Wasser  mit  einem  reichern  Gehalte  von  Salzen  die  Koh- 
lensaure rascher  entweicht.  Aus  dem  Verhältnisse  der  Kohlensäure  zum 
Eisenoxydul  und  aus  dem  Gehalte  an  in  reinem  Wasser  löslichen  Salzen 
lasst  aich  die  Haltbarkeit  eines  Eisenwassers  annähernd  erschließen.  Die 

35* 


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548 


Die  Nassanischen  Heilquellen. 


Menge  freier  Kohlensäure  ist  in  sämmtlichen  Braunen  Schwalbachs,  zumal 
im  Paulinenbrunnen  sehr  beträchtlich  und  der  Gehalt  an  löslichen  Saiten 
sehr  gering.  Das  Schwalbacher  Wasser  gehört  sonach  durch  seine  Halt- 
barkeit und  seine  beträchtliche  Menge  Eisenoxydul  zu  den  atärkern  Ei- 
senquellen. Die  Untersuchungen  des  Weiubrunnens  in  dieser  Beziehung 
von  Apotheker  Erlenmayer  bestätigen  die  Haltbarkeit  des  Wassers.  Nach- 
dem der  Hr.  Verf.  die  Wirkung  der  einzelnen  Bestandth eile 
der  Quellen,  nämlich  des  Eisens,  der  Kohlensäure,  des  Was- 
sers und  der  Salze  nach  dem  gegenwärtigen  Standpunkte  der  Phar- 
makodynamik nach  chemisch-physiologischen  Grundsätzen  geschildert  hat, 
betrachtet  er  die  Gesammtwirkung  des  Schwalbacher  Was- 
sers. Es  betbätigt  die  Darmverdauung,  befördert  die  Aufsaugung,  bebt 
das  Blutleben  durch  Bereicherung  desselben  mit  den  vier  organischen 
Grundstoffen  und  steigert  dadurch  das  Assimilationsgeschäft  im  ganzen 
Körper,  vermehrt  die  Ausscheidung  des  Verbrauchten,  erregt  gelinde  und 
belebt  das  Nervensystem  und  vermindert  endlich  profuse  Absonderungen. 
Den  Unterschied  in  der  Wirkung  der  drei  Hauptbrunne n 
kann  man  etwa  so  bezeichnen:  Der  Weinbrunnen  wirkt  mehr  rein 
tonisirend,  ähnlich  der  China,  der  Stahlbrunnen  kräftig  adstringirend, 
der  Paulinenbrunnen  gelind  tonisirend  und  zugleich  resolvireud  und 
bei  seinem  grossen  Gehalte  an  Kohlensäure  leicht  irritirend. 

i  Aus  dem  Mitgeteilten  ergeben  sich  die  Anzeigen  zum  Ge- 
brauche des  Schwalbacher  Mineralwassers.  Es  sind  Schwä- 
chezustände, reine,  weder  auf  krankhaften  Ablagerungen  basirte,  noch  in 
erhöhter  Reizbarkeit  begründete  scheinbare  Schwächezuslinde,  ein  wirk- 
liches Darniederliegen  der  Lebensthätigkeit,  entweder  des  ganzen  Körpers 
oder  einzelner  Systeme  und  Organe.  Herr  Genth  schildert  nun  nach 
den  neuesten  anatomischen,  morphologischen,  chemisch-physiologischen  and 
pathologischen  Forschungen  und  Untersuchungen  die  vorzugsweise  hier  in 
Betracht  kommenden  Krankheitsznstände,  dio  Anömie,  Schlaffheit  des  Mus- 
kelsystems, die  Schwächezustände  der  Schleimhaut  und  der  äussern  Haut, 
die  Schwäche  des  Nervensystems,  der  Genitalien  u.  s.  w.,  bei  welchen 
die  Schwalbacher  Brunnen  Anwendung  finden  können.  In  Bezug  auf  die 
Art  der  Anwendung  des  Schwalbacher  Wassers  bemerkt  der 
Herr  Verf.,  dass  nach  seinen  Witterungsbeobachtungen  die  Quellen  vom 
Mai  bis  September  benutzt  werden  können.  Bei  dem  innerlichen  Gebrauche 
leitet  Herrn  Genth  im  AUgemeinen  die  Ueberzeugung,  dass  die  Wirksam- 
keit der  Eisenmittel  weniger  von  der  Menge  des  dem  Magen  einverleib- 
ten Metalls  abhängt,  als  von  dessen  gehöriger  Verarbeitung  und  Absorp- 


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L^lv     11  UOJH  UljL  UviJ     £lvlll|UCIICIIi  vt  J 

tion.  Bei  Anordnung  der  Bilder  fasst  er  das  Ergebniss  der  Untersuchun- 
gen von  Bertbold,  Youeg,  Maddan  ins  Auge,  wonach  der  Körper  in  ei- 
nem Bade  von  +21—20°  R.  mehr  aufnimmt,  als  bei  höbern  Tempe- 
ratorgraden. 

Die  Thermalquellen  zu  Ems,  von  Dr.  v.  Ibell,  Arzl  zu 
Bad-Ems  (S.  267—330). 

Ems,  an  einer  der  schönsten  Stellen  des  prachtvollen  Lahnthalj  ge- 
legen, bietet  vier  Gesundbrunnen:  1)  das  Krünchen,  mit  einer  Tem- 
peratur von  4~24°R. ,  2)  die  starke  Quelle  des  Kesselhrunnens 
mit  einer  Temperatur  von  -)~  380  R.,  3)  der  Fürsten brunnen,  mit 
einer  Temperatur  von  ~f-  28°  R.  nnd  4)  die  neue,  noch  unbenannte 
Quelle  auf  dem  linken  Lahnufer,  vis-a-vis  des  Kurgärtchens ,  mit  einer 
Temperatur  von  -(-  43°  R.  —  Wegen  bedeutenden  Vorwaltens  des  dop- 
pelt kohlensauren  Natrons  in  allen  Emser  Quellen  müssen  diese 
zu  den  erdig-alkalischen  Thermen  gezählt  werden.  In  16  Unzen  enthal- 
ten sie  alle  nach  Jung's  neuester  Analyse  12  bis  etliche  nnd  20  Gran 
doppeltkohlensaures  Natron,  mehrere  Gran  salzsaures  Natron,  etwas  weniger 
kohlensauren  Kalk  und  kohlensaure  Magnesia,  noch  etwas  weniger  schwe- 
felsaures Natron,  kleine  Quantitäten  von  Kieselerde,  noch  kleinere  von 
kohlensaurem  Eisenoxydnl  mit  Spuren  von  Mangan  und  von  Lithion.  Der 
Gebalt  der  einzelnen  Quellen  an  freier  Kohlensäure  erscheint  analog  ihrer 
verschiedenen  Temperatur  gleichmässig  verschieden,  und  kann  als  etwa 
zwischen  27 — 16  K.  Z.  sehwankend  angenommen  werden.  Die  neue,  noch 
ungenannte  Quelle  wurde  vor  Kurzem  von  D.  Stammer  untersucht;  sie 
enthält  in  16  Unzen:  16,0704  Gran  doppelt  kohlensaures  Natron,  1,84627 
Graa  doppelt  kohlensaoren  Kalk,  0,93004  Gran  doppelt  kohlensaure  Mag* 
nesia,  7,43437  Gran  Chlornatrinm ,  0,53990  schwefelsaures  Natron  und 
0,50227  Kieselerde.  —  Die  Badeanstalten  in  Bms  sind  zweckmäs- 
sig und  grossentheils  comfortabel  eingerichtet,  Sturzdoucben  und  trans- 
portable Pumpdouchen  sind  vorhanden ,  noch  fehlt  die  Einrichtung  eines 
Dunstbades.  Die  bekannte  „Bn  benquelle"  ist  eine  douche  ascendante; 
sie  ist  ein  natürlicher  Springbrunnen,  in  welchem  eine  der  Thermalquellen 
in  einem  Badebassin  zu  Tage  tritt.  Aus  einer  kleinen  am  Boden  dieses 
Bassiu's  angebrachten  Metallrühre  sprudelt  der  etwa  5  Linien  dicke  Was- 
serstrahl in  einer  Temperatur  von  25°  R.,  etwa  l2/;!Fu>s  hoch,  durch 
eigene  Triebkraft  empor.  Sie  wird  als  aufsteigende  Douche  in  manchen 
Krankheitsformen  der  weiblichen  Genitalien  mit  gutem  Erfolge  in  Anwen- 
dung gezogen,  doch  darf  sie  nur  mit  Vorsicht  gebraucht  werden,  da  sie 
kraftig  erregend  wirkt.    Unverstand,  Aberglaube,  schlaue  Spekulation  and 


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550 


Die  Nassanischen  Heilquellen. 


Charlatanerie  haben  sie  oft  genug  missbraucht  und  ihre  Wirksamkeit  mit 
Fabeln  und  Mahrchen  der  verschiedensten  Art  ausgestaltet. 

Bezüglich  der  therapeutischen  Bedeutung  der  Eraser 
Therme  im  Allgemeinen  müssen  als  die  therapeutisch  -  wichtigsten 
Agentien  hier  angesehen  werden:  1)  das  Wasser  mit  seiner  erhöhten 
Temperatur,  da  es  zu  -f-  15 — 30°  R.  getrunken  wird;  2)  die  Kohlen- 
säure,  welche  grossen  theils  durch  den  Magensaft  aus  einem  Theile  des 
doppelt  kohlensauren  Natrons  im  Hagen  entwickelt  wird;  3)  da»  doppelt 
kohlensaure  Natron,  die  kleine  Bienge  kohlensaurer  Magnesia  und  kohlen- 
sauren Kalkes;  4)  das  salzsanre  Natron  und  die  geringe  Quantität  ulz- 
sanrer  Magnesia  und  sulzsauren  Kalkes;  5)  die  kleine  Menge  schwefelsau- 
ren Natrons.  Die  geringen  Quantitäten  von  kohlensauren  Bletatbalzen, 
unter  welchen  das  kohlensaure  Eisenoxydul  noch  am  meiste»  in  Betracht 
zuziehen  seyn  durfte,  sind  zu  unbedeutend,  um  sie  als  wesentlich  wirk- 
same Bestandteile  der  Emser  Quellen  zu  betrachten.  Offenbar  kann  das 
Bmser  Wasser  nicht  als  ein  sehr  diflerentes  Mittel  angesehen  werden,  und 
seine  Heitwirksamkeit  dürfte  mehr  in  der  methodischen  Auwendung,  ab 
in  den  Bestandteilen  selbst  zu  suchen  seyn,  wobei  jedoch  der  Tempera- 
turgrad  des  Wassers  in  Anschlag  zu  bringen  ist,  welcher  weder  die  Tem- 
peratur der  innern  Organe  Ubersteigt,  noch  weit  hinter  derselben  zurück- 
bleibt. Die  Gesammtwirkung  des  Emser  Wassers  schildert  Herr  von  Ibell 
mit  den  Worten  des  würdigen  Dr.  Diel,  dessen  Schrift  wohl  in  den  Hän- 
den jedes  Arztes  ist,  und  fügt  dann  nach  den  neuesten  Fortschritten  der 
Wissenschaft  das  hinzu,  was  zur  Erklärung  der  therapeutischen  Bedeutung 
der  Emser  Duellen  und  der  Feststellung?  der  Indikationen  zu  deren  An- 

■  ■  ^*mmmmw*m*m  nm^rwm^mm        mm  mm  mm  w  »  »     v_  h   w  a.  »  w  ■  •  »  ■  •  mm  mm  m  v        mß  mm  mmtmm        mmmrm*  ^m  ^mi        m  m  mm 

Wendung  von  Wichtigkeit  ist.  Der  Herr  Verf.  geht  das  Speziellere 
aber  die  Indikationen  der  Emser  Thermen  ausführlich  durch. 
In  die  erste  Reihe  der  in  das  therapeutische  Bereich  dieser  Heilquelle  ge- 
hörenden Krankheiten  zühlt  er  alle  diejenigen  Kraukheitsproiesse ,  deren 
•  ist  wesentliche  Eigenschaft  abnorme  Saurebüdeng  ist,  &  B.  Bildung  von 
saurem  Harngries,  harnsaure  Btasensteine,  dann  Gicht,  Rheuma.  An  diese 
Krankheiten  schliessen  sieh  die  chronischen  Catarrbe  nicht  bloss  der  Luft- 
wege, sondern  auch  der  Genitalien,  des  Verdauungskauais  mit  ihren  Fol- 
gen an.  Bei  venöser  Crasis  des  Blutes  soll  die  Therme  ebenfalls  zu  em- 
pfohlen seyn.    Eine  andere  Reibe  bilden  die  nervösen  Leiden  und  hierher 

mühlk     Aar-    Hamm    V/irf      *■>>     kllsnmnina     {»nkkla      C„U.,„„U  J__  

zanii  oer  nerr  ven.  eine  allgemeine  lrniaoie  oenwaene  «es  iiervensy- 

wickelt,  dann  bei  krankhaften  Erscheinungen  des  Nervensystems,  die  man 
unter  dem  allgemeinen  Namen  des  Hysterismus  zusammenfügst.  —  Nach 


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Tranaactions  of  the  royal  society  of  Literaturc.  5M 

f,  IbolPs  eigner  Erfahrung  werden  mitunter  Sterilität  und  habituelle  Nei- 
gung zu  Abortus  durch  den  innern  und  äussern  Gebrauch  der  Thermen 
mit  Erfolg  bebandelt.  Nervöses  Asthma  wird  oft  gebeilt,  wenn  es  mit 
einer  chronisch- catarrhalischen  Heizung  der  Schleimhaut  der  Bronchien  in 
ursächlichem  oder  consecutiven  Zusammenhange  steht 

«Ab  Zeit  des  Gebrauches  empfiehlt  der  Herr  Verf.  mit  Wigelius 
die  mildern  Uebergangsjahrszeiten ,  Frühling  und  Herbst.  Die  mitunter 
übermassige  Sommerhitze  wirkt  oft  naobtheilig  auf  eine  grosse  Anzahl  der 
Kranken.  Die  Bemerkung  des  Hrn.  Verf.,  dass  selbst  im  strengsten  Winter 
(S.337)  das  Thermometer  in  Ems  nie  unter +12°,  höchsten -f  1 0°  R. 
falle,  ist  wohl  ein  Druckfehler.  Ems  hat  allerdings  eine  eigentümlich 
geschützte  Lage,  allein  es  fällt  doch  Schnee  dort,  wie  der  Herr  Verf. 
selbst  erwähnt,  und  so  ist  die  angegebene  Wintertemperatur  sicher  nicht 
möglich.  Doch  soll  damit  nicht  bestritten  werden,  dass  sich  für  beson- 
dere Fälle  Ems  zu  Winterkuren  eigne.  S 
Das  ganze  Werk  liefert  dem  wissenschaftlichen  Arzte  einen  kurzen 
Ueberblick  Uber  die  Nassauischen  Heilquellen  des  Taunus,  und  wird  dem- 
nach allen  denjenigen  Aerzten,  die  dem  Ballaste  und  den  oft  pomphaften 
Schilderungen  der  gewöhnlichen  Brunnen  schritten  abhold  sind,  eine  will- 
kommene Gabe  seyu,  da  es  das  Wesentliche  und  Wissenewerlhe  kurz  zu- 
sammengedrängt enthält.    Mögen  die  Herren  Verf.  von  Zeit  zu  Zeil  ihre 

neuern  Erfahrungen  mi »heilen! 

Main*.  F.  Mj.  Feint. 

ansactions  of  the  roual  societu  of  Liter ature  of  the  united  Kinadom. 
Second  Serie*.    London,  John  Murray,  Albemarle  Street.  i$*$r- 

mo.  vol  l  vu  und  m  s.  voi  il  vi  und  m  s.  vol  iu. 

407  &  «I  gr.  8. 

Die  einzelnen  Abhandtungen,  die  den  Inhalt  dieser  d  r  c  i  Bünde  bil- 
den, haben  mit  wenig  Ausnahmen  eine  Beziehung  auf  das  klassische  Al- 
terthum,  und  zwar  vorzugsweise  das  griechische,  ohne  dass  jedoch  da- 
rüber Rom  wie  der  Orient  unberücksichtigt  geblieben  wäre;  insbeson- 
dere ist  es  die  Kunstgeschichte,  die  Inschriftenkunde,  die  Mythologie  und 
Symbolik,  wie  die  alte  Geschichte  und  Geographie,  welche  durch  eine 
Reihe  von  Aufsätzen  nicht  Wenige  neue  und  beachtenswerte  Aufschlüsse 
gewinnen,  die  durch  die  verschiedentlich  beigefügten  Abbildungen  der  her 
schriebenen  oder  behandelten  Kunstwerke,  sowie  bei  geographischen  Ge- 
genständen, durch  Charten  und  Pläne  erläutert  werden:  dass  hier  die 
Ausführung  vorzüglich  ausgefallen  ist,  wird  bei  englischen  Werken  kaum 


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552  TransRctions  of  the  royal  sociely  of  Litcratmre. 

einer  Erwähnung  bedürfen;  vor  Allem  aber  glauben  wir  auf  die  Art 
und  Weise  aufmerksam  machen  zu  müssen,  in  welcher  die  zahlreichen 
griechischen  Inschriften,  welche  hier  zum  erstenmal  veröffentlicht  wer- 
den, in  Äusserst  treuen  und  in  die  Augen  fallenden  Copieo  wiederge- 
geben werden.  Da  nun  diese  Transactions  auf  dem  Continent  bisher  we- 
nig bekannt  und  verbreitet  gewesen  sind,  so  glauben  wir  vor  Allem 
unsere  Leser  wenigstens  mit  dem  Bestand  des  Ganzen  und  mit  dem  In- 
halt der  einzelnen  Aufsätze  und  Abhandlungen  in  der  Kürze  bekannt  ma- 
chen zu  müssen,  ohne  uns  in  ein  Detail  der  Kritik  dieser  in  so  verschie- 
dene Zweige  der  Altertumswissenschaft  einschlägigen  Aufsätze  einzulas- 
sen, wie  sie  hier  nicht  erwartet  werden  kann. 

Wir  beginnen  mit  dem  ersten  Bande,  dessen  erste  zwanzig  Sei- 
ten ein  Memoir  über  das  alte,  aber  durch  manche  berühmte  Männer  zu 
Ansehen  gelangte  Ins  eichen  Cos  von  William  Martin  Leake  ent- 
halten; es  wird  eine  geographisch  -  historische  Skizze  der  Insel  im  Al- 
terthum gegeben,  daran  scbliessen  sich  44  griechische  Inschriften,  da- 
runter einige  grössere,  welche  manche  bisher  nicht  bekannte  Namen  und 
selbst  neue  Formen  des  dorischen  Dialektes  bringen;  der  Zeit  nach  möch- 
ten sie  sämmtlich  in  die  Zeit  der  römischen  Herrschaft  fallen.  Ein  sau- 
ber gestochenes  Chörtchen  der  Insel,  auf  welchem  die  alten  und  neuern 
Ortsnamen  bemerkt  sind,  ist  beigefügt.  Nun  folgt  S.  20 ff.  ein  kurzer 
Aufsatz  Uber  Ton  und  Aussprache  einiger  englischen  und  deutschen  Wör- 
ter in  den  Zeiten  der  Römer  von  Sir  T.  Phillipps;  ebenso  S.  23  ff. 
Einiges  Uber  die  zwei  Bedeutungen  des  Wortes  7tdoiou.a  von  James  Or- 
chard  Hall i well;  S.  28 ff.  enthält  die  englische  üebersetzung  eines  von 
dem  deutschen  Professor  L.  Rosa  an  W.  M.  Leake  gerichteten  Schrei- 
bens über  das  Monument  des  Eubnlides  in  dem  inneren  Ceramicai;  S.  42  ff. 
eine  Abhandlung  des  Freiherrn  von  (Hammer)-P urgstail  über  das  Fest 
des  Valentinstages  am  14.  Februar;  S.  48 ff.  lesen  wir  eine  kurze  aber 
ansprechende  Erörterung  von  C.  T.  Beke  Uber  die  ägyptischen  Farben 
und  die  geschickte  Wahl  derselben  bei  der  Anwendung  auf  einzelne  Ge- 
genstände ;  daran  reibt  sich  S.  52  ff.  eine  andere  HittheUung  (von  Sir 
Garduer  Wilkinson)  über  die  zwei  von  Lord  Pmdhoe  in  das  britische 
Museum  geschenkten  Granitlöwen.  Die  daran  befindliche  Hieroglyphen- 
schrift lässt  die  Dedication  diesen  Löwen  an  den  Gott  Amun,  so  wie  den 
Namen  des  Fürsten  —  Amunoph  III  aus  der  achtzehnten  Dynastie  der 
ägyptischen  Monarchen  —  welcher  diese  Löwen  vor  einen  der  Tempel 
zu  Napata,  der  Hauptstadt  des  nördlichen  Küttens  aufstellte,  erkennen; 
und  da  vor  dem  Namen  dieses  Königs  andere  Hieroglyphen  standen,  die 


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Transactions  of  the  royal  Society  of  I.iteraturc.  .  553 

jetzt  vertilgt  sind,  so  wird  vermuthet,  dass  dieselben  den  Namen  eines 
älteren  Bruders  Amun-Toönh  enthalten,  welcher  mit  seinem  Bruder 
Isoge  gemeinschafllich  regiert;  ob  darin  der  Dan  aus  der  Griechen  zu 
erkennen  sey,  mag  unbestimmt  bleiben ;  nur  auf  die  Uebereinstimmung  der 
Zeit  wird  hier  hingewiesen.    Wir  Ubergehen  den  Aufsatz  von  James  Or- 
chard  Ha  Mi  well  über  gewisse  Zahlenbezeichnungen  des  Boethius  und 
deren  Ursprung  S.  56  ff. ,  so  wie  den  darauf  folgenden  Aufsatz  Uber  die) 
Aphrodite  Urania  von  James  Millingen  S.  62 ff.,  welcher  zur  Erörte- 
rung einer  im  britischen   Museum  befindlichen,  auch  iu  einer  Abbildung 
beigefügten  Figur  dieser  Göttin  dient.    Es  ist  dieses  Denkmal  zwar  von 
einer  schon  späteren  Zeit,  aber  wahrscheinlich  eine  Copie  eines  alteren, 
der  besten  Periode  der  hellenischen  Kunst  ungehörigen  Werkes,  da  die 
Anlsge  des  Ganzen  wie  die  Ausführung  im  Einzelnen  äusserst  elegant  und 
zierlich  ist;  mit  den  beiden  nun  folgenden  Aufsätzen  kehren  wir  wieder 
zu  dem  aegyptischen  Alterthum  zurück;  es  verbreiten  sich  nämlich  die 
beiden,  in  französischer  Sprache  abgefassten  Briefe  von  IM.  E.  Prisse 
S.  76 CT.  über  einige  bildliche  Denkmale  und  hieroglyphische  Legenden, 
welche  auf  mehreren  jetzt  meist  zerstörten  Tempelbauten  zu  Karnak  an- 
getroffen und  noch  vor  ihrer  gänzlichen  Zerstörung  wenigstens  durch  die 
davon  genommenen  Abdrücke  der  Wissenschaft  erhalten  wurden ;  sie  be- 
zieben sich  nach  des  Verf.  Deutung  auf  eiue  Reibe  von  fünf  Pharaonen, 
die,  nach  dem  äussern  Typus  und  der  Fassung  der  Gesichtszüge  zu  schlös- 
sen, einer  der  ägyptischen  Bevölkerung  fremden  Race  angehören  sollen, 
und  somit  vielleicht  die  Dynastie  des  Hykio's  oder  Hirtenkönige  bilden, 
was  uns  immerhin  noch  sehr  ungewiss  zu  sein  scheint.     Der  Verfasser 
möchte  dieselben  wohl  aus  dem  südlichen  Arabien  und  der  dort  vorherr- 
schenden Vermischung  der  kaukasischen  Race  mit  der  äthiopischen  herlei- 
ten.   Die  fortgesetzte  Lesuog  der  Hieroglyphen  und  die  aufmerksame  Be- 
obachtung ägyptischer  Houumente  selbst,  wird  hoffentlich,  bei  Ermange- 
lung aller  andern  schriftlichen  Zeugnisse,  hier  mit  der  Zeit  eine  feste  und 
sichere  Aufklärung  bringen  und  darum  wollen  wir  auch  hier  nicht  weiter 
der  zahlreichen  Versuche  neuerer  Zeit,  dieses  Räthsel  zu  lösen,  gedenken* 
weil  wir  die  Verwirrung,  die  ohnehin  hier  schon  gross  genug  ist,  nicht 
vermehren  möchten.    An  dieie  Briefe  reihen  sich  S..03ff.  Bemerkungen 
von  T.  J.  Newbold  über  die  gegenwärtige  Beschaffenheit  der  Orte, 
wo  einst  Antäopolis,  An  tum-  und  Hermöpolis  lagen.    Die  Erklärung  ei- 
nes merkwürdigen  Vnsenbildes,  das  aus  der  Necropole  des  alten  Cäre 
stammt  und  jetzt  im  britischen  Museum  sich  befindet,  auch  in  einer  gu- 
ten Abbildung  beigefügt  ist,  bildet  den  Gegenstand  des  nächsten  Aufsatzes 


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554  Transactions  of  the  royal  eociety  of  Liiertiare. 

von  S.  ßirch  £k  100  ff.  Der  Streit  des  Hercules  und  Acbelous  ist  hier 
in  einer  eigentümlichen,  bisher  nicht  bekennten  Weise  dargestellt.  — 
S.  108CF.  folgt  ein  Vortrag  von  J.  Bonomi  über  einen  goldenen  mit 
Hieroglyphen,  die  auf  die  Zeit  Thotmes  III  hinweisen,  bezeichneten  Ring  j 
dann  kommen  S.  113  ff.  zwei  die  Geographie  des  heiligen  Landes  betref- 
fende Mittbeilangen  von  Bob.  Woolmer  Cory,  die  eine  Uber  die  Lage 
der  alten  Orte  Bethel  (gerade  da,  wo  jetzt  das  Dorf  Beyleen)  und  Ain, 
die  andere  über  die  Lage  von  Stloh.  Sie  stimmen  mit  de*  anch  ander- 
wärts her  bekannten  Bestimmungen  dieser  Orte  (wir  verweisen  nur  auf 
Baumert  Palastina  in  der  dritten  Ausgabe)  in  ihren  Resultaten  so  ziem- 
lich übe  rein.  Die  nächste  Abhandlung  von  Gra uville  Penn  (S.  123 ff.) 
versetzt  uns  in  das  Gebiet  der  römischen  Literatur;  sie  enthüll  kritische 
Bemerkungen  zu  des  Horatius  Epistel  an  Torquatos  Kpist.  I,  5.;  dann 
folgen  S.  MO  IT.  wieder  Bemerkungen  von  Perring  über  einige  altagyp- 
tische  (in  Abbildung  beigefügte)  Beste,  welche,  unterbrochen  durch  zwei 
aufs  englische  Mittelalter  bezügliche  Mittheilungen,  S.  158 ff.  fortgesetzt 
werden  durch  verschiedene,  bis  S.  191  reichende  Bemerkungen  von 
J.  Bonomi  über  die  zu  Born  jetzt  befindlichen  Obelisken  und  Uber  einen 
andern,  aus  einem  Dorf  der  Thebais  nach  England  in  das  Museum  zu 
A In wick- Castle  gebrachten  Obelisken,  sowie  von  G.  Tomlinson  über 
den  flamin mischen  Obelisken  zu  Bom,  wobei  besonders  die  daran  befind- 
lichen Hieroglyphen  besprochen  und  zu  lesen  wie  zu  erklären  versucht 
werden.  Genaue  und  gelreue  Abbildungen  sind  beigefügt.  Denn  folgt 
ein,  wie  uns  dünkt,  gelungener  Versuch,  ein  schon  von  Winkelmann  in 
seiner  Geschichte  der  Knast,  aber,  wie  wir  glauben,  nicht  richtig  gedeu- 
tetes Vasenbild  auf  einem  anderm  und  zwar  sicherem  Wege,  zu  erklä- 
ren mittelst  Zugrundelegung  der  auf  dem  Vasenbilde  selbst  (das  von  der 
Hand  des  Künstlers  Midias  gefertigt,  jetzt  im  britischen  Museum  sieh  be- 
findet) eingezeichneten  Namen,  von  Gerhard.  Ohne  eine  Abbildung  hier 
beizugeben  wie  sie  in  feinem  Stich  diesem  Aufsatz  beicrefüfft  ist  können 
wir  Dicht  füg" hell  in  dss  Detail  dieser  Ürklurunj*  uus  einlassen,  kioigc  Be~ 
merkungen  von  Birch  über  den  Turiner  Popyrus  mit  dem  Künigsver- 
zeichniss,  S.  203  ff.  bescbliessen  die  Beihe  der  das  alte  Aegypten  betref- 
fenden Mittheilungen,  auf  welche  der  Beriebt  Uber  einen  nahe  bei  Preston 
in  Lancashire  gemachten,  bedeutenden  Fund  von  Münzen  folgt,  theils  cu- 
i  i seh oo  ^  t Ii q\ Is  on^t I & tx cfeisi s t# h e n  ^  l  Ii  c  1 1  s  \\ 8 roll n  i schoö  ^     3 s  w e  1 1 c? r  1  q  di  Om 

W.  M.  Leake  (S.  246  ff.)  über  den  Best  einer  von  einem  neapolitani- 
sehen  Fischer  gefundenen  metalleneu  Prora  eines  alten  Kriegsschiffes,  auf 


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Transactions  of  the  royal  society  of  Literatare. 


die  Inschriftenkunde,  die  hier  namhafte  Vermehrungen  gewinnt.  Zuerst 
nennen  wir  die  Mittheilung  von  James  Millingen  über  eine  auf  den 
Manzen  von  Hipponium  vorkommende  Insehrift  S.  226  ff.  Sie  zeigt,  dass 
die  wahre  und  richtige  Lesung  dieser  Inschrift  nicht  AANAINA,  wie  man 
früher  glaubte,  sondern  17ANAINA,  lautet,  sio  weist  dieselbe  Inschrift  auch 
auf  einer  Münze  von  Terina  nach  und  erklärt  dann  diesen  sonst  nirgends 
vorkommenden  Namen  für  den  einer  Gottheit,  welche  synonym  sey  mit 
Paudeia,  der  Tochter  als  Zeus  und  der  Selene.  Die  Beweise,  auf  welche 
diese  Erklärung  sich  stützt,  erscheinen  freilich  noeh  sehr  unsicher.  Es 
folgen  nun  vier  und  zwanzig,  bisher  nicht  bekannte,  mit  aller  Treue  co- 
pirte  griechische  Inschriften,  von  welchen  zwei  und  zwanzig  aus  den 
Ruinen  von  Apbrodisias  stammen,  zwei,  minder  bedeutende,  dagegen  aus 
dem  jetzigen  Dorfe  Nazli,  das  am  Mäander  nahe  bei  dem  alten  Nysa  liegt. 
Es  befinden  sich  darunter  einige  ziemlich  umfaugreiche;  der  Zeit  nach 
möchten  aber  auch  sie  fast  alle  in  die  römische  Periode  fallen,  dem  In- 
halt nach  sind  es  meistens  Ebrendokrete,  Stiftungsdenkmale  u.  s.  w.,  wie 
wir  sie  nun  aus  den  verschiedenen  kleinasiatischen  Städten  in  ziemlicher 
Anzahl  und  in  ziemlichem  Umfang  besitzen;  eine  dieser  Inschriften  stent 
bereits  im  Corpus  Inscriptt.  Nr.  2759,  aber  minder  volbländig,  wie  hier. 
Von  dem  auf  vier  Seiten  beschriebenen  Denkstein,  der  mitten  unter  den 
Ruinen  des  alten  Xanthus  sich  erhebt,  und  schon  von  Fellows  bei  seiner 
zweiten  Reise  nach  Lycien  copirt  worden  war,  gibt  uns  nun  derselbe  Rei- 
sende S.  251  ff.  einen  ganz  genaueu  und  getreuen  Abdruck,  der  auf 
vier  grossen  Blattern  einer  Abbildung  des  Denkmals  selbst  in  seiner  ge- 
genwärtigen Lage  folgt,  so  dass  nun  wenigstens  ein  verlässiger  Grund  und, 
Boden,  von  welchen  alle  weiteren  Versuche  der  Entzifferung  auagehen 
müssen,  gegeben  ist;  und  einen  solchen  versucht  nun  Oberst  Leake  hier 
zuerst  (S.  256  ff.)  mit  der  griechischen  aus  zwölf  Zeilen  bestehenden  In- 
schrift, welche  mitten  unter  die  lycischen  Inschriften  des  Steins  auf  einem 
Punkte  eingegraben  ist,  der  vielleicht  ursprunglich  leer  gelassen  war,  und 
darum  später,  wie  wohl  weiter  angenommen  werden  kann,  mit  dieser  grie- 
chischen Schrift  ausgefüllt  ward.  Dio  Lesung  der  Inschrift,  in  Vielem 
durchaus  richtig,  erregte  inzwischen  doch  bei  uns,  in  manchen  Theileq, 
namentlich  in  den  von  Herrn  Leake  versuchten  Ergänzungen  der  fehlen- 
den oder  verwischten  Buchstaben,  wesentliche  Bedenken,  wie  sio  auch  dem 
Verfasser  selbst  wohl  später  gekommen  seyn  mögen.  Denn  in  einer  spä- 
tem, dem  zweiten  Bande  dieser  Traiisaction*  &  27  IL  eingerückten  Ab- 
handlung hat  er  das  Ganze  einer  Revision  unterstellt,  die  ein  sehr  gutes 
Resultat  geliefert  und  unsere  Bedenken  damit  auch  erledigt  hat.    Da  der 


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556  Transactions  of  the  royal  sociefy  of  Lilerature. 

erste  Vers  einem  (noch  vorhandenen}  Epigramme  des  Simonides  entnom- 
men ist,  so  haben  wir  damit  auch  ein  sicheres  Datum  der  Errichtung  der 
Inschrift  in  so  weit  gewonnen,  als  sie  nicht  vor  Simonides,  sondern  viel- 
mehr einige  Zeit  nach  ihm  errichtet  worden  ist,  etwa  am  Anfang  des 
vierten  Jahrhunderts  vor  Chr.  (II,  35),  wo  nicht,  wie  wir  wenigstens 
zu  glauben  geneigt  sind,  noch  später.  Ein  Sohn  des  Harpagus  —  sein 
Name  ist  nur  iu  den  zwei  Endbuchstaben  12  sichtbar—,  welcher  in  den 
Spielen  gesiegt,  und  auch  durch  Kriegsthaten  sich  ausgezeichnet,  bat  die- 
ses Denkmal  den  zwölf  Göttern  auf  der  Agora  aufgerichtet:  diess  ist  der 
wesentliche  Inhalt  der  Inschrift.  Ueber  den  Namen  des  Errichten,  den 
Leafce  zuerst  auf  Datis,  dBnn  auf  Sparsis  deutete  —  beides  gleich 
unsicher  —  wagen  wir  keine  Vermuthung;  wohl  aber  theilen  wir  die 
Ansicht  des  gelehrten  Britten,  dass  alle  die  hier  vorkommenden  Inschrif- 
ten auf  die  Familie  des  Harpagns  sich  beziehen,  die  jedenfalls  in  Xan- 
thus  eine  bedeutende  Rolle  gespielt  und  eine  höhere  Stellung  eingenom- 
men haben  muss.  Sind  wir  einmal  dahin  gelangt,  die  lycischen  Inschrif- 
ten selbst,  welche  die  vier  Seiten  dieses  Steindenkmals  bedecken,  zu  ent- 
ziffern, und  wir  wollen  hoffen,  dass  diess  auf  sicherm  Wege  und  voll- 
ständig bald  geschieht,  so  wird  über  alle  diese  Punkte  kein  Zweifel  mehr 
sich  erheben,  und  unsere  Kenntniss  des  alten  Lyciens  in  einer  Weise  er- 
weitert werden,  die  auch  auf  andere  noch  dunkle  Partien  der  alten  Ge- 
schichte ein  neues  Licht  zurückwirft,  namentlich  aber  die  Verbaltnisse  der 
kleinaiiatischen  Staaten  unter  der  persischen  Oberherrschaft  uns  aufklärt. 
Denn  wir  glauben  allerdings  mit  dem  Verf.,  dass  die  Lage  Lyciens  wäh- 
rend dieser  Periode  eine  im  Ganzen  ruhige,  ja  glückliche  zu  nennen  war, 
hl  welcher  die  Künste  des  Friedens  und  der  Civilisation  ihren  ungestör- 
ten Fortgang  nahmen,  indem  das  Land  in  allen  seinen  inneren  Angelegen- 
heiten einer  gänzlichen  Unabhängigkeit  und  Selbständigkeit  sich  erfreute, 
wenig  um  die  persischen  Satrapen  sich  kümmerte,  und  diesen  auch  kei- 
nen beträchtlichen  Tribut  entrichtete. 

Nicht  minder  reiche  Beiträge  zu  der  Inschriftenkunde,  der  griechi- 
schen wie  selbst  der  römischen,  bringt  der  zweite  Band,  dessen  er- 
ster Artikel  von  W.  M.  L  e  a  k  e  eine  zu  Corfu  gefundene  Grabschrift  mit- 
theilt, welche  wegen  der  Form  der  Buchstaben  besondere  Aufmerksamkeit 
verdient;  demselben  Gelehrten  verdanken  wir  die  Mittheilung  mehrerer 
Inschriften  von  Delphi,  welche,  mit  einer  einzigen  Ausnahme,  bis  jetzt 
nicht  bekannt  sind  (S.  4 ff.);  es  sind,  wie  die  meisten  ähnlichen,  von 
diesem  Orte  bis  jetzt  bekannt  gewordenen  Inschriften,  theils  Ehrendekrete, 
Verleihungen  von  Privilegien  u.  s.  w.,  theils  Freigebungen  von  Sklaven. 


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Transactions  of  the  loyal  society  of  Literature.  557 

Eine  jetzt  in  der  Kirche  des  bl.  Elias  befindliche  Inschrift  aus  römischer 
Zeit  bezieht  sich  auf  den  Bau  der  Bibliothek  durch  die  Amphiktyonen 
aus  dem  Tempelscbatze;  eine  lateinische  Inschrift,  welche  den  Schluss  die- 
ser Millheilnng  bildet,  bezieht  sich  auf  die  Errichtung  eines  Tempels  und 
einer  Statue  des  Apollo  Auguslus,  neben  welcher  noch  die  tuber  uae 
deorum  (die  an  diesem  Tempel  befindlichen  kleineren  Capellen  der  12  Göt- 
ter oder  die  diesem  zugehörigen  Buden  oder  Kaufläden?)  sich  befinden.  Auch 
andere  sonst  noch  bemerkenswerte  Einzelheiten  kommen  in  diesen  In- 
schriften vor.     Der  S.  13  ff.  folgende  Aufsatz  von  James  Millingen 
über  die  eugubinischen  Tafeln  soll  den  Beweis  geben,  dass  die  Sprache 
dieser  Tafeln  von  eigentümlicher  Natur  ist  und  nicht  verstanden  werden 
kann,  weil  sie  ursprünglich  mit  der  Absicht  zusammengesetzt  worden,  sie 
unverständlich  zu  machen  (S.  18).    Dieser  Beweis  besteht  aber  in  nicht« 
Anderem,  als  in  der  Behauptung,  dass  die  Alten  neben  der  im  allgemei- 
nen Gebrauch  befindlichen  Sprache  eine  mysteriöse  gehabt,  die  sie  zu  be- 
stimmten religiösen  Zwecken  des  Cultus,  beim  Gebet  und  sonst,  auch  in 
einzelnen  Formeln  und  Sprüchen  als  ein  Mittel  gegen  Krankheit,  böse 
Geisler  u.  s.  w.  angewendet;  und  dann  werden  als  Beleg  dieser  Behaup- 
tung einige  der  bei  sympathetischen  Curen  der  allen  Börner  üblichen 
Sprüche,  deren  Worte  uud  Furmeln  aus  den  Liedern  der  saliscben  Prie- 
ster und  der  arvaliscben  Brüder  angeführt,  um  die  Anwendung  dieser 
Schrift  in  einem  absichtlich  unverständlichen  Sinn  auf  den  eugubinischen 
Tafeln  zu  beweisen.    Dass  mit  dieser  ganzen  Beweisführung  aber,  näher 
betrachtet,  Nichts  bewiesen  ist,  wird  keiner  weitereu  Ausführung  bedürfen. 

Unter  den  dann  folgenden  Abhandlungen  bemerken  wir  die  von 
Henry  Holland  über  Herodot's  Ca  d  y  t  is  II.  159 ;  sie  soll  die  Zweifel 
widerlegen,  welche  Wesseling  der  Annahme,  dass  hier  Jerusalem  zu 
verstehen,  entgegengesetzt  halle.  Die  in  Deutschland  in  neuer  und  neue- 
ster Zeit  darüber  geführte  Conlroverse  ist  dem  Verfasser  nicht  bekannt, 
sonst  würde  er  wohl  kaum  mit  dieser  Erörterung  aufgetreten  seyn;  denn 
nachdem  Hitzig  Wesseling^  Ansicht,  wornach  an  Gaza  hier  zu  denken 
sey,  wieder  aufgenommen,  ist  der  Gegenstand  aufs  Neue  untersucht  und 
verbandelt,  die  frühere  Ansicht,  wornach  hier  an  die  heilige  Stadt  oder 
an  Jerusalem  zu  denken,  aber  in  einer  Weise  bestätigt  worden,  die  kaum 
noch  ein  Bedenken  übrig  lassen  kann.  Wir  wollen  die  verschiedenen 
deutschen  Gelehrten,  deren  Forschungen  wir  dieses  Resultat  verdanken, 
nicht  anführen,  sondern  nur  an  einen  englischen  Gelehrten  erinnern,  Wil- 
kinson  Manners  etc.  I.  p.  165,  der  sich  mit  aller  Bestimmtheit  in  glei- 
chem Sinne  ausgesprochen  bat.    Der  nächste  Aufsatz  von  f.  Wright 


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558  Transactions  of  the  royal  socicty  oT  Liieratore. 

8.  68  ff.  schlagt  in  die  Literaturgeschichte  des  Mittelalters  ein  und  ver- 
breitet sich,  meist  aus  handschriftlich  entnommenen  Notizen,  über  zwei 
Autoren  des  Mittelalters,  die  über  den  Computus  geschrieben,  Helperi- 
c u s,  einen  englischen  Abt,  der  in  dem  Anfange  des  zehnten  Jahrhun- 
derts schrieb  und  Garlaudus  aus  Lothringen,  der  etwas  spater  fallt, 
jedenfalls  nach  dem  erstgenannten  lebte.  S.  76  ff.  folgt  ein  Aufsatz  von 
George  Burges  über  einige  Lücken  bei  Tbncydides  und  die  Mit- 
tel, dieselben  in  genügender  Weise  auszufüllen;  da  das  ganze  Verfahren 
dieses  Kritikers  auch  aus  andern  früheren,  dein  vorliegenden  ziemlieb  glei- 
chen Versuchen,  zur  Genüge  auch  in  Deutschland  bekannt  ist,  so  haben 
wir  wohl  kaum  nülhig  dabei  länger  zu  verweilen  und  wenden  uns  zn 
dem  nächsten  mit  einem  netten  Kartchen  begleiteten  Aufsatz  Aber  die 
Topographie  des  Homerischen  llium's  QS.  103  ff.),  von  dem  verstorbenen 
Ulrichs,  ins  Engtische  Ubersetzt  von  Patrick  Cotquhoun,  und  von 
diesem  mit  einigen  Worten  eingeleitet,  die  den  Stand  der  hier  behandel- 
ten Frage  und  die  verschiedenen  Meinungen  über  die  Lage  des  alten,  ho- 
merischen Troja's  übersichtlich  angeben.  In  Deutschland  ist  übrigens  der- 
selbe Aursatz  von  Ulrichs,  der  hier  ins  Englische  «benetzt  erscheint,  langst 
bekannt  durch  den  Abdruck  im  Rhein.  Mus.  N.  f.  III.  p.  573  ff.,  was  dem 
englischen  Uebersetzer,  der  von  dem  deutschen  Original,  als  von  einein 
noch  nicht  bekannten  spricht,  entgangen  ist.  Ob  freilich  Ulrichs  Ansicht 
die  richtige  ist,  muss  Ref.  noch  immer  bezweifeln,  da  ihm  bei  vielföltrger 
and  reiflicher  Ueberlegung  immer  noch  mehr  Gründe  für  die  Ansicht 
so  sprechen  scheinen,  welche  lieber  an  den  Hügel  bei  dem  Dorfe  Bou- 
narbaschi,  als  an  die  circa  eine  Stunde  davon  entfernte  Lokalität,  in 
welche  Ulrichs  nach  Strabo's  Vorgang  das  alte  Troja  verlegt,  denken 
Will.  Wir  freuen  uns  in  dieser  schon  früher  gewonnenen  und  auch  aus- 
gesprochenen Ansicht  durch  die  neueste,  so  schön  ausgeführte  Charte  der 
ganzen  Gegend  von  Forchhammer  bestärkt  worden  zu  seyn.  Nach  einer 
Abhandlung  von  John  Hogg,  S.  179  ff,  über  architektonischen  Schmuck, 
zunächst  den  bei  der  jonischen  Volula  angewendeten  Blumenschmuck,  wo- 
zu auch  eine  Tafel  mit  den  nüthigen  Abbildungen  gehört,  werden  wir 
wieder  in  des  Gebiet  der  Inschriftenkunde  geführt,  durch  eine  Abhand- 
lung desselben  Gelehrten,  S.  194 ff.,  welche  über  einige  in  den  alten 
Thermen  von  Segeste  gefundene  Inschriften  sich  verbreitet,  welche  hier 
ergänzt  und  erklart,  sowie  mit  weiteren  Bemerkungen  über  einen  Tempel 
des  Aeneas  in  dieser  Stadt  begleitet  werden.  Die  weitere  Fortsetzung 
dieser  epigraphischen  Mittheilungen  ist  unterbrochen  durch  eine  andere,  in 
•in  anderes  Gebiet  der  Epigrsphik  führende  Abhandlung  von  Sau  sei 


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Transnctions  of  the  royal  society  of  Literalure.  559 

Bircb,  S.  21s  ff.;  sie  enthalt  die  Lesung  und  Deutung  der  hieroglyphi- 
schen Inschrift,  welche  au  dem  nach  Constantinopel  gebrachten  Obelisken, 
der  in  das  Reich  des  Thotmes  III  verlegt  wird,  sich  befindet;  einige  neue 
Bereicherungen  von  griechischen  Inschriften  ans  Thessalien  und  Epirus  ge- 
ben die  Mittheilungen  von  Lyons  und  Lenke,  S.  229  ff. ,  so  wie  die 
Bemerkungen  Spratt's  über  Aulis,  Alycalessus  und  einige  Tbeile  von 
Kubas,  welche  auch  Uber  andere  daselbst  gefundene  Reste  des  Alterthuma 
sich  verbreiten.    Ein  kurzer  Aufsalz  von  W.  R.  Hamilton  über  die 
Budrun  fflarbles,  d.  b.  Uber  die  aus  dem  alten  Halicarnassus  jetzt  nach 
England  gebrachten  Scnlpturwcrke  zeigt,  dass  dieselben  iu  eine  schon 
spätere  Periode  fallen,  und  dem  berühmten  Mausoleum,  dem  Grabe  des 
Mausolus  (f  354  a.  Chr.}  angehörten.    In  das  Gebiet  der  Archäologie 
fällt  auch  der  nächste  Anfsatz  von  Thomas  Burgon  S.  258 ff.  Uber 
die  dem  heroischen  uud  homerischen  Zeitalter  angekörigen  Vasen;  neben 
einigen  kürzeren  Millheiluugen  von  J.  Landser  S.  310 ff.  über  die  per- 
sepolitanischen  Keilschriften,  uud  von  Bromet,  S.  3 1 6 IT. 9  Uber  einige 
lateinische ,  zu  Nismes  befindliche ,  mit  A  c  c  e  n  t  e  u  versehene  Inschriften 
(wir  verweisen  darüber  auf  das  Bulletino  deir  Institut.  1848.  p.  20.  21), 
gehören  die  Übrigen  Aufsätze  dieses  Bandes  dem  ägyptischen  Altertbum 
zu;  S.  297  ff.  steht  ein  Aufsatz  von  Bonomi,  der  eigentlich  zur  nähe- 
ren Erörterung  der  Herodoteischen  Stelle  U,  110  dient,  und  die  dort 
erwähnte  Statue  des  Sesostris  in  der  noch  vorhandenen,  jetzt  zu  Erde  ge- 
worfenen Statue  von  Metraheni  nachweist,  auch  eine  Abbildung  uebst  Pinn 
des  Ganzen  beifügt;  daran  schliefst  sich  S.  305 ff.  eine  Bemerkung  vou 
W.  Osburn  junior  Uber  den  Gott  Amuu  nnd  die  Ableitung  seines  Na- 
mens; umfassender  sind  die  Bemerkungen  von  S.  Bircb  Uber  das  jetzt 
im  Louvro  befindliche  Tablet  von  Karnak,  das  die  Züge  des  Thotmes  III 
enthalten  soll  und  dadurch  uichl  bloss  für  die  Geschichte  Aegyptens  selbst, 
sondern  auch  für  die  Kunde  der  angrenzenden  und  selbst  weiter  entfern- 
ten Gegenden  Mittelasiens,  mit  welchen  Thotmes  durch  diese  Kriegszüge 
Hk  eine  nähere  Berührung  kam,  Bedeutung  gewinnt.    Indessen  liegt  in 
der  Deutung  der  einzelnen  Worte,  namentlich  der  Ortsnamen,  noch  Man- 
ches Problematische,  was  noch  einer  näheren  Bestätigung  bedarf,  die  wir, 
in  Betracht  der  Wichtigkeit  des  Inhalts  dieser  Inschrift,  nur  sehnlichst 
wünschen  können.    Sind  einmal  in  ähnlicher  Weise  die  Keilschriften  von 
Nioive  entziffert,  wie  diese  hieroglyphwehen  Legenden,  so  wird  für  die 
jetzt  noch  so  dunkle  Geschichte  der  ältereu  Reiche  Asiens,  Aegyptens  wie 
Assyriens,  Babyloniens,  Persiens  u.  s.  w. ,  ja  selbst  Palästina^  ein  neues 
Licht  aufgeben  und  die  uns  jetzt  aus  schwacheu  griechischen  Berichten 
nur  bekannte  Geschichte  dieser  Länder  eine  ganz  andere  Gestalt  annehmen. 

Auch  der  dritte  Bnnd,  zu  dem  wir  uns  jetzt  wenden,  hat  es  vor- 
zugsweise mit  dem  ägyptischen  nnd  griechischen  Altertbum,  mit  Kunst  nnd 
Literatur,  mit  Geschichte  und  Geographie  zu  thun.  Auf  die  erste  grös- 
sere Abhandlung  von  J.  L.  Stoddart  (S.  1  — 127},  welche  sich  mit 
verschiede  neu  zu  Rhodos,  Cnidüs  und  andern  Orten  Griechenlands,  gefundenen, 
mit  Inschriften  versehenen  Resten  von  Töpferwerk  beschäftigt,  und  hier  wie- 
der für  die  Inschriftenkunde,  wie  selbst  für  die  griechischen  Antiquitäten 


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Tranaaclions  of  the  royal  society  of  Uteraiare. 


"Manches  Neue  bringt,  folgen  wieder  zwei  oder  vielmehr  drei,  das  alte 
Aegypten  betreffende  Miltheilungen ,  von  Hincks,  S.  128 ff.,  Uber  die 
auf  dem  Turincr  Papyrus  befindliche  Königsliste,  so  weit  sie  mit  Mane- 
tho's  sechster  und  zwölfter  Dynastie  correspondirt ;  vouS.  Birch  S.  151  ff. 
Uber  zwei  zu  Nimrud  (also  in  den  Resten  des  alten  Ninive)  gefundene 
ägyptische  Cartoucheo  und  Uber  anderen  dort  gleichfalls  gefundenen  El- 
fenbeinschmuck*, man  sieht  daraus,  welche  Verbindung  einst  in  früherer 
Zeit  zwischen  Aegypten  und  Assyrien  bestand;  eine  oäbere  Bestimmung 
der  Zeit,  in  welcher,  und  der  Veranlassung,  durch  welche  ägyptische 
Kunst  in  die  Sitze  der  assyrischen  Herrscher  geführt  ward,  jetzt  schon 
geben  zu  wollen  oder  bestimmte  historische  Folgerungen  an  dieses  Vor- 
kommen ägyptischer  Kunstdenkmale  und  hieroglyphischer  Schrift  in  den 
Ruinen  des  alten  Ninive  zu  knüpfen,  scheint  jedoch  noch  zu  früh  und  je- 
denfalls vor  Lesung  der  assyrischen  Keilschriften  noch  zu  gewogt  und  oo- 
sicher,  wesshalb  wir  auch  auf  den  letzten  Punkt  vorzugsweise  die  Be- 
mühungen der  Gelehrten  gerichtet  seheu  möchten.  Bemerkungen  von  John 
Hogg  über  die  Behauptung  von  Lepsius,  welche  in  dem  Berg  Serbai  den 
wahren  Berg  Sinai  erkannt,  wo  Moses  die  Gesetzestafel  empfangen,  fol- 
gen S.  183  ff.,  verbunden  mit  einigen  andern  Bemerkungen  über  das 
Manna  der  Israeliten  und  über  die  sinaitischen  Inschriften;  ein  äusserst 
nettes  Kartchen  der  Halbinsel,  in  welcher  der  Berg  Sinai  liegt,  ist  bei- 
gefügt. Den  übrigen  Theil  des  Landes  nimmt  grosseutheils  (S.  237— 
376)  eine  Abhandlung  geographisch-historischen  Inhalts  von  W.  L.  Leake 
über  das  alte  Syracus  ein,  ebenfalls  begleitet  von  einer  trefflichen  Karte, 
welche  die  Stadt  mit  ihren  Umgebungen  darstellt,  wie  von  einem  Plane 
des  Castelles  des  Euryalus.  Thncydides,  Diodor  und  Plutarch,  die  sieb  ins- 
besondere mit  dieser  Stadt  und  ihren  Schicksalen  beschäftigen,  to  wie 
auch  andere  Schriftsteller,  welche  mehr  gelegentlich  von  dieser  Stadt  re- 
den, gewinnen  manches  Licht  aus  diesen  Erörterungen,  welche  in  ihrem 
letzten  Theil  insbesondere  auch  über  die  Münzen  der  Stadt  sich  verbrei- 
ten. Zwei  kleinere  Aufsätze  machen  den  Schluss,  der  eine  von  Chur- 
chill Babington  über  die  Reste  der  Rede  des  Hyperides  gegen  De- 
mosthenes  hinsichtlich  des  Geldes  von  Harpalus,  S.  377  ff.,  der  andere 
von  S.  Birch  über  das  verlorene  Buch  des  Chäremon  über  die  Hiero- 
glyphen. (Diese  Abhandlung  ist  inzwischen  auch  ins  Französische  über- 
setzt nud  mit  Noten  begleitet  von  Lenormant  in  der  Revue  arch^o- 
logique  8  ann.  I.  p.  13 ff.  erschienen,  und  eben  so  hat  auch  Babington 
das  Ganze  in  einem  Quarthefle  herausgegeben  unter  dem  Titel :  The  ore- 
tion  of  Hyperides  against  Demosthones,  respecting  the  treatore  of  Harpa- 
lus etc.  with  a  preliminary  Dissertation  and  Notes  and  a  Facsimile  of  a 
portion  of  the  Ms.  by  Churchill  Babington.  London,  1850.)  Ein  ge- 
naues Register  der  behandelten  Gegenstände  ist  jedem  der  drei  Bände 
beigegeben;  die  äussere  Ausstattung,  wie  bei  allen  englischen  Werken 
ist  sehr  befriedigend  zu  nennen;  eben  so  correct  der  Druck;  denn  der 
einzige  Druckfehler,  den  wir  entdeckt  haben  Vol.  I.,  S.  75  in  der  Note 
(G.  Hermanns  Epistol.  ad  C.  D.  Olgenium  statt  Ilgenium)  ist  nicht  von 
dem  Belang,  um  unsere  Behauptung  umzustossen.         Co.  Bftmr.  - 


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St.  36.  HEIDELBERGER  1851. 

JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR. 


Veue  Forschungen  Alier  die  Freiheit  de«  Willen«. 


Sur  la  stalistiqve  morale  et  )es  principe* ,  qui  doicent  en  former  la 
base  par  Quetelet  >  secretaire  perpetuel  de  VAcademie  royale. 
Bruxelles,  iSi8. 

Die  grosse  Frage  über  das  Wesen  der  menschlichen  Freiheit  und 
ihres  Einflusses  auf  die  Handluogen  der  Menschen,  war  von  jeher  der 
Gegenstand  der  sorgfaltigsten  Forschungen  der  Philosophen,  der  Theolo- 
gen wie  der  Juristen.    Es  war  zu  beklagen,  dass  ma»  zur  Lösung  der 
Frage  nicht  auch  der  Forschungen  der  Statistik  sich  bediente,  um  durch 
die  gewissenhafte  Sammlung  von  gewissen  Thatsachen  aus  der  Gleichför- 
migkeit, mit  welcher  bestimmte  Erscheinungen  vorkommen,  auf  gewisse 
Gesetze  der  moralischen  Welt  und  damit  auf  Gesetze  zurückzuschliessen, 
weichen  die  menschliche  Natur  ebenso  gehorchen  muss,  wie  die  physische 
Welt  durch  bestimmte  Gesetze  beherrscht  wird.    Niemand  war  zur  Be- 
gründung einer  Wissenschaft  der  moralischen  Statistik  und  zur  Anwen- 
darg derselben  auf  das  Wesen  der  Willensfreiheit  mehr  geeignet,  als 
der  geistreiche,  gründliche  und  edle  Quetelet  in  Brüssel,  dessen  Werk: 
sur  Thomme  et  Ie  developpement  des  ses  facultes,  Paris,  2  vol.  1835,  zu- 
erst den  Beweis  leistete,  dass  es  dem  Menschen  vergönnt  ist,  wenigstens 
bis  zu  einer  gewissen  Gränze,  die  Gesetze  der  physischen  wie  der  mo- 
ralischen Welt  zu  ergründen.    Eine  seltene  Verbindung  der  feinsten  Be- 
obachtungsgabe, der  gewissenhaftesten,  gründlichsten  Sammlung  von  That- 
sachen, und  der  Erscheinungen ,  wie  sie  die  sorgfältigste  Erkundigung  in 
allen  Theilen  der  gebildeten  Welt  liefern  kann,  der  richtige  Sinn  für 
Gründlichkeit,  rastlose  Bemühungeu,  jeden  Zweifel  zu  beseitigen,  verei- 
nigt mit  einer  seltenen  Zergliederungskunst  und  einem  wahren  philosophi- 
schen Geiste,  welcher  den  Urgrund  der  Diuge  zu  erforschen  sucht  und  in 
den  Tiefen  der  Wissenschaft  die  leitende  Grundsätze  lindet,  setzten  den 
trefflichen  Quetelet  vor  Allen  in  den  Stand,  Beitrüge  zu  jener  Wissen- 
schaft zu  liefern,  welche  die  tiefsten  Geheimnisse  der  Natur  und  die  wich- 
tigsten Fragen  der  Menschheit  zu  ergründen  bezweckt.    Schon  im  Jahr 
1829  machte  Quetelet  seine  Forschungen  sur  la  reproduetion  et  la  morta- 
lite  de  Thomme  bekannt.  In  den  Jahren  1831 — 33  erschienen  dieForschun- 
XL1Y.  Jahrg.  4.  Doppelheft.  36 


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562  Quetelet:   Sur  la  atntistiquc  moralc. 

gen  Quetelefs  über  die  Neigung  zur  Verübang  von  Verbrechen  in  ver- 
schiedenen Lebensaltern.  Im  Jahr  1835  trat  das  wichtige  Werk  des 
Verf.:  sur  Phomme  et  le  dlveloppement  de  ses  facultes,  an  das  Licht,  und 
erweckte  die  allgemeine  Aufmerksamkeit.  Im  Jahr  1846  erschien  das 
Werk:  lettre«  sur  la  tbeorie  des  probabilites  appliquee  aux  scieuces  mo- 
rales.  Im  Jahr  1847  legte  Quetelet  nach  dem  dritten  Bande  der  bulle- 
tins  de  la  comraission  centrale  de  statistique,  seine  Arbeit  vor:  de  Fin- 
fluence  du  libre  arbitre  de  Thomme  sur  les  faits  sociaux  et  particulierement 
sur  le  nombre  de  mariages  vor.  Schon  1846  war  die  Schrift,  welche 
wir  eben  anführten,  der  Akademie  der  Wissenschaften  in  Brüssel  vorge- 
legt, welche  zwei  ihrer  Mitglieder  Herr  de  Decker  und  ran  Meenen  be- 
auftragt, einen  Bericht  Über  die  neue  Vorlage  zu  liefern.  Im  Jahr  1848 
erschien  in  dem  XIX.  Bande  der  Memoires  der  Akademie  die  Schrift  von 
Quetelet  mit  den  dazu  gehörigen  Berichten.  Bereits  in  der  angeführten 
Schrift  von  1847  war  Quetelet  zu  der  Behauptung  gekommen,  dass  in 
einer  der  wichtigen  Klassen  der  gesellschaftlichen  Thatsachen,  bei  wel- 
chen die  Freiheit  des  Willens  die  grösste  Rolle  spielt,  Alles  bis  zu  den 
kleinsten  Einzelnheiten  von  Jahr  zu  Jahr  mit  einer  Gleichförmigkeit  nnd 
Regelmässigkeit  vor  sich  geht,  welche  leicht  zu  dem  Glauben  rühren  kön- 
nen, dass  die  Wirkungen  der  Willensthätigkeit  der  Menschen  fast  ganz 
als  aufgehoben  betrachtet  werden  mttsite.  In  dem  Werke,  dessen  Titel 
wir  oben  angegeben  haben,  stellte  Quetelet  als  Ergebnisse  seiner  For- 
schungen folgende  auf:  1)  Die  moralischen  Thatsachen  unterscheiden  sich 
von  den  physischen  durch  die  Dazwischenkunft  einer  besonderen  Ursache, 
welche  bei  dem  ersten  Anblick  alle  menschliche  Vorhersicht  zu  vereiteln 
scheint,  nämlich  durch  die  Dazwischenkunft  der  Freiheit  des  Willens.  Die 
Erfahrung  lehrt  jedoch,  dass  diese  Freiheit  ihren  Binfloss  nnr  in  einem 
beschränkten  Wirkungskreise  geltend  macht  und  dass,  zwar  höchst  fühl- 
bar für  die  Individuen,  es  keine  für  das  gesellschaftliche  Gante  zu  be- 
rechnende Thätigkeit  gibt,  wo  alle  individuellen  Besonderheiten  auf  ge- 
wisse  Weise  neutraiisirt  werden.  21  Betrachtet  man  die  Menschen  im 
Allgemeinen,  so  stehen  die  moralischen  wie  die  physischen  Thatsachen 
unter  dem  Einflüsse  der  nämlichen  Ursachen  und  sind  den  gleichen  Grand- 
Sätzen  der  Beobachtung  unterworfen.  In  den  Ursachen,  welche  anf  unser 
•ociales  System  einwirken,  sind  nur  geringe  Abweichungen  bemerkbar; 

rlnrnnc    orrriht     «ink    Aim     ar  iVI>»lirhn     C\a  ir  h  (t\r  mi  n\i  «i  t       -,.|,|,a     J:A    — — -H 

uaruus  cigiui   siiii  uie   crsicuviicuc   uioiviiiurniig &cii ,    *>cicuö   uio  gcseii— 

schaftlichen  Thatsachen  beherrscht,  in  Bezug  auf  Ehe,  Verbrechen,  Selbst- 
nord. 3)  In  der  moralischen  Statistik  können  die  Elemente  nicht  un- 
mittelbar bemessen  werden ;  es  bedarf  hier  eines  Anhaltspunktes,  den  das 


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Princip  gewährt,  dass  die  Wirkungen  im  Verhältnisse  zu  den  sie  erzeu- 
genden  Ursachen  stehen.  4}  Bei  der  Beobachtung  der  nämlichen  Klasse 
von  Thalsachen  gestattet  die  grössere  oder  geringere  Häufigkeit  dersel- 
ben den  Schlnss  auf  die  stärkere  oder  geringere  Neigung  dieselben  her- 
vorzubringen. Diese  so  bestimmte  Neigung  hat  aber  keine  absolute  Ei- 
genschaft, und  es  gibt  keine  Einheit,  welche  als  Massstab  dienen  kann, 
die  Neigung  kann  nur  eine  relative  Bedeutung  haben,  nämlich  im  Ver- 
hlltniss  zu  einer  anderen  Neigung  aufgefeast.  Wenn  man  daher  annimmt, 
dass  auf  eine  Million  Menschen  von  35 — 40  Jahren  zweimal  so  viel  Hei- 
rothen kommen  als  auf  eine  Million  Menschen  von  40  —  50  Jahren ,  so 
darf  man  behaupten,  dass  bei  den  Ersten  die  Neigung  zu  heiratben,  zwei- 
mal so  gross  ist,  als  bei  den  Zweiten.  5)  Die  aus  der  Beobachtung  der 
Thatsachen  abgeleitete  Neigung  ist  nur  eine  ftusserlich  bemerkbare  ange- 
nommene und  unter  gewissen  Umstanden  weicht  sie  bedeutend  von  der 
wirklichen  ab,  z.  B.  in  Bezug  auf  Vergiftungen,  da  ungeachtet  der  Tha> 
tigkeit  der  Justiz  eine  grosse  Zahl  dieser  Verbrechen  immer  unentdeckf 
bleibt.  6)  Diese  üusserlich  erkennbare  Neigungen  kann  man  in  vielen 
Fällen  statt  der  wirklichen  annehmen;  z.  B.  in  Frankreich  zählt  man  bei 
sonstiger  Gleichheit  der  Verhältnisse  zweimal  so  viel  Vergiftungen,  welche 
von  Personen  von  45 — 50  Jahren  begangen  werden  ala  von  denjenigen, 
die  55—60  Jahre  alt  sind.  Die  Neigung  in  der  ersten  Klasse  kann  da- 
her als  doppelt  so  stark  als  in  der  zweiten  Klasse  angenommen  werden; 
man  darf  annehmen,  dass  diese  so  erkennbare  Neigung  mit  der  wirkli- 
chen Übereinstimmt,  wenn  die  Justiz  ebenso  thötig  ist,  die  Schuldigen 
von  45—50  zu  erreichen,  als  die  von  55  —  60.  —  Wenn  dann  auob 
m  diesem  Falle  die  durch  Vergleichung  gefundenen  Zahlen  geringer  sind 
ala  die  in  der  Wirklichkeit  vorhandenen,  so  tritt  doch  die  Verminderung 
im  gleichen  Verbältnisse  bei  beiden  Klassen  ein.  7)  Die  Vergleichung 
darf  immer  nur  auf  den  Grund  von  gleichartigen  Thatsachen  gemacht  wer- 
den; daher  kann  man  die  allgemeinen  Berichte  über  die  Strafjustiz  in 
Frankreich  nicht  mit  denen  in  England  bekannt  gemachten  vergleichen; 
die  Vergleichung  in  Frankreich  passt  nur  bei  den  Verbrechen  der 
gleichen  Beschaffenheit.  8)  Beschränkt  sich  die  Vergleichung  auf  eine 
bestimmte  Reihe  von  Thatsachen  im  nämlichen  Lande,  ao  sind  doch  nicht 
alte  Thatsachen  gleich  wichtig,  weil  sie  unter  sich  durch  zahllose  Ab- 
stufungen wechseln.  Wenn  man  aber  auf  eine  grosse  Zahl  von  Mensches 
die  Vergleichung  bezieht,  so  bemerkt  man,  dass  in  ihren  moralischen  Ei- 
genschaften das  nämliche  Verhältniss,  wie  bei  ihren  physischen  eintritt; 
man  kann  eine  Durchschnittszahl  annehmen,  um  welche  sich  alle  beob- 

36* 

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564 


Quetelet:  Sur  Ia  slatütique  morale. 


achteten  Elemente  mehr  oder  minder  gestalten,  und  ihr  Zusammentreffen 
geschieht  nach  einem  bestimmten  Gesetze,  welches  das  Gesetz  der  Mög- 
lichkeit ist,  das  für  alle  den  Einflüssen  zufälliger  Ursachen  unterworfenen 
Thatsachen  das  Nämliche  bleibt.    Dies  sind  zuletzt  die  Durcbschnittsver- 
hältnisse,  die  man  unter  sich  vergleicht;  sie  sind  um  so  mehr  von  allen 
zufälligen  Ursachen  befreit,  je  mehr  sie  sich  auf  eine  grosse  Zahl  von 
Menschen  ausdehnen.  9}  Die  bisher  aufgestellten  Grundsätze  sind  auf  die 
Bildung  einer  Verbrechenstafel  angewendet,  welche  für  die  verschiedenen 
Alter  die  Grade  der  Neigung  zu  Verbrechen  angibt.    Dabei  findet  man, 
dass  das  Gesetz  der  Entwickelung  der  Neigung  zum  Verbrechen,  das 
Nämliche  ist  für  Frankreich,  Belgien,  für  Baden  und  England  (als  die  Län- 
der, deren  Beobachtungen  bekannt  sind).    Diess  Gesetz  wiederholt  sich 
auf  gleiche  Weise  immer  uach  den  besonderen  Ergebnissen  eines  jeden 
Jahres  seit  19  Jahren  (seit  welcher  Zeit  Frankreich  die  Tabellen  über  die 
Wirksamkeit  der  Gerichte  bekannt  machte).   Die  Neigung  zu  Verbrechen 
bei  Personen,  die  dem  Alter  der  Erwachsenen  sich  nähern,  wächst  sehr 
rasch,  erreicht  ein  Maximum  und  nimmt  dann  wieder  bis  zu  den  ausser- 
sten  Grunzen  des  Lebens  ab.    In  Frankreich  zeigt  sich  für  die  Verbre- 
chen überhaupt  das  Maximum  gegen  das  24.  Jahr,  in  Belgien  2  Jahre 
später,  in  England  uud  Baden  dagegen  früher.    Eine  wesentliche  Ver- 
schiedenheit zeigt  sich  in  Bezug  auf  die  Geschlechter.    In  Frankreich  ist 
das  Maximum  bei  den  Männern  um  ein  Jahr  früher  als  bei  den  Frauen, 
und  ist  viermal  grösser.     Auch  nach  der  Beschaffenheit  der  Verbrechen 
zeigt  sich  grosse  Verschiedenheit;  bei  den  Verbrechen  gegen  das  Eigen- 
tum entwickelt  sich  die  Neigung  zum  Verbrechen  zwei  Jahre  früher  als 
bei  den  Verbrechen  gegen  die  Personen,  und  ist  dreimal  stärker.  Be- 
trachtet man  die  Hauptverbrechen  nach  der  frühzeitig  hervortretenden  Nei- 
gung zu  denselben,  so  lassen  sie  sich  in  folgender  Ordnung  aufstellen;  Dieb- 
stahl, Nothzucht,  Körperverletzungen,  Todtschläge,  Mordthaten,  Vergiftun- 
gen, Fälschungen.    10)  Auch  der  Selbstmord  unterliegt  einem  Gesetze, 
das  aber  von  dem,  das  die  verbrecherischen  Meinungen  bestimmt,  abweicht 
und  darin  besteht,  dass  die  Neigung  zum  Selbstmorde  mehr  oder  minder 
seit  der  Kindheit  sich  entwickelt,  allmählig  gegen  das  Alter  der  Erwach- 
senen zu  wächst  und  beständig  gegen  das  Greisenalter  zu  sich  vermindert. 

Die  Begründung  dieser  wichtigen  Sätze  ist  höchst  merkwürdig.  Der 
Verf.  bemerkt  (p.  5),  dass  bei  den  Ehen,  deren  Zahlenverhältnisse  sich 
genau  nachweisen  lassen,  die  Eigenthümlichkeit  sich  bewährt,  dass  sie 
mit  einer  Regelmässigkeit  erfolgen,  die  ausser  der  Sphäre  der  Thätigkeit 
der  Individuen  liegen.   Alle  Forschungen  lehren,  dass  der  freie  Wille  des 


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Onetelet:    Sur  la  Statist iqne  m orale.  565 

Menschen  aufgehoben  oder  ohne  bemerkbare  Wirkung  ist,  wenn  die  Be- 
obachtungen auf  eine  grosse  Zahl  von  Menschen  ausgedehnt  werden.  Die 
Wirkungen  aller  Einzeln  willen  neutralisiren  sich  oder  heben  sich  einander  auf. 
Neigungen  und  Launen,  welche  bei  den  Einzelnen  gewisse  Handlungen  zu 
erzeugen  scheinen,  hängen  von  Sitten,  Ansichten,  Vornrtheilen  ab,  und 
diese  werden  wieder  durch  die  Nation  bestimmt,  der  die  Einzelnen  an- 
gehören. —  Um  moralische  Eigenschaften  zu  würdigen  und  die  Gesetze, 
welche  sie  beherrschen,  zu  erkennen,  übrigt  (p.  7)  nur  das  Mittel,  von 
den  Wirkungen  auf  die  Ursachen  zu  schliessen  und  hiezu  bedarf  es  der 
Erforschung  der  Handlungen  der  Menschen;  der  Verf.  macht  die  Anwen- 
dung dieser  Regel,  um  zu  erkennen,  in  welchem  Verhältnisse  die  Nei- 
gung sich  zn  verheiraten  und  die  Zahl  der  Ehen  unter  gegebenen  Um- 
ständen sich  kund  gibt  und  verweilt  dann  bei  dem  schwierigsten  Punkte, 
den  der  Erforschung  der  Zahlen  der  Verbrechen;  der  Verf.  bemerkt 
(p.  11),  dass  man  nicht  die  Verbrechen  Uberhaupt  zusammenfassen  dürfe, 
weil  darüber,  was  Verbrechen  ist,  bei  verschiedenen  Völkern  selbst  grosse 
Verschiedenheit  herrscht  und  selbst  ühnliche  Verbrechen,  z.  B.  Mord  und 
Kindestödtuog  nicht  unter  sich  verglichen  werden  können,  daher  man  die 
verschiedenen  Kategorien  von  Menschen  nur  unter  dem  Gesichtspunkt  der 
nämlichen  Verbreeben  betrachten  dürfe.  Es  ändert  dabei  nichts,  wenn 
auch  durch  ausserordentliche  Verbaltnisse  Abweichungen  von  dem  Ergeb- 
nisse vorkommen ;  verfolgt  man  die  Thatsachen  in  einer  langen  Reihe  von 
Jahren  und  bei  vielen  Menschen,  und  bemerkt  man,  dass  unter  gewissen 
Verhältnissen  gleichförmig  bestimmte  Verbreeben  häufig  verübt  werden, 
so  darf  man  diesen  Verhältnissen  auch  die  Kraft  zuschreiben,  dass  sie 
die  Neigungen  zu  dem  Verbrechen  mehr  erzengen  als  andere.  Der  Verf. 
bemerkt  (p.  13),  dass  bei  allen  Menschen  die  Möglichkeit  besteht,  ge- 
gen die  Gesetze  anzukämpfen,  um  gesetzwidrige  Handlungen  zu  verüben; 
allein  diese  Möglichkeit  hat  wieder  viele  Abstufungen,  so  dass  bei  Eini- 
gen sie  fast  gar  nicht,  bei  Andern  mit  ungeheuerer  Stärke  vorkömmt. 
Die  Einflüsse  zu  bemessen,  welche  diese  Abstufungen  der  Neigungen  zn 
Verbrechen  bestimmen,  ist  eine  Aufgabe  der  moralischen  Statistik.  Mit 
dem  gewohnten  Scbarfsiun  und  der  Gewandtheit,  eine  Fülle  von  Thatsa- 
chen zu  beherrschen,  macht  der  Verf.  die  Anwendung,  um  aus  der  Crim- 
minalstatistik  Frankreichs  zu  finden,  wie  die  Neigungen  zum  Verbrechen 
in  gewissen  Lebensstufen  sich  an  den  Tag  legen  und  findet,  dass  mit  der 
grössten  Stärke  die  Neigung  zum  Verbrechen  von  21  —  25  Jahren  sich 
ausspricht  und  zwar  doppelt  so  stark  als  vom  45.  Jahre  an.  Der  Verf. 
erklärt  die  Erscheinung  (p.  21)  dadurch,  dass  die  stärkste  Neigung  zum 


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Quclelet:   Sur  la  statistique  niorale. 


Verbrechen  sieb  kund  gibt,  wenn  die  physische  Entwickelung  geschlos- 
sen ist,  wenn  die  Leidenschaften  in  ihrer  vollen  Stärke  ihren  Einüuss  Oben, 
wenn  gesetzlich  der  Mensch  emaneipirt  gilt  und  doch  die  Vernunft  naht 
ihre  volle  Reife  erlangte.  Die  Neigung  verliert  allmahlig  ihre  Stärke,  wenn 
der  Mensch  heirathet,  wenn  die  Sorge  für  die  Familie  ihn  in  Anspruch  nimmt 
und  die  Vernunft  anfängt,  die  Heftigkeit  der  Leidenschaften  zu  beherr- 
schen. Der  Verfasser  wendet  sich  nun  auf  ähnliche  Weise  durch  genaue 
Zergliederung  der  Ergebnisse  der  Tabellen  der  Strafjustiz  in  Beaug  auf 
die  einzelnen  Verbrechen  und  kömmt  zu  den  Beobachtungen,  die  wir  oben 
bereits  angaben  Uber  das  Verhaltniss  der  Neigung  zu  gewissen  Verbre- 
chen. Die  von  ihm  gezogenen  Schlüsse  werden  durch  die  Erfahrungen 
anderer  Länder  bestätigt,  a.  B.  in  Bezug  auf  die  Not  Irnich  t.  Sie  kömmt 
am  häufigsten  vor  in  dem  22.  Jahre,  nimmt  dsnn  allmählig  ab  bis  tu 
50—55  und  steigt  wieder,  so  dass  sie  besonders  von  Personen  zwischen 
60  und  70  Jahren  verübt  wird.  Bin  merkwürdiges,  durch  aUe  Tabellen 
gleichförmig  bestätigtes  Verhaltniss  ist,  dass  gegen  das  28.  Jahr  die  Nei- 
gung zu  Verwundungen  und  Tödtungcu  am  hüuligsten  vorkömmt,  wahrend 
Vergiftungen  und  Fälschungen  in  späteren  Jahren  (z.  B.  die  Fälschungen 
am  meisten  von  Personen  zwischen  40  nnd  45  Jahren)  verübt  werden. 
Alle  diese  Beobachtungen,  die  auf  unwiderlegbare  Beweise  gegründet 
werden,  zeigen  den  Reichthum  der  kleinen  Schrift,  und  sind  geeignet  au 
ernsten  Forschungen  aufzufordern;  sie  lassen  den  Menschen  einen  Blick 
in  sein  Inneres  werfen  und  lehren  gleichsam ,  welche  Schule  des  Lasters 
der  Mensch,  wenn  nicht  Religion  nnd  Moral  ihn  durch  das  Leben  führen, 
durchwandert.  In  den  Jahren,  in  welchen  die  volle  physische  Kraft  dem 
Menschen  einwohnt,  wo  die  Macht  der  ungezügelten  Leidenschaften  ihn 
antreibe,  sind  es  die  Verbrechen,  zu  deren  Verübung  physische  Kraft 
und  Muth  gehören  und  die  mit  Gewalt  verübt  werden,  zu  welchen  in  solchen 
Jahren  am  stärksten  die  Neigung  treibt  und  wo  der  überhaupt  in  das 
Leben  wild  hereinstürmende  und  nur  seinen  Neigungen  sich  überlassende 
Mensch  auch  rasch  das,  wozu  seine  Leidenschaft  ihn  antreibt,  ausführt 
In  den  späteren  Jahren  des  Lebens,  wo  physische  Kraft  sich  vermindert 
und  der  Mensch  ruhiger  wird,  sind  es  voriüglich  die  lasterhaften  Nei- 
gungen, welche  zu  denjenigen  Verbrechen  treiben,  die  keiner  Gewalt- 
that  bedürfen,  sondern  mehr  die  Produkte  kalter  Berechnung  und  Schlau- 
heit sind  und  mit  List  ausgeführt  werden,  z.  B.  Fälschungen,  Betrügereien 
nnd  Diebstähle.  Die  Erscheinung  aber,  dass  so  oft  alte  Männer  (z.  B. 
von  60 — 70  Jahren)  wegen  Verbrechen  gegen  die  Schamhaftigkeit,  ins- 
besondere gegen  Kinder  vor  Gericht  stehen,  erklärt  sich  daraus,  dass  bei 


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I 


Ouelelet:  Sur  la  atatistique  m orale.  567 

älteren  Personen,  welche  nicht  durch  die  Gefühle  ächter  Religion  und 
durch  Tugend  auf  eine  edle  Bahn  geleitet  werden,  so  oft  in  einer  ent- 
arteten, mit  schmutzigen  Bildern  angefüllten  Phantasie  die  gemeine  Sinn- 
lichkeit eine  Macht  über  sie  ausübt,  die  nicht  selten  durch  den  Gebranch 
von  starken  erregenden  Mitteln  verstärkt  wird  und  zu  solchen  geschlecht- 
lichen Ausschweifungen  antreibt,  bei  welchen  es  keiner  Gewalt  bedarf, 
wo  also  Kioder  die  Opfer  ihrer  Verführung  werden. 

Wir  betrachten  die  bezeichnete  Schrift  Quetelefs  als  einen  Vorläu- 
fer künftiger  Forschungen  um  die  grosse  Frage  Uber  die  Ursachen  der 
Verbrechen  im  Zusammenhang  mit  der  Willensfreiheit  zu  ergründen,  und 
dadnreh  ebenso  die  ernste  Erforschung  der  menschlichen  Natur  zu  be- 
fördern, als  dem  Erzieher  und  Gesetzgeber  vorzuarbeiten.  Die  von  Que- 
telet  angedeuteten  Forschungen  lassen  sich  noch  bedeutend  vermehren. 
Es  kömmt,  wie  Recens.  glaubt,  bei  der  Berechnung  der  Ursachen  der 
Verbrechen  und  der  Erforschung  der  Verbältnisse,  unter  welchen  mit 
einer  gewissen  schauderhaften  Regelmäßigkeit  Verbrechen  verübt  werden, 
weniger  auf  die  Erörterung  der  Neigungen  der  Verbrechen,  als  mehr  da- 
rauf an,  zu  erforschen,  welche  die  Ursachen  sind,  unter  deren  Herrschaft 
die  verbrecherischen  Neigungen  eine  solche  Stärke  erhalten,  dass  sie  un- 
widerstehlich werden.  Die  blosse  Neigung  oder  Lust  zu  einem  gewis- 
sen Verbrechen  ist  nur  eine  Versuchung,  welche  auch  den  edelsten  Men- 
schen beschleichen  kann,  aber  von  ihm,  weil  die  Stimme  der  Moral  und 
Religion  der  Wirksamkeit  der  Neigung  entgegentritt,  als  ohnmächtig  zu- 
rückgewiesen werden,  oder  wirkungslos  werden,  weil  andere  Motive,  die 
zum  Recblthun  bestimmen,  mächtiger  sind.  —  In  diese  Berechnung  der 
Stärke  der  Neigungen  gehören  theils  moralische  Zustände,  tbeils  äussere 
materielle.  Unter  den  Ersten  sind  besonders  der  religiöse  Sinn  und  das 
moralische  Gefühl,  gegründet  auf  die  Einsicht  der  Notwendigkeit  zur 
Harmonie  und  Ruhe  mit  sich  selbst  durch  Recblthun  zu  gelangen  und  die 
Ausbildung  des  Rechtsgefübls  die  wichtigsten  Elemente.  In  der  Art  der 
Entfaltung  des  religiösen  Sinnes,  der  mehr  oder  minder  bei  jedem  Men- 
schen verschiedene  Perioden  des  Lebens  durchläuft,  finden  wir  einen 
Hauptgrund,  der  die  Geschichte  der  Verbrechen  erklärt  und  z.  B.  zeigt, 
warum  in  den  Jahren  20  —  30  die  bösen  Neigungen  jenen  hohen  Grad 
der  Stärke  erreichen,  dass  in  dieser  Periode  auch  am  meisten  Verbrechen 
verübt  werden.  Eben  in  den  Jabren  20  —  30  bemächtigt  sich  nämlich 
des  jungen  Mannes  so  leicht  die  Zweifelsucht,  in  welcher  er  nur  dem 
Verstände  folgend  alle  positive  Religion  wegwirft  und  nun  verlassen  von 
jener  inneren  Macht  der  Religion,  welche  die  Seele  zu  Gott  erhebt,  und 


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Quetelet:   Sur  la  slatistiquo  morale. 


in  den  trüben  Stunden  mit  Demuth  und  Vertrauen  auf  die  Gottheit  erfüllt, 
von  der  Stärke  seiner  Leidenschaften  fortgerissen  wird,  während  später 
entweder  die  heiligen  Gefühle  des  Familienlebens,  die  Liebe  zur  Frau  und 
den  Kindern  oder  ernstes  Nachdenken  oder  schwere  Ereignisse  auch  die 
fast  erstorbenen  Gefühle  der  Religion  wieder  hervorrufen  und  wo  all- 
mühlig  wieder  die  Seele  die  Ruhe  in  dem  religiösen  Sinne  findet,  und  so 
vor  der  Macht  der  verbrecherischen  Neigungen  bewahrt  wird.  Auch  die 
Ausbildung  des  Rechtsgefühls  ist  wichtig.  Es  ist  nicht  schwierig  iu  be- 
weisen, dass  viele  Verbrechen  ihren  Grund  in  einem  irregeleiteten  Recbts- 
gefühl  nnd  im  Glauben,  dass  die  Handlung  erlaubt  sei,  haben.  So  gut  in  Län- 
dern, in  welchen  noch  die  Blutrache  fortwirkt,  z.B.  der  Cortikaner,  die 
Tödtung  des  Feindes,  der  ein  Hitglied  seiner  Familie  tödtete.  für  erlaubt 
hält,  ebenso  gut  können  oft  Standesvorurtheile ,  falsches  Ehrgefühl,  Na- 
tionalsitten den  Menschen  Uber  Das,  wu  Recht  ist,  irre  machen,  und  die 
Macht  des  Gesetzes  brechen.  Es  ist  eine  sichere  Erfahrung,  dass,  je  mehr 
die  politischen  Zustände  eines  Volkes  so  geordnet  sind,  dass  von  oben 
herab  und  in  allen  Kreisen  das  Gesetz  heilig  geachtet  wird  und  jeder 
Bürger  weiss,  dais  Gleichheit  vor  dem  Gesetze  herrscht,  auch  das  Recbts- 
gefübl  am  kräftigsten  sich  entwickelt,  während  da,  wo  beständig  Aus- 
nahmszustände  eingeführt  werden,  wo  kein  Gesetz  herrscht,  wo  Beam- 
ton Willkür  übermächtig  ist,  auch  das  Rechlsgefühl  der  Bürger  erschauert 
wird,  und  manche  Verbrechen  verübt  werden,  deren  Verübuug  der  Ver- 
brecher vor  sich  selbst  entschuldigt. 

Unter  den  moralischen  Ursachen,  welche  die  Kraft  der  Gesetze 
schwächen  und  den  Neigungeu  zum  Verbrechen  eine  grosse  Starke  ge- 
beo,  müssen  nach  der  Erfahrung  noch  zwei  genannt  werden,  und  zwar 
vorerst  eine  Schwächung  des  moralischen  Sinns  und  Rechtsgefühls  durch 
die  Gleichgültigkeit,  mit  welcher  man  sogenannte  leichte  Uebertretungen 
behandelt.  In  der  Regel  wird  kein  grosser  Verbrecher  auf  einmal  zu 
einem  schweren  Verbrechen  hingerissen ,  sondern  er  beginnt  seine  ver- 
brecherische Laufbahn  mit  leichten  Geselzverlelzungen ;  kleine  Diebstähle, 
z.  B.  in  häuslichen  Verhältnissen  verilbt,  Betrügereien,  leidenschaftliche 
Ausbrüche  und  Verletzungen  Anderer,  sind  die  ersten  Schritte,  mit  welchen 
Diejenigen  beginnen,  die  später  als  schwere  Verbrecher  vor  Gericht  stehen. 
Der  Boden  ist  dadurch  gelockert;  je  mehr  Ungestraftheit  oder  doch  eine 
sehr  unbedeutende  Rüge  für  solche  kleine  Uebertretungen  den  Thater 
trifft,  desto  mehr  bekömmt  die  böse  Neigung  Nahrung  und  Stärke.  Auch 
in  der  Erziehung  und  der  oft  systematischen  Gewöhnung  der  Kinder  zu 
einem  gewissen  Benehmen,  das  die  sogenannte  gebildete  Welt  billigt,  liegt 


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Quetelel:  Sur  la  slatistique  m orale.  569 


ein  Grund,  der  leicht  schlimme  Neigungen  hervorruft  und  ihnen  Kraft 
verleibt.    Die  Nöthigung  zur  Zurückhaltung,  zu  einem  schmiegsamen  Cha- 
rakter, die  Dressur,  in  welcher  das  Kind  nicht  sich  offen  geben  darf,  wie  es 
ist,  erzieht  die  Menschen  zur  Lüge  und  Heuchelei,  und  die  Früchte  die« 
ser  Angewöhnungen  sind  Verbrechen.  —  Der  Boden,  in  welchem  verbreche- 
rische Neigungen  gross  gezogen  werden  und  wuchern,  wird  noch  durch 
sociale  Einrichtungen  bereitet.    Treffliche  Forschungen  haben  wir  für  Eng- 
land in  neuerer  Zeit  durch  Poltert  gründliche  Arbeiten,  durch  Fl  et  eher, 
Symoos,  Nelson  und  Kay  erhalten  (deren  Forschungen  Leon  Fancher 
neuerlich  in  den  seances  de  facademie  des  sciences  morales  vol.  VII.  1850. 
p.  1—31)  gut  benützt  hat.    Hier  ergibt  sich,  dass  in  den  Ackerbaudi- 
strikten ein  anderer  Zustand  der  Criminalität,  als  in  den  Fabrikbezirken,  und 
wieder  ein  verschiedener  nach  der  Art  der  betriebenen  Industrie  bemerkbar  ist 
und  der  günstigste  Zustand  in  den  Bergwerksbezirken  vorkömmt.  Ist  es  nicht 
Pflicht,  alle  diese  Beobachtungen  in  allen  Ländern  zu  benutzen,  um  da- 
raus Materialien  für  die  moralische  Statistik  zu  erhalten?     Herr  Quete- 
let hat  durch  seine  Schrift  eine  herrliche  Vorarbeit  geliefert  und  auf  den 
Zusammenhang  dieser  Forschungen  mit  der  Willensfreiheit  hingewiesen« 
Es  konnte  nicht  fehlen,  dass  seine  "Schrift  bei  manchen  Personen  die  Be- 
sorgnis erweckte,  dass  durch  dieses  Ergebniss,  nach  welchem  [der  Mensch 
durch  gewisse  Gesetze  bestimmt  wird,  welche  seinen  Willen  beherrschen  und 
in  ihm  selbst  unbewusst  gewisse  Handlungen  hervorbringen,   die  Frei- 
heit des  Willens  vernichtet  würde.     Es  wurden  durch  Quetelefs  Arbeit 
zwei  andere  interessante  Schriften,  die  von  Decker  und  die  von  van  Mee- 
nen  (zwei  als  Praktiker,  wie  als  Gelehrte,  und  als  höchst  ehrenwerthe 
Menschen  geachtete  Männer,  beide  Mitglieder  der  Akademie)  veranlasst. 
Beide  erkannten,  gewiss  mit  Recht,  dass  durch  die  Forschungen  von  Que- 
telet anf  keine  Art  die  Bedeutung  menschlicher  Freiheit  gefährdet  werde. 
Sehr  gut  entwickelt  Decker  (p.  72),  dass,  wie  unveränderliche  feste  Ge- 
setze die  physische  Welt  beherrschen,  auch  in  der  moralischen  Welt  die 
Ordnung  auf  bestimmten  Gesetzen  ruht  und  der  Mensch,  wenn  er  auch  das 
Bewusstaein  der  Freiheit  hat,  abhSngig  ist  von  einer  höheren  Macht,  welche 
die  Geschicke  der  moralischen  wie  der  physischen  Welt  lenkt;  aher  jene 
Freiheit  des  Menschen  ist  mit  der  Leitung  durch  die  Gottheit  in  Harmo- 
nie; in  diesem  Sinne  koonten  die  Kirchenvater  von  der  libera  servitus, 
nnd  Bossuet  von  der  Iiberte  sujette  sprechen.  Geistreich  durchgeht  Decker 
die  verschiedenen  Entfaltungen,  wie  in  den  socialen  Verhältnissen  der 
Mensch  durch  gewisse  Gesetze  beherrscht  wird,  wie  selbst  grosse  Ereig- 
nisse, in  denen  die  ganze  Macht  des  menschlichen  Willens  sich  kund  zu 


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570 


Quetetet:   Sur  la  alatistique  moralc. 


geben  scheint,  doch  durch  höhere  Gesetze  geleitet  werden,  z.  B.  io  den 
Revolutionen  (p.  80).  Mag  auch  der  Meanch  sich  einbilden,  dasa  Alles 
was  er  thut,  sein  Werk  ist,  so  zeigt  sich  doch  überall,  dass  er  beherrscht 
wird;  Decker  macht  aufmerksam  (p.  84)  auf  das  Verhiltniss  der  Stan- 
deswahl, auf  Bevölkerung  n.  s.  w.  Wer  kann  leugoen,  dasa  hier  eine 
Gleichförmigkeit  sich  zeigt,  welche  auf  die  Herrschaft  gewisser  Gesetze 
deutet?  —  In  diesem  Sinne  sind  Quetelets  Forschungen  angestellt.  Auf 
gleiche  Art  lässt  Herr  van  Meenen  den  Forschungen  von  Qaetelet  alle 
Gerechtigkeit  widerfahren,  indem  er  mit  geistreicher  Benützung  von  Stel- 
len der  Classiker  die  Bedeutung  der  menschlichen  Freiheit  zeigt  Er  ver- 
weilt vorzüglich  bei  dem  Satze:  chaque  homme  s'est  crce  nn  etre  nor- 
mal; offenbar  ist  damit  gemeint,  dass  jeder  Mensch  sich  einen  gewissen 
Charakter  ausbildet,  von  dem  er  sich  nur  durch  Anstrengung  losmachen 
kann  und  zn  dem  er  immer  wieder  zurückkommt,  so  dass  man  diesen 
Charakter  gleichsam  ein  Durchschnittsverhältniss  nennen  kann,  auf  das  wir 
immer  wieder  durch  mannigfaltige  Schwingungen  während  unsers  mora- 
lischen und  socialen  Lebens  zurückkehren.  Dennoch  aber  wird  dadurch 
die  menschliche  Freiheit  nicht  aufgehoben.  Trefflich  weist  dann  Herr 
van  Meenen  (p.  107)  nach,  dass  die  würdige  christliche  Auffassung  weit 
entfernt  ist  von  dem  äusseren  Fahim,  an  das  die  Alten  glaubten,  dasa 
vielmehr  den  menschlichen  Handlungen  die  Freiheit  gesichert  ist,  die 
menschliche  Freiheit  nennt  er  (p.  108)  die  Kraft  der  Seele  bei  ihrer 
Thätigkeit  jeden  Einfluss  zurückzuweisen,  der  nicht  aus  ihrer  Wahl  her- 
vorgeht und  Nichts  zu  wollen  als  was  sie  als  ein  von  ihr  gewolltes  billigt. 

Wir  wünschen,  dass  die  bisherigen  Mittheilungen  aus  den  erwähn- 
ten Schriften  Veranlassung  zu  vielen  ähnlichen  Forschungen  geben,  in 
welchen  durch  Benützung  der  moralischen  Statistik,  in  welcher  die  Zah- 
len Ideen  sind,  die  menschliche  Natur  und  die  Gesetze  ihres  Wirkens  recht 
erkannt  werden.  Das  grosse  Räthsel  ist  die  Verbindung  der  Freiheit  mit 
der  Notwendigkeit.  Schon  die  Forschungen  der  Alten,  nach  welchen 
die  Tugend  wie  das  Laster  eine  Fertigkeit  genannt  werden,  wie  die  im 
Volksrechtsbewusstsein  liegenden  Vorstellungen,  dass  es  gewisse  Unter- 
scheidungsjahre gebe,  nach  welchen  der  Mensch  mit  einem  bestimmten 
Charakter  hervortritt,  deuten  darauf,  dass  auch  in  der  moralischen  Welt 
gewisse  Gesetze  herrschen,  denen  der  Mensch  unterworfen  ist,  ohne  dass 
seine  Freiheit  durch  sie  aufgehoben  wird.  Es  ist  ein  beständiger  Kampf, 
in  welchem  die  Lebensschicksale,  KörpereigenthUmlichkeiteo,  die  Macht  der 
Leidenschaften  Reize  und  Versuchungen  sind,  die  auf  jeden  Menschen  mehr 
oder  minder  einstürmen,  während  Gott  Jedem  aber  auch  die  Waffen  zum 


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QueteleJ:   Sur  la  statiilique  rooral«.     ^  57f 

Siege  uud  die  Möglichkeit  jeder  Versuchung  zu  widerstehen,  gegeben  bat. 
Selbst  bei  der  schlechtesten  Erziehung,  bei  den  stärksten  oft  durch  kör- 
perliche Zustände  mächtig  wirkenden  Anregungen  kann  der  Mensch,  ver- 
möge des  Selbstbewusstseins  und  seiner  Freiheit  der  Macht  der  Versu- 
chung widerstehen.  Jeder  bildet  darnach  durch  eigene  Schuld  die  Cha- 
raktereigenthUrolicbkeiten  aus,  die  dann  seinen  Willen  und  seine  Hand- 
lungsweise bestimmen.  Was  er  thut,  ist  nothwendige  Folge  jener  Wil- 
lonsstimmungr,  in  welcher  entweder  das  sittliche  Gefühl  der  Herrschaft  ge- 
wonnen, oder  eine  unsittliche  Neigung  die  Uebermacht  über  den  Men- 
schen erhalten  hat;  dass  er  aber  in  eine  solche  Willensstimmung  kam, 
ist  sein  eigenes  Werk  und  das  Produkt  seiner  Freiheit;  was  er  nun  thut, 
wird  durch  das  Gesetz  beherrscht,  dass  eine  bestimmte  Ursache  auch  eine 
gewisse  Wirkung  erzeuge ;  das  an  Lflge  und  Egoismus  gewöhnte  Gemülh 
wird  zu  allen  Verbrechen  fortgezogen,  die  aus  jener  zur  Herrschaft  ge- 
kommenen Neigung  stammen,  aber  die  Freiheit,  als  der  Antheil  der  hö- 
bern Abstammung  des  Menschen  und  der  notwendigen  Merkmale  seiner 
göttlichen  Natur,  macht  es  in  jedem  Augenblick  ihm  möglich,  auch  hier 
wieder  Herr  über  die  verbrecherische  Neigung  zu  werden  und  der  Skla- 
verei der  Unsittlichkeit  zu  entgehen.  —  Die  Geschichte  grosser  Verbre- 
cher, die  Erfahrung,  welche  zeigt,  dass  durch  w  oh  Ii  hütige  Einwirkung 
wohlgesinnter  nnd  verständiger  Männer  in  Gefängnissen  auch  der  grösste 
Verbrecher  sich  wieder  erheben  und  die  Macht  des  sittlichen  Gefühls  sich 
verstärken  kann,  beweisen  die  Wahrheit  dieser  Beobachtungen.  Die  mora- 
lische Statistik  hat  dabei  eine  würdige  Aufgabe,  durch  die  sorgfältige  Be- 
nutzung der  Erfahrungen  über  die  Ursachen  der  Verbrechen,  Über  die 
moralischen,  socialen  und  physischen  Einflüsse,  die  anf  die  Verstärkung 
der  Macht  der  Neigungen  zu  gewissen  Verbrechen  einwirken,  Materialien 
zu  liefern,  aus  welchen  die  Gesetze  abgeleitet  werden  können,  nach  wel- 
chen die  menschliche  Handlungsweise  erfolgt.  Der  Glaube  an  die  auch 
im  grössten  Verbrecher  nicht  aufgehobene  Macht  der  Willensfreiheit  wird 
dadurch  nicht  angegriffen  werden.  Quetelet  hat  das  Verdienst  anf  die 
Richtung,  die  solche  Arbeiten  zu  nehmen  haben,  hingewiesen  zu  haben. 
Möge  er  viele  Nachfolger  finden,  deren  Zusammenwirken  erst  es  möglich 
machen  wird,  zu  sichern  Ergebnissen  zu  gelangen  I 

Iflltt  emulier  • 


572  Caussin  de  Perceval,  histoire  des  Arabes. 

Essai  sur  thistoire  des  Arabes  atant  thlamisme  pendanl  tepoque  de 
Mahomed  et  jusquä  la  reduction  de  toutes  les  tribus  sous  la  loi 
Musulmane  par  A.  P.  Caussin  de  Perceval  etc.  tome  II.  und  III. 
Paris.    Didot  freres  1348.    702  u.  603  in  8. 

Ref.  bat  vor  längerer  Zeit  den  ersten  Band  des  vorliegenden  Wer- 
kes in  diesen  Blattern  angezeigt,  die  Fortsetzung  aber  verschoben,  weil 
er,  namentlich  bei  der  Besprechung  des  letzten  Bandes,  mehr  ins  Einzelne 
einzugehen  wünschte,  was  ein  sorgfältigeres  Studium  desselben  bedingte, 
dem  er  sich  vor  Vollendung  seiner  Cbalifengeschicbte  nicht  hingeben  konnte, 
tief,  bat  auch  in  diesen  beiden  Bänden  dieselben  Mängel  und  dieselben 
Vorzüge  wieder  gefunden,  die  er  schon  im  ersten  hervorgehoben  oder 
gerügt  hat.    Auf  der  einen  Seite  eine  fleissige  und  gewissenhafte  Be- 
nutzung der  Quellen,  eine  zuverlässige,  treue  und  doch  gefällige  Ueber- 
setzung  derselben,  ein  vollständiges  Beherrschen  und  darum  auch  zweck- 
mässiges Ordnen  des  Stoffes  und  ein  gänzliches  Durchdrungeosein  vom 
Geiste  der  arabischen  Autoren  und  in  Folge  dessen  eine  lebendige  klare 
Darstellung.    Auf  der  andern  Seite  hingegen,  in  der  vormohamedaniseben 
Zeit,  ein  Verlangen  durch  Hypothesen  Ereignisse  zu  bestimmen,  welche 
bei  den  vorhandenen  Quellen  noch  unerledigt  bleiben  müssen,  im  Leben 
Mobammeds  aber  im  Gegentheile  ein  sclavisches  Haften  an  den  Sagen  der 
Muselmänner,  wie  es  einem  französischen  Historiker  unserer  Zeit  nicht  gut 
ansteht,  mit  einem  Worte:  in  der  Geschichte  der  Araber  vor  Mohammed 
ist  Hr.  Caussin  ein  zu  kühner  europäischer  Kritiker,  in  der  Biographie  Moham- 
meds nicht  viel  mehr  als  Araber.    Erstere  zerfällt,  im  zweiten  Bande  die- 
ses Werkes,  in  vier  Kapitel,  nach  den  vier  Dynastien,  welche  die  Herr- 
schaft über  die  Araber  unter  sich  getbeilt  und  den  Ländern,  in  de- 
nen sie  ihren  Sitz  halten.    Den  ersten  Platz  nehmen  die  Fürsten  von 
Hira,  aas  dem  Geschlecbte  der  Tenuchiten  und  Lachmiten  ein.  Der  erste 
Fürst,  der  über  sämmtliche  Araber  des  Eupbratgebiets,  sur  Zeit  der  letz- 
ten Arsaciden  herrschte,  war  Djudseima  Ibn  Malik,  der  Azdite.  Seine 
Schwester  Rikascb  heirathete  Adi  Ibn  Rabia,  aus  einem  fürstlichen  Ge- 
schlecbte der  Benu  Jjad,  und  Adi's  Sohn  Amr  ward  der  Nachfolger  Djud- 
seima's  und  Gründer  der  Dynastie  der  Lachmiten  oder  Nassriten.  Djud- 
seima verlor  sein  Leben  durch  eine  Fürstin,  welche  nach  arabischen  Sa- 
gen Zabba  biess,  die  der  Verf.,  wie  vor  ihm  schon  St.  Marlin,  mit  eini- 
ger Wahrscheinlichkeit  für  Zenobia  hält,  obgleich  Zabba,  nach  arabischen 
Berichten,  selbst  Gift  nahm,  als  es  Amr  Ibn  Adi  mit  Hülfe  des  durch  seine 
Aufopferung  berühmt  gewordenen  Kossens  gelang,  sich  ihrer  Festungen 


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Caussin  de  Perceval,  histoire  des  Arabes.  573 

so  den  beiden  Ufern  des  Euphrats  and  ihrer  Person  zu  bemächtigen,  wäh- 
rend bekanntlich  nach  den  römischen  Quellen  Zenobia  von  Aurelian  ge- 
stürzt ward.    Imru  1-keis  I,  dessen  Regierung  nach  arabischen  Berichten 
114  Jahre  dauerte  und  Amr  II,  welcher  25  Jahre  auf  dem  Throne  sass, 
waren  die  beiden  nächsten  Lachmiten,  weiche  in  Hira  herrschten.  Nach 
dem  Tode  Amr's  ging  die  Herrschaft  fünf  Jahre  lang  auf  einen  Fremd« 
Jing,  Aus  Ibn  Kallam,  über  und  erst  nach  dessen  Ermordung  bestieg  Im- 
ruikeis  II,  ein  Sohn  Amr's  II,  den  Thron.    Dieser  soll  bis  zur  Zeit  Jez- 
dedjerd's  I  gelebt  haben,  was  natürlich  der  Verf.  eben  so  wenig  glaubt 
als  dass  Imru -1-keis  I  über  100  Jahre  geherrscht  habe.    Letztere  redu- 
cirt  er  auf  50  Jahre  und  Imru-l-keis  II  lässt  er  gegen  das  Jahr  390, 
also  in  den  ersten  Jahren  ßahrams  IV  sterben.    Numan  I  oder  der  Ein- 
äugige, welcher  das  Christen  Um  m  begünstigte,  nach  Einigen  sogar  selbst 
Christ  ward,  entsagte  dem  Throne,  unserm  Verf.  zufolge,  dessen  Beweise 
dafür  aber  sehr  schwach  sind,  im  Jahre  418  und  überliess  ihn  seinem 
Sohne  Mundsir  I.    Dieser  betheiligte  sich,  zu  Gunsten  der  Perser,  an  dem 
Kriege  zwischen  Bahr  um  Gur  und  den  Byzantinern  und  ward  im  Jahr  421 
geschlagen.    Da  Hamza  seiner  Herrschaft  eine  Dauer  von  44  Jahren  gibt, 
so  setzt  Herr  Caussiu  seinen  Tod  in  das  Jahr  462.    Ihm  folgten  seine 
Söhne:  Numan  II  (462 — 471),  den  Hamza  und  Abulfeda  gar  nicht  er- 
wähnen, Aswad  (471  —  491)  und  Mundsir  II  (491  —498).  Letztem 
folgte  sein  Neffe,  Numan  III,  der  Sohn  Aswad's,  den  die  meisten  arabi- 
schen Chroniken  ebenfalls  ausgelassen  haben,  dessen  Dasein  aber  Eichhorn 
schon  aus  byzantinischen  Quellen  bewiesen  hat,  denn  er  befand  sich  bei 
dem  Heero  Kobads,  das  gegen  Anastasius  Krieg  führte.    Abu  Jafar  AI- 
kama,  ein  Lacbmite,  der  nicht  aus  dem  königlichen  Geschlechte  war,  herrschte 
(503—505)  bis  zum  Fricdensscbluss  Kobad's  mit  Anastasius,  worauf  dann 
Imru-l-keis  III  zum  Fürsten  ernannt  ward.    Dieser  war,  nach  arabischen 
Quellen,  eio  Sohn  des  Numan  I,  was  aber  der  Verf.  mit  Recht  für  un- 
möglich hält,  da  zwischen  dem  Tode  dieses  Numan  und  der  Thronbestei- 
gung des  Imru-l-keis  nahe  an  90  Jahre  liegen.    Er  starb  im  Jahre  513 
und  ihm  folgte  sein  Sohn  Mundsir  III,  der  nach  einigen,  jedoch  unwahr- 
scheinlichen Berichten,  sich  zum  Cbristenthum  bekehrt  haben  soll.  Mund- 
sir ward  einige  Zeit  von  Kobad  der  Herrschaft  über  Hira  beraubt,  welche 
Harith,  dem  Häuptlinge  der  Bckriten  verliehen  ward,  weil  er,  wie  Kobad 
selbst,  ein  Anhänger  Mazdaks  war.  —  Nach  dem  Sturze  dieses  Commu- 
nisten  ward  Mundsir  von  Kesra  Nuschirwan  wieder  in  seine  Herrschaft 
eingesetzt,  Harith  musste  fliehen  und  endete  bald  nachher  sein  Leben.— 
Mundsir  nahm  lebhaften  Antheil  an  dem  Kriege  der  Pener  gegen  Justi- 


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Caussin  de  Perceval ,  histoiro  des  Arabe*. 


oian,  fiel  SB  wiederholten  malen  in  Syrien  ein  und  bekämpfte  die  mit  den 
Römern  verbündeten  Ghassaniden,  ward  aber  von  ihrem  Häuptlinge  Harith 
Alaradj  (562)  überlistet  und  ermordet.  Sein  Sohn,  Amr  III,  welcher 
gegen  die  Ghassaniden  und  Taiten  den  Krieg  fortsetzte  und  wegen  sei- 
ner Grausamkeit  Aimucharrik  (der  Verbrenuenda)  genannt  wird,  ward 
von  dem  Dichter  Amr  Ihn  Kolthum,  dessen  Mutter  von  der  des  Pürsten 
beleidigt  worden  war,  nach  einer  Regierung  von  sechzehn  Jahren,  die 
aber  der  Verfasser  auf  zwölf  reducirt,  erschlagen.  —  Sein  Nachfolger 
war  nach  Einigen  Kliman  IV,  nach  Andern  Kabus,  was  zur  Vermuthnng 
veranlasst,  dass  die  Herrschaft,  in  deren  Besitze  sie  vier  Jahre  (574 
bis  579)  blieben,  unter  ihnen  getheilt  war.  —  Ihr  Bruder  Mundsir  IV, 
welcher  ein  Bündniss  mit  den  Byzantinern  geschlossen  hatte,  ward 
erst  nach  einer  Zwischenregierung  von  einem  Jahre,  als  er  es  wie- 
der  mit  Hormuz  hielt,  von  diesem  zum  Fürsten  von  Hira  erhoben.  Ge- 
gen das  Jahr  583  ward  er  von  den  Ghassaniden,  gegen  die  er  auch 
Krieg  führte,  gefangen  genommen,  zuerst  nach  Kanstantinopel  gebracht 
und  dann,  auf  Befehl  des  Kaisers,  nach  Sicilien  verbannt  Der  letzte  Lach- 
mitische  Fürst  von  Hira  war  Numan  Abu  Kabos,  ein  Sohn  Mundsir's  IV, 
welcher  seine  Herrschaft  seinem  am  persischen  Hofe  cinflussreichen  Schwie- 
gervater Adi  Ihn  Zeid  verdankte  und  seinen  Sturz  dessen  Sohne  Zeid  Ibn 
Adi.  Kesru  Perwiz  liess  ihn  im  Jahr  605  von  Elepbanten  zertreten  und 
ernannte  den  Taiten  Iyas  Ibn  Kabissa  zum  Fürsten  von  Hira. 

Wir  haben  hier  das  Resultat  der  Forschungen  des  Herrn  Caussin 
Uber  die  Dynastie  der  Lachmiten  mitgetheilt,  um  zu  zeigen,  wie  er  sich 
bemüht  hat,  aus  den  kurzen,  abgerissenen,  unzuverlässigen  nnd  sich  wi- 
dersprechenden Nachrichten  der  Araber  und  Byzantiner  eine  zusatnmen- 

liönrmndd    I 2  n  c  r  \\  i  f  Ii  I  n    mit    kilrlan         U...L.     UvaaIIiaca    iniio.t«      nafllvltok  A'm 

uaiigcuuo  au  uiiucD«     aiancnc  njpuiiic&e  iiiusmu    naiuriiLn  wo 

Brücke  dazu  bauen,  bald  galt  dieser  Historiker  bald  jener  in  einem  Punkte 
als  Autorität,  während  er  in  andern  verworfen  ward  und  nicht  selten 
mussten  auch  eigene  Behauptungen  des  Verf.,  ohne  weitere  Grundlage, 
das  Fehlende  erganzen  oder  das  Mangelhafte  verbessern.  Ein  gleiches 
Verfahren  finden  wir  bei  dem  Verf.  in  Betreff  der  Geschichte  der  arabi- 
schen Stamme  und  Fürsten  von  Syrien,  lledina  und  Nedjd,  welche  in  den 
drei  folgenden  Büchern  enthalten  ist.  Leberall  sehen  wir  denselben  Ei- 
fer aas  den  zerstreuten  Einzelnheiten  ein  geordnetes  Ganzes  zu  schaffen 

Und  ein  VollsLütiriipes  Comulde  vom  <»IT<>nlliriif»n  I.pliAti  ff  Ar  Arnhor  vnr  Mn- 

■  w..»  «...  I  Ulli    VIIWHIIIVIIUU    UVUVU    UVI     Hl  UUvl        *  VI       *"  " 

faammed  zu  entwerfen.  Wir  können  fortan  die  ruhmvollen  Arbeiten  auf 
diesem  Gebiete  eines  Pococke,  Schul tens,  Eichhorn,  Keiske,  Rasmussen, 
de  Sacy,  Slane,  Fresnel,  Perron  und  Anderer  entbehren,  denn  alle  diese 


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Canssin  de  Perceval,  histoire  des  Arabcs.  575 

Beitrage  zur  vorislamilischen  Geschichte  sind  hier  sorgfältig  benutzt  und 
häufig  aus  weitern  Qaelleo  vervollständigt  oder  verbessert  worden.  Von 
ganz  besonderem  Werthe  für  die  Geschichte  der  arabischen  Poesie  ist  da» 
sechste  Buch,  welches  von  den  Arabern  der  Provinz  Nedjd  bandelt,  in 
welcher  die  bedeutendsten  altern  Dichter  lebten,  die  auch  eine  grosse 
politische  Rolle  spielten.  Uan  ßndet  hier  die  Biographien  der  sieben  Ver- 
fasser der  Muallakat,  nebst  einer  treuen  und  doch  zierlichen  Uebersetzang 
dieser  berühmten  Gedichte  und  dieser  Theil  allein  würde  schon  genügen, 
um  dem  Verf.  einen  der  ersten  Platze  in  der  Reihe  europäischer  Orien- 
talisten zu  sichern. 

Wenn  wir  aber  den  vom  Verf.  bei  Bearbeitung  dieses  zweiten 
Bandes  seines  Werkes  bewiesenen  Fleiss  im  Sammeln  der  zerstreuten  Quel- 
len, sowie  seine  Vorsicht  and  Gewandtheit  bei  Benutzung  derselben  voll- 
kommen anerkennen,  so  bedauern  wir  ihm  als  Biographen  Mohammeds  nicht 
gleiches  Lob  spenden  zu  können.  Er  durfte  sich  in  seiner  günstigen  Stel- 
lung nicht  auf  die  wenigen  Quellen  beschränken,  wie  das  Sirat  Arrasul, 
Ihn  Chaldun,  Abulfeda  und  Chamis  und  hätte  auch  hier  den  kritischen 
Sinn  bewähren  sollen,  mit  welchem  er  die  frühern  Partien  der  arabischen 
Geschichte  behandelt.  Auch  in  der  Auswahl  des  Stoffes  war  er  hier  nicht 
so  glücklich,  denn  er  hat  manches  Wesentliche  und  Charakteristische  aus- 
gelassen und  viele  höchst  unbedeutende  oder  mährchenhafte  Einzelnheiten 
aafgenommeo.  Nur  selten  erkennen  wir  in  seiner  Darstellung  einen  nüch- 
ternen europäischen  Forscher,  die  meisten  Begebenheiten,  so  unwahrschein- 
lich sie  auch  sein  mögen,  werden  mit  einer  wahrhaft  muselmännischeo 
Hingebang  in  die  Traditionsaulorität  erzählt.  Folgende  Bemerkungen  wer- 
den dieses  hart  klingende  Urtheil  rechtfertigen: 

S.  13  wird  die  Legende  von  den  Tauben,  welche  am  Eingänge  der 
Höhle,  in  der  Mohammed  vor  seiner  Flucht  nach  Medina  sich  verborgen 
hielt,  ein  Nest  bauten  und  Eier  legten  und  von  der  Spinne,  welche  »in 
mit  ihrem  Gewebe  umzog,  als  historische  Thatsacbe  angegeben. 

S.  31  wird  bei  der  Expedition  des  Abd  Allah  Ibn  Djahsch,  der 
wesentlichste  Zug  derselben,  welcher  Mohammeds  Schlauheit  und  Doppel- 
züngigkeit ausser  allen  Zweifel  setzt,  weggelassen.  Nach  der  Darstellung 
des  Verf. 's  hätte  Mohammed  damit  nichts  bezweckt,  als  die  Bewegungen 
der  Kureischilen  zu  beobachten  und  Abd  Allah  ganz  eigenmächtig  eine 
kureiscbitische  Karawane  in  den  heiligen  Monaten  überfallen.  Ref.  hat 
•her  in  seinem  „Mohammed"  bewiesen  (S.  99),  dass  Mohammed  bei  die- 
ser Sendung  nach  Nachla  keine  andere  Absieht  als  einen  Karawanenraab 
haben  konnte.    Erst  als  selbst  die  Medinenser  sich  über  diese  ruchlose 


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576 


Caussin  de  Perceval,  histoire  des  Arabcs. 


Tbat  mit  Entrüstung*  aussprachen,  missbilligte  sie  Mohammed,  hob  aber 
doch  bald  nachher  das  Verbot,  in  den  heiligen  Monaten  Krieg  zu  fuh- 
ren, auf. 

S.  204  berichtet  Herr  Caussin:  Mohammed  habe  im  Sommer  628 
einen  Gesandten  an  Heraklius  geschickt,  der  damals,  nach  seinem  Siege 
über  die  Perser,  auf  der  Rückkehr  nach  Konstantinopel,  sich  in  Syrien 
aufhielt.  Auf  der  folgenden  Seite  wird  dann  Mohammeds  Gesandschaft  m 
den  Ghassaniden  Harith  in  den  Frühling  des  Jahres  629  gesetzt  und  da- 
bei erzählt,  dass  dieser  Fürst  gerade  mit  den  Empfangsfeierlichkeiten  für 
Heractius  beschäftigt  war,  welcher  sich  auf  der  Reise  nach  Jerusalem  be- 
fand. Er  setzt  dann  noch  hinzu :  ..  On  sait  eti  eilet  qu'a  cette  epoque 
Heraclius  fit  un  voyage  de  Constantinople  a  Jerusalem  pour  y  rendre 
gräce  a  Üieu  de  ses  vicloires  sur  les  Persans  et  replacer  dans  leglise 
de  Ia  resurrection  la  sainte  croix,  enlevee  autrefois  par  les  troupes  de 
Kesra.u  Bekanntlich  stimmen  aber  die  byzantinischen  Quellen  über  die 
Zeit  der  Reise  des  Heraclius  nach  Jerusalem  nicht  miteinander  fiberein. 
Theophanes  setzt  sie  in  den  Frühling  629,  Nicephorus  aber  noch  in  das 
vorhergehende  Jahr.  Ref.  hat  in  seinem  „Mohammed"  (S.  199)  nach- 
gewiesen, dass  Theophanes  sich  selbst  widerspricht,  indem  er  mehrere 
Monate  nach  dieser  Reise  erst  Heraclius  die  Nachricht  vom  Tode  Siroe's 
zukommen  lässt,  der  doch  noch  im  Jahre  628  starb  und  daraus  gefol- 
gert, dass  die  Angabe  des  Nicephorus  die  Richtigere  ist.  Uebrigens  wird 
auch  von  dem  Insan  Alujun  berichtet,  dass  Mohammeds  Gesandter  den  Kai- 
ser in  Jerusalem  traf,  welcher,  um  für  den  Sieg  über  die  Perser  so  dan- 
ken, zu  Fuss  von  Edessa  dahin  gepilgert  war.  Demnach  müsste  also  die 
Gesandschaft  an  Harith,  wenn  sie  mit  der  Reise  des  Kaisers  nach  Jeru- 
salem zusammentreffen  soll,  auch  in  das  Jahr  628  gesetzt  werden. 

S.  210  werden  mehrere  Bekehrungen,  unter  andern  die  des  be- 
rühmten Chalid,  als  Folge  des  Friedensschlusses  von  Hndeibia  angegeben. 
Der  Uebertritt  Cbalid's  zum  Islam  war  aber  höchst  wahrscheinlich  Folge 
der  Vermählung  Mohammed's  mit  Meimuna,  einer  Tante  Chalid's,  welche 
kurz  vorher  gefeiert  ward,  von  deren  Verwandscbaft  mit  Chalid  der 
Verf.  nichts  erwähnt. 

S.  243  hat  der  Verf.  den  arabischen  Text  missverstanden.  Es  han- 
delt sich  von  dem  Feldzuge  Chatid's  gegen  die  Benu  Djadsima,  welche 
schon  den  Islam  angenommen  hatten,  aber  aus  Misstrauen  gegen  Chalid 
und  seine  Leute  ihm  bewaffnet  entgegentraten.  Endlich  legten  sie  die 
Waffen  nieder,  wurden  aber  dennoch  wegen  einer  alten  Feindschaft  zwi- 
schen Chalid  und  ihnen  niedergemetzelt. 

(Schluss  foty.) 


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Nr.  37.  HEIDELBERGER  1851. 

JAHRBÜCHER  OER  LITERATUR. 


(Schlnss.) 

• 

Als  Vorwand  zu  seiner  Treulosigkeit  gab  Cbalid  an,  dass  sie  statt 
zu  sagen:  „aslamnau  fwir  haben  den  Islam  angenommen}  gesagt  habea: 
„sabaW".  Herr  Caussin  übersetzt  dieses  Wort  mit  „nous  sommes  Sa- 
beens"  und  setzt  hinzu:  „Los  idolatres  avaient  jusqu'alors  designe  les 
musulmans  par  cette  qualification ,  Khalid  prenant  prötexle  de  cette  ex- 
pression  equivoque  et  saus  leur  demander  d'explication  leur  Gt  Her  les 
malus  etc."  Man  sieht  aber  gar  nicht  ein ,  warum  die  Muselmänner  ab 
Sabber  bezeichnet  wordeu  sein  sollen,  auch  findet  man  im  Kamuss  kei- 
neswegs diese  Bedeutung  unter  dem  Worte  „sabuu,  wohl  aber  die  „von 
einem  Glauben  zum  andern  übergehen",  wahrscheinlich  aber  im  schlech- 
ten Sinne  ..seinem  Glauben  abtrünnig  werden  ,  apostasier.  Die  alten  Ara- 
ber gebrauchten  daher  dieseu  Ausdruck  von  Denen,  die  zum  Islam  über* 
gegangen  waren.  Die  Benu  Djadsima  hätten  als  aufrichtige  Muselmänner 
„aslamna"  sagen  sollen,  mit  dem  Worte  „saba'na"  bezeichneten  sie  sich 
selbst  als  Abtrünnige  und  wareu  nach  Chalid's  Deutung  entweder  wieder 
vom  Islam  abgefallen,  oder  der  Ueberzeugung ,  dass  sie  besser  gethan 
hätten  ihrem  alten  Glauben  treu  zu  bleiben. 

S.  261  wird  berichtet,  dass  Dsu-I-Chuweissara  Mohammed  wegen  sei- 
ner ungleichen  Vertheilung  der  Beuto  tadelte  und  Omar  ihn  tödten  wollte. 
Mohammed  gab  es  aber  nicht  zu,  indem  er  sagte:  „La  providenee  a  ses 
desseins  sur  cet  homme:  de  lui  doit  uaitro  une  secte  qui  voudra  s'en- 
foncer  si  avant  dans  les  profoudeurs  de  la  religion ,  qu'elle  en  sortira 
comme  une  fleebe  sort  du  but  qiTelle  a  traverse  de  part  en  part.u  Cette 
prediction  se  realisa  dans  la  suite,  car  Harcous,  fils  de  Zobayr,  de  la 
tribu  de  Badjila,  communement  appele  Dhou-l-Thadya,  qui  fut  le  premier 
Imam  des  Kharidji  ou  heretiques  musulmans,  descendait  par  les  femmes, 
de  Dhoo-I-Khoway^ara.u  Es  bedarf  aber  wohl  keines  grossen  Scharf- 
sinnes, um  hier  eine  Erdichtung  der  Schiiten  zu  erkennen,  welche,  weil 
Harkusch  der  erste  war,  der  Ali  bei  Siffin  verliess,  seine  Abtrünnigkeit 
schon  von  Mohammed  prophezeien  lassen.  Aber  selbst  mit  dem  Glanben 
an  Mohammeds  prophetischer  Gabe  ist  schwer  zu  begreifen,  warum  er 
XMV.  Jahrg.  4.  Doppelheft.  37 


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578  Caussin  de.  Perceval ,  hüloira  des  Arabes. 


nicht  um  ao  eher  Dsu-I-Chnweissara  ab  Stammvater  »Her  Kelzer  aus  den 
Wege  räumen  Hess. 

S.  284  bei  dem  Feldzuge  von  Tabuk  wird  erzählt,  dass  Moham- 
med 30,000  Mann  zusammenbrachte,  dass  aber  beim  Aufbruche  des  Hee- 
res Abd  Allah  Iba  l'bei  und  die  meisten  seiner  Fremde  ihm  nicht  folg- 
ten, sondern  wieder  nach  Medina  zurückkehrten.  Hier  wird  man  natür- 
lich glauben,  es  handle  sich  höchstens  von  einigen  hundert  Mann,  die 
von  dem  Heere  sich  absonderten,  während  nach  dem  Sirat  Arrasnl  der 
grössere  Theil  der  Truppen  mit  Abd  Allah  zurück  blieb.  Von  dem  auf 
der  Rückkehr  von  Tabuk  von  einigen  Heuchlern  beabsichtigten  Ueberfalle 
Mohammed's,  welchen  Ref.  aus  dem  Insan  Alujun  entnommen  (s.  Moham- 
med S.  265},  erwähnt  Herr  Caussin  gar  nichts,  eben  so  wenig  (S.  324} 
von  der  für  die  Kritik  des  Korans  höchst  wichtigen  Tradition  des  Ihn 
Hureira:  dass  Niemand  von  dem  von  Abu  Bekr  recitirten  Koransverse,  in 
welchem  Mohammed's  Tod  vorhergesagt  war,  Kenntniss  halte. 

Mohammed's  Krankheit,  letzte  Worte  und  Tod  wird  mit  allen  Ein- 
zelnheiten geschildert,  die  wir  trotz  ihrer  inneren  Widersprüche  bei  den 
mu8e1männischen  Autoren  finden.  Schon  bei  dem  Feldzuge  von  Cbeibar 
(S.  200)  wird  erzählt,  dass  Zeiuab,  dio  Schwester  des  von  Ali  erschla- 
genen Marhab,  dem  Propheten  einen  vergifteten  Braten  auftischte.  Er  nahm 
einen  Bissen  in  den  Muud,  sagte  aber  alsbald:  „Celle  brebis  m'avertit 
gif  eile  est  empoisonnee."  Der  Verf.  setzt  dann  hinzu:  „Mais  la  malig- 
nite  du  poison  commenra  a  agir,  et  malgre*  des  ventouses  scarifiees  qu'il 
se  fit  aussitot  appliquer  entre  les  epaules,  Ton  croit  qu'il  en  ressentitles 
effets  tout  le  reste  de  sa  vie.u  Wenn  man  aber  auch  diese  Tradition 
nicht  geradezu  als  eine  Erdichtung  verwerfen  kann,  so  darf  man  sie  doch 
gewiss  auch  nicht  ohne  Bedenken  als  ein  historisches  Factum  aufnehmen. 
Der  Verdacht,  dass  die  Muselmänner  ihren  Propheten  nicht  gerne  an  einer 
gewöhnlichen  Krankheit  sterben  licssen,  liegt  gar  zu  nahe  und  da  sie  nicht 
behaupten  konnten,  er  sei  auf  dem  Schlachtfelde  umgekommen,  so  blieb 
ihnen  nichts  übrig,  als  ihn  auf  dem  Feldzuge  gegen  die  Juden  von  Cbei- 
bar Gift  nehmen  und  so  doch  nach  ihren  Ansichten  den  Märtyrertod  ster- 
ben zu  lassen.  Ref.  der  selbst  diese  Sage  ohne  Misstrauen  in  seinem  Le- 
ben Mohammed's  angeführt  hat,  ist  später  um  so  geneigter  geworden,  sie 
für  erdichtet  zu  halten,  als  er  sieb  überzeugt  hat,  dass  eine  ahnliche  Ver- 
giftungsgeschichte bei  dem  Tode  Abu  Bekr's  und  Hasan's  erfunden  wor- 
den ist.    (S.  Gesch.  der  Chalifen  I.,  53  und  268.) 

Diese  Beispiele,  denen  sich  viele  Andere  beigesellen  liessen,  wer- 
den genügen,  um  zu  zeigen,  dass  die  Arbeit  des  Herrn  Canssio  Uber  Mo« 


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Dantier:   Göthe's  Faust. 


hammed  nicht  so  gelungen  ist,  wie  die  über  die  «Heren  Araber.  Das 
Leben  Abu  Bekr's,  welches  das  neunte  Buch  ausfüllt,  sowie  das  Omar's 
im  zehnten  Buche  bis  zum  Jahre  18  der  Hidjrah,  ist  grösstenteils  nach 
Tabari,  so  weit  der  von  Kosegarten  edirte  Text  reicht  und  wo  dieser 
aufhört  nach  Ibn  Alalbir  und  Ibn  Chaldun.  Von  grossem  Nutten  sind  die 
dem  dritten  Bande  angehängten  genealogischen  Tabellen,  so  wie  das  den- 
selben beschüessende  Register  über  das  ganze  Werk.  Well. 


Göthe's  Faust,  Erster  und  weiter  Theit.  Zum  erstenmale  voll- 
ständig erläutert  ton  H.  Düntzer.  Erster  Theit.  Leipzig.  Duk- 
sehe  Buchhandlung.  i850.  X.  S.  tt.  390  S.  Zweiter  ThtU.  iS51 
413  S.  gr.  8. 

Der  Herr  Verfasser,  welcher  1836  eine  Schrift  über  Göthe's 
Fanst  und  1846  eine  zweite  über  die  Faustsage  herausgab,  zählt 
im  dritten  Anhange  des  zweiten  Bandes  dieses  Commentars  (S.  398  bis 
402)  101  Beurtheilungen  und  Erklärungen  von  Göthe's  Faust  auf. 
Eine  neue  Seite  hat  die  Erklärung  dieser  unsterblichen  Dichtung  durch 
die  Untersuchungen  Uber  die  Faustsage  in  neuester  Zeit  gewonnen, 
und  auch  diese  ist  bereits  gewürdigt  worden.  An  Sachanmerkungen, 
sowie  an  ästhetischen  Erklärungen  zu  allen  Theilen  der  Göthe'schen 
Faustdichtung,  fehlt  es  nicht.  Doch  bleibt  eine  Arbeit,  welche  es  ver- 
sucht, einen  vollständigen  Commentar  zu  allen  Stelleu  der  beiden 
Theile  zu  liefern,  ungeachtet  der  vielen  vorausgegangenen  Erklärungen 
immer  noch  eine  verdienstliche.  Freilich  ist  diese  Erläuterung,  welche 
sich  nach  dem  Titelblatte  selbst  als  die  „erste  voiltländige  Erklärung"  bei- 
der Theile  des  Göthe'schen  Faust  bezeichnet,  mehr  eine  fteissige  und  aus- 
führliche, mit  eigenen  Ansichten  untermischte  Zusammenstellung  dessen, 
was  von  Andern  über  diesen  Gegenstand  geliefert  worden  ist,  afs  eine 
Uber  die  ganze  Dichtung  sieb  erstreckende,  neue  Ideen  und  Forschun- 
gen bietende  Untersuchung.  Diese  Behauptung  soll  ein  näheres  Eingehen 
in  den  Inhalt  des  vorliegenden  Werkes  begründen.  Der  erste  Band 
enthalt:  1}  eine  Untersuchung  über  die  Faustsage  S.  1 — 70,  2}  die 
Entstehung  von  Göthe's  Faust  S.  71— 107,  3)  Idee  und  Ausführung 
desselben  S.  107  —  138.  Nun  folgt  die  zweite  Abtheilung  des  ersten 
Bandes,  welche  nach  der  Einteilung  der  Göthe'schen  Dichtung  die  Er- 
läuterung der  Zueignung,  des  Vorspiels,  des  Prologs  und  des  ersten  Thei- 
les  von  Faust  umfarst(S.  141— 390).  Die  dritte  Abtheilung  im  zwei- 

37* 


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580  Dünteer :    Göthe's  Faust. 

t  e  n  Bande  gibt  die  Erläuterung  des  zweiten  Theiles,  und  enthält  in  drei 
Anhängen:  1)  Göthens  handschriftliche  Zusätze  und  Veränderungen  zur 
musikalischen  Komposition  des  Fürsten  Kadziwill,  2)  Uber  Leasings 
Behandlung  der  Faustsage,  3)  Verzeichnis*  der  Beurteilungen  nnd  Er- 
läuterungen von  Cölbes  Faust  (S.  383—  402),  ausserdem  von  S.  402 
bis  413  Berichtigungen  und  Nachtrage  zum  ersten  und  zweiten  Bande 
dieses  Werkes.  Die  Untersuchung  über  die  Faustsage  (S.  1 — 70) 
ist  eine  fleissige  und  gelehrte  Forschung,  welcher  es  allerdings  ao  man- 
chen neuen  Gesichtspunkten  nicht  fehlt.  Sie  enthalt  dem  Wesentlichen 
nach  Dasjenige,  was  der  Herr  Verf.  in  seiner  1B46  erschienenen  Unter- 
suchung über  die  Faustsage  gegeben  hat.  Dass  Georgius  Sa  bei  Ii - 
kus,  auch  der  jüngere  Faust  genannt,  auf  den  Triton  heim  in  ei- 
nem Briefe  von  1507  und  der  Kanonikus  Konrad  Mudt  zu  Gotha 
in  einem  Briefe  von  1513  aufmerksam  machen,  ein  anderer,  als  der  Jo- 
hannes Faust,  der  nach  der  Sage  1525  öffentlich  auftrat,  und  der 
Held  des  Volksbuches  und  Puppenspiels  wurde,  seyn  soll,  ist  eine  Ansicht, 
welche  der  Verf.  schon  184G  .in  seiner  ersten  Schrift  über  die  Faustsage 
entwickelte,  und  gegeu  welche  sich  auch  der  ihm  sonst  wohl  gewogene 
Recenscnt  iu  Gersdorf  s  Reperlorium  aufgetreten  ist.  leb  habe  die 
Identität  beidor  vou  dem  Herrn  Verf.  getrennter  Persoueu  in  meinen  deut- 
schen Volksbüchern  nachgewiesen.  Aus  diesen  letztern  ist  auch  die  Nach- 
richt des  Herrn  Verf.  über  den  in  den  Akten  der  Heidelberger  phi- 
losophischen Fakultät  vom  Jahre  1509  eingezeichneten  Johannes  Fauslus  ex 
Simmern  entnommeo.  Neu  und  interessant  ist,  was  der  Verf.  über  Chri- 
stoph Marlowe  s  (f  1593)  „Doktor  Fauslus  u  in  Auszügen  mittheilt. 

Das  Beste  ist  nach  des  Ref.  Ansicht  der  Abschuitt,  welcher  die 
„Entstehung  vou  Göthe's  Faust  -  behandelt.  Der  Verf.  bat  mit  Um- 
sicht und  Sachkenntnis«  Alles,  was  aus  den  Gölhe'scbe  Schriften  und  den 
vorzüglichsten  Quellen  der  Zeitgenossen  über  diesen  Gegenstand  aufge- 
bracht werden  kounte,  zusammengestellt.  Was  nun  die  Erklärung  der 
Dichtung  selbst  betrifft,  so  müssen  wir  von  vornherein  gestehen,  dass  es 
immer  eine  misslicbe  Sache  bleibt,  iu  der  Meisterdichtung  eines  lebenden 
Volkes  diesem  selbst  jeden  Vers  erklären  zu  wollen,  der  sich  von  selbst 
versteht,  und  keiner  Erklärung  bedarf.  Durch  die  Aufnahme  solcher  Er- 
klärungen, die  der  Herr  Verf.  meist  in  Anmerkungen  gibt,  hat  das  Buch 
nur  an  Breite  gewonnen.  Wir  wollen  unsere  Ansicht  durch  Beispiele 
belegen. 

Zu  der  Stelle  in  Göthe's  Faust: 


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Dünner:   Gölhe's  Faust.  58! 

,••«.••  •  .      •  « 

macht  DünUer  S.  150  die  Anmerkung:  „Ue b ertisch t  heilst  niclit 

das  Mahl,  bei  welchem  man  zu  viel  aufgetischt  hat,  wie  bei  Campe  be- 
hauptet wird,  sondern  das,  bei  welchem  man  überlange  gesessen  bat.u 
Bei  der  Stelle: 

„Für  einen  Leichnam  hin  ich  nicht  tu  Haus, 
Mir  geht  es,  wie  der  Katze  mit  der  Mausu, 

siebt  S.  163  die  Anmerkung:  „Die  Katze  macht  sich  nicht  on  lodte  Mause, 
sondern  an  lebendige,  die  sie  sich  selbst  fängt."  Zu  Faust 's  Monolog: 
„Wofass'  ich  dich,  unendliche  Natur,  euch  Brüsten  wo?  Ihr  Quellen  al- 
les Lebens"  u.  s.  w.,  wird  S.  174  bemerkt:  „Bei  dem  Fassen  ist,  we- 
nigstens bei  den  Brüsten,  so  wenig,  als  bei  den  Quellen,  an  ein  hand- 
greifliches Fassen  zu  denken." 

Za  „Braut  ein  Ragout"  fügt  der  Herr  Verf.  S.  178  bei,  „das, 
Göthe  hier  das  Brauen  in  der  ursprünglichen  allgemeinen  Bedeutung  des 
Kochens  brauche."    Zu  den  Versen: 

„Wenn  Glück  auf  Glück  im  Zeilenstrudel  scheitert. 
Die  Sorge  nistet  gleich  im  tiefen  Herzen1', 

wird  S.  185  hinzugesetzt:  „Wer  vom  Unglück  heimgesucht  wird,  der 
verliert  alle  Freudigkeit  des  Lebens  und  der  Thatkraft ;  die  Sorge  vor  im- 
mer neuem  Unglück  bemächtigt  sich  seiner,  und  lfisst  ihn  fortan  tu  kei- 
ner Ruhe  gelangen."    Zu  den  Versen: 

„Der  die  betrübende, 
Heilsam'  und  übende 
Prüfung  bestanden." 

S.  193:  „Die  Prüfung  ist,  obgleich  sie  sehr  betrübt,  doch  eine  heilsame, 

indem  sie  den  Menschen  in  der  Ertragung  der  Leiden  übt,  und  hierdurch 

stärkt  und  läutert."    Zu  den  Versen: 

„Kannst  du  ihn  lesen? 

Den  nie  entspross'nen, 

Unausgesprochenen, 

Durch  alle  Himmel  gegoss'nen, 

Freventlich  durchstocb'nen  ? 

S.  217:  „Christus  wird  als  nie  entsprossen  bezeichnet,  insofern  er 
von  Ewigkeit  an  war,  und  als  unausgesprochen,  weil  seine  Grösse 
und  Herrlichkeit  durch  keinen  Namen  bezeichnet  werden  kann.  In  dem 
folgenden  „durch  alle  Himmel  gegossnen,  freventlich  durchstochnen"  wird 
der  Gegensatz  angedeutet,  dass  er,  obgleich  die  Himmel  von  ihm  erfüllt 
sind,  auf  Erden  den  Verbrechertod  gestorben  ist."    Zu  den  Versen: 

»Und  Bäume,  die  sich  täglich  neu  begrünen" 
ß.  234:  „Die  täglich  ihr  Laub  verlieren,  das  sich  täglich  bei  ihnen  er- 
neuert."    Zu  dem  Verse: 

„Ist  halt',  dacht'  sie,  ein  geschenkter  Gaul". 


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£82  DünUer:    (iüthe's  baust. 

3.  285:  „Deutet  auf  das  Sprichwort:  Eioem  geschenkten  Gaul  sieht  man 
nicht  ins  Maul."    Zu  dem  Verse: 

„Sei,  Teufel,  doch  nur  nicht,  wie  Brei", 
S.  285:  „Der  Brei  ist  dick  und  steif,  nicht  fliessend  und  beweglich.  Der 
Teufel  steht  so  steif  da,  als  könne  er  nicht  von  der  Stelle."  Zudem  Verse: 

„Bin  doch  cm  arm,  unwissend  Kind", 
S.  297:  „Arm,  wobei  man  hier  nicht  an  Besitzlosigkeit  zu  denken  hat, 
erbölt  seine  nähere  Bestimmung  durch  das  folgende  unwissend.  Dem 
reichen  Schatte  von  Faust's  Kenntnissen,  Erfahrungen  uod  Weisheit  ge- 
genüber fühlt  sich  Gre tchen  ganz  arm.u    Zu  dem  Verse: 

Schuh  u'1 , 

S.  302:  „Schuhu  ist  einer  der  volkstümlichen  Namen  des  ühu'i." 
Zu  den  Versen: 

„Du  bist  schon  wieder  abgetrieben, 
Und,  währt  es  länger,  aufgerieben 
In  Tollheit,  Angst  und  Graus", 

S.  303:  „Mephistopheles  meint  mit  diesen  Worten,  Faust  sei  es 
im  Grunde  schon  jetzt  müde  an  der  Natur,  die  Lust  an  ihr  habe  schon 
den  höchsten  Gipfel  erreicht;  währe  es  aber  noch  langer  damit,  so  werde 
diese  Tollheit,  mit  welcher  er  in  das  Innere  der  Natur  einzudringen  suche, 
oder  die  Angit  und  das  schreckliche  Gefühl ,  dass  ihm  ein  solches  Ein- 
dringen versagt  sei,  ihn  ganz  verzehren,  ihn  völlig  aufreiben."  Zu  den 
Versen : 

„Grimm  fassi  dich! 
Die  Posaune  tönt! 
Die  Gräber  beben ! 
Und  dein  Herz, 
Aus  Aschenrull' 
Zu  Flammenqualen 
Neu  geschaffen, 
Bebet  auf! 

5.  328:  „  Am  jüngsten  Tage  stehen  die  Leiber  der  Todten  aus  ihren 
Grabern  wieder  auf,  die  der  Bosen,  um  ewigen  Hölleuslrafen  übergeben 
zu  werden."    Zu  dem  Verse: 

„Seh'  die  Bäume  hinter  Baumen", 

6.  335:  „Das  Fürwort  Ich  ist  hier,  wie  sonst  häufig  bei  Göthe,  aus- 
gelassen."   Zu  dem  Verse: 

„Tretet  nicht  so  mastig  auf", 
S.  366:  „Mastig,  eigentlich  gemästet,  daher  dick,  schwer  wird  hier 
vom  schweren  Auftreten  gebraucht."    Zu  dem  Verse: 
„Die  Menge  drängt  sich,  man  hört  sie  nicht", 
S.  386:  „Die  Menge  strömt  lautlos  zusammen,  weil  die  Vollziehung  des 
Bluturlbeils  sie  zum  stillen  Ernst  stimmt."    Und  zu  dem  Verse: 

„Stumm  liegt  die  Welt,  wie  das  Grab", 


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Düntier:   Gothe's  Faust. 


563 


S.  386:  „Gretchen  bezeichnet  hier  den  Augenblick  nach  der  Hinrich- 
tung" u.  s.  w. 

Diese  uud  viele  andere  Bemerkungen  ähnlicher  Art  sind  für  Alle, 
welche  den  Beruf  haben,  die  Gut  he 'sehe  Dichtung  zu  lesen,  durchaus 
überflüssig.  Andere  aber  werden  diesen  Commentar  eben  ao  wenig  le- 
sen und  auch  selbst  mit  diesen  Erklärungen  den  Faust  nicht  verstehen. 
Wer  diese  Erklärungen  lesen  rauss,  um  das  Gedicht  sich  zum  Verständ- 
nisse zn  bringen,  wird  an  der  Dichtung  eben  so  wenig,  als  an  dem  Com- 
meotare,  ein  Interesse  haben.  Nur  bei  Klassikern,  die  in  todten  Sprachen 
ireschriebfiu  sind  kann  man  solche  Anmerkuniren  als  zulässhr  betrachten 
Auch  im  zweiten  Tbeile  ist  eine  Fülle  von  derlei  Anmerkungen  Uber 
Stellen  und  Worte,  die  sieb  von  selbst  verstehen  und  jede  weisere  Er- 
klärung überflüssig  machen.  Wir  führen  nur  einige  Beispiele  an.  So  fin- 
den wir  folgende  Anmerkungen  zu  den  Versen: 

„So  ist  es  also,  wenn  ein  sehnend  Hoffen 

Dem  höchsten  Wunsch  sich  traulich  zugerungen, 

Erfüllnngsprortcn  findet  flügeloffen  u.  s.  w. 

S.  10:  „Der  Mensch  glaubt  die  Erfüllung  seines  Wunsches  so  nahe,  er 
siebt  die  Pforten,  welche  ibn  zu  jener  hinführen  sollen,  weit  aufgespannt, 
beide  Thorflügel  offen."    Zu  dem  Verse: 

„Der  alte  fiel,  der  hat  verthan", 
S.  18:  „Verth  u  n  in  der  Bedeutuug  verlieren.**  Zu: 

„Die  Schweine  kommen  nicht  zu  Fette, 

Verpfändet  ist  der  Pfühl  im  Bette, 

Und  auf  den  Tisch  kommt  vorgegessen  Brod.u 

S.  20:  „Man  kann  nicht  warten,  bis  die  Schweine  fett  werden,  muss  sie 
vorher  verkaufen,  selbst  das  Nötbigate  ist  schon  den  wuchernden  Juden 
verpfändet  und  selbst  das  Brod,  welches  auf  den  kaiserlichen  Tisch  kommt, 
ist  für  Geld  gekauft,  für  welches  man  die  spätem  Einkünfte  verkauft  oder 

verpfändet  hat.**  Zu: 

„Was  soll  uns  das  —  Gedroschner  Spass", 
S.  24:  „Man  braucht  gewöhnlich  abgedroschen  von  vielfach  vorge- 
brachten und  schon  verbrauchten  Sachen,  wie  eine  abgedroschene 
Ausflucht,  ein  abgedroschener  Witz.u  Zu: 

„Erst  müssen  wir  in  Fassong  uns  versühnen", 
S.  28:  „Versühnen,  Nebenform  von  Versöhnen,  bezeichnet  hier  den  Gen 
gensati  zu  der  Zerstreutheit,  in  welcher  die  verschiedensten  Gedanken  sich 
durchkreuzen,  und  ein  stetiges  einheitliches  Denken  durch  den  Widerstreit 
derselben  unmöglich  wird.**  Ref.  hält  diese  Anmerkung  für  unverständ- 
licher, alz  die  von  ihr  erklärten  Textesworte. 


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584 


Düntzer:    Cölbes  Faust. 


Feracr  wird  von  dem  Verf.  bemerkt  zu: 

„Huhu?  da  komm  ich  eben  recht!" 
S.  46:  „Der  Ausruf  Huhu!  womit  er  (Zoilo-ThersitesJ  auftritt,  bezeich- 
net die  Unbehaglichkeit;  besonders  wird  er  beim  Gefühl  des  Frostes  ge- 
braucht."- (Wir  glauben  dieses  ohne  das  Citat  aus  Grimmas  Grammatik.) 

Wenn  der  Kaiser  im  zweiten  Theile  des  Fanst  Uber  Salaman- 
der zu  gebieten  glaubt  bemerkt  der  Verf.  S.  71:  „Bekanntlich  schwitzt 
der  Salamander  oder  Feuermolch,  wenu  er  geängstigt  wird,  aus  sei- 
nem Munde  und  den  Hautwarzen  eine  milchichte  Feuchtigkeit  aus,  welche 
ihn  auf  einige  Minuten  lang  gegen  ein  massiges  Kohlenfeuer  schützen, 
dieses  auch  wohl  auslöschen  kanntt  n.  s.  w. 

Der  Verf.  seist  zu: 

„Bald  lodert  es  mächtig,  bald  lieblich,  bald  süsse !u 
S.  206:  „Süss  bezeichnet  hier  den  ahnungsvoll  auf  das  Auge  wirken- 
den, mit  dem  Gefühle  schmachtender  Sehnsucht  erfüllenden  Glanz."  Zu: 
„Mir  ahnt  das  Aechzen  bcängslelcn  Dröhnens", 

S.  206:  „Dröhnen  deutet  hier  auf  die  gewaltige  Erschütterung  iu  Folge 
leidenschaftlicher  Berührung  des  Muschelwagens"  u.  s.  w.  Man  muss  den 
Zusammenhang  der  Stelle  bei  Gut  he  lesen,  um  das  Ueberflüssige  dieser 
Bemerkung  ganz  einzusehen.  Zu: 

„Die  ehren  würdigste  der  l'arzen", 
S.  235:   „Ehren würdig  hat  hier  Göthe  gebildet  nach  ehrenwertb, 
ehrenvoll,  ehrenrührig44  u.  s.  w.  Zu: 

„Goldeelokle,  frische  Bubenscbaar1' , 
3.  238:  „Goldgelbes  Haar  wird  schon  von  Tacitus  den  alten  Germa- 
nen zugeschrieben14  u.  s.  w.  Zu: 

„Bestärke  mich  als  Milregentpn  dieses  . 
Grenzunbcwusstcn  Reichs." 

■ 

S. 249:  „Bestärken  steht  hier  in  der  nicht  ungewöhnlichen  Bedeutung 
von  bestätigen.44  Zu: 

„Dass  ich  endlich  ganz  verständlich  spreche44, 
S.  297 :  „Muss  in  dem  Sinne  genommen  werden,  dass  ich  mit  der  Sprache 
berausrücke,  dass  ich  sage,  was  ich  eigentlich  will.66 

Die  hier  augeführten,  in  dem  Werke  des  Herrn  Verf.  enthaltenen, 
Anmerkungen  zu  dem  zweiten  Theile  des  Faust  sind  wohl  eben  so 
Überflüssig,  als  die  von  uns  beispielsweise  gegebenen  Bemerkungen  des- 
selben Buches  zum  ersten  Theite. 

Die  Sachanmerkungen,  welche  zum  Verständnisse  einzelner  Stellen 
der  Faustdicbtung  nöthig  sind,  sind  sehr  hfiufig  aus  andern  Erklären),  wie 
vorzüglich  aus  E.  Meyer,  Weber  u.  A.  zusammengetragen,  t  heil  weise 


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Düntier:   Göthe's  Faust. 


aber  auch,  wo  sie  neu  sind  und  von  dem  Verf.  stammen,  besonders  in 
den  Punkleo,  io  denen  es  auf  das  Istheiische  Urtheil  ankommt,  un- 
richtig. Wir  wollen  auch  diese  Behauptung  durch  Beispiele  aus  dem  er- 
sten und  zweiten  Theile  des  vorliegenden  Commentars  belegen. 

In  dem  fliegenden  Blatte  von  Köln  das  Lied  von  Dr.  Faust" 
wird  dieser  in  Jerusalem  vom  Teufel  geholt.  Hierüber  bemerkt  der 
Herr  Verf.  S.  71:  „Das«  Faust  ku  Jerusalem,  wie  es  hier  dargestellt 
ist,  von  dem  Teufel  geholt  wird,  scheint  in  keiner  wirklichen  Sage  be- 
gründet, sondern  reines  Spiel  freischaffender  Phantasie." 

Iliezu  gab  wohl  die  mittelalterliche  Legende  von  Gerbert  (Sil- 
vester IL)  Veranlassung,  da  dieser  nach  ihr  in  J erusa lern  (einer  Kirche 
gleiches  Namens  zu  Horn),  vom  Teufel  abgeholt  wurde. 

Wenn  es  auch  allerdings,  worin  wir  dem  Herrn  Verf.  vollkommen 
beistimmen,  lacherlich  ist.  bei  Paust'*  Kriege  im  zweiten  Theile  an 
..den  Zug  in  die  Champagne  u,  bei  dem  Mummenschanz  an  Göthe's 
Beteiligung  an  MaskenzUgcn  oder  bei  G  retchens  Geschichte  an  eine 
Verftthrungsscene  aus  Göthens  Leben  zu  denken,  so  finden  wir  d csshalb 
doch  nicht  mit  dem  Verf.  S.  130  in  der  Behauptung:  „Göthe  habe  im 
Faust  sich  selbst  dargestellt" ,  eine  *  trivial  gewordene  Phrase.a  Wir 
finden  dieses  um  so  weniger,  als  nach  des  Verf.  Ansicht  diese  Behaup- 
tung insofern  eine  gewisse  Wahrheit  enthält,  als  Göthe  ..seine  eigenen 
Anschauungen,  Erfahrungen  und  Bestrebungen  hineinverarbeitet  hat."  Das 
ist  ja  eben  das,  was  in  der  Regel  von  denjenigen  behauptet  wird,  welche 
sagen,  Göthe  habe  im  Faust  sich  selbst  dargestellt. 

Wir  glauben,  dass  der  Verf.  nicht  richtig  urtbeilt,  wenn  er  S.  132 
iber  den  eraden  Theil  sagt:  „Bei  der  Vervollständigung  des  Fragments 
zum  ersten  Theile  der  Tragödie  scheint  uns  der  Dichter  mehrere  Sce- 
nen  ohne?  gehörige  Beachtung  des  gesammten  Zusammenhangs  (sie!)  ein- 
geschoben zu  haben,  die,  wie  vortreflflich  sie  auch  an  sich  seyo  mögen,  der 
Einheit  des  Ganzen  Abbruch  thun."   Wir  haben  in  den  deutschen  Volks- 
büchern die  Einheit  und  den  Zusammenhang  dieser  Scenen  nachgewiesen. 
Im  zweiten  Theile  will  der  Verf.  diesen  gerügten  Mangel  nicht  wahr- 
nehmen; „nur  darin",  fügt  er  S.  133  bei,  „könnte  man  etwas  Unge- 
höriges finden  wollen,  dass  der  Pedant  Wagner,  dieser  Stockpbilolog, 
im  zweiten  Theile  umgesattelt  hat."  Wagner  bat  im  z  w e i  t en  Theile 
nicht  umgesattelt,  nod  ist  von  Göthe  in  beiden  Theile n  durchaus  konse- 
queot  und  als  derselbe  dargestellt.   Was  er  im  ersten  Theile  ist,  ist  er 
auch  im  /.weiten;  nur  muss  er,  weil  er  im  Laboratorium  arbeitet,  die 
Pedaoterie  im  Mechanismus  einer  verkehrten  naturwissenschaftlichen  Me- 


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586 


Dünlzer:    Göthe's  Fausl. 


thode  zeigen,  die  nach  dem  Recepte  des  Paracelsus  einen  Menschen 
ohne  Zeugung  zu  Stande  bringen  will.  An  die  Zeichnung  eine«  Stock- 
philologen denkt  Göthe  bei  Wagner  nicht,  sondern,  wie  jedes  Wort 
zeigt,  des  er  ihm  in  den  Mund  legt,  an  die  Pedanterie  in  der  Wissen- 
schaft, die  blosse  Gelehrsamkeit  ohne  Gefühl  und  Geist 

Wenn  der  Herr  Verf.  S.  136  sagt,  des  er  „im  Gegensätze  com  ersten 
Theile  im  zweiten  höhere  Kunstpoesie  finde,  welche  Oberall  die  dem  Inhalte 
entsprechende  Form  mit  sicherm  Bewußtsein  sich  geschaffen  habe" ,  so 
gilt  eben  Dieses  gerade  vorzugsweise  von  dem  ersten  Theile.  Unge- 
sucht zeigt  sich  in  diesem  die  passendste  Form  für  den  Inhalt.  —  Sie 
wurde  mit  dem  sichersten  Bewusstsein  Oberall  von  onserm  Dichter  ge- 
funden ;  ja  selbst  die  „bei  der  Halt  der  Produktion  eingeschlichene 
Harte,  welche  hie  und  da  mit  leichter  Mühe  hltte  weggeschafft  werden  kön- 
nen", ist  an  ihrem  Platze,  und  mit  Recht  het  Göthe  an  dem  klassischen, 
aus  einem  Gusse  dargestellten,  ersten  Faustfragmente  später  nichts  mehr 
geändert.  Die  klassischen  Stellen  des  ersten  Tlieiles  sind  in  den  Mond 
des  Volkes  übergegangen,  sie  werden  von  jedem  Fühlenden  verstanden; 
sie  bedürfen  keines  Commeotars.  Das  Allegorisiren  im  zweiten  Theile 
hat  beinahe  in  jedem  Commentator  eine  andere  Auslegung  gefunden,  und 
trotz  seiner  Weichheit  und  wirklich  gelungenen,  schönen  Form  steht  der 
Inhalt,  der  während  50  Jahren  nach  Göthe 's  eigenem  Gestandnisse  ent- 
stand, weit  hinter  dem  vielleicht  in  einigen  Tagen  entstandenen  Inhalte 
des  ersten  Faustfragmentes  an  klassischen  Werthe  zurück. 

Allerdings  ist  „im  Vorspiele  aof  dem  Theater u  —  die  gewählte 
Einkleidung  eine  rein  humoristische;  aber  es  ist  nicht  zu  billigen,  wenn 
von  dem  Herrn  Verf.  der  Theaterdirektor  und  die  lustige  Person  Maf  eine 
Seite  und  der  Dichter  auf  die  andere  gestellt  werden.  Nur  der  Thea- 
terdirektor spricht  die  Forderungen  des  gemeinen  Lobens  an  die  Kunst 
nus;  der  Dichter  hält  sich  an  die  Idee  der  Kunst,  während  die  I ostige 
Person  beide  extreme  Ansichten  zu  vermitteln  sucht,  und  in  humoristi- 
scher Weise  eine  Art  von  Rechtfertigung  Uber  die  sonderbare  Mischung 
der  Gegensätze  in  der  Faustdichtung  gibt 

„Lasst  Phantasie  mit  allen  ihren  Chören, 
Vernunft.  Verstand,  Empfindung,  Leidenschaft, 
Doch,  merkt's  euch  wohl!  nicht  ohne  Narrheit  hören ! 

Und:  „In  bunten  Bildern  wenig  Klarheit, 

Viel  Irrthum  und  ein  Fünkchen  Wahrheit, 
So  wird  der  beste  Trunk  gebraut, 
Der  alle  Welt  erquickt  und  auferbaut." 

Wenn  Faust  zu  Wagner  sagt: 

„Sey  er  kein  schnellenlanter  Thor!" 


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Uüntzer:  (Üthe's  Faust. 


so  bat  der  Dichter  an  Alles  in  der  Welt  wobl  eher  gedacht,  als  an  die 
Stelle  des  Apostels  Paolus,  wie  Herr  Dr.  D Untier  S.  178  meint: 
„Wein  ich  mit  Menschen-  und  mit  Engelzungen  redete  und  bitte  die 
Liebe  nicht,  so  wäre  ich  ein  tönendes  En  und  eine  klingende  Scholle." 

Dass  Göthe,  weil  Faust  das  Giftflaschchen  in  seiner  Bibliothek  „den 
Inbegriff  der  holden  Schlummersafte"  u.  s.  w.  nennt,  damit,  wie  der  Hr. 
Verf.  S.  188  glaubt,  habe  andeuten  wollen,  dass  „Faust  in  dem  Ginfläsch- 
chen  verschiedene  Pflanzengifte  gemischt  habe,  wie  etwa  Bilsenkraut,  Schier- 
ling, Bella  donna"  u.s.  w.,  halten  wir  fttr  eine  eben  so  überflüssige, 
als  nnerwiesene  Bemerkung. 

Wir  möchten  in  der  Stadt,  vor  deren  Thoren  die  Spaziergänger 
am  Ostertage  sich  ergehen,  eben  so  wenig  Strasburg  erkennen,  weil 
Güthe  „die  Strassburger  als  leidenschaftliche  Spaziergänger  bezeichnet" 
(S.  196),  als  Güthe  etwa,  um  die  Lokalität  von  Frankfurt  a.  M. 
für  diese  Stadt  wahrscheinlicher  zu  machen,  bei  dem  „Jägerhaus"  an 
das  Forstbans,  bei  dem  „Wasser  hof"  an  den  Hof  zu  den  guten  Leu- 
ten, oder  bei  „Burgdorf"  an  Niederrad  gedacht  hat,  wie  Herr  Dr. 
Duntier  S.  197  will. 

Bei  den  Worten,  die  Faust  zu  dem  Pudel  spricht,  der  ihn  in  die 
Stodierstube  begleitet  hat: 

„An  der  Schwelle,  was  schnoberst  du  hier?" 
konnte  wohl  die  philologische  Untersuchung  S.  212  Uber  „schnobern, 
schnopern,  sohnoppern  und  schnuppern"  und  die  Ableitung  von  „schnoben" 
hioweffhleiben 

Ulli  TT  egUTVIU'VU. 

Mit  Recht  muss  es  wohl  bezweifelt  werden,  dass,  wie  der  Herr 
Verf.  S.  227  behauptet,  der  Dichter  „manche  Züge  des  Nephistopheles 
von  seinem  Freunde  Merk  genommen  habe",  weit  er  diesen  „schon  im 
Jahre  1780  in  einem  Briefe  an  Frau  von  Stein  mit  dem  Namen  desMe- 
pbistopheles  beehrt."  Soll  etwa  Götbe,  wie  Herr  Dr.  Duntier 
meint,  auch  Merk's  Gestalt  bei  der  Composition  des  Mephistopheles 
vorgeschwebt  haben,  weil  Merk  „lang  und  hager"  war,  und  „eine  her- 
vordringende, spitze  Nase"  hatte?  Merk's  „hellblaue"  Augen  taugen 
freilich  sehr  schlecht  zur  Gestalt  eines  Mephistopheles;  darum  setzt 
Herr  Dr.  Düntzer  „vielleicht  graue  Augen"  dazu,  die  dann  aller- 
dingspassen, wenn  sie  einen  „tigerartigen  Blick"  haben.  Dass  also  Götbe 
bei  der  Zeichnung  des  Mephistopheles  „von  einer  vorhandenen  Person- 
liebkeit"  ausging,  möchten  wir  sieber  eben  so  sehr  bezweifeln,  als  dass 
ein  solches  Ausgehen  zu  den  „grössten  Triumphen  von  Güthe's  Gestalr 
tungskraft"  gehört. 


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588 


Düntzer:    Göthe's  Faust. 


Die  Stelle: 

„Die  Herrschaft  führen  Wachs  und  Leder", 
ist  auch  ohne  die  Bemerkung  S.  236,  dass  „die  Siegel  meist  in  Wachs 
geprägt  wurden,  dass  das  Siegellack  (spanisches  Wachs)  erst  um  die 
Mitte  des  sechszehnten  Jahrhunderts  aufkam,  und  dass  das  Leder  das  Per- 
gament, aber  nicht  die  Schnüre,  an  welchen  die  Siegel  an  den  Urkunden 
hingen,  bedeute >l,  gewiss  ganz  verständlich.  Zum  Verständnisse  des  Faust 
Wird  eben  so  wenig  die  Untersuchung  (S.  260)  beitragen,  ob  man  der, 
d i e  oder  das  Hokuspokus  sage,  und  ob  es  von  hoc  est  corpus,  oder 
ob  es  von  dem  französischen  Spiele  hoc,  hoca  oder  dem  italienischen 
li^^ccfai  komme« 

Wenn  Faust  Greteben  einen  Schlaftrunk  für  die  Mutter  gibt,  da- 
mit diese  sie  in  ihrem  Zusammenkommen  mit  jenem  nicht  störe ,  so  ist 
sicher  an  nichts  Anderes,  als  an  einen  Schlaftrunk  zu  denken.  Die  Frage 
Gretebens: 

„Es  wird  ihr  (der  Mutter)  hoffentlich  nichts  schaden? 
kann  uns  zu  keiner  andern  Ansicht  berechtigen.  Herr  Dr.  Dttntzer 
meint  S.  315,  dass  wir  ja  „spater  in  der  Scene  im  Dome  erfahren, 
dass  die  Mutter  wirklich  an  dem  Schlaftrünke  verschieden  sei"  (S.  315). 
Er  glaubt,  diess  wäre  wohl  dadurch  geschehen,  dass  Gretchen  „in  der 
Verwirrung,  in  welche  ihre  Sinne  gerathen  wären,  die  Bestimmung  Faust'*, 
nur  drei  Tropfen  in  den  Trank  zu  tbun,  überhört  habe."  Wir  bedürfen 
dieser  Hypothese  nicht,  die  der  Dichlor  nirgends  auch  nur  von  Ferne  an- 
deutet, weil  sie  etwas  erklären  soll,  was  der  Dichter  niemals,  auch  nicht 
in  der  Domsceue,  sagt,  dass  nämlich  Grete hens  Mutter  durch  jenen 
Schlaftrunk  getödtet  wordeo  sei.    Können  denn  jene  Worte: 

„Bcl'st  du  für  deiner  Mutter  Seele,  die 

Durch  dich  zur  langen,  langen  Fein  hinübcrschlief  ?" 

keinen  andern,  als  den  Sinn  haben,  dass  die  Mutter  durch  den  ihr  von 
Gretchen  gereichten  Trank  gestorben  sei?  Die  Mutter  starb  aus  Kum- 
mer Über  Grete  he ns  Fall  und  Unglück,  ist  der  einfache  und  ungezwun- 
gene Sinn,  der  in  der  Stelle  liegt,  und  in  der  Thal  dichterisch  schöner 
ist,  als  der  auf  den  Schlaftrunk  gedeutete. 

Die  Brunnenscene  zwischen  Li e scheu  und  Greteben  ist  in  dem 
ganzen  Faust  eine  der  psychologisch  gelungensten  und  durchaus  dich- 
terisch schön  ausgeführt.  Ref.  findet  nicht,  dass  sie,  wie  der  Hr.  Verf. 
S.  317  will,  „zu  niederländisch  und  zu  abweichend  von  dem  Charakter 
der  andern,  so  tief  ergreifenden,  durchweg  edelo  Scenen  gehalten  sei.u 
Die  Abwechslung  ernster  und  launiger,  erhabener  und  mehr  der  gemeinen 
Wirklichkeit  angeböriger  Scenen  ist  ein  Charakterzug  des  ersten  Theiles, 


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Düntxer:   Cölbes  Faust. 


589 


so  dass  diese  Scene  in  keiner  Weise  eine  Abweichung  von  dem  der 
Dichtung  eigenen  Charakter  genannt  werden  kann,  sondern  vielmehr  in 
dem  schönsten  Einklänge  mit  dem  Ganzen  steht. 

Die  Scene,  in  welcher  Gretchens  Bruder,  Valentin,  auftritt, 
nod  durch  Faust 's  Hand  stirbt,  war  allerdings  in  dem  ersten  Faust  frag - 
meote  nicht  enthalten,  und  wurde  erst  bei  der  Vollendung  des  ersten 
The  lies  von  Gut  he  eingeschoben.  Wir  können  aber  nicht  begreifen, 
wie  Herr  Dr.  D  nutzer  unserm  grossen  Dichter  im  Ernste  den  Vorwurf 
machen  kann,  er  habe  diese  Scene  eingeschoben,  „  ohne  zu  bemerken, 
wie  sehr  er  hiedurch  die  schöne  Einheit  störe  (!)  und  etwas  ganz  Un- 
gehöriges (sie!)  hineinbriogeu  (S.  320).  Psychologisch  und  dichterisch 
ist  die  Scene  des  Valentin  eine  der  vorzüglichsten  in  der  ganzen  Faust- 
dichtung.    Darin  werden  atle  Kenner  übereinstimmen.    Was  soll  nun  der 

• 

Grund  dieses  harten  Urtheils  seyn?  Einzig  und  allein  der  Zusammenhang, 
der  gestört  seyn  soll,  so  dass  das  Ganze  hiedurch  verliere.  Wir  finden 
nun  dieses  durchaus  nicht,  sondern  erkennen  in  dieser  spätem  Hinschie- 
bung eine  Notwendigkeit  für  unsern  Dichter,  der  gerade  mit  ihr  in  so 
trefflich  gelungener  Weise  eine  Lücke  ausfüllte,  die  in  dem  ersten  Faust- 
fragmenle  vorhanden  war.  Der  Herr  Verf.  sagt  S.  320:  „Offenbar  wollte 
er  (Göthe)  die  Schande,  welche  die  Schuld  Gretchens  über  ihre  ganze 
Familie  bringe,  uns  in  dem  lebhaft  bewegten  Bilde  Valentins  schildern* 
aber,  wenn  er  diesen  nun  durch  Faust  fallen  Iasst,  und  zwar  ohne  des- 
sen Schuld,  so  steht  dicss  mit  Gretchens  Sünde  in  gar  keiner  innern  Ver- 
bindung. u  Er  weist  auf  Widerspruche  hin  und  setzt  noch  bei:  „Auch 
wird  die  schöne  Steigerung  am  Brunnen,  im  Zwinger  und  im  Dome  durch 
diese  Einschiebung  sehr  unangenehm  gestört.-  Also  der  Zusammenhang 
und  die  Steigerung  sollen  durch  die  Meisterscene  von  Valentin  ver- 
lieren? Will  denn  der  Dichter  nur  den  Seelenzustand  Gretchens,  will 
er  nicht  auch  den  Faust 's  schildern  und  ist  es  nicht  vortrefflich  ge- 
wählt, dieses  gerade  in  dem  meisterhaften  Contrasto  vor  der  Scene  mit 
dem  bösen  Geiste  in  der  Domkirche  auszuführen?  Allein  wir  wollen 
diese  Seite  gar  nicht  berühren ;  wir  behaupten  vielmehr,  dass  diese  Scene 
in  dem  schönsten  Zusammenhange  und  in  vollendeter  Einheit  in  Bezug 
auf  die  vorausgehenden  und  nachfolgenden  Scenen  auch  in  dem,  was 
Gretchen  betrifft,  stehe.  Göthe  schildert  uns  in  der  Gartenscene  die 
Verführung  Gretchens,  in  der  darauf  folgenden  Scene  am  Brunnen 
die  ersten  Gewissensbisse  nach  dem  Falle,  im  Zwinger  das  erste  Gebet 
in  der  Noth,  in  der  Scene  des  Valentin  aber  die  äussern,  hereinbre-  ; 
chenden  Folgen  des  Vergehens,  wie  Valentin' •  Rachesucht  und  seine  . 


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Dünlzer.*   Göthe's  Faust. 


Ermordung  dorcb  Paust,  den  Fluch  des  sterbenden  Bruders  Über  die 
gefallene  Schwester.  Dann  reiht  sich  an  diese  Darstellung  der  äusseren 
hereinbrechenden  Folgen  des  Vergehens  unmittelbar  die  höchste  Quaal  des 
Sclbstbewusstseins  dieser  innern  und  äussern  Folgen  im  Gespräche  (J  ret- 
chens mit  dem  bösen  Geiste  in  der  Domkirche  an.  Erinnert  der  böse 
Geist  nicht  G reichen  ausdrücklich  an  diese  Folge  ihres  Vergehens,  an 
die  Ermordung  ihres  Brnders  Valentin  durch  den  heiss  geliebten  Faust? 
Deutet  er  dieses  nicht  ausdrücklich  in  dem  Verse  an: 

„Auf  deiner  Schwelle  wessen  Blut?" 
Aus  den  hier  angedeuteten  Gründen  kann  auch  von  keiner  Aufhebung 
der  Steigerung  die  Kcde  seyn.  Die  Scene  des  Valentin  ist  ergrei- 
fender, als  die  mit  ihr  in  innerm  Zusammenhange  stehenden  Scenen  am 
Brnnnen  und  im  Zwinger,  und  mit  der  ergreifendsten,  der  Scene  in  der 
Domkirche,  wird  geschlossen.    Die  Stelle: 

■ 

„Sind  herrliche  Lnwenlhalcr  drein", 
ist  auch  ohne  die  Erklärung  S.  323,  dass  den  Namen  „Löwenthaler"  eine 
holländische  Münze  mit  dem  Gepräge  eines  Löwen  führte,  dass  ihr  Werth 
einen  Thaler,  drei  Groschen  in  Gold  betrug  und  dass  es  auch  halbe  Lü- 
wenlhaler  von  17  Groschen  an  Werth  gab,  so  wie,  dass  „drein"  so  viel 
all  „darein"  und  „darinnen1'  sey,  gewiss  durch  sich  selbst  verständlich. 
Ebenso  weiss  gewiss  Jeder,  dass  in  den  Versen: 

• 

„Thut  keinem  Dieb, 
Nur  nichts  tu  Lieb, 
Als  mit  dem  Ring  am  Finger"  ! 

der  Bursche  bezeichnet  werde,  der,  wie  der  Herr  Verf.  S.  324  sagt, 
„das  Mädchen  um  seine  Unschuld  bringen  will. a  So  versteht  es  sieh 
auch  von  selbst,  dass  Mephistopheles  mit  den  Worten:  „ Heraus  mit  eurem 
Flederwisch"!  scherzhaft  Faust's  Degen  bezeichnen  wolle. 

Es  bleibt  noch  sehr  dahingestellt,  ob  der  Dichter  in  den  Worten 
aaf  dem  Blocksberge: 

.,  „Ich  steige  schon  dreihundert  Jahr1 

Und  kann  den  Gipfel  nicht  erreichen, 
Ich  wäre  gern  bei  meines  Gleichen**, 

nach  der  Ansicht  der  Herrn  Verf.  (S.  340)  an  die  Wissenschaft u  ge- 
dacht hat,  „mit  der  es  noch  immer  nicht  recht  vorwärts  wolle1*,  da  seit 
der  sogenannten  Wiederherstellung  der  Wissenschaften  mehr,  als  dreihun- 
dert Jahre,  verflossen  seien.    Die  Stelle: 

„Ein  Knieband  zeichnet  mich  nicht  ans", 
bedarf  weder  einer  Erzählung  über  die  Entstehung*  des  Hosenbandordens, 
noch  einer  Beschreibung  desselben,  wie  sie  S.  343  und  344  vOo  dem 


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Dünteer :    Geithes  Faust. 


Herrn  Verf.  gegeben  werden.    Aach  lässt  sich  wohl  nicht  rechtfertigen, 

disi  dem  Dichter  bei  den  Worten: 

„Sie  kann  das  Haupt  auch  unter'm  Arme  tragen", 

wie  der  Herr  Verf.  (S.  350)  sagt:  „  Hiebei  wohl  der  h.  Dionysius 
vorschwebte,  welcher  nach  der  Enthauptung  seinen  Kopf  zwei  Meilen  weit 
unterm  Arm  getragen  haben  soll.u 

Anch  im  zweiten  Theile  finden  sich  solche  Behauptungen  and 
Ansichten  des  Herrn  Verf.,  denen  Ref.  nicht  beistimmen  kann. 

Die  Worte  Güthe's  im  zweiten  Theile,  wie  seine  eigenen  Er- 
klärungen bei  Eckermann,  zeigen,  dass  er  auf  dem  Maskenballe  in  Pin- 
tos,  dem  Gotte  des  Reichtliums,  den  Schöpfer  materieller  Genüsse,  im  Knabe- 
Lenker  die  Poesie,  die  Geberin  der  ideellen  Freuden,  schildern  will.  Wir 
haben  nach  den  gegebenen  Andeutungen  keine  Ursache,  mit  dem  Herrn 
Verf.  Bd.  IL,  S.  48  anzunehmen,  da^s  der  „Begriff  etwas  allgemeiner  zu 
fassen"  und  unter  dem  „  Knabe-Lenker u  die  Kunst  überhaupt  „iu  ver- 
liehen sei."  Dass  durch  die  Feuerflammen  auf  dem  Maskenballe  der  Dich- 
ter nicht,  wie  Einige  abenteuerlich  genug  wollten,  die  Julirevolution  von 
1830  andeute,  hat  der  Verf.  ganz  richtig  bemerkt;  es  sind  aber  wohl  noch 
andere  Gründe  dafür  vorhanden,  als  der  von  dem  Verf.  S.  66  angedeu- 
tete, dass  „der  Mummenschanz  bereits  im  Jahre  1828  erschien." 

Dass  der  im  Jahre  1841  verstorbene  Philosoph  Johann  Jakob 
Wagner  durch  die  baroko  Behauptung,  „ es  müsse  der  Chemie  noch  ge- 
lingen, organische  Körper  darzustellen,  und  Menschen  durch  Krystallisa- 
fion  zu  bilden",  wie  es  S.  119  heisst,  unserem  Dichter  „die  nächste  Ver- 
anlassung zur  Einführung  des  Homunkulus"  gab,  ist  sicher  eine  uner- 
weisliche Behauptung;  wohl  aber  hat  er  sie  aus  den  Schriften  des  Pa- 
ra  cols  us,  namentlich  aus  dem  liber  de  geaeralione  rernm  nuturalium 
geschöpft,  in  welchem  eine  ausführliche  Anleitang  zur  chemischen  Ver- 
fertigung des  Homunkulus  angegeben  wird. 

Sehr  zu  bezweifeln  ist,  dass  der  Dichter  in  den  dem  Mephisto- 
p  h  e  1  c  s  in  den  Mund  gelegten  Versen : 

„Das  roüsslc  mau  mit  neuestem  Sinn  bemeisteru, 
Und  mannigfaltig  modisch  überkleislern" 

auf  den  zelotischen  Eifer  eines  Neander  (?)  gegen  die  Naktheit  der 
alten  Kunst  spottend  hindeutete  (S.  134^).    Das  „Trailern"  in  dem  Verse  : 

„Das  Trailern  ist  bei  mir  verloren", 
bedarf  eben  so  wenig  einer  Erklärung,  wie  sie  S.  141  steht,  ab  der 
Nachveeifun*  des  Unterschiedes  von  „trällern."  Wenn  sich  Proteus  ei- 
nen „  alten  Fabler «  nennt,  ist  nach  dem  deutlichen  Zusammenhange  der 
Zusatz  S.  195  unnöthig,  dass  er  sich  einen  Fabler  nenne,  „  insofern  er 


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Düntier:   Göthc's  Fausl. 


an  (ollen  Wundergebilden  seine  Freude  habe,  wie  er  denn  selbst  durch 
wunderlichsten  Gestaltenwechsel  täusche." 

Dass  die  Tele h inen  die  höhere  Kunststufe  menschlicher  Bildung 
darstellen  (S.  197),  ist  eben  so  unerwiesen,  als  dass  dieser  Kunststufe 
„noch  die  höhere  Idealität  fehlen  soll",  welche  die  Doriden  (wie  der 
Verf.  sagt)  bezeichnen. 

Wenn  Göthe  von  „Höhlegrüften"  spricht,  bedarf  es  wohl  der  Er- 
klärung (S.  201)  nicht,  dass  der  Dichter  die  Form  „Hohlegruft e" 
wie  Eräeleben,  Ellebogen  ohne  das  vom  Wohllaut  geforderte  N 
brauche.  So  ist  auch  von  selbst  klar,  doss  Göthe  den  Faust  in  der 
Rede,  in  welcher  dieser  den  Lynkeus  der  Helena  vorstellt,  das  Wört- 
lein „statt"  mit  dem  Genitiv  und  Dativ  brauchen  lüsst,  wie  der  Hr.  Verf. 
S.  245  ausführt,  noch  viel  weniger  bedarf  es  der  Bemerkung,  dass  das 
erstere  „richtig",  d.i?  «weite  „nur  mundartlich  sei."  So  ist  auch  der  Vers: 

„Das  Licht  der  Augen  öberslach", 
dnreb  sich  selbst  zu  verstehen  ohne  die  S.  257  angeführte  Erklärung: 
„Ueberstechen  bezeichnet  hier  das  Ueberwältigen  der  Augen,  die  für  ei- 
nen solchen  Glanz  zu  schwach  waren"  u.  s.  w. 

Eine  grosse  Anzahl  der  Sacherklärungen  des  ersten  und  zwei- 
ten Tbeiles  findet  sich  in  den  frühern  Erklarern  des  Faust.  Nie  führt 
jedoch  der  Herr  Verf.  die  Namen  der  Gewährsmänner  an,  die  er  in  fei- 
nem Commentare  benützt  bat,  und  doch  bezieht  sich  diese  Benützung  nicht 
nur  auf  Ansichten,  sondern  auf  die  Citate  und  die  wörtlichen  Stellen  der- 
selben, wie  sie  in  frühern  Erklarern  vorkommen.  Die  abweichenden  Deu- 
tungen der  frühern  Erklärer  glaubte  (s.  Vorrede  S.  VHI)  der  Verfasser 
„Dickt  übergeben  su  dürfen",  wobei  er,  wie  er  sagt,  „absichtlich,  da  es 
nicht  auf  die  Namen,  sondern  auf  die  Sache  ankommt,  sich  der  nament- 
lichen Anführung  enthielt."  Ref.  billigt  die  neuere  Netbode  durchaus  nicht, 
welche  über  Scbolaslicismus  eifert,  wenn  man  Citate  gibt,  und  ihren  wört- 
lichen Inhalt  anführt,  oder  auch  genau  die  Namen  der  Gewährsmänner 
aufzahlt  Am  allerwenigsten  aber  kann  er  dieses  Uebergehen  aller  Na- 
men der  Gewährsmänner  dünn  billigen,  wenn  es  sich  nicht  um  Namen 
abweichender  Deuter,  soudern  solcher  handelt,  deren  Forschungen  man 
benutzt,  und  als  die  eigenen  hinstellt.  Der  Leser,  der  die  frühem  Arbei- 
ten nicht  kennt,  wird  dann  leicht  verleitet,  fremde  Forschungen  für  ei- 
gene zu  halten,  weun  nirgends  auf  das  Buch  hingewiesen  wird,  aus  wel- 
choni  msu  diü  crliliirLntlcri  Citotc  und  ilircri  Infiolt  ^csclioj)fl  ^^llcr 
dings  sind  auch  Forschungen  und  Citate  des  Verf.  diesen,  aus  andern  benütz- 
ten untermischt.  Wer  ist  aber,  solches  zu  sichten,  im  Stande,  wenn  nirgends 
ein  Gewährsmann  angegeben  wird?  (Schlws  folgt.) 


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c  ,.iC-  A*t&fAt*>  ^j  «/.•cvV.V.-t:  «<vv»«  Ars*  Ss>  /i. 

Hr.  38.    ^  S  HEIDELBERGER  185E 

JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR. 


Uftntzeri  Gölhe  «  Faiut.j 


Wir  wollen  zum  Belege 
anfuhren: 

Eduard  Meyer,  1847. 

S.  63:  Zuerst  wendet  Faust 
seiner  Beschwörung  bei  G  ö  th  e  das  unter 
der  Benennung  Salomonis  Schlüs- 
se) bekannte  Zauberbuch  an.  Dieses 
ursprünglich  hebräisch  abgefasste  und 
dem  König  Salomo  fälschlich  beige- 
legte cabbalistische  Zauberbuch  ist  in 
vielen,  von  einander  sehr  abweichenden 
Handschriften  und  Ausgaben  vorhanden, 
von  denen  Adelung,  Geschichte  der 
menschlichen  Narrheit,  Thl.  VI.  S.332  ff. 
sieüen  lateinische,  französische  und  deut- 
sche beschreibt,  und  eine  deutsche  voll- 
standig  abdrucken  liess.  Diese  erschien 
unter  dem  Titel:  Clavicula  Salomonis 
et  theosophia  pneumalica  u.  s.  w.  folgt 
der  ganze  Titel.  Das  hebräische  Ori- 
ginal erschien  im  Druck  sine  loco  et 
anno.  48  S.  8. 

Ebenso  stimmeo  auch  Weber  und  Düntzer  Ubereio: 


(Schlnss.) 

Behauptung  hier  einige  Beispiele 


Düntier,  1850. 

S.  215:  Dem  König  Salomo 
ein  schon  dem  Origenes  be- 
kanntes Zauberbuch  beigeschrieben.  — 
Ein  ihm  untergeschobenes  Zauberbuch 
späterer  Zeit  erschien  in  hebräischer 
Sprache  ohne  Angabe  des  Jahrs  und 
des  Druokorts, . . .  Ueber  sieben  Exem- 
plare in  lateinischer,  französischer  und 
deutscher  Sprache  hat  Adelung,  Ge- 
schichte der  menschlichen  Narrheit,  VI, 
347-457  berichtet....  In  Deutschland 
war  am  gesuchtesten  die  unter  dem 
Titel:  Clavicula  Salomonis  et  theoso- 
phia pneumalica  n.  s.  w.  folgt  der  ganze 
Titel. 


Weber,  1836. 

S.  86—88:  Das  Pentagramm...  ist 
das  magische  Zeichen,  welches  ent- 
steht, wenn  alle  Seiten  eines 
regelmässigen  Fünfeckes  so 
weit  verlängert  werden,  bis 
sich  die  Verlängerungen  ein- 
ander berühren.    Es  heisst  auch 

Pentalpba          Den  Pythagoräern 

bedeutete  diese  Figur  die  Ge- 
sundheit... Mit  deutschen  Na- 
men heisst  sie  Alpen-  oder  Al- 
fenfuss, Alpenkreuz  und  Dru- 
de n  f  u  s  s  . . .  Indess  i*t  zu  bemerken, 
dass  man  auch  eine  zweite  Figur  mit 
dem  Namen  Pentagramma  bezeichnet, 
welche  aus  zwei  in  einander  ge- 


Düntzer,  1850. 

S.  221:  Pentagramma  oder  Pental- 
pba heisst  die  Figur,  welche  sich 
dadurch  bildet,  dass  man  die 
Seiten  eines  regelmässigen 
Fünfecks  verlängert,  wo  sich 
zwei  derselben  durchschneiden. 
. . .  Uneigentlich  wird  mit  dem  Namen 
Pentagramm  auch  die  aus  zwei  in 
einander  geschobenen  Drei- 
ecken gebildete  Figur  bezeichnet.  Im 
Deutschen  hat  man  fürPentagramm 
die  Bezeic  hnungen  Drude  nfuss, 
Alp-  oder  Alfenfuss,  Alpkreuz. 
Die  Pythagoräer  kannten  das  Zeichen, 
das  ihnen  die  Gesundheit  be- 
deutete. 


schobenen  Dreiecken  besteht. 

Am  meisten  hat  der  Herr  Verf.  aus  E.  Meyer  benutzt.   Was  das 
Stündchen  vor  Gretchens  Thüre  in  der  Valentinsscene  betrifft,  so  hat 
der  Herr  Verf.  S.  323  und  324  nicht  nur,  wie  E.  Meyer,  S.  81  und 
82  auf  Ophelias  Gesang  im  Hamlet,  Akt  IV.  So.  5  hingewiesen, 
XUV.  Jahrg.  4.  Doppelheft.  38 


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564  Dünizer:  Gnthe's  Fault 

sondern  beide  theileo  zuerst  das  englische  Original  mit  und  dann  den  deut- 
schen Text  ,.  in  Schlegel'*  Uebersetzung  tt  (Düntzer,  S.  324,  E. 
Meyer,  S.  81).  Nach  Düntzer  S.  324  ist  das  Ständchen  eine  „freit 
Nachbildung  des  von  Ophelia  gesungenen  Volksliedes."  Nach 
E.  Meyer,  S.  81,  ist  es  dem  Gesänge  Ophelias  frei  nachge- 
bildet.« Die  Anmerkung  bei  I)  nutzer  S.  324,  dass  „am  Valentinstage 
die  Mädchen  die  lang  schlafenden  Burschen  mit  Ruthen  aus  dem  Bette 
heraus  holen,  wie  diess  in  manchen  Gegenden  Deutschlands  noch  om 
Fastnachtstage  geschehe14,  findet  sich  in  gleicher  Weise  bei  E.  Meyer: 
„In  manchen  Gegenden,  z.  B.  in  Holstein  ist  es  noch  jetzt  Sitte,  dass  am 

Fastnachtmonlag  Früh  Morgens  die  jungeu  Mädchen  mit  Ruthen  ihre 

vertrauten  Bekannten  und  Freunde  aus  dem  Bette  treiben. tt  Ueber  den 
Ausdruck  „Rattenfänger"  in  Valentins  Rede  steht 

bei  E.  Meyer,  S.  82:  bei  Düntzer,  S.  324: 

Der  Ausdruck:  „Rattenf ängertf  Bekannt  ist  die  Sage  und  das 
erklärt  sich  aus  der  Sage  vom  Ratten-  Volkslied  vom  Rattenfänger,  der 
fänger  zu  Hameln,  der  auch  die  Jugend  die  Kinder  der  Stadt  Hameln  dorch 
durch  sein  zauberisch  lockendes  sein  lockendes  Saitenspiel  nach- 
Saiten spiel  verrührte,  und  welchen  zog.  —  GOthe  selbst  hatte  in  einem 
Göthe  in  dem  bekannten  Gedicht  dich-  hinderballet  die  Sag«  behandelt,  aas 
terisch  dargestellt  hat.  der  sich  noch  die  bekante  Romme 

„der  Rattenfänger-  erhalten  bat. 

Man  vergleiche  ferner  die  Notizen  Uber  die  Walpurgisnacht  bei 
Düntzer,  S.  338ff.  und  E.  Heyer,  S.  86 ff.  Man  vergleiche  aneb 
die  klassische  Walpurgisnacht  bei  Düntzer  Bd.  II.,  S.  178 ff.  und  bei  E. 
Meyer  S.  143ff. 

Wir  wollten  mit  der  Anführung  solcher  Stellen,  die  wir 
Beträchtliches  vermehren  können,  and  die  sich  in  allen  Theilen  des 
sehen  Kommentars  zeigen,  den  soostigen  Verdiensten  des  Herrn  Verf/e 
nicht  xu  nahe  treten.  Unsere  Absicht  war  nur  zu  zeigen,  dass  sehr  Vie- 
les von  dem,  was  ausführlich  in  diesem  Kommentar  besprochen  ist,  sich 
in  den  frühem  Erklärern  wiederfindet.  Allerdings  wird  man  bei  einer 
Forschung  mehr  oder  minder  auf  frühere  Untersuchungen  zurück- 
müssen. Wenn  man  dieselben  aber  so  genau  und  ausführlich, 
wie  in  dem  Düntze r 'sehen  Kommentare,  benützt,  müssen  die  frühe» 
Arbeiten  angegeben  werden ;  euch  wäre  es  immer  besser,  auf  früher  Er- 
forschtes kurz  hinzudeuten,  als  dasselbe  nochmals  in  ausführlicher  Breite 
wieder  darzustellen.  Wir  hätten  das  Nennen  der  Gewährsmänner,  welche 
der  Herr  Verf.  benutzt  hat,  um  so  mehr  gewünscht,  als  e 
o>  frühem  Erklarer  keine  besonders  günstige  Meinung  hat,  und 
E.Meyer,  den  er  übrigens  im  ganzen  Werke,  so  zehr  er  ihn  benützt  hat, 


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Düntier:    Gothas  Faust.  565 

nirgends  erwähnt,  in  An  fange  der  Vorrede  sagt:  ..Auch  E.  Meyer  not 
neben  vielem  Irrigen,  welches  uns  den  Beweis  liefert,  wie  sehr  die  Auf- 
fassung des  Einzelnen  im  Argen  Liegt,  einiges  Nene  beigebracht"  Und 
dennoch  würde  Kef.  dem  E.  31  o  ye  r' sehen  Kommentare  vor  dem  Dan  t«  er- 
sehen den  Vorzug  geben.  E.Meyer  gibt  in  seinen  „Studien  zu  Göthens 
Fanstu  eine  Erklärung  aller  Ilauptt  heile  des  ersten  und  z  Weiten 
Tneiles.    Allerdings  ist  nicht,  wie  im  Düntze r' sehen,  selbst  der  ein- 
zelne Vers  erklärt;  dafür  ist  aber  auch  das  Bnch  Concentrin  er ,  gewahrt 
eine  bessere  Uebersiobt,  ond  behandelt  seinen  Gegenstand  anf  320  Seiten 
in  einem  Bande,  während  das  D  nutzer1  sehe  Werk  mehr,  als  noch 
einmal  soviel  Ranrn,  320  Seiten  im  ersten  und  413  Seiten  im  zwei- 
ten Bande,  umfasst.   Der  Zusammenhang  mit  der  Sage  wird  in  der  Ein- 
leitung und  in  einem  besondern  Abschnitte  über  Gothel  Bearbeitung  der 
Faustsage  von  E.  Meyer  ebenfalls  behandelt.  Zudem  bat  das  Werk  un- 
geachtet seines  massigen  Umfangs  Mebreres,  was  sich  in  dem  Düntz er- 
sehen nicht  linde t.  Wir  rechnen  dahin  die  Chronologie  der  Göt  be- 
sehen Bearbeitung  des  Faust,  die  Sammlung  der  auf  den  Faust  be- 
züglichen Stellen  aus  Göthens  Werken,  seinen  Briefwechseln,  den  Ge- 
sprächen mit  Eckermann  und  Falk,  aus  Riemer's  Mittheilungen  n. s. w. 
die  zwar  Hr.  Dr.  Diintzer  benutzt  hat,  die  aber  nirgends  so,  wie  bei 
E.  Meyer,  ganz  zusammengestellt  sind,  das  alphabetische  Register  zu  den 
Erläuterungen,  das  die  Benutzung  derselben  sehr  erleichtert,  und  in  dem 
Btintze r 'neben  Werke  fehlt.    Gerne  erkennen  wir  übrigens  den  Fleiss 
nnd  die  Sachkenntniss  des  Herrn  Verf.  an,  und  wünschen,  dass  er  unsere 
wohlgemeinten  Winke  bei  einer  etwaigen  neuen  Bearbeitung  benützen 
möge.    In  diesem  Falle  wird  sein  Werk  zwar  kürzer,  aber  dennoch  nütz- 
licher und  brauchbarer  werden.    Das  Werk  eines  Dichters,  der  einem  le- 
benden Volke  angehört,  bedarf  keines  Kommentars  in  der  Form  der  Kom- 
mentare der  alten  Klassiker.    Nichts  ist  dem  Leser  unangenehmer,  alt, 
wenn  man  ihm  Dinge  erzählt,  die  sich  von  selbst  verstehen,  nnd  die  ihm 
beim  Lesen  des  Dichters  viel  lebendiger  und  mit  tieferer  Eindringlichkeit 
vorschweben ,  als  sie  nur  die  Paraphrasen  selbst  des  besten  Commentt- 
tors  verdeutlichen  können.  Reiclilln  Melsle**. 

■  ■  !  .  • 

f     .  ...  «  »  . 

■ 

Quellen  und  Forschungen  zur  vaterländischen  Geschichte,  Literatur  und 

Kunst.  1849.  Mit  7  Kunstbeilagen.  Wien.  W.  Braumiiller.  4.  521 S. 

•  -  .  .  .  . .  '  • 

Mit  den  Anschauungen  des  sogenannten  Metternich  sehen  Systems 
vertrug  Gerehichtspflege  sich  so  wenig,  dass  man  nicht  bloss  Nichts  für 

38* 


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566  Quellen  und  Forschungen  zur  vaterländischen  Geschichte. 

ihre  Förderung  von  oben  that,  sondern  auch  die  Bestrebungen  Einzelner 
aos  dem  Volke  mit  Misstrauen  ansah  und  sie  erschwerte.  So  kam  es, 
dasa  seit  dem  Jahre  1820  die  Thütigkeit  in  diesem  Fach  fast  ganz  er- 
losch, bis  endlich  die  Hofkanzlei,  überrascht  von  dem  voll  stand  igen  Ver- 
siegen aller  literarischen  Strebsamkeit  in  den  Provinzen,  diese  zu  einer 
neuen  Beteiligung  förmlich  aufforderte,  in  Folge  dessen  die  verschiede- 
nen Provinz-Museen  von  den  Landständen  erschaffen  wurden. 

In  der  Metropole  des  österreichischen  Staats ,  wo  die  Stände  nichts 
fUr  solche  Zwecke  thaten ,  erhielt  sich  trotz  der  Ungunst  der  Zeit  und 
der  Umstände  ein  sehr  schätzenswerter  Geschicbts -  Diiletantismus ,  dem 
die  Verhinderung  gänzlichen  Erlöschens  des  schwachen  Flammchens  um 
so  mehr  zu  danken  ist,  als  er  wegen  der  vorherrschenden  materiellen 
Richtung  auch  vom  Volke  nicht  beachtet  oder  anerkannt  war.  Ein  Pro- 
dukt dieser  Privatthätigkeit,  für  welche  zwölf  Gleichgesinnte  sich  verban- 
den und  wöchentlich  einmal  „um  den  Krug«,  der  einzigen  damals  mög- 
lichen literarischen  Vereioswesenform  sich  versammelten,  ist  das  über- 
schriftlich genannte  Werk,  welches  in  neun  geschichtliche  und  kunstge- 
schichtliche Abhandlungen,  mit  Beilagen  und  fünf  Tafeln  von  Abbildun- 
gen, zerfällt. 

.  i  Sie  beginnen  mit  „Zehn  Gedichten  Michael  Beheims  zur 
Geschichte  Oesterreichs  und  Ungarns«  von  Karajan  raitge- 
theilt  und  geschichtlich  und  sprachlich  von  ihm  erläutert.  Neun  dieser 
Gedichte  sind  aus  der  Heidelberger  —  das  zehnte  aus  einer  Münchner  — 
Handschrift  genommen,  und,  um  sie  zur  geschichtlichen  Benützung  be- 
quem und  brauchbar  zu  machen,  ist  ihnen  eine  Inha Iiszusammenstellung 
mit  Erläuterungen  vorangeschickt,  wofür  besonders  hinsichtlich  der  Per- 
sonen- und  Ortsnamen,  deren  richtige  Bestimmung  unverkennbar  sehr 
schwierig  war,  Herrn  Karajan  sehr  zu  danken  ist.  Obgleich  der  Werth 
von  Reimchroniken  ein  untergeordneter  ist,  so  macht  doch  Michael  Be- 
heim  eine  so  bedeutende  Ausnahme,  dass  die  von  Karajan  veranstaltete 
Herausgabe  seines  „Buches  von  den  Wienern«,  wozu  die  erwähnten  nach- 
träglichen zehn  Gedichte  eine  schätzbare  Zugabe  bilden,  als  eine  nunmehr 
völlig  erschlossene  Hauptquelle  für  das  Zeitalter  Friedriche  III.  (IV.)  zu 
betrachten  ist,  denn  die  Benützung  dieses  Geschichtswerkes  war  so  lange 
nur  eine  halbe,  bis  Karajan  dessen  Verstand niss  ganz  erschlossen  hatte. 
Von  Franz  Firnhaber  ist  Vicenzo  Guidoto's  Gesandschaft 
am  Hofe  Ludwig's  von  Ungarn  1523  bis  1525  mitgetheilt  — 
Guidoto,  Staatssekretär  der  Republik  Venedig,  wurde  nach  Ungarn  ge- 
schickt, um  bei  den  damaligen,  die  unglückliche  Schlacht  von  Mohacz 


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Quellen  und  Forschungen  zur  vaterländischen  Geschichte.  567 

grösstenteils  verschuldeten  Partheistrebungen  der  ungarischen  Grossen, 
eine  beobachtende  Stellung  einzunehmen.    Seine  von  H.  Firnhaber  in  ita- 
lienischer Sprache  veröffentlichten  Berichte,  denen  er  eine  geschichtliche 
Einleitung  vorangeben  liess,  ergänzen  und  berichtigen  die  Geschichte  die- 
ses Zeitabschnittes  wesentlich,  doch  ist  sehr  zu  bedauern,  dass  ihnen  die 
Angaben  der  von  diesem  scharfsichtigen  Venezianer  gewiss  genau  beob- 
achteten Umtriebe  der  Partei  des  Woywoden  Zapolya,  dem  K.  Ferdinand 
das  Unglück  von  Mobacz  uod  K.  Ludwig's  Tod  beinahe  ausscblieasend  bei- 
misst,  abgeben.  Das  „Gültenbuch  des  Schottenklosters  in  Wien 
vom  Jahr  1324,  zum  erstenmale  herausgegeben  von  Fr.  Goldhann", 
ist,  wie  acbon  der  Titel  weiset,  für  die  Geschichte  Wiens  und  seiner 
Adels-  und  Bürgergeschlechter  von  vielem  Werl  he,  den  das  dazu  von 
Karajan  besorgte  Register  gar  sehr  erhöbt.    Demnächst  folgen  von 
H.  Franz  Birk:  „Beiträge  zur  Geschichte  der  Königin  Eli- 
sabeth von  Ungarn  und  ihres  Sohnes  Ladislaus,  1440  bis 
1457."  —  Aufklärungen  aus  Urkunden  geschöpft  und  nach  allen  Bezie- 
hungen kritisch  dnrchgearbeitet,  bezeichnen  diese  Beiträge,  denen  wir  bloss 
einen  grösseren  Umfang  gewünscht  hatten,  als  eine  der  vorzüglichstes 
Arbeiten  dieser  Sammlung.    Was  bis  auf  diesen  Tag  alle  ungarischen  und 
alle  oesterreichischen  GeschicbUchreiber  glaubten,  dass  nämlich  die  Köni- 
gin —  Wittwe  Elisabeth  -  -  die  ungarische  Reichs  kröne,  an  deren  Be- 
sitz die  noch  heutzutage  nicht  erstorbene  Idee  der  Herrschaft  Uber  Un- 
garn geknüpft  ist,  dem  Kaiser  Friedrich  verpfändet  habe,  macht  Hr.  Birk 
durch  den  beglaubigten  Nachweis  verschwindeu,  dass  die  Königin  ihr* 
Krone,  mithin  nicht  die  Reichskrone  zum  Pfände  gab,  auch  bringt  er  über 
den  von  Ladislaus  Hunyad  an  dem  mächtigen  Grafen  Ulrich  von  Cilli,  den 
letzten  Sprossen  seines  Hauses  begangenen  Mord ,  bereichernde  und  be- 
richtigende Aufschlüsse  aus  der  Aufzeichnung  eines  Codex  der  Hofbiblio- 
thek, während  andere  Dokumeote  über  die  Verhaftung  und  Hinrichtung 
Hunyad's,  die  bisher  immer  als  ein  abscheulicher  Wortbruch  uud  Rache- 
akt des  Königs  Ladislaus  galt,  ein  ganz  neues  Licht  verbreiten.  Wir  er- 
fahren nämlich,  dass  die  den  Mord  des  Cilüers  verschuldeten  ungarischen 
Edelleute,  zu  Ofen  einen  geheimen  Bund,  der  gegen  den  König  selbst  ge- 
richtet war,  geschlossen  hatten  und  seine  Entdeckung  die  Ursache  der 
Hinrichtung  des  einen  Hunyad's,  der  Gefangensetzung  des  andern  und  der 
von  16  Mitverscbworenen  geworden  ist.  —  Ganz  unbearbeitet  war  bisher 
der  Schwedenein  fall  in  Oesterreich,  obgleich  er  ein  bedeutendes  Moment 
in  der  Geschichte  des  30jährigen  Krieges  bildet.  An  diese  dankenswerthe 
Arbeit  hat  sich  Herr  Jos.  Feil  gemacht  und  eine  aus  vielen  Quellen 


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568  Duellen  und  Forschungen  zur  vaterländischen  Geschichte. 

gezogene  Darstellung  dieses  Ereignisses,  unter  dem  Titel:  „Die  Schwe- 
den in  Oesterreich  1645 — 1 646  u  in  der  Snmmlang  der  Zwölf  nie- 
dergelegt Die  Ausführlichkeit,  sowie  dos  dazu  benutzte  reiche  Matertale 
machen  diese  Darstellung  zur  Grundlage  für  die  österreichische  Geschichta- 
bearbeitueg  oder  für  die  des  30jiihrigen  Krieges,  in  wie  ferne  die  eine 
oder  die  andere  diese  Partbie  behandelt.  Richtig  bemerkt  der  Verf.,  dass 
der  Schwedeneinfall  in  Oesterreich  wesentlich  durch  den  Abgang  schneller 
und  sicherer  Nachrichten  über  die  Operationen  der  Feinde  ermöglicht  war, 
aber  ihre  Geringschätzung  (heilte  man  doch  nicht  so  allgemein,  wie  man 
aus  den  von  Feil  beigebrachten  Probco  anzunehmen  versucht  sein  könnte. 
Andere  Nachrichten  beweisen,  dass  die  Furoht  vor  den  Schweden  sehr 
gross,  man  könnte  beinahe  sageu,  eine  hussitische  war.  Wann  dessen- 
ungeachtet schlechte  Vorbereitungen  zur  Abwehr  getroffen  wurden,  so 
kommt  diese  zum  Theil  auch  auf  Rechnung  der  damaligen,  den  Ständen 
überlassenen  Landesvertbeidignng ,  der  auch  spater  noch,  nie  ein  richtiger 
Plan  zum  Grunde  lag.  Statt  die  Streitkräfte  zu  concentriren  und  auf  den 
Einbruchspnakten  aufzustellen ,  zersplitterte  man  sie  in  Schlösser  —  Be- 
gattungen und  Vertheisnngen  an  kleine,  nicht  baltbare  Orte.  Des  Haupt- 
kunitstück  der  Defension  bestand  in  Verhauen,  Graben  und  Erdwällen, 
die,  von  vorangeschickten  Spionen  erkundschaftet,  enl weder  umgangen, 
oder  leicht  bezwungen  werden  konnten.  So  kam  es,  dass  nach  der  un- 
glücklichen Schlacht  von  Jankau  die  Schweden  durch  Mähren  widerstands- 
los bis  an  die  Donau  und  vor  Wien  durchdringen  konaten.  Wie  diess 
geschehen,  wie  ein  Platz  nach  dem  andern  flel  und  die  Schweden  in  den 
eroberten  Orten  baussteo,  welche  Anstalten  zur  Vertbeidignag  Wiens,  des- 

land  gewesen  wäre,  getröffen  wurden,  und  welchen  Antheil  dabei  K.  Fer- 
dinand HL  im  Gegensatze  zu  der  ihm  unterstellten  Furcht  and  Fanrlosig- 
keit,  gehabt,  erzühlt  der  Verf.,  mit  vielen  einzelnen  Zügen  von  Vater- 
landsliebe und  edler  Aufopferung  uns  bekannt  machend,  quellenmassig  und 
ausführlich.  Dabei  bebt  er  aber  auch  der  Wahrheit  gemäss  hervor,  „dass 
die  vom  Kaiser  schleunig  veranstaltete  Wiederaufnahme  der  Fried eusun  - 
terbandlungen  mit  Ragoczy ,  allein  es  war,  welche  Torsten s- 
**n*s  Siegeslauf  in  Oesterreich  dämmte,  und  Wien  vor 
den  Schweden  rettete.  —  Karl  von  Sava  gab  Bemerkungen 
Aber  Waffen,  Rüstung  und  •  Kleidung  im  Mittelalter,  die 
grösstenteils  den  Siegeln  der  österreichischen  Hegenten  entnommen  tind, 
zu  den  ältesten  bekannten  zurück-  und  bis  Maximilian  I.  hinüber  reiche  3, 
ein  Zeitraum  von  1066—1493,  in  dem  in  Beziehung  auf  die  Wappen 


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Qnellen  und  Forschungen  zur  vaterländischen  Geschichte.  569 

des  Landes  und  der  Fürsten  von  Oesterreich  grosse  Dunkelheiten  liegen. 
Je  weniger  auf  diesem  Gebiete  in  neuester  Zeit  geleistet  worden  —  die 
Akademie  der  Wissenschaften  bat  es  unseres  Wissens  bisher  nicht  betre- 
ten —  desto  anerkennenswert  her  ist  Hrn.  Sava's  Leistung,  der  nebst 
jorgfaltiger  Benützung  des  Vorhandenen,  auch  aus  seiner  eigenen  Samm- 
lung bei  dieser  Arbeit  schöpfte.  Das  beigefügte  Verzeicbniss  der  bisher 
bekannten  Figurensiegel  der  österreichischen  Fürsten  bis  Friedrich  IV. 
glauben  wir  mit  zwei  im  Meraner-Archive  befindlichen  Reitersiegeln  Ri- 
dolpb's  IV.,  deren  eines  bloss  ein  wenig  durch  einen  Abguss  gelitten, 
vermehren  zu  können,  und  bemerken  zu  müssen,  dass  wir  Herrn  Sava'e 
Meinung,  mit  dem  Tode  Friedrichs  IV.  sei  die  Stempelsobneideknnst  gänz- 
lich verfallen,  nicht  ganz  t heilen  können,  denn  eine  bedeutende  Anzahl 
von  Siegeln  Max  I.,  Ferdinande  I.  and  Kirfs  V.  überzeugte  uns,  dass 
dieser  Kunstzweig  noch  geraume  Zeit  fortbluhte.  — Ein  Bericht  über 
drei  Holzschnitte  aus  einer  Handschrift  des  XV.  Jahrhun- 
derts zn  Brünn-,  von  Adolph,  Rittor  von  Wolfskron,  die  Drei- 
einigkeit, den  hl.  Wolfgang  und  die  Jungfrau  Ilaria  vorstellend  und  durch 
die  beigefügten  Abbildungen  anschaulich  gemacht,  beansprucht  für  das  AU 
ter  des  Ersten  das  Ende  des  XIV.  oder  höchstens  den  Anfang  des  XV. 
Jahrhunderts,  und  eignet  ihn  der  deutschen  Kunstschule  zu,  wahrend  das 
Alter  des  zweiteu  Blattes  zwischen  1400—1425,  und  des  dritten  um 
1435  bestimmt  wird.  Kunstkenner  mögen  entscheiden,  ob  diese  Alters- 
bestimmungen, deren  eine  die  Jahreszahl  1418  und  1423  der  beiden  be- 
kannten ältesten  Holzschnitte  überragen  würde ,  gerechtfertigt  seien,  und 
dabei  nicht  übersehen,  dass  das  Datum  des  Missale,  auf  dem  diese  drei 
Holzschnitte  aufgeklebt  sind,  1435  ist.  Von  den  beiden  letztern  Blattern 
gehören,  meint  Hr.  v.  Wolfskron,  das  eine,  nämlich  St.  Wolfgang,  der 
böhmischen  Schule  an,  das  andere,  die  gekrönte  Himmelskönigin  aber 
eignet  er  einem  italienischen  Meister  zu.  Ob  unter  „Schule"  nicht  bloss 
ein  böhmischer  Heister  zu  verstehen  sei,  und  ob  überhaupt  die  Annahme i 
das  erste  und  zweite  Blatt  seien  ganz  einfach  Erzeugniss  eines  Form- 
schneiders von  Brünn,  nicht  etwa  annehmbarer  sei,  wollen  wir  un erörtert 
rossen,  und  bloss  bemerken,  dass  die  Foroischneidekunst  sich  frühzeitig 
und  selbständig  in  Oesterreich  entwickelt  zu  haben  scheint,  denn  in  der 
Anwendung  auf  Petschafte,  die  in  Ebenholz  geschnitten  wurde»,  war  sie 
schon  im  Jahr  1061  in  österreichischen  Abteien  da,  und  da  wir  ausser- 
dem in  dem  dracbentödtenden  heil.  Michael  auf  der  Kupferblatte  eines 
Evangelienbucbes  zu  St.  Wolfgang  in  Oberösterreich  ein  Grabstichel- 
erzeugniss  mit  vier  Zeilen  Umschrift  besitzen,  dessen  Alter  in  das 


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570 


Quellen  und  Forschungen  rar  vaterländischen  Geschichte. 


zehnte  Jahrhundert  hinaufrtickt  und  dessen  deutschen  Ursprung  Mass- 
mann und  Kngler  bestimmt  aussagen,  so  deuten  diese  Erscheinungen  auf 
eine  mehrseitige,  mit  dem  Holzschnitte  in  naher  Verwandtschaft  gestan- 
dene Kunstpflege  in  Oesterreich,  die  von  da  fast  wahrscheinlicher  nach 
Mähren  gedrungen,  als  von  Böhmen  dahin  gekommen  sein  wird.  —  Un- 
tersuchungen des  Hrn.  Heinrich  Glax:  „Ueber  die  vier  Ausgaben 
der  geschichtlichen  Vorstellung  der  Ehrenpforte  K .  Ma- 
ximilian^ L,  von  Albrecht  Dürer",  werden  das  Interesse  der  Kunst- 
historiker um  so  gewisser  anregen,  als  Herr  Glax  zeigt,  dass  die  kritische 
Erkenntniss  von  diesen  verschiedenen  Ausgaben  seit  Bartsch  um  nichts 
vorwärts  geschritten  ist.  Nachdem  er  Angaben  der  Deutschen  und  der 
Engländer  geprüft  und  berichtigt  hat ,  schreitet  er  sodann  zur  Beschrei- 
bung von  verschiedenen  selbständigen  Druckausgaben  dieser  Vorstelluogeo, 
die  ihm  durch  einen  glücklichen  Fund  und  mehrseitige  Unterstützungen 
zukamen.  Seine  Frage:  Sollten  die  historischen  Vorstellungen  der  Eh- 
renpforte mit  ihrem  Titel  und  ihren  Ueberschriften  nicht  als  eine  Auto- 
biographie Maximilian^  in  Bildern  anzusehen  sein  ?  möchten  wir  unbedenk- 
lich mit  Ja  beantworten,  da  die  Benützung  der  Wissenschaft  nnd  Kunst 
und  ihrer  Träger  zur  Selbst  Verherrlichung  als  ein  bestimmter  Zug  im  Cha- 
rakter dieses  klugen  Fürsten  hervortritt.  —  In  der  Abhandlung:  „Die 
Kunstdenkmale  des  Mittelatte  rs  zu  Maria-Laach  und  zu 
Eggen  bürg  in  Unte  rösterreit' Ii  u,  machen  wir  Bekanntschaft  mit 
mehreren  mittelalterlichen  Baudenkmäleru,  und  in  den  Kirchen  beider  Ort- 
schaften mit  zwei  Werken  der  Holzschneidekunst,  nämlich  mit  zwei  Flü- 
gelaltaren, von  denen  der  Laacher  einen  besonderen  Kuustwerth  zu  ha- 
ben scheint.  Sehr  wahrscheinlich  waren  sie  bisher  ganz  unbekannt,  denn 
es  ist  eben  so  eigenthumlich  als  unbegreiflich,  dass  dem  Kronlande  Nic- 
derösterreieb  wie  von  flüchtigen  Touristen  so  von  leidenschaftlichen  Künst- 
ln d  Altertbumsforschern,  immerfort  die  allergeringste  Aufmerksamkeit  ge- 
widmet wird.  Einen  bedeutenden  Schuldtheil  an  dieser  Yersäwnniss  trägt 
unstreitig  der  Abgang  eines  historischen  Vereins  für  Niederöslerreicb,  denn 
zum  Auffinden,  Sammeln  und  Benützen  historischer  Denkmäler,  ist  ein 
mehrfaches  und  planmässiges  Zusammenwirken  erforderlich»  Uebrigens  be- 
weisen die  von  Herrn  v.  Sacken  entdeckten  Flügelaltäre,  dass  die  Holz- 
schneidekunst in  Oesterreich  einst  blähend,  und  über  alle  deutseben  Pro- 
vinzen verbreitet  war,  denn  in  allen  ßnden  sich  solche  FlQgelaltare ,  von 
welchen,  wie  es  scheint,  bloss  ausnahmsweise  zwei  ganz  in  Thon  gear- 
beitet sind.  Die  Frage:  ob  die  Gemälde  auf  den  Flügeln  der  Schreine, 
welche  gewöhnlich  die  geschnitzte  Hauptvorstellung  der  Altäre  vertchlies- 


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Wilbelmi:   Geschichte  der  Abtei  Sunnesheim. 


leo,  Erzeugnisse  des  nämlichen  Meisters  seien,  der  das  Schnitzwerk  her- 
stellte, wird  von  Herrn  v.  Sacken  bei  Mem  Laacher-Altare  verneint,  aber 
bei  anderen  derartigen  Produkten  richtig  beiaht,  denn  uns  hat  ein  auf- 
gefundner  mit  dem  berühmten  Pacher  von  Brunneck  wegen  Herstellung 
eines  solchen  Altars  geschlossener  Vertrag  belehrt,  dass  dieser  ausgezeich- 
nete Künstler  Bildhauer  und  Maler  war.  Hieraus  erkannten  wir  auch, 
dass  derlei  gewöhnlich  sehr  kostspielige  Kunstprodukte  nicht  bloss  in  Be- 
ziehung auf  den  Preis,  sondern  auch  auf  die  Vorstellungen  bedingungs- 
weise zu  Stande  kamen.  Man  darf  daher  nicht  glauben,  dass  die  Ideen- 
conception  jederzeit  vom  Künstler  ausging,  denn  es  sind  uns  mindestens 
zwei  Beispiele  bekannt,  die  darthun,  dass  in  allen  Stücken  eine  genaue 
Vorschrift  von  Denjenigen  gegeben  wurde,  welche  solche  Kunstwerke  an- 
fertigen Wessen . 

Wir  scbliessen  diesen  Bericht  über  die  Erstlingsfrucht  der  Thatig- 
keit  dieser  zwölf  Geschichtsfreunde  mit  dem  Wunsche,  dass  die  Fort- 
setzung nicht  wegbleibe,  zumal  der  Zeitenwechse)  den  auf  so  ehrenwerlhe 
Strebungen  gelasteten  Druck  behoben  hat  und  die  vermiete  Anerkennung 
schaffen  wird.  JH#  §4.ocli* 

•i 

Geschichte  der  vormaligen  freien  adeligen  Benedictiner  -  Abtei  5un- 
nesheim  ton  Karl  Wilhelm*,  er.  prot.  Stadtpfarrer  und  Decan 
in  Sinsheim,  Bitter  des  Ordens  rom  Zähringer  Löwen  und  Direc- 
tor  der  Sinsheim  er  Gesellschaft  zur  Erforschung  der  vaterländi- 
schen Geschichte  der  Vorzeit  etc.  Sinsheim,  1851  (iU  Seiten 
in  gr.  8.  und  XVI  S.  Titel,  Vorrede  und  Inhaltsvei'zeichniss.) 

Diese  Geschichte,  welche  den  XHI.  Jahresbericht  der  Sinsbeimer 
antiquarischen  Gesellschaft  bildet,  ist  die  Frucht  vielfältiger  und  vieljähri- 
ger Studien;  und  wir  erlauben  uns,  selbst  die  Aufmerksamkeit  auf  die- 
selbe zu  lenken,  damit  sie  nicht  unter  der  Zahl  so  mancher  leichten  Ar- 
beiten ähnlicher  Art  verschwinde.  Und  da  war  kaum  ein  anderes  Land 
Deutschlands  reicher,  theils  an  vor  und  bei  dem  Anfang  der  Reforma- 
tion seit  der  alteren  Zeit  noch  vorhanden  gewesenen  Collegial  -  Stiftern 
und  Manns-  und  Frauenklöstern  aller  Art,  theils  an  seit  dem  Regierungs- 
antritte des  gut  Katholischen  Kurfürsten  -  Hauses  Neuburg  neu  errichteten 
Manns-  uud  Frauenklöstern,  als  die  so  überaus  von  Gott  gesegnete  kur- 
fürstliche Pfalz  am  Kheine.  Unter  diesen  Klöstern  aber  war  eines  der 
ältesten  und  reichsten  die  freie  adelige  Benedictiner -Abtei 
Sinsheim  oder,  wie  sie  ursprünglich  in  ihrer  Stiftungsurkunde  heisst, 
Sannesheim*)  ganz  in  der  jetzigen  grossherzoglich  badischen  Amtsstadt 

*)  D.  i.  Sunnonis  villa,  des  Sunno  Heim,  Weiler  oder  Dorf. 


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Wilhelm«:   Geschichte  der  Abtei  Sonnesheim. 


Sinsheim  auf  dem  später  sogenannten  Klosterberge.  Zuerst  befand  sich 
jedoch  auf  demselben  bloss  ein  AÄgustiner-Kloster,  welches  schon 
vor  dem  Jahre  1004  von  dem  berühmten  Herzoge  Otto  von  Kerntben, 
dem  Grossvater  Kaiser  Konrad's  II,  des  Salikers,  gestiftet  worden  ist. 
Dieser  war  zugleich  Graf  in  dem  Wormaz-,  Speier-,  Nah-,  Kraich-  and 
Elsenz- Gaue;  und  es  stand  das  Augustiner  -  Kloster  Sunnesheim  in  sehr 
naher  Beziehung  mit  dem  Fränkischen  Kaiserhause;  ja,  Alle  von  kö- 
niglichem Stamme,  welche  man  nach  ihrem  Hinscheiden 
nicht  nach  Speier  bringen  wollte,  wurden  gemeiniglich 
nach  Sinsheim  gebracht.  Namentlich  hatten  daselbst  Wolfram,  einst 
Herr  über  die  Grafschaften  des  Eisens-,  Enz-,  Kraicb-  und  Pßnzgaues, 
und  seine  Gemahlin  Azela,  eine  Tochter  Kaiser  Heinrich^  III  und  Schwe- 
ster Kaiser  Heinrichs  IV,  sammt  ihrer,  bis  auf  einen  Sohn  und  eine  Tochter, 
dabin  gestorbenen  Familie  in  jenem  Kloster  ihre  letzte  Ruhestätte  gefunden. 

Dieser  Sohn,  Graf  Johannes,  hatte,  kaum  erst  27  Jahre  alt,  von 
seinem  kaiserlichen  Oheime  Heinrich  IV  die  hohe  Würde  eines  Bischöfe? 
in  Speier  erhalten,  war  aber  ein  sehr  kränklicher  Herr,  welcher  seinen 
frühen  Tod  vor  Augen  sab.  Sehnlichst  wünschte  er,  zu  seinem  Vater 
und  seiner  Mutter  und  seinen  übrigen  Verwandten  nach  Sinsheim  begra- 
ben zu  werden.  Weil  jedoch  dasselbe  nicht  zu  seinem  Bisthum,  sondern 
eu  dem  Bisthume  Worms  gehörte,  so  vertauschte  er  sich  Sinsheim  und  das 
nahe  Ronrbach  gegen  andere  Villen  vou  dem  Bischöfe  zu  Worms,  hob 
das  Augustiner  -  Kloster  bei  Sinsheim  in  dem  Jahre  1099  auf  uud  er- 
richtete an  dessen  Stelle  in  dem  Jahre  1100  eine  freie  adelige 
Benedictiner- Abtei,  welche  er  auf  das  freigebigste  fundirte  und 
lumal  in  sieben  Gauen  mit  den  herrlichsten  Gütern  ausstattete,  sowie  mit 
jeder  Freiheit  und  Unabhängigkeit  selbst  auch  von  dem  Bischöfe  in  Speier 
begabte.  Die  Abtei  Sinsheim  sollte  unter  demselben  nur,  als  unter  einem 
milden  und  gütigen  Schirmherr  stehen,  der  ihr,  wenn  es  Noth  thue,  helfe 
und  rathe.  Bischof  Johannes  liess  zugleich  auch  das  gcaammte  K loste r- 
gebnude  ausbauen  und  mit  einer  Mauer  umschiiessen,  so  wie  für  sich  und 
seine  Familie  in  der  erweiterten  Kirche  eine  Crypta  oder  Gruft,  d.  L 
■nierirdische  Todtenkirche ,  errichten.  Und  da  er  wirklich  schon  vier 
Jahre  hierauf,  in  dem  Jahre  1104,  starb,  so  ward  sein  Leichnam  voi 
Speier  nach  Sinsheim  in  die  Crypta  gebracht,  in  welcher  er  wohl  jetzt 
noch  ruhet.  Wir  haben  wenigstens  keine  Nachricht,  dass  je  diese  Crypta 
Wäre  später  aufgefunden  und  geöffnet,  und  derselbe  aus  ihr  genommen 
oder  zerstört  worden. 

Die  freie  adelige  Ritterabtei  Sinsheim  aber  blühte  anfänglich  berr- 


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Wilhelmi:    Geschichte  der  Abtei  Sunncsheim.  573 

heb,  selbst  such  in  wissenschaftlicher  Thatigkeit,  auf.    Ihr  erster  Abi, 
Adelgerus,  Hess  sehr  ?ie!e  Bücher  (Handschriften),  zum  Nutaeu  seines 
Klosters  fertigen.    I  n  d  unter  dem  zweiten  Abte,  Eggenhard,  gediehen 
die  Studien  so  sehr,  dass  sich  in  demselben  filitnner  bildeten,  weiche  es 
vor  Vielen  verdienten,  auch  Vorsteher  in  andern  Klöstern  zu  werden« 
Und  indem  nun  der  Abt  Harquard  in  dem  hochberühmten  Beeedictiner- 
Kloster  Lauresham,  eioer  unmittelbaren  Reichsprälatur,  in  dem  Jahre  1173 
starb,  so  wählten,  auf  den  Rath  des  König  Konrad's  1U  selbst»  die  Bru- 
der desselben  einstimmig  den  Heinrich  aus  dem  Kloster  Sinsheim  zu  ihrem 
Abte,  als  einen  Mann,  in  dem  sich  alle  Tugendeu  vereinten.    Und  dieser 
bewährte  sieb  wirklich  als  Abt  von  Lorsch  so  herrlich,  dass  er  von  dem 
Papste  Victor  nicht  nur  ein  ßelobungschreiben,  sondern  auch  eine  Infel, 
eine  für  die  Aebte  damals  noch  ganz  ausserordentliche  Hauptzierde,  und 
ein  Breve  erhielt,  welches  ihn  für  würdig  erklärte,  solche  zeitlebens  zu 
tragen.    Doch  die  guten  Zeiten  änderten  sich  für  unsere  Abtei  sehr,  als 
das  grosse  Schwäbische   Kaiserhaus    Hohenstaufen  in  seinem  schwere« 
Kampfe  gegen  die  Papste  zuletzt  unterlag.    Der  Krieg  Konrad's  IV,  des 
Schwaben,  mit  seinem  Gegenkaiser  Wilhelm  von  Holland  zog  sich  in  dem 
Frühjahre  1251  selbst  bis  in  die  Pfalz  am  Rheine;  und  das  hohe  Elend, 
welches  dieselbe  damals  traf,  fühlte  auch  die  Abtei  Sinsheim  auf  das 
schmerzbehste.    Iure  grossen  Einkünfte  reichten  nicht  mehr  zur  Bestrei- 
tung ihrer  noch  grössern  Lasten  hin.    Die  Schulden  häuften  sich  immer 
höher;  und  der  Abt  Heinrieb  und  sein  Convent  sahen  sich  genöthigt, 
bianen  sechs  Jahren,  von  1248—1253,  sechs  herrliche  Güter  jenseits  des 
Rheins:  All  heim.  Bebiugeo,  Wepheim,  Buhel,   Geinheim  und  Vischeliogen, 
ihrer  Schulden  wegen  zu  verkaufen.     Die  Zeiten  wurden  selbst  noch 
fttrchterUcber  unter  dem  Herzoge  Richard  von  Korn-Wallis  und  dem  Kö- 
nige Alpbons  dem  Weisen  von  Kastilien,  bis  endlieh  die  Fürsten  in  dem 
September   1273  tu  dem  lapfern  Grafen  Rudolph  von  Habsburg  wieder 
ein  tüchtiges  Reicbsoberhaupt  erwählten.    Nun  ging  es  zwar  der  Abtei 
wieder  besser;  allein  jetzt  erhob  sich  ein  langer  Zwist  zwischen  dersel- 
ben und  der  Stadt  Sinsheim.    Diese  war  ihr  untertban,  und  der  Schutf- 
üeiss,  der  Bürgermeister  und  der  Rath  aus  zwölf  Richtern,  welche  der 
der  Stadt  vorstanden,  waren  ächte  Hübner  der  Abtei  und  mussten  einem 
jeglichen  Abte  oder  Vormunde  des  Klosters  Huldigung  und  Gelübde  tbuu 
und  schwöre«,  gleichwie  Lehensleute  ihren  Lebensberren ;  und  die  Stadt 
strebte,  sich  endheb  frei  und  von  der  Abtei  unabhängig  zu  macheu.  Zu- 
mal war  der  Abt  Eberhard  von  Gemmingen,  1335  —  1365,  ein  stolzer 
Hann,  der  sich  „von  Gottes  Gnadenu  schrieb  und  ungern  nachgab;  und 


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576  Wilhelm! :    Geschichte  der  Abtei  Sunnesheim. 

war  der  Abt  Siefrid  von  Venningen,  von  1429  —  1456,  ein  strenger 
Herr,  welcher  seines  Klosters  alte  Rechte  festxnhalten  strebte.  —  Doch 
den  weltlichen  Geist  der  Secularisation,  der  immer  mehr  in  die  schon  für 
die  damalige  Zeit  nicht  mehr  passenden  Klöster,  und  aueh  in  ihr  Kloster 
gewaltig  eindrang,  vermochten  auch  jene  beiden  Aebte  nicht  abzuwehren. 
Den  Vorgängen  des  Klosters  St.  Alban  bei  Mainz  und  der  so  nahen  ond 
ihnen  so  befreundeten  Benedictiner  in  Odenheim  folgten  in  dem  Jahre 
1496  auch  der  Abt  Michel  von  Angelach,  der  Prior  Konrad  von  Habera 
und  der  ganze  Convent  des  Klosters  bei  Sinsheim  und  veränderten  auch 
ihr  geistliches  Kloster  in  eine  weltliche  Collegiat-  und  Stifts- 
kirche, in  welcher  nun  der  Abt  zum  Propste  (praepositus),  der  Prior 
zum  Dechanten  (decanns),  und  der  Convent  zum  Capitel,  sowie  die  Mönche 
zu  Canonikern  wurden.  Es  hiess  unser  Kloster  nun  das  freie  ade- 
lige Collegiat-Stift. 

Der  Hauptzweck  dieser  ganzen  selbstsüchtigen  Translation  war  nicht 
nur  der  unumschränktere  Lebensgenuss  der  in  dem  Stifte  Wohnenden  selbst, 
sondern  duss  auch  die  adeligen  Familien  in  diesem  Stifte  Präbenden  er- 
hielten und  eine  Anzahl  Söhne  versorgen  konnten.  Denn  es  bestanden 
ausser  der  Propstei  und  dem  Decanate  acht  weltliche  Canonicate  oder 
Domherren-Stellen  und  zehen  geistliche  Vicariate.  Doch  selbst  auch  da- 
bei blieb  es  nicht.  Als  Propst  folgte  dem  Michel  von  Angelach  allein 
nur  noch  Georg  von  Heimstatt,  um  1502.  Dieser  brachte  vollends  das 
Collegiat-Stift  um  seine  Ehre  und  Selbständigkeit.  Denn  weil  er  zu  be- 
merken glaubte,  dass  von  den  Einkünften  des  Klosters  all  zu  viel  von 
der  Präpositur  an  sich  genommen  werde,  so  bewirkte  er,  in  dem  Jahre 
1514,  bei  dem  Papste  Leo  X  eine  Bulle,  dass  nach  seinem  Tode  die 
Stelle  und  Würde  eines  Propstes  ganz  aufhören  und  nur  noch  ein  De- 
chant  oder  Decan  das  Haupt  dieses  ritterlichen  Stiftes  sein  sollte.  Also 
wurde  auch  in  dem  letzteren  der  neue  reformatorische  Geist  immer  mäch- 
tiger. Das  nahe  Heidelberg  war  bereits,  seitdem  der  vortreffliche  Kur- 
fürst Philipp  der  Aufrichtige  regierte,  der  Sammelplatz  der  ausgezeichnet- 
sten Geister  Deutschlands,  und  daselbst  hatten  frei  forsebeude  gotterleoch- 
tete  Theologen  zu  lehren  begonnen.  Und  nun  hielt  vollends  daselbst  auch 
Luther  in  dem  Jahre  1518  bei  den  Augustinern  eine  Disputation.  Diese 
regte  nicht  nur  viele  Geistliche  weit  umher  auf,  sondern  auch  Viele  von 
Adel,  besonders  gerade  in  dem  Kraicbgaue,  nahmen  an  dem  hohen  Werke 
der  Reformation  den  lebendigsten  Antheil.  Und  als  nun  Georg  von  Heim- 
st« tt  in  dem  Jahre  1532  starb,  so  Hess  man  in  dem  Stifte  Sinsheim  die 
Präpositur  wirklich  aufhören,  und  war  Erasmus  von  Habern  der  erste 


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Wilhelmi:   Geschichte  der  Abtei  Sunneaheim. 


Dechant,  welcher  als  Oberhaupt  dem  ritterlichen  Collegiat-SÜfte  vorstand. 
Dasselbe  kam  nun  immer  mehr  in  ein  gänzliches  Abhängigkeitsverhältnis* 
vod  dem  Bischöfe  in  Speier.     Das  einst  so  freie  Kloster  konnte  ohne 
dessen  Erlaubniss  gar  nichts  mehr  thun.    Dazu  folgte  auch  noch  dem 
Erasmus  von  Habern,  in  dem  Jahre  1542,  der  schwache,  der  Sinnlich- 
keit und  dem  Wohlleben  so  sehr  ergebene  Decan  Wernherr  Nothaff  von 
Hobemberg,  unter  welchem  bei  den  Stiftsberrn  das  schwelgerische  und 
lasterhafteste  Leben  noch  immer  mehr  zuuahm.    Sie  führten  sammt  ihrem 
Decaoe  einen  uncbristlichen,  unadeligen,  verbotenen  und  sträflichen  Wan- 
del, besonders  mit  Concubinen  und  schlechten  Frauenspersonen,  und  üb- 
ten zugleich  die  schlimmste  Oekonomie,  des  Stiftes  Güter  und  Gefalle 
sündhaft  und  unnütze  mit  diesen  leichtfertigen  Weibsleuten  verschwendend, 
während  gerade  damals  die  weiseste  Sparsamkeit  um  so  nöthiger  gewe- 
sen wäre,  als  indem  grosse  Hulfs-  und  Kriegsgelder,  Türkensteuer  und 
nicht  minder  Landsteuer  auch  von  dem  Stifte  bezahlt  werden  mussten  und 
dasselbe  schwer  drückten.    Dabei  huldigte  schon  der  Kurfürst  bei  Rheine 
Friedrich  II,  der  Weise,  der  evangelischen  Lehre ;  und  schon  auf  Weih- 
nachten 1545  wurde  das  heilige  Abendmahl  in  der  Schlosskirche  zu  Hei- 
delberg von  der  Kurfürstin  Dorothea  und  dem  Hofe,  so  wie  am  3.  Ja- 
nuar 1546  in  der  Hauptkirche  zu  Heidelberg,  in  der  zu  dem  heiligen 
Geiste,  unter  beiderlei  Gestalt  genossen.    Und  wenn  auch  Friedrich  II  aus 
Furcht  vor  der  Nacht  des  Kaisers  Karl  V  auf  der  betretenen  Bahn  nicht 
weiter  fortschritt  und  dem  so  sogenannten  Augsburger  Interim  in  dem 
Jahre  1548  beitrat,  so  sahen  sich  doch  der  Dechant  und  das  Capitel  zu 
Sinsheim  in  dem  Jahre  1553  genöthigt,  in  Johann  Diedenhöffer  den  er- 
sten evangelischen  Pfarrherrn  für  die  Stadt  Sinsheim  anzunehmen.  Dazu 
olgte  dem  Kurfürsten  Friedrich  II,    in  dem  Anfange  des  Jahres  1556, 
OUo  Heinrich,  der  Grossmüthige,    welcher  sich  längst  zu  der  Augsbur- 
ger lutherischen  Confession  bekannte  und  in  der  Kurpfalz  das  Interim  und 
die  katholische  Lehre  abschaffte,  und  diesem,  in  dem  Anfange  des  Jahres 
1559,  der  Kurfürst  Friedrich  III,  der  Fromme,  welcher  die  von  dem 
letzterm  begonnene  Reformation  vollkommen  vollendete.  Friedrich  in,  der 
in  allen  geistlichen  Lehren  selbst  so  wohl  Unterrichtete,  hatte  einen  wahr- 
haft religiösen  und  streng  sittlichen  Charakter,  und  nichts  war  ihm  mehr 
zuwider,  als  das  gottvergessene  unsittliche  Leben,  wie  es  in  den  meisten 
der  bei  seinem  Regierungsantritte  in  der  Kurpfalz  noch  so  zahlreichen 
Klöster,  und  zumal  auch  in  unserem  ritterlichen  Adelsstifte  Sinsheim  herrschte. 
Schon  sein  Vorgänger  und  er  hatten  durch  den  Kirchenrath  die  Herren 
auf  unserm  Stifte  wiederholt  aufgefordert,  „die  Abgötterei  und  das  un- 


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Wilbelmi:   Geschichte  der  Abtei  Sunncaheim. 


züchtige  unadelige  Leben  und  Wesen"  abzuschaffen.  Allein  Alles  war 
umsonst  gewesen.  Also  ritt  der  Kurfürst  Friedrich  III  selbst  im  Jahre 
1565  den  IG.  April  Montags  nach  Palmarum  nach  Sinsheim,  als  wohin 
er  auch  verschiedue  seiner  geistlichen  und  weltlichen  Käthe  beschieden 
hatte,  und  weil  der  Dechant  und  sein  Cnpitel  auch  jetzt  sich  der  kur- 
fürstlichen Religion  und  Kirchenordnung  und  der  Cnpitulation,  welche  der 
Kurfürst  in  seiner  eigenen  Gegenwart  setzen  liess,  durchaus  nicht  unter- 
würfen, sondern  alle  Forderungen  des  Kurfürsteu  an  sie  beharrlich  von 
sich  abwiesen;  so  sandte  der  Kurfürst  an  dem  5.  Juli  1505  Räthe  und 
Befehlshaber  auf  das  Stift,  welche,  dasselbe  einziehend,  dem  Decane  einen 
schriftlichen  Abschied  einhändigten,  alle  übrigen  Stiftspersonen,  welche  die 
Capitulation,  die  sie  ihnen  nochmals  vorlegten,  nicht  annahmen,  fortschick- 
ten und  alle  Rechnungen,  Schlüssel,  Vorrat  he  eto.  in  Besitz  nahmen.  Zur 
Verwaltung  aber  der  Stiftsgefulle  wurde  ein  eigner  Sc  hall  n  er  eingesetzt. 

Die  aus  dem  Stifte  Verlriebuen,  welche  schon  in  demselben,  als 
Ohne  höhere  sittliche  Eiuigung,  bei  ihrem  wüsten  Leben  mit  ihrem  De- 
cane zerfallen  waren  und  in  Zwietracht  gelebt  hatten,  trennten  sich  nun 
von  demselben.     Von  ihnen  gänzlich  verlassen,  kam  er  in  das  tiefste 
Elend,  so  dasa  er  zuletst  noch  in  dem  Jahre  1568,  in  dem  er  starb, 
seihst  zu  Kurplatz  seine  Zuflucht  nehmen  musste.  Die  übrigen  Stifbuerrn 
begaben  sich  zu  dem  Bischöfe  Dietrich  von  Bettendorf  in  Worms,  wel- 
cher 37  Jahre  lang  Chorbruder  in  dem  Kloster  Sinsheim  gewesen  und 
uun  das  Haupt  und  die  Zuflucht  dieser  Vertriebenen  war.    Er  that  mit 
ihnen  Alles,  was  man  vermochte,  die  Wiederherstellung  ihres  Stiftes  bei 
dem  neuen  Kaiser  Maximilian  II  zu  bewirken.  Sie  halten  auch  schon  den- 
selben ganz  für  sich  gewounen,  so  dass  der  Kaiser  auf  seinem  ersten 
Reichstage,  welchen  er  in  dem  Jahre  1500  in  Augsburg  hielt,  an  dem 
14.  Mai  durch  seinen  Reichsvicekanzler  ein  Decret  gegen  den  Kurfürsten 
ablesen  liess,  in  dem  er  ihn  des  Aergsten  bedrohte,  wenn  er  nicht  das 
Stift  Sinsheim  in  seinen  vorigen  Stand  setze  und  den  Stiftsherren  nicht 
der  erlittenen  Schäden  gebührenden  Abtrag  Ihue.    Die  ganze  Reiensver- 
sammluug  fühlte  sich  mächtig  ergriffen.    Aber  da  erhob  sich  der  Kur- 
fürst Friedrich  III  und  verthcidigle  selbst  seine  Aufhebung  des  Stiftes 
Sinsheim  mit  solcher  Kraft  und  Glaubenszuversicht,  dass  er  alle  Seelen 
der  Anwesenden  bewältigte  und  Niemand  ihm  genügende  Einwendungen 
zn  machen  vermochte.    Der  Kurfürst  von  Sachsen,  der  ihm  keineswegs 
sehr  hold  war,  trat  dennoch  sogar  zu  ihm  und  sprach,  indem  er  ihm 
sachte  auf  die  Achsel  klopfte:  „FriU,  du  bist  frömmer,  denn  wir  Alle.* 
Das  Uerz  des  Kaisers  selbst  wurde  gegen  den  Kurfürsten  wie  umgewen- 
det, ja  mit  allen  Gnaden  und  Freundschaft  demselben  wohl  gewogen.  Der 
ganze  Reichstag  zu  Augsburg  brachte  den  Gegnern  des  Kurfürsten  eicht 
die  mindeste  Fracht.    Und  ebenso  waren  alle  Bemühungen  derselben,  so 
lange  der  Kurfürst  lebte,  auf  allen  andern  Reichs-  und  Fürsienlagen  um- 
sonst.   An  die  Stelle  des  Dekaus  Wernher  iNothaft  wurde  zwar  noch  zu- 
erst, in  dem  Jahre  1508,  Jobann  Chuno  von  Mürsheim  und  dann,  nach 
dessen  Tode,  in  dem  Jahre  1572,  der  für  die  Herstellung  des  Stiftes 
so  überaus  thalige  Philipp  Christoph  von  Sötern  zum  Decane  gewählt; 


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Wübelmi:    Geschichte  der  Abtei  Sunnesheim. 


allein  aach  diese  richteten  Nichts  aus.    Und  als  der  Kaiser  Maximilian  II 
uod  der  Kurfürst  Friedrich  III  in  demselben  Monate  und  nur  14  Tage 
voa  einander,  am  12.  und  26.  October  1576,  verschieden;  so  ward  den 
Vertriebenen  des  Stiftes  Sinsheim  auch  weder  bei  dem  neuen  Kaiser  Ru- 
dolph II,  noch  bei  dem  neuen  Kurfürsten  Ludwig  VI  von  Kurpfalz  die 
io  lange  erstrebte  Hülfe.    Und  da  endlich  auch  der  Bischof  Dietrich  von 
Bettendorf  in  Worms  in  dem  Anfange  des  Jahres  1580  starb,  so  brach 
mit  dessen  Tode  die  letzte  Stütze  der  Sinsheimer  Stiftsherren.     Der  Bi- 
schof von  Speier,  obgleich  ihr  Ordinarius,  halte  sich  derselben  bisher  auf 
keine  Weise  angenommen  und  sorgte  nicht  einmal,  dass  an  die  Stellen 
der  auch  mehr  und  mehr  dabin  sterbenden  Vicarien  und  Cepitularen  andere 
gewählt  wurden.    So  schlief  mit  ihnen  die  so  merkwürdige  Streitsache, 
die  so  viele  Jahre  gedauert  hatte,  von  selbst  ein;  bis  zuletzt  das  Stift 
Sinsheim  auf  eine  ganz  andere  Weise,  als  man  dachte  und  wollte,  den--* 
noch  einmal  wieder  hergestellt  wurde.  t 
Nachdem  nämlich  in  dem  dreissigjührigen  Kriege  die  Beiern  sich 
der  ganzen  Pfalz  und  selbst  Heidelbergs,  iu  den  Jahren  1621  und  1623 
bemächtigt   halten,  und  als  darauf  auf  dem  Fürstontage  zu  Regensburg, 
in  dem  Anfange  des  Jahres  1623,  nicht  nur  der  Kurfürst  Friedrich  V 
der  Kurwürde  für  verlustig  erklart  und  diese  dem  Herzoge  Maximilian  von 
Beiern  übergeben,  sondern  auch  zu  Gunsten  des  Bischofes  Philipp  Chri- 
stoph von  Sötern  in  Speier,  des  Neffen  uusers  gleich  benannten  Decanes 
Ton  Sinsheim,  ein  Decret  gegeben  wurde,  dass  er  alle  diejenigen  Lehen- 
güter und  Klöster  in  der  untern  Pfalz,  welche  zu  seinem  Bisthum  gehör- 
ten und  biebevor  gewaltthatiger  Weise  von  der  Kurpfalz  eingezogen  wor- 
den seien,  fürtershin  bis  auf  fernere  Verordnung  administriren  solle;  so 
stellte  dieser  Bischof  von  Sötern,  der  später  auch  Erzbischof  von 
Trier  wurde,  in  dem  April  des  Jahres  1623  das  adelige  Collegiat- 
Stift  Sinsheim  wieder  her.    Ein  Peter  Ernst  von  Ouhren  wurde 
noch  einmal  zuerst  nur  Regens  und  dann,  nachdem  er  durch  die  Schwe- 
den in  dem  Jahre  1631  verjagt  worden  und  bei  der  Schlacht  bei  Nörd- 
lingen  im  Jahr  1635  nach  dem  Stifte  wieder  zurückgekehrt  war,  wirk- 
lich Decan  auf  demselben.    Allein  das  Stift  kam  unter  ihm  zu  keinem 
rechten  Gedeihen  mehr  und  schleppte  sich  mühsam  in  einem  nur  matten 
Dasein  dahin.    Das  Dom-  oder  Hocbstift  in  Speier  und  die  ßaierische 
Regierung  in  Heidelberg,  welche  das  erste  Mal  den  Peter  Emst  von  Ouh- 
ren das  Stift  in  ruhigen  Besitz  nehmen  Hessen,  ja  ihn  bei  dieser  Besitz- 
nahme sogar  auf  jede  Weise  unterstützten,  stritten  sich  nach  dessen  zwei- 
ter Ankunft  mit  einander  um  die  Einkünfte  des  Stiftes  und  sachten  so- 
gar den  Peter  Ernst  von  Ouhren,  obgleich  derselbe  von  dem  Pabste 
selbst  zum  Decene  ernannt  worden  war,  wieder  von  dem  Stifte  zu 
verdrängen.    Dabei  tobte  der  schrecklichste  Krie«  mit  «ei- 
nen greuelvollen  Verheerungen  fort  und  gesellten  sich 
tu  denselben  wiederholt  Miss  wachs,  Theuerung,  Hun- 
gerstoth,  Pest  und  die  rothe  und  die  weise  Ruhr.  —  Nach 
dem  Schlüsse  dieses  so  langen  Krieges  endlich  kam  die  untere  Pfalz  am 
ftheioe  wieder  an  seine  alten  Fürsten  zurück,  und  nahm  der  Kurfürst 


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Wilhelmi:   Geschichte  der  Abtei  Sannesheim. 


Karl  Ludwig  dieselbe,  und  auch  das  Stift  Sinsheim  wie- 
der in  Besitz.  Als  die  Baiern  an  dem  5.  Oktober  1649  aus  Mann- 
heim und  Heidelberg  and  den  andern  Platzen  der  ganzen  Unter  -  Pfalz 
wieder  abzogen ,  so  verliessen  auch  der  Decan  Peter  Ernst 
von  Ouhren  und  seine  Capitularen  das  Stift  Sinsheim. — 
Sie  protestirten  zwar  noch  von  Bruchsal  aus  gegen  die  Aufhebung  des- 
selben; allein  es  ward  nun  zum  letztenmale  aufgehoben  und 
blieb  fflr  immer  aufgehoben.  Es  wurde  wieder  der  Sitz  einer 
Stiftschaffnerei,  gleich  wie  noch  heute  ein  Stiftschaffner  auf  demselben  wohnt. 

Das  ist  kurz  der  Inhalt  unsrer  oben  genannten  Geschiebte  der  Be- 
nedict iner  Abtei  Sinsheim.    Jene  zerfällt  demselben  nach  in  drei  Ab- 
schnitte: I.  das  Augustiner -Kloster;  II.  die  eigentliche  Benedictiner- 
Abtei  selbst,  und  III.  das  Collegiat-Stift  Sinsheim;  und  was  wir  hier  nur 
summarisch  angedeutet  haben,  ist  mehr  oder  minder,  ja  oft,  wo  es  uns 
die  Quellen  erlaubten,  auf  das  vollständigste  und  bis  in  das  i  /eist« 
ausgeführt.    Denn  wir  haben  das  besondere  Glück,  dass  wir  Ober  die 
Benediktiner-Abtei  Sinsheim  noch  so  viele  Quellen  besitzen,  wie  vielleicht 
Uber  kein  anderes  vormalige  Kloster  von  Kurpfalz  am  Rheine.  Und  diese 
Quellen  sind  meistens  zumal  schriftliche,  bis  jetzt  noch  ungedruckte  und 
vor  uns  noch  unbenutzte,  wie  namentlich  1}  die  hier  so  überaus  reichen 
Schätze  unsors  Grossb.  Bad.  Landes-Arcbives  in  Karlsruhe;  2}  das  Stadt- 
weisthum von  Sinsheim  und  verschiedene  Pergament-Urkunden,  besonders 
der  Original-Brief  von  1497,  wie  sich  „der  new  Stift  zu  Sunsshym  nach 
seiner   Translation   wider  Herzog  Ölten  als  Schirmherrn  dess  Schirms 
halb  verpflichtet"  ;  3)  die  Handschrift  in  Quart  von  Wttrdtwein's  Mona- 
sticon*)  Wormatiense,  worin  natürlich  auch  Tom.  I.  das  „Monasterium 
Sunssheim,  Ordinis  S.  Benedicta  seine  Stelle  findet;  4)  eine  Anzahl  von 
Originalurkunden  in  dem  Bürger-Hospitnls-Archive  zu  Speier  und  in  dem 
königlichen  Staats- Archive  zu  Stuttgart;  5)  das  uralte  Album  Ecclesia- 
sticum  von  Neckar  -  Bischofsheim  und  6)  zumal  buch  der  Gemming'scue 
Stammbaum  von  Reinhard  von  Gemmingen  dem  Acltern  zu  Hornberg  und 
Michelfeld  vom  Jahre  1631.     Und  wenn  der  mit  der  Geographie  und 
Geschichte  der  kurfürstlichen  Pfalz  am  Rheine  so  vertraut  gewesene  Jo- 
hann Goswin  Widder  nur  15  Achte,  die  2  Pröpste  und  2  Dechanten  des 
Klosters  Sinsheim  kennt  und  Würdtwein  in  seinem  Monasticon  Worma- 
tiense nur  17  Aebte,  die  2  Pröpste  und  2  Decane  von  Sinsheim  aufzahlt, 
so  vermochten  wir  doch  wenigstens  19  Aebte,  die  zwei  Pröpste  und  5 
Decane  aufzufinden  und  auch  den  erst  vor  mehrern  Jahren  auf  dem  Stifte 
dahier  entdeckten  Grabstein  des  Abtes  Buirkhard  von  Wyler  zu  beschrei- 
ben, obgleich  die  Zahl  der  Aebte  des  Klosters  Sinsheim  noch  keineswegs 
vollständig  ausgemiltelt  ist  und  kaum  je  ausgemittelt  werden  wird.   Und  wir 
haben  so  überhaupt  einen  Beitrag  zu  der  Geschichte  der  Klöster  in  der  kur- 
fürstlichen Pfalz  am  Rheine  gegeben,  wie  kaum  noch  ein  anderer  besteht 

*J  S.  Vü  unsrer  Geschichte  ist  auch  Monasticon  Wormatiense  zu  lesen. 

K.  Wilhelm!. 


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Nr.  39.  HEIDELBERGER  1851. 

JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR. 

* 


Kurze  Anzeigen. 

Zeitschrift  für  die  Geschichte  des  Oberrheins.  Herausgegeben  von  dem  Landesar» 
chive  sm  Karlsruhe  durch  den  Direktor  desselben ,  F.  J.  Mone.  Zweiter 
Band.    Erstes  He/t.    Karlsruhe.    Druck  und  Verlag  der  Q.  Braun' sehen 

m 

Als  Ref.  jungst  in  diesen  Blättern  die  Schlussheftc  des  ersten  Bandes  der 
genannten  Zeitschrift  zur  Anzeige  brachte,  war  er  selbst  nicht  der  Hoffnung, 
dass  schon  in  so  kurzer  Zeit  eine  Fortsetzung  folgen  würde.  Nicht  dass  er  an 
der  unermüdlichen  Ausdauer  der  Männer  gezweifelt  hätte,  welche  sich  dieser 
mehr  nützlichen,  als  dankbaren  Arbeit  unterzogen  haben ;  aber  es  gibt  bei  dem 
jetzigen  Stande  des  Büchermarkts,  dem  kleinem  Kreise  der  Leser  so  viele  un- 
erwartete Hemmnisse  eines  mit  bedeutenden  Kosten  unternommenen  Werkes, 
dass  die  Befürchtung  einer  Verzögerung  ihre  guten  Gründe  hatte.  Die  in  der 
Vorrede  zu  diesen  Hefte  gegebene  Nachricht  des  Herausgebers  hat  nun  die  er- 
freuliche Gewissheit  gebracht,  dass  die  grossherzogl.  Regierung  nicht  müde  ge- 
worden ist,  das  Unternehmen  zu  unterstützen,  indem  „durch  den  gleichen  Zu* 
schuss  des  Ministeriums  des  Innern,  womit  die  Zeitschrift  begonnen  wurde,  auch 
ihre  Fortsetzung  möglich  geworden."    (S.  1.) 

Ref.  muss  sich  begnügen,  grösstenteils  durch  blosse  Aufzählung  den  rei- 
chen Inhalt  dieses  Heftes  den  Lesern  dieser  Zeitschrift  vorzuführen.  Mone  bringt 
(S.  3—11)  vier  Urkunden  (1444.  1461.  1472.  1477)  über  Gewerbe-  und  Zunft- 
vcrhältnisse  der  Kupferschmiede  —  Kessseler  —  einer  Innung,  die  in  Berlepsch 
Chronik  der  Gewerbe  (S.  Gallen,  1830)  nicht  enthalten  ist.  Sehr  beachtens- 
wert!) ist  die  Tür  Baden  gegebene  Nachweisung,  dass  auch  die  religiösen  Be- 
dürfnisse der  Zünfte  nach  dem  Innungsdrange  jener  Zeit  in  Brüderschaften  der 
Gl  werke  berücksichtigt  und  geordnet  wurden,  wovon  sonst  nur  wenige  Spuren 
in  die  Gegenwart  hereinragen  (S.  3—4).  Beigegeben  ist  aus  einer  Handschrift 
des  XIV.  Jahrhunderts  eine  Anzahl  von  Recepten  der  Weissgerber  zu  Bereitung 
des  Pergaments,  welche  nach  ihrer  Abfassung  in  lateinischer  Sprache  der  Her- 
ausgeber einer  klösterlichen  Werkstätte  dieses  Gewerbes  zuerkennt.  Es  folgen 
sodann  (S.  14  —  33)  bomerkenswertbe  Urkunden  und  Verordnungen  für  Forst- 
nnd  Waldkultur,  eine  willkommene  Ergänzung  der  im  Handbuche  der  Forst-  und 
Jagdgesetzgebung  des  Grossherzogthums  (v.  BeMen  u.  Laurop,  Mannheim  1839) 
erschienenen  Forstgcscbichte  Badens. 

Als  Beitrag  zur  russischen  Geschichte  folgt  (S.  33  —  55)  eine  Anzahl 
schätzbarer  Urkunden,  die  zum  Thcil  auch  auf  das  rechte  Rheinufer  sich  er- 
strecken, wie  z.  B.  der  Loskauf  des  Ortes  Selz  von  der  Vogtci  der  Markgrafen 
von  Baden  (1197),  der  Scbiedspruch  Konrad's  von  Wind  eck  über  Streitigkeiten 
der  dortigen  Stadt  und  Abtei  (1355). 
XLIV.  Jahrg.  4.  Doppelheft.  39 


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Karze  Anzeigen. 


Vorzüglich  schätzbar  aber  ist  die  Einleitung  dazu,  die  (S.  33 — 37)  sämmt- 
liehe  Vorarbeiten  zur  Geschichte  des  Elsasses  in  einem  Blicke  überschauen  laset, 
ben  Schluss  dieser  dankenswerten  Beitrage  des  Herausgebers  bilden  (S.  55 — 65) 
eine  Anzahl  Weisthümer  aus  dem  XIV  und  XV  Jahrhundert  mit  einem  Nachtrage 
zu  den  im  ersten  Bande  bekannt  gemachten  Bruchstücken  einer  alten  Leber- 
setzung der  Lex  Salica. 

Bader  hat  (S.  66—73)  acht  Urkunden  der  rhätischen  Freiherrn  v.  Vats 
gegeben,  die  ihre  Rettung  dem  Umstände  verdanken,  dass  sie  Güterabtretungen 
an  das  Kloster  Salem  enthalten.  Sie  sind  aber  nicht  nur  aus  letalerm  Grunde 
ein  schätzbarer  Bettrag,  sondern  auch  weil  sie  zur  Frage  anregen,  wie  jenes 
Geschlecht,  dessen  Burg  im  Gebiete  der  Albula  sich  befindet,  in  Gütern  mitten 
im  Linzgau  komme.  Der  Herausgeber  erklärt  es  durch  eine  Heirath  mit  einer 
Veringischen  Erbtochter;  —  Ref.  ist  der  Ansicht,  dass  all  dieser  Güterbesitz  der 
Yeringer,  Heiligenberger,  Hohenstaufen  und  no<h  fernerer  Dynasten,  wie  des 
vorliegenden  Geschlechtes  und  der  Markgrafen  von  Baden  aus  der  frühern  Zeit 
der  Weifen  und  der  Bregenz-  Buchhorner  Grafen  abslammen  müsse.  Doch  das 
sind  Vermuthungen,  zu  welchen  am  Ende  beide  Parteien  gleichberechtigt  sind. 
Jedenfalls  gewinnen  die  Urkunden  noch  an  Werth  durch  die  Anführung  einer 
Menge  (hatsächlicher  und  schwäbischer  Zeugen.  —  Es  ist  sodann  (S.  74  —  99) 
die  im  vorigen  Hefte  begonnene  Arbeit  über  den  Güterbesitz  der  Abtei  Salem 
fortgesetzt.  Die  unter  dem  Texte  der  einschlägigen  Stellen  des  Salemer  Copial- 
buches  gegebenen  Anmerkungen  siud  theils  sprachliche,  theils  sachliche,  oder 
geographische  und  historische.  Zu  den  letztern  erlaubt  sich  Ref.  einige  Beraer- 
"kungen,  da,  wo  er  Nachträge  geben  kann,  oder  anderer  Ansicht  ist  als  der  Verf. 

S.  77  ist  im  Texte  ein  Castrum  W ilaer  erwähnt,  wo  die  Kinder  Wal- 
thers von  Vatz  ihre  Ansprüche  auf  den  Zehnten  in  Mimmenhausen  zwei  Sale- 
"mer  Mönchen  resignirlen.  In  der  Anmerkung  wird  auf  eine  Burg  Weiler  im 
wfirtembergischen  Oberamte  Blaubeuren  oder  Münsingen  hingewiesen.  Diese  la- 
gen doch  wohl  für  beide  Parteien  zu  Weit  ab;  es  ist  wahrscheinlich  das  nahe 
gelegene  Weiler,  würtemb.  O.-A.  Ravensburg,  wo  Well  17  Güter  an  Weingar- 
ten vergabt  hatte.    (Vrgl.  Stälin,  würtemb.  Gesch.  Ii.  263-279.) 

S.  78  sind  Nachweisungen  über  den  Stift  Constattzischett  Lehenadel  von 
Mfindlishofen  gegeben.  Ein  Zweig  derselben  blühte  noch  im  XVI  Jahrhundert 
in  Conslanz;  zu  ihr  gehörte  der  Arzt  Jakob  Menlishofer ,  der  in  Verteidigung 
feiner  Vaterstadt  gegen  den  Ueberfall  der  Spanler  unter  Alpbons  Vires  (4.  Aug. 
1548)  gelallen  ist. 

S.  81  ist  aus  Verschen  Schloss  und  Dorf  Wartenberg  bei  Möhr  in- 
igen angegeben.  Das  Schloss  des  Freiherrn  von  Wartenberg  lag  auf  einem  Ba- 
saltkegel bei  Geisingen;  neben  den  alten  Wohnungen  des  Schlossbauern  ist  ein 
fürstlich  fürstenbergisches  Lustschloss  erbaut,  —  diess  ist  Oberwartenberg,  das 
mit  dem  Weiler  Dreilerchen  am  Fusse  des  Schlossberges  die  politische  Ge- 
meinde Wartenberg  bildet.  Hiernach  ist  das  geographische  Lexicon  von  Baden 
zu  berichtigen,  welches  bei  Dreilerchen  auf  einen  Artikel  Unterwartenberg  ver- 
weist, der  nirgends  vorkommt. 

S.  82  wird  Hainricus  miles  de  Hornstein  (Urk.  1247)  mit  grosser  Wahr- 
scheinlichkeit für  identisch  mit  dem  1265  apud  Rüningen  vorkommenden  gleich- 
namigen Zeugen  erklärt  (vrgl.  sein  langes  Vorkommen  in  Heiligkreuxthaler  Ur- 


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I 

Kurze  Anzeigen. 


583 


Kunden  bei  Sin  i  in  II.  596).  Der  Ort  aber  ist  wohl  nicht  Binningen  im  He« 
gau,  sondern  dns  ganz  nahe  bei  der  Burg  Hornstein  gelegene  Bingen  (preuss. 
Sigmaringen).  Ob  er  nicht  zugleich  identisch  mit  Hainricus  de  Herten- 
stain sei,  der  1250  mit  seinem  Bruder  Albert  (S.  83)  aufgeführt  ist,  man  Ref. 
dahin  gestellt  lassen.  Es  wird  im  Archiv  für  Geschichte  etc.  I.  Heft,  Stattgart 
1846,  S.  38,  als  Angabe  Raiser's  ans  Salemer  Urkunden  von  1264  aufgeführt 
„Gozwinus  de  Hertenstain  et  Manegoldus  de  Hornstein  "in  Hertenstain" ;  das  Ori- 
ginal aber  ist  Ref.  nicht  bekannt.  Jedenfalls  dürfte  das  Schloss  Hertenstein  nicht 
mit  dem  Verf.  am  Lnzerner  See,  sondern  am  Hartenstein,  unfern  Hornstein  zu 
suchen  und  folgende  in  oben  angef.  Zeitschrift  beigebrachte  Stelle  aus  den  Zeug- 
nissen Conrads  v.  Stein,  Uttenweiler  M71,  Samst.  n.  Martini  u.  Wolf  Spät  1480 
Moni  n.  Judica  zu  berücksichtigen  sein...  „demnach  so  sag' ich,  dass  mir  gründ- 
lichen kund  und  wissend  ist,  dass  Hertenstain  und  Hornstain  Ein  Geschlecht  Ei- 
nes Schilts  Helms  und  auch  Ein  Name  ist,  wiewohl  man  etlich  Hornstainer  Her» 
tenstainer  haisst  und  nennet  vom  Schloss  Hertenstain  so  zunechst  bei  Hornstain 

S.  87  ist  ein  Bedenken  über  Langenau  aufgeworfen.  Ref.  kann  es  nur 
für  das  im  Oberamt  Tetlnang  gelegene  halten  (Stalin  II,  750),  wo  dns  Schaff- 
hauser  Kloster  Allerheiligen  schon  1122  eine  Expositur  hatte  und  später  ein  un* 
tcr  der  Schutzherrlichkeit  der  Grafen  von  Montfort  stehendes  Panliner  Priorat 
bestund,  welches  in  den  Akten  des  Klosters  Thannheim  bei  Donaueschingen  häufig 
erwähnt  wird. 

S.  91  ist  ein  schätzensweriher  Beitrag  zur  schwäbischen  Topographie  in 
der  Nachweisung  gegeben,  dass  die  Fürsten  von  Conzcnberg  ein  Zweig  des  im 
Weingartener  Necrologium  oft  genannten  Geschlechtes  von  Hirscheck  (Hirzisegge) 
seien.  (Vrgl.  Stälin  L  595.)  Die  Burg  Conzenberg  aber  liegt  nicht  an  der  Do- 
nau bei  Tuttlingen,  sondern  auf  einem  waldigen  Bergrücken  zwischen  den  Thä- 
lera  von  Esslingen -Thalheim  und  von  Wurmlingen.  Sie  war  zweifelsohne  ur- 
sprünglich Besitzung  der  rings  um  dieselbe  begüterten  Freiherrn  von  Wasen- 
berg, bei  welchen  der  Name  Konrad,  Conz,  sehr  häufig  war  and  kam  wohl 
erst  als  Hcirathsgut  der  üdelhild,  Tochter  Heinrichs  von  Wartenberg  (wohl  des- 
selben, der  1228  in  Biesingen  als  Zeuge  auftritt  [Lit.  Sal.  ff.  48]  und  Oheim 
des  1249  mit  zwei  Söhnen  Heinrich,  gen.  Strunz  und  Conrad  vorkommenden 
Heinricus  Senior  Lit.  Sal.  II.  40)  an  ihren  Mann,  Conrad  Fürst.  Das  Geschlecht 
des  letztern  scheint  indessen  gleich  nach  dem  Aussteller  der  von  Bader  ange- 
führten Urkunde  sein  Wappen  mit  dem  Wartenbergischen  vertauscht,  an  dem 
Wartenbergischen  Löwen  indessen  die  Farbe  aus  Roth  in  Weise  geändert  und 
eigenen  Helmachmuck  fortgeführt  zu  haben;  ein  Verfahren,  welches  bei  ähnli- 
chen Erbschaften  häuOg  vorkommt.  Im  Anniversarieubuche  der  Pfarre  Wurm- 
lingen steht  folgende  Notiz:  „Bei  Wurmlingen  am  Waldberg  sind  drei  Burgstall, 
darauf  vorzeiten  drei  Schlösser  waren.  Des  eine  genannt  Fürstenstain  ist  ge- 
wesen der  Freiherrn,  genannt  Fürsten.  Dise  sind  begraben  auf  dem  Kirchhof 
zoe  Wurmlingen.  Ihr  Wappen  ist  ein  weisser  Lew  und  auf  dem  Helm  ein  gelb 
Hirachhorn.  Von  denen  herren  khommt  die  berschaft  Conzenberg  sampt  Wurm- 
lingen und  Seytingen  an  dai  Stift."  (Konstanz,  welches  die  Herrschaft  dem  je- 
weiligen Domprobst  als  Einkommen  gab.)  „Das  andre  Schloss  ist  gewesen  der 
Freihemt  von  Wartenberg.  Die  haben  gefuert  ein  rothen  Lewcn  im  weissen 

39*  . 


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Kurze  Anzeigen. 


Feld  auf  dem  Helm  ein  halben  rothen  Lewcn.  Derer  ist  gewesen  Wartenberg 
das  Schloss  und  das  Staltle  Geisingen."  (Diese  Herrschaft  kam  mit  Anna,  der 
Eibtochtcr  Heinrichs  von  Wartenberg,  gen.  Strunz,  an  ihren  Gemahl,  Graf  Hein- 
rich von  Freiburg  und  mit  dessen  Tochter  Verena  an  Graf  Heinrich  von  Für- 
stenberg.) „Dhs  drill  Schloss  hat  geheissen  Kraffenstein  und  ist  der  Herzogen 
von  1" nsingen  (Urslingen)  gewesen.  Ausgezogen  aus  dem  Conzenberger  Herr- 
schaft Urbar,,  revid.  Ao.  1489." 

S.  94  ist  zu  Walthusen  bemerkt,  es  sei  das  Dörfchen  bei  Bräunlingen ; 
es  ist  aber  vielmehr  ein  eingegangener  Ort  bei  Villingen  am  Eingang  des  hir- 
nacher  Thals  gewesen,  der  schon  im  Rotulus  S.  Petrinus  vorkommt  und  ein 
Fraaenkloster  halte,  welches  dann  auch  in  die  Ringmauern  der  Stadt  verlegt  wurde. 

Möge  der  Herr  Verf.  diese  Bemerkungen  als  ein  Zeichen  der  Aufmerk- 
samkeit ansehen,  mit  welcher  Ref.  seiner  Arbeit,  ans  der  er  so  viel  Neues  schöpfen 
konnte,  gefolgt  ist.  Er  bedauert,  dass  in  Betreff  der  dritten  Abtbeilung  seine 
mangelhaftere  Kcnntniss  der  behandelten  Ortschaften  und  Geschlechter  ihn  auf 
eine  nur  allgemeine  Bemerkung  beschränkt. 

In  dieser  dritten  Abtbeilung  (S.  99—128)  hat  Dambacher  seine  ver- 
dienstliche Arbeit,  das  Urkundenbuch  des  Klosters  Herrenalb,  bis  zum  Jahr  1281 
fortgeführt.  Was  in  der  frühem  Anzeige  über  die  Reichhaltigkeit  der  erklären- 
den Anmerkungen  bei  aller  Kürze  der  Abfassung  rühmend  erwähnt  wurde,  kann 
hier  nur  wiederholt  werden.  Den  Werth  des  beigebrachten  Materials  mag  man 
daraus  erkennen,  dass  nicht  weniger  als  26  Urkunden  und  Regesla  gegeben  sind, 
tinter  denen  3  päpstliche,  2  bischöfliche  von  Strassburg  und  Speier,  eine  rhei- 
nisch-pfalzgräfliche,  3  von  Pfalz-Zweibrücken,  eine  markgräflich  badische,  eine 
von  Kazenellenbogen,  5  gräflich  Ebersteinsche,  die  übrigen  von  Edelleuten  und 
Gerichtshöfen. 

Ref.  schliesst  seine  Anzeige  mit  dem  Wunsche,  es  möge  die  dankenswerthe 
uneigennützige  Absicht  in  Erfüllung  geben,  welche  die  Regierung  bei  ihrer  Un- 
terstützung, die  Mitarbeiter  bei  ihren  Opfern  an  Zeit  und  Anstrengung  vor  Au- 
gen hatten:  „dass  die  Arbeit  nützlich  sein  möge  zur  Erweiterung  der  Wissen- 
schaft und  zur  Beachtung  im  Leben  —  um  dadurch  die  Liebe  zum  Heimathlande 
au  befestigen,  die  organische  Entwicklung  seiner  Geschichte  au  verstehen  und 
demgemäss  seine  Verhältnisse  mit  gründlicher  Umsicht  au  beurtheilcn  und  an 
behandeln.« 


i  . 

Quellensammlung  der  badischen  Landesgeschichte.  Im  Auftrag  der  Regierung  her' 
ausgegeben  von  F.  J.  Mone.  11.  Band.  1.  Lieferung.  Text.  Bogen  1—21 
einschliesslich.    Karlsruhe,  Druck  und  Verlag  ton  C.  Macklol.  1850.  4. 

Der  erste  Band  obiger  Schrift  ist  in  diesen  Jahrbüchern  und  anderwärts 
schon  so  gründlich  und  mit  gebührender  Anerkennung  besprochen,  dass  Ret  bei 
Erfüllung  der  Ehrenpflicht  auch  diese  Forlsetzung  zur  Anzeige  zu  bringen,  der 
Inhaltsangabe  nur  wenige  Bemerkungen  beizufügen  für  angemessen  erachtet. 

Der  Wunsch  der  zahlreichen  Verehrer  dieser  gründlichen  Forschung  für 
baldige  Fortsetzung  ist  durch  die  grossherzogl.  bad.  Regierung  auch  unter  un- 
günstigen Verhältnissen  in  höchst  dankenswerther  Weise  erfüllt  worden.  Zwar 


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haben  die  Stimmen  derjenigen,  welche  die  Reihe  der  Urkunden  schon  mit  die- 
sem zweiten  Bande  eröffnet-  zu  sehen  wünschten,  noch  nicht  bcrüchsichtigt  wer- 
den können.  Allein  der  eben  so  anziehende,  als  reiche  Inhalt  dieses  Heftes  wird 
sie  um  so  eher  befriedigen,  als  in  der  schon  angezeigten  Zeitschrift  des  Gross- 
herzoglichen Landesarchivs  durch  die  Herausgabe  des  Herrenaiber  Archivs  ein 
schöner  Anfang  gemacht  ist,  auch  jenem  dringenden  Bedürfnisse  abzuhelfen  und 
weiter  auszuführen,  was  in  den  Regesten  von  Dümge  begonnen  wurde. 

Der  Inhalt  dieses  Heftes  zerfallt  in  die  3  Abschnitte :  Tentsche  Chro- 
niken, teutsebe  und  lateinische  Annalen,  Auszage  aus  latei- 
nischen Chroniken,  Tagbücher. 

Im  ersten  Abschnitte  bemerken  wir  zuvörderst  Georg  Schwarzerd  Ts 
Belagerung  der  Stadt  Bretten  1504  (S.l  — 17)  und  Bauernkrieg  am 
Oberrhein  1524  —  1525  (S.  17  —  42),  zwei  ganz  entgegengesetzte  Ereignisse 
aus  der  Geschichte  des  badischen  Mitfei-  und  Unterrheinkreises.  Die  erste  Chro- 
nik ist  schon  durch  ihren  Verfasser  merkwürdig;  er  war  der  Bruder  des  bekann- 
ten Humanisten  und  Reformators  Philipp  Melanchthon  und  ist  für  die  erzählte 
Begebenheit,  wenn  auch  nicht  als  Augenzeuge  (er  war  damals  erst  4  Jahre  alt), 
so  doch  als  die  nächste  nachzeitige  Quelle  zu  betrachten.  Sie  enthält  aber  eine 
solche  Episode  aus  dem  pfälzischen  Erbfolgekrieg,  da  ein  kleines  städtisches 
Gemeinwesen  in  löblicher  Treue  gegen  seinen  Fürsten  seine  Mauern  nicht  nur 
gegen  einen  mächtigen  äussern  Feind,  den  Herzog  von  Würtemberg,  sondern 
auch  gegen  die  Meuterei  der  zu  ihrer  Verteidigung  bestimmten  Söldner  sieg- 
reich und  mit  geringen  Opfern  behauptete,  während  die  zweite  Chronik,  das 
Werk  eines  unbekannten  Verfassers,  einen  wesentlichen  Beitrag  zu  der  noch  im- 
mer nicht  durchgreifend  und  erschöpfend  genug  behandelten  Geschichte  des  Bau- 
ernkrieges darbietet 

Die  übrigen  Chroniken  vertreten  in  sehr  reichhaltiger  Weise  die  Geschichte 
des  badischen  Oberlandes.  Die  erste  ist  die  des  Andreas  Letsch,  eines  1519 — 
1531  in  den  Diensten  des  Klosters  St.  Blasien  gestandenen  Notars,  der  neben 
seinen  Dienstgeschlften  eben  das  Merkwürdige  noch  aufzeichnete,  was  er  in  der 
Nähe  und  Ferne  entweder  selbst  beachtete,  oder  erzählen  hörte.  Auch  sie  ist 
durch  die  Angabe  mancher  bisher  unbekannten  Einzelnheiten  aus  der  Geschichte 
des  Bauerkriegs  am  Bodensee,  im  Hegau  und  Schwarswalde  von  allgemeiner 
Bedeutsamkeit.  So  erfahren  wir  z.  B.  hier  (S.  51)  zum  ersten  Mnle,  dass  der 
Baoernanführer  im  Schwarzwalde  und  Kleckgau,  Kunz  von  der  Niedermühle, 
dessen  Tod  nachmals  die  Brandfackel  für  St.  Blasien  wnrde,  erst  nach  Abschluss 
des  Vertrags  mit  den  Bauern,  nach  Auferlegung  der  Brandschatzung,  also  im 
Friedensznstande  durch  Christoph  Fuchs  in  seiner  Wohnung  gefangen  genom- 
men, zu  St.  Blasien  gefoltert  und  dann  endlich  gehängt  wurde,  sowie,  dass  der 
Verf.  und  das  Kloster  theils  in  Vorahnung  der  Folgen,  theils  wohl  aus  Gefühlen 
der  Rechtlichkeit  und  Humanität  dieses  tumultuarische  Verfahren  raissbilligten 
und  abzuwenden  suchten,  was  aus  dem  folgenden  Tagbuch  des  Abts  Caspar  I 
noch  deutlicher  hervorgeht:  „fürten  ihn  also  gebunden  zu  st.  Blasin  in  das  do- 
sier, legten  in  daselbst  in  kerker,  beschikten  den  nachrichter,  fragten  in  welcher- 
massen  er  die  hanptmanschaft  verwaltiget  hat.  Also  dem  allem  nach  ritten  die 
reisigen  mornends  von  st.  blasin  ab  und  fürten  Cuntzen  mit  inen  untz  über  die 
müllinen  ob  WalVzhut  und  hanckten  in  daselbst  an  einen  aichbom  neben  die 


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Kurte  Anzeigen. 


sirauss."  Bisher  war  ninn  gewohnt,  diese  Ezeculion  als  tcraultuariscbe  I'rore- 
dur  während  des  Kriege«  anzusehen;  jetzt  sind  wir  anders  berichtet  und  haben 
zugleich  die  Erklärung,  warum  gerade  an  das  Klosterthor  von  St.  Blasien  die 
Hand  des  Hingerichteten  nächtlicher  Weile  mit  der  Drohung  angeheftet  wurde: 
«Diese  Haad  wird  sieb  rächen  !u  Was  eben  im  Gcheimniss  der  Kloslermauero 
vorfiel,  betrachtete  der  besiegte  Bauer  als  das  Werk  seiner  3Iönche. 

S.  47  ist  ohne  weitere  Bemerkung  angegeben,  dass  „ltelegken  zum  Magt- 
berg,  ritter"  mit  Graf  Eitelfiiedrich  von  Zoileru  Söldlinge  zum  italienischen  Feld- 
zuge gegen  den  König  der  Franzosen  geworben  habe.  Ref.  erlaubt  sich ,  die 
Erläuterung  zu  geben,  dass  der  genannte  Herr,  der  in  fürstlich  fürstenbergischeo 
Urkunden  aus  dieser  Zeit  oft  genannte  Ritter  Egon  von  Reischach,  Lebensbesitzer 
des  begauischen  Schlosses  Mägdberg  war,  der  nach  der  Sitte  seiner  Zeit  dem 
Vornamen  Egon  (Egken,  Egk)  die  Beifügung  Ital  (itel,  eitel)  vorsetzte,  um  zu 
bezeichnen,  dast  er  sonst  keinen  Zu-  oder  Uebernamen  habe. 

Das  hierauf  folgende  Tagebuch  des  Abts  Caspar  I  (Molitor)  von  Sl  Bla- 
sien wäre  schon  um  deswillen  bemerkenswert  h ,  weil  es  für  seine  alten  Anga- 
ben einen  Mönch  Otto  zum  Gewährsmann  hatte,  der  aber  nacb  des  Verf.  Kach- 
weisung ( S.  57)  vom  bekannten  Chronisten  Otto  von  SL  Blasien  verschieden 
war.  Allein  auch  sonst  finden  wir  manches  Neue  von  Bedeutung  für  die  Ge- 
schichte der  obern  Landestheile.  Ref.  hebt  nur  Einiges  hervor,  wie  die  Händel 
des  Convcnts  gegen  den  Abt  von  St.  Blasien  1481,  die  durch  Vermittlung  des 
Bischofs  von  (onslauz,  Otto  von  Sonnenberg  verglichen  wurden,  die  tumu. ma- 
nsche Wahl  Eberhards  von  Reischach  zum  Abte,  die  einen  tiefen  Blick  in  das 
Treiben  selbst  der  Klostergeistlichcn  aus  landsüssigen  Adclsgeschlechtern  thun 
lasst,  ein  Treiben,  das  nicht  wenig  dazu  beitrug,  die  Reformation  zu  zeiligen 
(S.  59).  Hierher  gehören  ferner  manche  Einzelheiten  des  zweiten  Schweiaer- 
krieges  und  des  Bauernaufstandes  auf  dem  Schwarz  weide.  In  letzterer  Bezie- 
hung er  halten  wir  über  Kunz  vou  der  Niedermüble,  theils  Bestätigung  der  An« 
gaben  Letsch's,  theil«  weitere  Aufschlüsse,  so  der,  dass  der  genannte  Anführer 
«ige  oll  ich  nicht  unter  der  den  Waldbauern  gegebenen  Amnestie  begriffen  gewe- 
sen sei  („der  hol  noch  nicht  geschworen  und  euasert  sich  den  er  hat  uffsalz  von 
denen  von  Ryschach  noch  von  ains  kriegezugs  in  Preussen"),  dass  er  aber  auch 
in  dem  frühern  Sturm  auf  das  Kloster  sich  möglichst  für  dieses  verwendet  habe, 
was  mit  der  Vorahnung  künftiger  Rache  den  Abt  Johann  zu  ernstlicher  Ver- 
wendung für  sein  Leben  bewog  (S.  63).  Besonders  reich  ist  durch  die  zahl- 
reichen Anmerkungen  von  Bauten  an  Kirchen,  Pfarrfaöfen,  s.  g.  Staltbaltereien 
der  Gewinn,  den  die  Topographie  aus  diesen  Tagbüchern  zieht.  Aber  auch  Ge- 
genstände vou  allgemetuerer  Bedeutung  werden  mannigfach  berührt.  Ref.  macht 
statt  Vielem  nur  auf  den  einen  Abschnitt  über  einen  bluheuden  Bergbau  in  den 
Thalern  von  Todtnau  und  Schönau  aufmerksam  (S.  70—71),  welcher  u.  A.  die 
bekannte  Urkunde  König  Heinrichs  VII  für  Graf  Egon  den  Jungern  von  Uracb- 
Freiburg  über  die  Bergwerke  des  Breisgaues  ergänzt  und  durch  die  ^' ach  Wei- 
sung, dass  die  Thalleute  das  Recht  einer  Münze  nicht  nur  erhalten,  son- 
dern auch  ausgeübt  haben,  einen  weitern  Fingerzeig  zur  Erforschung  des  <! an- 
kein Gebietes  süddeutscher  Hohlpfenningc  zu  geben  und  so  manche  Lücken  in 
y.  Btrstetts  grossem  Werke  „bndische  Münzkunde"  auszufüllen  geeignet  ist. 
i   .  ■ 


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Kurze  Anzeigen. 


Die  nun  folgende  Yillinger  Chronik  (S.  80—118)  ist  zwar  schon 
durch  Walchner,  Rukkgaber  und  den  Ref.  benutzt  worden,  doch  nur  bruchstück- 
weise zu  besondern  Zwecken,  so  dass  die  Herausgabe  um  so  dankens  werther 
war,  je  wichtiger  die  darin  enthaltenen  Angaben  für  die  Geschichte  der  Handel  Ul- 
richs von  Würtemberg,  des  Bauernkrieges  in  der  Baar  und  andere  Verhältnisse 
des  würtembergischen  und  badischen  Scbwabenlandes  im  XVI  Jahrhundert  sind. 
Auch  die  Frage  nach  dem  Verfasser  ist  im  Vorworte  des  Herausgebers  angeregt 
und  gegen  Heinrich  Hang  oder  Hug  entschieden,  welcher  mit  einem  andern  Vil- 
linger Bürger  —  Valentin  Ringler  —  von  dem  frühem  Besitzer  der  Handschrift, 
Prof.  hefer,  als  Verf.  angenommen  war.  Ref.  fügt  die  Notiz  bei,  dass  diese 
Chronik,  wie  sammtliche  historische  Sammlungen  des  sei.  hefer,  so  viel  er  sich 
erinnert,  vom  verstorbenen  Decan  Wocheier  auf  höchst  uneigennützige  Weise 
für  die  Sophienbibliothek  in  Ueberlingen  angekauft  wurde. 

Vom  weitern  Inhalte  zählt  Ref.  die  cum  Theil  schon  benützten  Salemi- 
schen  Nachrichten  über  den  Bauernkrieg  am  Bodensee  (S.  118—133),  die  Jah- 
refgeschichten  des  Grafen  Werner  von  Zimmern,  die  Jahrgeschicbten  von  Gün- 
lerstbal  (S.  136  — 138),  die  Strassburger  Jahrgeschichten  und  die  Auszüge  aus 
verschiedenen  lateinischen  Chroniken  IS  146 — 158)  nur  dem  Titel  nach  auf,  um 
noch  einige  Bemerkungen  über  die  folgenden  Tagbücher  des  Abts  von  St.  Geor- 
gen, Georg  Gaisser  (S.  159— 168)  beizufügen. 

Diese  in  Kalender  eingeheftete  Tagbücher,  welche  aus  dem  Laden  eines 
schweizerischen  Antiquars  auf  des  Ref.  Anrathen  sein  Freund,  Freiherr  von 
Pfaffenhofen  vor  Verschleppung  rettete  und  mit  einer  —  leider  erst  mit  dem 
2.  Bande  und  XIU.  Jahrhunderle  beginnende — Sammlung  von  Urkundenabschrif- 
ten des  Klosters  St  Georgen  an  das  Generallandesarchiv  in  Carlsruhe  abtrat, 
sind  in  mehr  als  einer  Beziehung  von  Interesse.    Die  Landesgeschichte  erhält 
dadurch  manche  Aufschlüsse  über  bisher  unbekannte  Verhallnisse  einer  ereig- 
nissvollen Zeit,  denn  schon  erreichte  der  Wellenschlag  des  dreissigjäbrigen  Kriegs 
(S.  163)  auch  diese  Hochebene  und  der  Verf.  lebte  ganz  nahe  der  Heimath  der 
beiden  Üguisiischen  Heerführer,  Jakob  Ludwig  und  Egon  von  Fürstenberg.  Man 
erfährt  über  letztere  manche  Einzelnheit,  welche  die  Geschichte  des  Furstenber- 
gischen  Hauses  bis  jetzt  noch  nicht  kannte.    Aber  auch  in  psychologischer  Be- 
ziehung sind  diese  Tagbücher  beachtenswerth  genug  und  die  Stellung  dea  Verf. 
als  Angehörigen  eines  immer  noch  bedeutenden  Convents,  als  Beichtiger  eines 
ansehnlichen  Nonnenklosters  klärt  uns  manchmal  über  die  innern  Verhältnisse 
jener  Institute  auf,  die  ebenso  wenig,  als  andere  Einriebtungen  vom  Geiste  der 
Zeil  unberührt  geblieben  sind.    Wie  viel  uns  gegeben,  wie  viel  uns  vorenthal- 
ten ist,  vermögen  wir  nicht  zu  ermessen,  da  der  Herausgeber  des  Tagebuchs 
S.  160  bemerkt : %  „  Den  häuslichen  Inhalt  dieser  Bücher  Konnte  ich  nicht  gang 
nüttbeilen,  weil  er  keinen  vollständigen  Abdruck  verdient,  sondern  wählte  die- 
jenigen Angaben  aus,  welche  für  die  Specialgcscbichte  brauchbar  sind  und  als 
Beispiele  auch  für  eine  weitere  Betrachtung  dienen  können.*1    Wir  können  im 
Allgemeinen  mit  dieser  Ansicht  nicht  rechten;  ein  anderes  ist  eine  Publikation 
wie  die  des  würtembergischen  literarischen  Vereins,  bei  welcher  wir  freilieh 
gegen  jede  Auslassung  Einsprache  erhoben  hätten,  ein  anderes  die  Quellensamm- 
lung zur  Geschichte  eines  Landes.   Jedenfalls  ist  genug  gegeben,  um  unsern 
obigen  Ausspruch  zu  rechtfertigen.    Die  dem  Texte  beigegebenen  kurzen  An- 


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Kuno  Anzeigen. 


merkungen  erleichtern  den  Gebrauch  der  Quelle  für  den  dem  Schauplätze  der 
Begebenheiten  ferner  stehenden  Leser.  Nur  gegen  zwei  derselben  ist  dem  Ref. 
ein  Bedenken  aufgestossen.  Er  bringt  dasselbe  hier  vor.  als  Zeichen  der  Auf- 
merksamkeit, mit  welcher  er  der  ganzen  Arbeit  gefolgt  ist. 

S.  164  ist  zur  Angabe:  „1624,  26.  Jan.  Nuncius  de  exusto  monasterio 
Dannheim  ad  Hercyniam  sylvam  Ord.  S.  Pauli"  bemerkt:  „Thannheim  im  Ober- 
amt Leutkirch."  Es  ist  aber  offenbar  Thannheim  im  badischen  Bezirksamte  Do- 
naueschingen. Dort  wurde  1353  (Urk.  v.  24.  Juli  im  F.  F.  Archive  zu  Donaue- 
achingen) von  Hugo,  dem  Sohne  Graf  Götzens  von  Fürstenberg  von  der  Villin- 
gen-Haslach'schen  Linie  ein  Kloster  des  Augustiner  Eremitenordens  (Paaliner) 
mit  4  J urhart  Feld  im  Walde  Scharia  und  einem  Hofgute  (Hube)  dolirt,  wel- 
ches bis  zum  Anfange  dieses  Jahrhunderts  bestund  und  in  sehr  heruntergekom- 
menem Zustande  am  24.  Juni  1803  aufgehoben  wurde.  Sein  noch  übriges  Ver- 
mögen fiel  an  das  Fürstenbergische  Landesspital  zu  Donaueschingen.  Ref.  gibt 
aus  seiner  handschriftlichen  Geschichte  des  Klosters  folgende  hier  einschlägige 
Data.  Schon  1489  musste  es  aus  dem  Schutte  eines  Brandunglücks  durch  frei- 
willige Beisteuern  wieder  aufgebaut  werden.  (Sammelbrief  des  Grafen  Heinrich 
d.  Aelt.,  Heinrich  d.  Jüng.  und  Wolfgang  von  Fürstenberg  vom  Dienstag  nach 
Matthäus  [3.  März] ,  welchen  Ref.  auf  dem  Deckel  des  Kinzigthnler  Lagerbuchs 
im  Donaueschinger  Archive  entdeckte.)  Das  zweite  Brandunglück  ereignete  sich 
nach  dem  Schreiben  des  Fürstenberg ischen  Obervogts  Leip  von  Freudenegg  an 
Graf  Max  Joseph  von  Fürstenberg  (v.  1665)  und  der  Nachriebt  des  Pauliner  Or- 
densprovinzials  an  dessen  Vater,  Graf  Friedrich  von  Fürstenberg  -  Donaueschin- 
gen in  der  Nacht  des  16.Jän.  1624.  (Thannhcimer  Klosterakten  im  F  F.  Archive.) 

S.  168  und  schon  früher  S.  163  ist  von  verschiedenen  Übeln  Nachreden 
die  Sprache,  welche  über  Gaisser  ergingen  und  sogar  die  Weigerung  der  Non- 
nen, ihm  zu  beichten,  zur  Folge  hatten.  In  der  Anmerkung  „Zu  dieser  Nach- 
rede bemerkt  Gaisser  kein  Wort"  und  bei  der  Nachweisung,  dass  eine  angeb- 
liche Dienstvernachlässigung  (des  Predigens  an  Ostern)  durch  Krankheit  veran- 
lasst wurde,  scheint  der  Herausgeber  die  unverdient  gekränkte  Unschuld  des 
Beichtigers  anzunehmen.  Dem  ist  aber  nicht  so.  Gerade  in  jenen  Tagen  ver- 
führte letztern  der  Widerstreit  der  Klostergelübde  mit  seinem  Temperamente  zu 
nnverantwortliehem  Missbrauche  seiner  Stellung  nnd  die  Bemerkung  zum  ersten 
December  1623:  „Priorissa  refert,  magistram  et  rcliquas  moniales  nolle  confiteri. 
Respondi  contemnendi  lucri  esse  invitis  venari  molossw",  hatte  ihren  tiefen  Grnnd 
in  diesen  schlimmen  Verhältnissen.  Denn  in  den  Akten  des  Klosters  Amtenhau- 
sen  (F.  F.  Archiv  in  Donaueschingen,  Fascikel  „Exceas")  ist  nicht  nur  die  bit- 
tere Beschwerde  der  Herren  Hans  Egloff  von  Zell,  Jakob  Fürstenberger  unl 
Hans  Bletz  von  Rottenstain  enthalten,  dass  der  Beichtiger  ihre  Schwester  nnd 
Schwägerin,  die  Nonne  Amalia  Bletz  von  Rothenstein  —  dieselbe,  die  im  Tag- 
buche unter  dem  Namen  „Soror  Amalia"  öfters  vorkommt,  verfuhrt  und  auch 
des  Majers  Tochter  zu  Rippoldsau  Abortiva  gegeben,  aondern  die  Antwort  des 
Prälaten  von  St.  Georgen  (v.  8.  Okt.  1623)  zeigt  auch  zur  Genüge,  das  Ganser 
seines  Fehltrittes  geständig  war.  „Dass  nunmehr  mein  bewisater  Convenioal 
Deroselben  Schwester  und  rosp.  Basen  und  Geschwei  Amelie  von  Rotenstein  rrT 
Jugend  anbefohlen"  —  schreibt  der  Abt  —  thue  ihm  leid;  er  verspreche  nebst 


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Kurze  Anzeigen.  589 

Strafe  der  Incarceration  und  Disciplin  des  Beichtigers  eine  Visitation  des  Klo» 
sters  Amtenbausen. 

Ref.  gehört  nicht  zu  denen ,  die  mit  Begierde  alten  Skandal  dieser  Insti- 
tute, auf  deren  Wiederbelebung  in  unsern  Tagen  so  viel  Mühe  verwendet  wird, 
auftischen;  hier  glaubte  er  der  Veröffentlichung  dieser  dem  Herrn  Herausgeber 
nicht  bekannten  Thatsache  nicht  überhoben  zu  sein,  da  sie  zum  Verständnisse 
mancher  in  Gaisser's  Tagbuch  enthaltenen  Stelle  dienen  mag. 

Doch  das  Mitgetheilte  wird  schon  hinreichend  sein,  zu  zeigen,  wie  an- 
ziehend der  Inhalt  auch  dieses  Heftes  der  Quellensammlung  sei  und  wie  sehr 
der  Herr  Herausgeber  durch  baldige  Fortsetzung  die  freunde  vaterländischer 
uescnicnisiorscnung  sien  veruinaen  v^erae. 

Rastatt.  Flekler. 


V  eher  sieht  der  Versteinerungen  des  Grosthersogthums  Baden,  ton  Ernst  S Itten- 
berg er.  Freiburg  i.  B.  Vei  lng  der  Universilälsbuchhandlung  ton  Diernf ell- 
ner.   S.  Mi 

Baden  ist  bekanntlich  durch  eine  grosse  Mannigfaltigkeit  an  Gesteinen 
angezeichnet;  von  den  sieben  Hauptformationen  fehlt  nur  die  Kreide,  alle  üb- 
rigen sind  wenigstens  durch  Schichten-Glieder  vertreten. 

Die  älteste  oder  Grauwaeke-Gruppe  —  aus  Conglomeratcn  und  Schiefern 
bestehend  —  erscheint  zumal  im  südlichen  Theil  des  Landes;  früher  glaubte  man 
drd  isolirte  Ablagerungen  bei  Lenzkirch,  Badenweiler  und  Schönau  annehmen 
zu  müssen,  neuere  Untersuchungen  haben  gezeigt,  dass  die  Formation  einen  zu- 
sammenhangenden, aber  vielfach  gestörten  Zug  quer  durch  das  Gebirge  von 
Badenweiler  bis  Lenzkirch  bildet,  nur  zwischen  dem  Thal  der  Aha  und  dem  von 
Menzenschwand  durch  Granit-Eruptionen  unterbrochen.  Nur  spärlich  finden  sich 
in  diesen  Ablagerungen  Pflanzen,  Abdrücke,  häufiger  schon  in  den  Anthracit- 
Scbichten  am  Ausgange  des  Kinzigthaies  bei  Zunsweier  und  Diersburg.  Ein- 
zelne, sehr  unbedeutende  Parthicn  des  „Uebergangs -Gebirges"  erscheinen  noch 
bei  Baden  und  im  Murgtbal. 

In  gleicher  Weise  steht  der  Steinkohlen-Formation  eine  geringe  Verbrei- 
tung zu  bei  Umwegen  und  Mahlsbach  unfern  Baden,  bei  Oppenau,  bei  Gerolds- 
eck  unfern  Lnhr  n.  a.  a.  0.  Bis  jetzt  hat  man  nur  einige  pflanzliche  Reste  nach- 
gewiesen. Beachtnng  verdient  hingegen  die  Entdeckung  einer  Krebbs-Art, 
Garapsonyx  fimbriatus,  in  schwarzen  Schiefern  bei  Sulzbach  im  Murgthal. 

Auf  noch  geringeren  Raum  beschränkt,  zeigt  sich  Roth  -  Liegendes ,  es 
tritt  am  südlichen  und  nördlichen  Abhang  des  Schwarzwaldes,  sowie  auf  dem 
Schlossberg  bei  Heidelberg  auf;  an  letzterem  Ort  an  einem  Punkte  von  wenig 
mächtigen  Schichten  von  Zechstein-Dolomit  bedeckt. 

Eine  bedeutende  Rolle  spielt  in  Baden  die  Triasformation.  Das  unterste 
Glied  derselben,  der  bunte  Sandstein,  der  im  Odenwald  und  im  nördlichen  Theil 
des  Schwarzwaldes  —  wo  er  bis  zu  3600  Fuss  Höhe  ansteigt  —  so  sehr  ver- 
breitet, ist  in  pnläontologischer  Beziehung  sehr  unergiebig;  nur  in  den  Stein- 
brüchen bei  Durlach  hat  man  einige  schöne  Exemplare  von  Anomopteris  Mou- 
geoti  gefunden.   Dagegen  zeigt  sich  der,  zumal  im  nördlichen  Theil  des  Landes 


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entwickelte  Muschelkalk  aU  eine  reiche  Fundstätte  von  Petrefakten;  aus  fast 
allen  niederen  Thierklassen  bis  zu  den  Fischen  und  Reptilien  fehlt  es  nicht  aa 
Repräsentanten.  (Die  Umgebungen  von  Wieslocb  und  Sinsheim,  Marbach  bei 
Villingen  sind  besonders  ergiebige  Orte  für  Sammler.)  —  Oer  Kcuper,  welcher 
am  südostlichen  Abfall  des  Scbwarzwaldee,  bei  Kadelburg,  Fülzen,  dann  bei 
Bonndorf,  Dürrheim  und  im  Norden  zwischen  Breiten  und  Wimpfen  auftritt,  hat 
wegen  seiner  Flora  Air  den  Petrefaktologen  Interesse,  und  zeigt  sich  namentlich 
bei  Sinsheim  reich  an  schönen  Manzen-Abdrucken. 

Die  eigentliche  Jura-Formation  ist  besonders  auf  zwei  Gegenden  im  süd- 
lichen Theil  des  Landes,  das  Hegau  und  Breisgau  beschrankt,  dort  aber  auch 
in  sehr  ausgezeichneter  Weise  entwickelt.  Der  schwarze  Jura  oder  Lina  er- 
scheint iselirt  im  Süden  an  mehreren  Orten,  so  z.  B.  bei  Leben  unfern  Freibnrg 
(früher  durch  Petrefakten-Reicbthum  ausgezeichnet),  bei  Adelhausen  und  Eich- 
sei unfern  Schopfheim,  hauptsächlich  aber  in  den  Umgebungen  von  Füzen,  die 
dem  Sammler  gute  Ausbeute  gewahren.  (Unter  andern  kommt  Ammonitcs  Da- 
voci  schön  vor.)  Endlich  ist  der  Lias  noch  im  Korden  des  Landes,  zwischen 
Wiesloch  und  Ubslalt  verbreitet. 

Die  Molasse  erstreckt  sich  von  den  Ufern  des  Bodensecs  über  Markdorf, 
Pfulleodorf  in  die  Umgehungen  von  Mösskirch,  über  Radolpbzell,  Blumenfeld, 
Slockacfa;  sie  zeigt  sich  an  manchen  Orten  reich  an  Petrefakten,  wie  z.  B.  bei 
Pfullendorf.  —  Von  allen  Gliedern  der  Tertiargruppc  verdienen  die  Gesteine  von 
Oeningen  Beachtung,  wo  schon  im  Jahr  1726  Scheuchzer  seinen  „bomo  dilutii 
tesüsu  fand.  In  verschiedenen  älteren  und  neueren  Schriften  wurden  die  Oe- 
ninger  Schichten  und  ihre  mannigfaltigen  organischen  Reste  ausführlich  besprochen. 

Die  Diiuvial-Ablagerungen  des  Rheinthals  sind  ergiebige  Fundslalten  für 
Ueberbleibsel  urwellliclier  Tbiere  (Elepbas  priroigenius,  Rhinoceros  tieborhinus, 
R.  leplorhiniis,  IJyaeua  spelaea,  Urans  snelaeus),  ebenso  liefert  der  Löss  gleich- 
falls Reale  grösserer  Diluviallhiere,  seltener  von  Vögeln  oder  Amphibien. 

ftach  der  kurzen  Uebersicht  der  allgemeinen  geognosliscben  und  paJaon- 
tologischen  Verhältnisse  Badens  gibt  der  VerL  im  zweiten  Abschnitt  der  Petre- 
fakten Badens  und  ihrer  Fundorte  nach  geologischer  Aufeinanderfolge ;  der  dritte 
Abschnitt  besieht  aus  einem  botanisch-geologisch  geordneten  Verzeichnisse  sam röt- 
licher in  Baden  vorkommender  fossiler  Pflanzen-  nnd  Thiergatlungen  nebst  An- 
gabe der  Anzahl  bei  uns  gefundener  Arten  derselben;  endlich  aua  einer  stati- 
stischen Uebersicht  der  Yertheilung  der  Arten  jeder  Klasse  auf  die  Formationen. 

Als  Resultat  ergibt  sich  aus  Zusammenstellung  der  Gattungen  mit  ausge- 
setzter Arlen-Znhl,  dasa  Baden  182  fossile  Pflanzenarten,  und  1095  Thierar- 
teti  besitzt. 

Die  fleissige  Arbeit  des  Herrn  Slizenberger  wird  gewiss  allenthalben  die 
verdiente  Anerkennung  finden.  G.  JLeoailiarü. 


lieber  Reinheit  der  Tonkunst,  von  AnL  Friedr.  Jusi.  T Iii  baut.     Dritte  vermehrte 
Ausgabe  mit  einem  Vorwort  von  MinUteriitlrath  Dr.  K.  Bahr.  Heidelberg, 

Mohr.    1851.    8.    XXV  und  230  S. 

Das  goldene  Büchlein,  durch  welches  zur  Zeit  seines  ersten  Erscheinens 
ein  #o  mächtiger  Anstoaa  zur  Wiederaufnahme  eines  der  edelsten  Zweige  hö- 


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herer  Kunst,  der  reinen,  veredelten  Tonkunst,  insbesondere  der  klassischen  Kir- 
chenmusik gegeben  ward,  liegt  uns  jetzt,  schön  ausgestattet,  in  einer  dritten 
Ausgabe  vor,  vermehrt  durch  ein  Vorwort  eines  der  eifrigsten  Mitglieder  des 
ehemaligen  Thibaut'schen  Singvereins,  dessen  im  vorigen  Jahre  erschienene 
Schrift:  „Der  protestantische  Gottesdienst  vom  Standpunkte  der  Gemeinde  auf 
betrachtet"  neuerdings  ganz  unverkennbar  zeigt,  welche  tiefe  Wurzel  die  über- 
teugenden  Wahrheiten,  die  Thibaut  ausgesprochen,  in  seiner  Seele  geschlagen 
haben;  wie  ernst  er  gewillt  und  bemühet  ist,  in  seiner  Kirche,  bei  dem  Got- 
tesdienst das  wieder  einzuführen,  dessen  Mangel  in  der  Seele  jedes  Einsichtsvol- 
len eine  wahre  Calamttät  genannt  werden  muss,  wir  meinen  die  klassischen  al- 
teren Kirchengesänge,  die  zugleich  aus  begeistert  frommer  Seele  nnd  au« 
ursprunglichem  Genie  hervorgegangen  sind.    Wenn  je,  so  bedarf  es  in 
unserer  Zeit  einer  solchen  erneuerten  Anregung,  wie  sie  der  verewigte,  Allen, 
die  ihn  kannten,  unvergeßliche  Yerfasser  dieser  Schrift  gegeben  bat,  dieser  sel- 
tene, herrliche  Mann,  welcher  —  man  gestatte  uns  wenigstens  annähernd  den 
Vergleich  —  dem  Meister  aller  .Meister  Handel  ahnlich,  nach  jeder  Seite  gross 
war,  jedes  Thema,  das  er  erfassle,  originell  behandelte  und  erschöpfte.  Wir 
zweifeln  nicht,  dass  Jeder  nur  mit  innigster  Befriedigung  diese  Schrift  durchle- 
sen wird,  die  in  so  unübertrefflicher  Weise  dem  klaren  Verstände  gesundo  Nah- 
rang bietet,  den  Geschmack  läutert  und  veredelt,  das  Gemütb  stärkt  und  erhebt; 
ja,  das  Gemüth  dessen  zugleich  mit  einer  Art  Heimweh  erfüllt,  der,  wie  diess 
aoeh  bei  dem  Schreiber  dieses  der  Fall  war,  das  Glück  hatte,  ein  Mitglied  des 
Thibaotschen  Singvereins  zu  sein.    Diese  Produktionen,  diese  Himmelstöne  sind 
längst  verhallt,  Töne,  die  in  der  Weise,  wie  sie  unser  Ohr  berührten,  nicht 
leicht  wiederkehren,  gleichwie  der  Mann,  der  sie  hervorgezaubert,  nicht  zn  uns 
zurückkehrt.    Aber  sie  leben  in  uns  fort,  wie  auch  Thibaut's  Schrift  im  Geiste 
aller  wahrhaft  Gebildeten,  deren  musikalischer  Sinn  ein  reiner,  ernster,  tiefer  ist, 
niemals  nutergeben  wird.  —  Wenn  früher  Gründe  obwalteten,  wegen  deren  es 
geeignet  erschien,  dass  des  Verfassers  Name  auf  dem  Titel  seiner  Schrift  nicht 
genannt  ward,  so  sind  diese  Grüode  jetzt  geschwunden;  was  damals  zweck« 
widrig  erscheinen  mochte,  kann  jetzt  der  guten  Sache  nur  dienlich  sein;  wie 
wir  denn  noch  nicht  zweifeln,  dass  die  am  Ende  beigefügte  chronologische  Ue- 
bersicht  für  diejenigen,  welche  sich  dem  Studium  der  klassischen  Kirchenmusik 
widmen  wollen,  eine  erwünschte  Zugabe  sein  werde. 


Die  Gymnastik  der  Hellenen,  in  ihrem  Einßuss  aufs  gesummte  Alterthum  und 
ihrer  Bedeutung  für  die  deutsche  Gegenwart.  Ein  Versuch  zur  geschicht- 
lich philosophischen  Begritndung  einer  ästhetischen  Naiionalemiehung  ton 
Dr.  Otto  Heinrich  Jäger.  Gekrönte  Preisschrift.  Esslingen.  Verlag 
von  Conrad  Wegehardt.    1850.    298  8.  in  gr.  8. 

Obgleich  diese  Schrift  sich  als  eine  „gekrönte  Preissschrift"  ankündigt, 
so  gehört  sie  darum  doch  nach  unserer  Meinung  zu  denjenigen,  welche  auch 
ungedruckt  hätten  bleiben  können.  Sie  enthält  die  ziemlich  ausgedehnten  Be- 
trachtungen und  Ausführungen  eines  jungen  Mannes,  dessen  Studien  noch  sehr 
der  Reife  bedürfen,  um  vor  das  Licht  der  OefTentlicbkeit  zu  treten  und  wahrhaft 


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erspriesslich  für  Mit-  und  Nachwelt  zu  werdeo.  Aach  vermisst  man  bei  dem 
Verf.,  trotz  aller  seiner  Begeisterung  für  das  alte  Hellcnenthum,  doch  diejenige 
gründliche  philologische  Bildung,  die  uns  allein  vor  schiefer  Auffassung  bewah- 
ren und  zu  einer  richtigen  Würdigung  der  hellenischen  Welt  führen  kann.  Wir 
würden  darum  auch  dem  Verf.  die  ganze  etliche  siebzig  Seiten  zählende  Einlei- 
tung, welche  den  Gang  und  den  Beirieb  der  klassischen  Alterthumsstudien  in 
Deutschland  (insbesondere  in  dem  Vaterlande  des  Verfassers,  in  Würtemberg), 
darstellen  soll,  sammt  der  ganzen,  weiter  daran  sich  knüpfenden  Entwickelung, 
gerne  erlassen  haben,  wenn  er  uns  dafür  eine  gründliche,  aus  den  Quellen  ge- 
schöpfte, kritische  Darstellung  der  alten  Gymnastik  in  gedrängter  Kürze  gege- 
ben haben  würde,  die  selbst  nach  manchen  umfassenden  und  tüchtigen  Vorar- 
beiten, doch  immer  noch  manche  Seite  der  Forschung  und  Behandlung  darbie- 
tet. Die  erwähnte  Einleitung  behandelt  §.  1  zerstreute  Einflüsse  des  AWcrthums 
•nf  die  deutsche  Geschichte,  2.  die  klassisch-altertbümlichen  Studien  seit  den  Re- 
formationszeiten, 3.  die  deutsche  Revolution  und  die  klassischen  Studien ;  4.  der 
ideale  Menschheitsprozess  (!?)  und  die  Weltgeschichte,  5.  die  innere  Wahlver- 
wandtschaft des  Hellenenthums  mit  Deutachland.  Zum  Versländniss  des  dritten 
Abschnitts  bemerken  wir,  dass  es  sich  hier  um  die  Märzrcvolotion  des  Jahres 
1848  handelt,  seit  welcher  es  Anders  geworden  und  Alles  sich  gewandelt!  — 
„Em  herrlicher  Lenzessturm  brach  über  den  Rhein  in  die  heimischen  Gauen  und 
hat  uns  Deutschen  wiederum  ein  recht  gülden  Jahr  aufgerichtet"  u. s.  w.  (S. 40). 
Nun  von  diesem  „güldenen  Jahr"  wissen  am  Besten  die  Steuerpflichtigen  zu  er- 
zählen. Von  jener  „herrlichen  Bewegung"  fühlt  sich  der  Verfasser  zu  tief  und 
cu  gewaltig  ergriffen,  und  darum  glaubt  er  auftreten  zu  müssen,  um  mittelst 
einer  verbesserten  Volkserziehung  und  Volksbildung  den  neuen  Bau  zu  begrün- 
den. „Es  schwebt  mir  vor",  heisst  es  S.  76  am  Schlüsse  dieser  einleitenden 
Betrachtungen,  „der  Gedanke  einer  grossen  Nationalerziebung,  einer  ästhetischen 
Menschneitserziehung,  gegründet  auf  die  antike  Idee  der  Harmonie  zwischen  den 
natürlichen  und  geistigen  Lebensgrundlagen,  eine  Erziehung,  die  den  Menschen 
ganz  erfasst  und  emporhebt  in  die  ideale  Vollendung  und  Befreiung  seines  gan- 
zen ungebrochenen  göttlichen  Daseins,  nach  welchem  er  sehnt.  Wohlan,  ich 
will  versuchen,  diesem  Gedanken  Bild  und  Leben  zu  verleihen  und  ihn  zn  ver- 
künden meinem  Volke!"  —  Ob  mit  solchen  im  Monde  eines  jungen  Mannes 
fast  lächerlich  klingenden,  hohlen  Phrasen  die  Welt  gebessert  und  eine  bessere 
Generation  herangezogen  wird,  diese  Frage  wird  jeder  praktische  Schulmaun 
und  Pädagog  sich  selbst  zu  beantworten  wissen. 

Auf  diese  Einleitung  folgt  nun  die  Darstellung  des  Einflusses  des  helle- 
nischen Turnens  auf  das  gesammte  Alterthum,  und  zwar  zuvörderst  der  Einfluss 
auf  den  Körper  (hier  von  dem  Turnplatz  und  den  verschiedenen  Arten  des  Turn- 
spieU),  dann  der  Einfluss  auf  nächstverwandle  Lebensen tfaltungen  (hier  von  den 
Spielen  und  Volksfesten,  vom  Krieg,  von  Athletik  nnd  Agonislik),  der  Einfluss 
auf  Yolkserziehung  (die  antike  Erziehung  im  Allgemeinen,  die  gymnastische,  die 
musische  Bildung)  und  auf  Kunst  und  Religion.  Bei  allen  diesen  von  S.  77 — 298 
gehenden  Ausführungen  hat  es  der  Verf.  nicht  für  nöthig  erachtet,  auch  nur  ir- 
gend eine  Quelle  anzugeben,  oder  irgend  eine  Stelle  eines  alten  Schriftstellers, 
zum  Beleg  oder  als  Nachweis  des  von  ihm  Behaupteten,  anzuführen ! 


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Heis  (Eduard ,  Oberlehrer  der  Mathematik,  Physik  und  Chemie  an  der  höhern 
Bürger-  und  Proviniialgewerbschule  zu  Aachen).  Sammlnug  von  Beispie- 
len und  Aufgaben  aus  der  allgemeinen  Arithmetik  und  Algebra.  Für  Gym- 
nasien, höhere  Bürger-  und  Gewerbschulen.  Fünfte  verbesserte  und  ver- 
mehrte Auflage.  Köln,  1850,  in  der  Du  Mont-Schauberg'schen  Buchhandlung. 

Wenn  ein  Schulbuch,  wie  das  vorliegende,  alle  drei  Jahre  eine  neue 
Auflage  erlebt,  »o  ist  das  wohl  ein  sprechender  Beweis  seiner  Brauchbarkeit.  — 
In  der  That  ist  die  vorliegende  Sammlung  von  allen  mir  zu  Gesicht  gekomme- 
nen ähnlichen  Werken  unstreitig  diejenige,  welche  den  allbekannten  Meier 
Hirsch  am  besten  ersetzen  kann  und  auch  bereits  in  vielen  Unterrichtsanstal- 
ten von  Preussen,  Oesterreich,  Hannover,  Braunschweig  etc.  ersetzt  hat,  und 
indem  ich  von  diesem  guten  Schulbucbe  in  diesen  Blättern  eine  kurze  Anzeige 
gebe,  möchte  ich  besonders  auch  die  Vorsteher  und  Lehrer  an  den  höhern  Lehr- 
anstalten Badens,  Würtembergs,  Baierns  etc.  darauf  aufmerksam  machen. 

Im  Allgemeinen  ist  die  Elementararithmetik  und  Algebra  in  dieser  Samm- 
lung mit  einem  hinreichenden  und  passenden  Material  zur  Uebung  versehen; 
nur  zweierlei  möchte  ich  dein  Buche  hier  noch  wünscheu,  nämlich  1)  dass  der 
Verf.  die  Fragen  am  Eingange  jedes  Abschnittes  beträchtlich  erweiterte,  so  dass 
darin  alle  Hauptmoincnlc  der  Grundlehrcn  zur  Sprache  kommen,  und  2)  dass 
nicht  blos  Rechenexempel  gegeben  werden,  sondern  aoeh  pikante  Lehrsatze 
zn  deduciren  sind,  z.  B. 

1)  Es  ist: 

(a2+b2-f-c2-fd2)  (p2-HM-r*  -fs2)  =  (ap+bq+cr+ da)2 
+  (aq— bp-f-cs— dr)2  +  (ar  — cp-^-dq— bs)2  +  (br-  cq-J-as— dp)2, 

2)  Wenn: 

A  =  bc'  +  cb'  +  aa', 
B  =  ab'  +  ba'-f  cc\ 
C  =  ic'-|-cV-fmV 

ist,  so  ist :  (a+b+c)  (a'-fb'-fc')  =  A  +  B  -f-  C, 

(a*-fb4-cl-ab— ac-bc)  (a'+2b'H-c'*-aV-a'c'-bV) 
=  A*  +  B2  +  C*  —  AB- AC— BC , 
(a2+b2+C3-3abc)  (a'2+b'H-c'*-3a'bV) 
=  A2  +  B24-C2-3ABC. 

3)  Es  ist: 

2y2  +  3z2  =  6P  +  (y+z-t)2  +  (z-y-t)2  +  (z+2t)2. 

4)  Das  Produkt:  n(n-f-1)  t-n-H),  wo  n  eine  beliebige  ganze  Zahl  be- 
deutet, ist  durch  6  theilbar. 

5)  das  Produkt:  ab  (a2-^2)  (a2  —  b2),  wo  a,  b  ganze  Zahlen  sind,  ist 
theilbar  durch  30. 

6)  Wenn  man  alle  Divisoren  einer  Zahl  N  nach  ihrer  Grössenfolge  in  eine 
Reihe  setzt,  welche  mit  1  anfängt,  und  mit  N  schliesst,  so  ist  das  Produkt  ans 
je  zwei,  von  den  Enden  gleichweit  abstehenden  Zahlen  dieser  Reihe  constant. 

7)  Das  um  1  verminderte  Quadrat  einer  Primzahl  (2  und  3  ausgenom- 
men, ist  stets  durch  12  theilbar. 

8)  Wenn  a,  b  zwei  ganze  relative  Primzahlen  sind,  so  können  a2  — ab 
+  b*  und  a  +  h  keinen  audern  gemeinschaftlichen  Primfakter  als  3  haben. 


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9)  Unler  derselben  Voraussetzung  ist  2  der  grösste  gemeinschaftliche  Di- 
von  a  -{-  b  und  a  —  b. 

10)  Unter  derselben  Voraussetzung  gibt  es  (a — 1)  (b— 1)  Zahlen,  welche 
kleiner  als  das  Produkt  ab  und  prim  zu  demselben  sind. 

11)  Wenn  a,  b,  a',  b'  vier  Zahle u  bedeuten,  welche  za  der  fünften  p 
prim  und  ab  —  a'b,  a  —  a'  durch  p  theilbar  sind,  so  ist  auch  b  — b1  durch  p 
theitbar. 

12)  Wenn  man  die  Summe  der  Zähler,  so  wie  die  der  Nenner  mehrerer 
Brüche  bildet,  und  die  erste  Summe  zum  Zähler,  die  zweite  zum  Neuner  eines 
Bruches  nimmt,  so  liegt  dieser  Bruch  zwischen  dem  grösslen  und  kleinsten  der 
gegebenen  Brüche. 

13)  Zwei  nicht  reducirbare  Brüche  können  nur  dann  eine  ganze  Zahl  zur 
Snmme  haben,  wenn  sie  denselben  Nenner  haben. 

14)  Die  Summe  dreier  irreducibeler  Brüche  kann  keine  ganze  Zahl  sein, 
wenn  einer  der  drei  Nenner  einen  Primfacter  enthält,  welcher  keinen  der  bei* 
den  andern  Nenner  theilt. 

it)  Wenn  A,  B  zwei  beliebige  ganze  Zahlen  und  Q,  Ol»  Qii  *« 

B     B  B 

Ouotientcn,  aowie  R,  R,,  Ha,.,  die  Reste  der  Divisionen  -j  »  -g*  j^,  ...find, 
so  hat  man: 

'km  ..  .  A        I         1     .  1 

16)  Die  Summe  aus  dem  grössten  und  kleinsten  Gliede  einer  Proportion 
at  grösser,  als  die  der  beiden  andern  Glieder. 

17)  Wenn  a  :  b  =  c :  d  ist,  in  welchem  Folie  ist  auch: 

a-j-m:  b-j-n.  =  c-f-m:d-|-ra? 

18)  Wenn  a  :  b  =  c :  d  ist,  so  ist  auch : 

ab :  ed  =  (a-fb)* :  (c-H )*. 

19)  In  welchem  Falle  folgt  aus  a :  b  ate  c :  d  und  a' :  b'  =  c' :  d'  die  Pro- 
portion: (a+a'):(b+b')  =  (c+c#):(^-H')? 

Und  dergleichen  mehr. 

Auch  bei  den  Aufgaben  müssen  wir  an  die  Worte  des  gewandten  Re- 
dakteurs der  Nouvelles  Annales  de  Malhdmatkroes  erinnern:  „Les  auteurs  dV-lc- 
ments  ne  font  pas  assez  attention  an  nhoit  dea  efemples,  qu'ils  prennent  an 
hasard,  sans  autre  but  que  d'exercer  au  calcul;  tandisque  les  exemple»  doivent 
fitre  cherches  dans  fei  oavrages  des  grands  mattres,  et  pre*pares  los  elrvcs  aux 
connaissances  pluss  retevees  dans  les  scienoes  raatkematiquea  et  phystco-ma- 
thematiques."  — 

Ali  ein  paar  Baispiele  wollen  wir  hier  anfuhren  die  Gleichungen: 

ps-rp2_b2-rp*_ct  i. 

j2-4-  y3  4-  12  -i 
j3  v-b'^v— c»~ 

v*  T  v*— b*  T  v3— c2  ' 
woran!  X,  y,  z  und  x*  +  y*  +  z*  gefunden  werden  sollen. 


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2)  a*  +  a8x  4*  a2y  4~  as  +  u  sS  o, 

b*  +  b3x  +  b2y  +  b*  +  "  =  o, 

c*  -|~  c3*  4*  c2y  +  cz  +  ö  =  o , 

d*  4-  d3»  +  d2*  +  dz  +  u  =  o, 

3)  i=x^.y-|_B-|_u_j-v4-w  +  t, 

0  =  x  4~  ay  +  bz  4"    4"  d  v  4~  ew  4~  ^» 
0  =  x  +>*I  4-  b«z  4-  c2u  4-  d2v  4-  e*W  +  f2», 

0  =  x  4"  a3y  4~  4"  c3u  4"  °*3v  4"  ß3w  4"  f3*» 
0  =  x  4~  a*y  4"  b4z  4~  c4u  4~  d4v  4"  c*w  4"  ^ 
0  =  x  4-  a5y  4" ßSl  4"  c5u  +  d&v  4:  esw  4r  fo» 
0  =  x  +  a6y  +  b«z  +  c«u  4- d«v  4- e6w  4- f«t. 

4)  ax3  =  by3  =  cz3, 

1,1,1  _i_ 

x,  y,  t  und  a*2  4*  bj*  4-  cz2  gefunden  werden 

5)  Zwischen  den  Gleichungen: 

a°  +  bn  4"  c°  =  d", 


xm 


7™ 


amH-n         bm^n  c™-4-«» 
die  Grössen  a.  b,  c  zu  eliminiren,  u.  s.  w. 

Die  Theorie  der  Ungleichheiten  hätte  nicht  fehlen  sollen,  weil  sie 
bei  vielen  Untersuchungen,  selbst  in  der  Elementarmathematik,  von  Wichtigkeit  ist. 
Z.B  es  soll  untersucht  werden,  für  welche  Werthe  von  x  das  Trinom: 

Ax»4-Bx4-C 

positiv  oder  negativ  ist,  so  dass  die  Ungleichheit  Ax2  4-  Bx     C  £  o  stattfindet. 

Diese  Theorie  kommt  namentlich  bei  der  Untersuchung  der  Möglichkeit  einer 

Aufgabe  vor,  so. wie  sie  Oberhaupt  manche  interessante  and  oft  sehr  nützliche 

Sätze  darbietet.  Beispiele: 

a       a'  a" 
1)  Wenn  —  =  ft/  =  -jj  = . .  ist,  so  ist  stets: 

aa  +  a'a'  +  a"öt"  -f . . <  y* i2  +V*  +  •"»+...  V aM-a'24- **+ .  - . 

1)  Der  Ausdruck  x*4-  y*  —  x«y-y*x  ist  für  jeden  positiven  oder  nega- 
tiven Werth  von  x  und  y  stets  positiv. 

3)  Für  jeden  Werth  von  a  ist  stets  3  (1+*+*) 

4)  Für  jeden  positiven  Werth  von  a,  b,  c  ist  stets : 

abc>(a-fb— c)  (a+c— b)  (b-fc— a), 

ab  (a+b)  -f-  ac  Ca+C)  +  bc  (b+e)  >  babci  a«  w- 
Auch  über  Maxi ma  und  Minima  sollten  Aufgaben  wie  folgende  nicht  fehlen: 

1)  Wenn  die  Summe  zweier  positiven  Zahlen  x,  y  gegeben  ist,  das  Ma- 
ximum das  Produkts  x"  yn  tu  finden,  von,  n  gegebene  ganze  Zahlen  be- 
deuten. 

2)  Wenn  das  Produkt  von  n  positiven  Zahlen  gegeben  ist,  ihre  kleinste 
zu  finden. 

^  Wenn  das  Produkt  Xm  ya  gegeben  ist,  das  Minimum  von  *4t  «» ß»*cn- 


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4)  Wenn  die  Summe  x+y  gegeben  ist,  zwacken  welcben  Grenzen  kann 
sieb  x34-y3  ändern? 

.         (z+t)  (x-fb) 

5)  Das  Maximum  von  zu  finden.  — 

6)  Das  Minimum  von: 

su  finden.  —  U.  a.  m. 

Sehr  instruktiv  ist  auch  die  Anwendung  der  Methode  der  unbe- 
stimmten Coeff iciaaten  auf  Aufgaben  wie  folgende: 

1)  Welche  Relation  mnss  swiseben  p  und  q  stattfinden,  wenn  das  Trinom 

x3  +  px  +  q 

durch  (x-d)2  theilbar  sein  soll? 

2)  Die  Coefficienten  m.  n  so  zu  bestimmen,  dass  der  Ausdruck: 

mx3-x*  (2mH"3n)  4-  x  (mH-6mn)  —  3m2n 
ein  vollständiger  Kubus  wird. 

3)  Welche  Relation  muss  zwischen  A,  B,  C,  D,  E,  F  stattfinden,  damit 
das  Pelynom: 

Ay*  +  Bxy  +  Cx2  +  Dy  +  Ex  +  F 
ein  Produkt  aus  zwei  Faktoren  des  ersten  Grades  mit  x  u.  y  ist? 

4)  Man  soll  Ax2  +  Bxy  -f  Cy2  und  Ax«  +  3Bx2  +  3Cy2x  4-  Dy»  resp.  auf 
die  Form:  (ax-f ßy)2  +  (jx  +  SyJ2  und  (ax-f-ßy )3  -f  (r*-Hy )3  bringen,  u.  s  f. 

Die  Verification  der  Gleichheit  algebraischer  Aasdrücke 
bietet  ebenfalls  manchrache  Gelegenheit  zur  Uebung  im  algebraischen  Calcul  dar. 
Beispiele: 

1)  Wenn  x-fy-f-u-r-v  =  2und  xy— uv  =  2-2  (u-J-v)  ist,  so  zeigen, 
dass  auch  x2  ~\-  y*  =  u2  +  va  ist. 

1,1  2 

2)  Wenn  a  +  c  =  2b  und  -y+  "d"=~       »o      »ich  a:b=c:d. 

3)  Wenn  A :  a  =  B :  b  =  C :  c  =  D  :  d  ist,  so  ist  auch : 

V'Äa"  +  Vßb  +  VCc"  +  V^Dd  =  V^A+B+C+D)  (i^b+HFo7. 

4)  Wenn  man  die  Gleichungen: 

a2  +  ß2  +  Ti  =  1t         «,«'  +  PV  +  TlT'#  =  0, 

a'2  +  ß'2  +  T'2  =         aa'  +  S'  +  rf  =<>, 
a«i  +  ß«2  +  T«t —       aa'  +  ßß«  +  n«  -  o 

bat,  so  finden  auch  die  folgenden  statt: 

aß  +  a'ß'+  a"ß"  =  o,  o»  +  a'2  +  a"2  =  0, 

aT  +  »V  +  a"T"  =  o,  ß2  4-  ß'2  +  S"2  +  0, 

ßT  +  ßY  +  ß  V  =  o,  ß2  +  ß'2  4  ß"a  =  0, 

ata'ia"2  +  ß2ß'2ß»2  4_  yYY'1  =  a*ßy  4*  a/2ß'Y* + «'TV1« 

U.  a.  m.  Kur?  :  wir  wünschen,  dass  der  Verf.  bei  der  nächsten  Auflage  über- 
haupt solche  Uebungen  gehörig  berücksichtigen  möge,  welche  das  Wesen  oder 
die  Theorie  der  Arithmetik  und  Algebra  betreffen,  und  deren  Kenntniss  für  die 
folgenden  Thcile  der  Mathematik  (analytische  Geometrie  etc.)  von  Wichtigkeit  ist. 

Endlich  wäre  es  wünschenswertb,  dass  der  Verf.  auch  das  Wichtigste 
aus  der  höhern  Algebra  aufnähme,  damit  das  Werkchen  auch  an  höhern  tech- 
nischen Lehranstalten  benutzt  werden  könnte.  Hieher  gehört  namentlich:  die 
'Entwickelung  der  Funktionen  in  Reihen;  die  Zerlegung  der  gebrochenen  Funk- 
-Üonen  in  Parlialbrücbe  etc.  etc.  und  insbesondere  die  Auflösung  hohem  Zablen- 
gleichungen  nach  den  Methoden  von  Fourier,  Budan ,  Sturm,  Horner  etc.  Dass 
das  Buch  dadurch  um  5—6  Bogen  verstärkt  wird ,  kann  bei  einem  so  viel  ge- 
brauchten Scholbuche  nicht  in  Betracht  kommen.  —  Die  äussere  Ausstattung  ist 
sehr  gut  und  ökonomisch,  sowie  der  Preist  =  1  Thlr^für  fast  24  Bogen 

'   .  '  .         *  I. 


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Hr.  40.  HEIDELBERGER  1851. 

JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR. 


> 


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(Schluss.) 

Die  allgemeine  Umkehrung  gegebener  Funktionen.  Eine  Monographie  ton  Dr.  Ös- 
kar  Schlömilch,  Professor  an  der  Universität  Jena.  Halle,  Druck  und 
Verlag  ton  H.  W.  Schmidt.    18t9.   56  S.  in  8. 

Wenn  die  Grösse  x  dergestalt  von  y  abhängt,  dass  man  setzen  kann: 

x  =  +(y), 

d.  h.  dass  also  x  eine  bestimmte,  gegebene  Funktion  von  y  ist,  so  ist  man  be- 
rechtigt, umgekehrt  zu  setzen: 

y  —  ?  (*), 

d.  h.  auch  y  als  Funktion  von  x  zu  betrachten.  Wenn  nun,  wie  gesagt,  cf>  (y) 
gegeben  ist,  so  stellt  sich  die  Aufgabe  dar,  hieraus  <p  (x)  zu  bestimmen.  Damit 
wäre  dann  das  Problem  der  Umkehrung  einer  gegebenen  Funktion  gelost.  Die 
Lösung  dieser  Aufgabe  ist  der  Zweck  vorliegender  Monographie. 

Man  hat  schon  früher  eine  Lösung  dieser  Aufgabe  versucht.  Den  ersten 
Versuch  finden  wir  bei  Newton,  der  durch  auf  einander  folgende  Potenzirung 
einer  Reihe  und  Elimination  der  höhern  Potenzen  von  y  zn  einer  neuen  Reihe 
gc 'angt.    Sei  z.  B. 

x  =  y+iya+4y3+iy<+...., 
so  bildet  Newton  zunächst  x»,  x3,  x1, . . .  und  verbindet  diese  Grössen  so ,  dass 

y',  y3 . . . .  verschwinden,  also : 

x—  Jx*  =  y-ly3-  ,l,y*-... 
X-*x2-Hx3  =  y  +  J'|yl  +  .. 
a.  s.  w.    Dadurch  erhält  er  die  Reihe: 

y  =  x-  Jx*+ix3-s'4x*+... 

Man  sieht  leicht  ein,  dass,  wenn  diese  Methode  auch,  übersichtlich  darge- 
stellt, sich  sehr  einfach  ausnimmt,  sie  bei  wirklicher  Anwendung  völlig  unbrauch- 
bar ist.  Denn  es  ist  nicht  möglich,  das  allgemeine  Gesetz  der  Koeffizienten  der  Po- 
tenzen von  x  zu  bestimmen;  allerdings  könnte  diess  durch  die  Lehre  vom  Po- 
lynomium  fibersichtlich  geschehen,  allein  für  wirkliche  Berechnung  ist  dieselbe 
unbrauchbar.  So  lange  das  Gesetz  der  Koeffizienten  nicht  bekannt  ist,  ist  aber 
eine  unendliche  Reihe  schon  darum  nicht  zu  gebrauchen,  da  deren  Konvergenz 
nicht  beurtheilt  werden  kann. 

Eine  vollständigere  Lösung  gewährt  die  bekannte  Lagrangesche  Formel. 
Setzt  man  nämlich: 

and  sei  ya  der  Werth  von  y,  der  der  Gleichung: 

y  =  x  f  (y) 

Genüge  leistet,  und  mit  z  verschwindet,  so  ist 

XLIV.  Jahrg.  4.  Doppelheft.  40 


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626  Karte  Anzeigen. 


wenn  f(0),  ^(0),...  alle  endlich  sind,  f(o)  nicht  Noll  Mit  and  A»  endlich  and 
stetig  von  e  =  0  bis  i  =  y ,  und  die  vorstehende  Reihe  konvergent  ist  x  darf 
nur  dann  den  Werth  k  annehmen,  wenn  von  x  — 0  bis  x  =  k  die  Gleichung: 

1_xfi(v0)  =  0 

nicht  Statt  finden  kann. 

Allein  auch  diese  Auflösung,  abgesehen  von  der  Einschränkung  ihrer 
Ausdehnung,  gewährt  keinen  praktischen  Vortheil.  Es  wird  nämlich  bei  ihrer 
Anwendung  das  Differenzial: 

An  .  n-+-l 

gefordert,  welches  allgemein  darzustellen  gerade  denselben  Schwierigkeiten  un- 
terliegt, denen  wir  oben  begegneten. 

Aus  diesen  Gründen  mussten  neue  Methoden  gesucht  werden,  welche 
alle  diese  Schwierigkeiten,  so  viel  nur  immer  möglich,  beben,  welche  also  so- 
wohl hinsichtlich  der  Ausdehnung  ihrer  GUtigkeit,  als  auch  hinsichtlich  ihrer 
Anwendung  keinen  Wunsch  mehr  übrig  lassen.  Diesen  nenen  Metboden  boten 
eich  unmittelbar  durch  die  vom  Verf.  in  seinen  „analytischen  Stadien0  behau- 
en „Fourier'schen  Reiben*1  dar. 

Eine  jede  Funktion  ?  (x),  stetig  oder  nicht,  laset  tick  bekanntlich  der 

II 

icx  2icx 
Jeo+ai  cos  — +atcos— +  .... 

worin  c  >  x  ^>  0,  gleich  setzen ,  wenn 

Ist  non: 
und  folgt  daraus 

y  =  ?  W» 

io  kann  man  setzen: 

y  s  |  80  +  at  cos  -j-  +  u  cos       + . . . 

2  1  n  '  s  dx. 


?J^?(«).eo.=P 


Da  aber  9  (x)  nicht  unmittelbar  bekannt  ist,  sondere  erst  gefunden  wer- 
den muta,  so  mass  man  in  dem  vorstehenden  Integrale  y  statt  %  einfuhren,  da 

Y(x)  =  y,  x  =  (|»(y).   Nun  ist: 


co*  c 


™  dx 


j*T  (x).  co.  »  k  = J\  cos  =^=dx  xJL  !S  dx -Jajjo 

Den  Grämen  c  und  o  von  x  entiprechen  Wertho  von  y,  die  nun  Hödel, 
wenn  mm  die  Gleichungen: 


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627 


auflöst,  c  aber  ist  eioe  willkürliche,  positive  Grösse;  ist  also  y  so  beschaffen, 
dass  'Lfy)  positiv  wird,  sonst  willkürlich,  to  ist  y.  im  Allgemeinen  willkürlich, 
die  obere  Granze,  und  My)  =  c.  Sind  ferner  r(1  ,  r2,  1J3, ...  die  Wurzeln  der 
Gleichung  ^  (y)  =s  o,  so  sind  diese  Grössen  die  untern  Gränzen  Ton  y.  Man  er- 
hält also  so  viele  verschiedene  Bestimmungen  der  Koeffizienten ,  als  <|>  (y)  —  0 
Wnrzeln  hat,  oder  als  t}>(y)  =  x  deren  hat,  indem  jji,  t^,.  .  nichts  anderes  sind, 
als  diese  letztern  Wurzeln,  in  denen  man  x=so  setzt.  Man  sieht  daraus,  dass 
die  Umkehrung  für  alle  Werthe  von  y,  die  aus  x=s$  (y)  folgen,  gegeben  ist* 
Man  hat  nun: 

2         .  nicd>fy) 
au  =  —       •  I    sin    j*,  ^  dy, 

1  tj  irgend  einen  der  Werthe     tj2, . .  bezeichnet,  und  wenn  nicht  i)  an  00  ist,  fn 


welchem  Falle  vielleicht  nicht  tj  sin  Sffi3i  —  0  ware>  obwohl  tj»  (y)  =  o  ist.  y,  eh 

willkürlich,  kann  man  ohnehin  endlich  annehmen.  Der  Werth  von  nö  erfordert 
eine  nene  Umgestaltung,  da  die  so  eben  gegebene  Formel  für  n=o  nicht  in- 
Usig  ist.    üebrigens  findet  man  auf  demselben  Wege: 

Unter  diesen  Voraussetzungen  folgt  also  aus  x  =  <|<(y): 

TCX  2~\ 

y  =<?(x)=ia0  +  a1cos-^j  -f  «» cos  ^     . . . 

Für  den  Fall,  dass  rj  imaginär  ist,  kann  man  das  Integral  leicht  in  & 
Theile  trennen,  von  denen  der  eine  reell,  der  andere  imaginär  ist.  Man  hat 
cimlich  allgemein:  ( 


so  eben  entwickelte  allgemeine  Umkehrunnsformel  wird  nnn  auf  die 

Falle: 

x  =  yu  ey,  x  =  yu  e-y,  w  (1  —  y)  =  x, 

x  =  «o  yrt+  a,  yu-*  +  +  y 

Fille  die  Anwendbarkeit  der  allgemeinen  Formel  erst  in 
eia  klares  Licht  setzen.  wl       •• .  v.«/. 

Da  man  ferner  n#k  •  -t.  ->•;..  .  iK- 


cp(x)=b1  f io  -  +  b2  sin  —  + 1^  sin  —  + 
':  c>x>o, 

I  *  • 


•  •  • 


40  • 


r 

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so  findet  man  auf  ähnliche  Art,  wie  so  eben,  das*  ans  x  =  +(y)  folgt: 

t — f)      ,  tat    ,      .   2iuc  , 

1 = " + m x + *  ■  m + * "  m + •  ■  • 

♦Ct)>*>«. 

worin: 

ist,  wenn  t)  nicht  =  *>  ist. 

Diese  weitere  allgemeine  Umkehrungsforniel  ist  auf  das  bekannte,  in  der 
Astronomie  gestellte  Problem  angewendet,  y  aus  der  Gleichung: 

y  —  s  sin  y  =  x 
xu  bestimmen,  worin  s  ein  positiver,  ächter  Bruch  ist. 

Die  niroliche  Metbode,  wie  sie  oben  angewendet  wurde,  dient  nicht  nur 
dazu,  y  aus  der  Gleichung  x  —  d  (  y  )  au  bestimmen,  sondern  selbst  irgend 
»ige  Funktion  von  y,  i.  B.  f(y).  Man  findet  nämlich: 

%  .  Ttx    .  2tcx  i 

f(Y)  ==  i  »o  +  »i  co» -fffi  +  "a  cog  JJJJ  +  •  •  • 


■ 

Kt)>*>o, 


Die  vorstehenden  Formeln  geben  auch  du  Mittel  an  die  Hand,  den  Werth 


S h 


fÄF(x)dx 

worin  yt,  yt  iwei  Wurzeln  der  Gleichung  dfy)  —  x 
Anwendung  hier  ist  um  so  wichtiger,  als  bisher  keine  Methode 
durch  welche  derartige  Integrale  bestimmt  werden  könnten. 
Setzt  man  nämlich  in  den  vorangehenden  Formeln: 


10  ist: 


f(y)  =      F(x)  dx,  aUo  f'(y) = F(y), 


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<Pfr)>*>o: 

J1  Va)dx  =  1  Vfti  cos  ^  +  aa  cos         + . . . 

SeUt  man  nun  nach  einander  y  =  yt,  J  =  yi  und  sind  tja,  tjt  die  ent- 
»nden  Werthe  von  yj,  d.  b.  sind  V},  ijt  die  Wurzeln  der  Gleichung  <|>(y) 
=  o,  welche  den  Wurzeln  yf,  yi  entsprechen,  die  man  aus  t|»(y)  =  x  enthält, 
oder  vielmehr  aind  >)a,  y  die  Werlhe  von  yi,  yi  für  x  =  o,  und  zieht  die  Re- 
sultate von  einander  ab,  ao  findet  man : 

oder  wenn  M  der  gröste  positive  Werth  von  <|>(y)  ist: 

J'  F(x)  dx  =  }  c0-f-<>i  coa      +  c*  coa~^-+.... 

M>  x>o. 

*  <°  FW  «Ö  *  *  =  JL£  FCO  sin  =£ZL  dy. 

Ganz  eben  so  finde  sich: 

 >..-^>r«^* 

Alz  spezielle  Beispiele  sind  gewählt  die  Formen: 


Obwohl  die  so  eben  bezeichneten  Methoden  eine  Allgemeinheit  besitzen, 
die  in  der  Regel  hinreichend  sein  wird,  haben  sie  dennoch  die  Beschränkung 
in  eich,  dass  x  bloss  positiv  sein  kann.  Allein  auch  diese  Beschränkung  lajst 
sich  heben,  wenn  man  von  der  Formel: 

F 00  =  i  8o  +  «i  cos  —  +  a2  oos  —  + . . , 

b.  sin  H  b2sin   f-.., 

1       c  c  1 

"I"  c  ^  *  ^>  ct 
Die  Behandlungs weise  ist  der  oben  von  uns,  nach  der  vorl 


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Schrift,  angedeuteten  analog  und  es  wird  dater  einer  weitern 


hier  nicht  bedürfen. 


Man  kann  endlich  die  Umkehrung  durch  ein  bestimmtes  Integral  bewerk- 
stelligen, also  einen  geschlossenen  Ausdruck  finden,  der  dasselbe  leistet,  was 
oben  durch  Reihen  beiweckt  wurde. 

Gebt  man  mm  lieh  von  den  bekannten  Formeln: 

FW  =  \  Jo    C°,X  U  dUJ  0°  F^  001  "*  * 


F(x)=-I     siuxudul  F(x)siouxdx 

c>x>o,  .!  '    ,  • 


am,  fo  findet  man: 


oder 


*eO>*>o.  /... 

In  Ähnlicher  Weise  kann  man  die  Formel: 

F(x)  =  ^0  duj^c  F(t)  cos  a  *' '  '      •  ♦ 

c>x>  —  c 

anwenden. 

Damit  ist  denn  das  Ziel  erreicht,  das  sich  die  vorliegende  kleine  Schrift 
gesteckt.  Dieselbe  ist  semit,  schon  wegen  des  iu  ihr  behandelten  Gegenstandes, 
abgesehen  von  der  klaren  und  strengen  Darstellung,  in  jeder  Beziehung  sehr  der 
Beachtung  zu  empfehlen. 


Mathematische  Abhandlungen  ton  Dr.  Oskar  Schlömitch,  Professor  der  hohem 
Mathematik  an  der  tönigl.  sächs.  technischen  Bildungsanstalt  «u  Dresden, 
Inhalt:  I.  lieber  das  Theorem  eon  Mac-Laurin.  II.  Die  Bürtnanusche 
Reihe.  IU.  lieber  approximative  Quadrahtren.  IV.  Veber  ein  DoppeUu- 
tegral  mit  we*  tcillkürlichen  Funktionen.  V.  Veber  die  Bestimmung  der 
Masse  bei  ungleichförmiger  Dichtigkeit.  Mit  einer  Figurentafel.  Dessau, 
Verlag  eon  Morits  Katn.    1850.    (105  S.  in  8.)  , 

•     •  » 

Wir  haben  schon  mehrfach  Gelegenheil  gehabt,  in  diesen  Blättern  der 
Schriften  dieses  thätigen  Mathematikers  Erwähnung  zu  thun,  und  wir  freuen 
uns,  auch  jetzt  wieder  eine  Arbeit  desselben  anzeigen  zu  können,  welche  dt* 
Beachtung  in  vollem  Maose  verdient.  Die  hier  verbandelten,  auf  dem  Titel  blatte 
ihrem  Inhalte  nach  angezeigten  Gegenstände  gehören  mit  zu  den  wichtigem 


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und  find,  indem  dieselben,  wie  nun  im  Folgenden  er- 
wird,  erscnopienn  nenanocii  wurden,  somit  in  jener  nmsicni  zu  empiernen. 
Die  erste  Abhandlung  hat  zum  Gegenstand  ihres  Vorwurfs  das  Theorem 
ton  Mac-Lanrin  gewählt.  Es  ist  eine  von  allen  Mathematikern  nun  wohl  an- 
erkannte Sache,  dass  unendliche  Reihen  nur  dann  gebraucht  werden  dürfen, 
wenn  sie  konvergent  sind.  Das  Theorem,  um  das  es  sich  handelt,  ist  nun 
eine  allgemeine  Norm,  nach  der  eine  Funktion  in  eine  nach  Potenzen  der  un- 
abhängigen Veränderlichen  fortschreitende  Reihe  entwickelt  werden  kann,  oder 
vielmehr  gibt  es  die  Summirung  solcher  unendlicher  Reihen,  natürlich  innerhalb 
der  Gr&nzen  ihrer  Konvergenz,  an.  Es  handelt  sich  vor  Allem  darum,  zu  wis- 
sen, in  wie  ferne  die  durch  das  Theorem  von  Mac-Laurin  angegebene  Reihe 
sei.   Allerdings  weiss  man,  dass 


VJ  1.2....D  -rL°J+  1  X+  1.2  X+"+1.2..(i_d) 
wo  a  zwischen  0  und  1  ist,  dass  also  jene  Reihe  konvergent  ist,  wenn: 


verschwindet  für  ein  unendlich  wachsendes  n.  Die  Entwicklung  tob 
1 .  2  . .  n 

it«)(ax)  ist  aber  im  Allgemeinen  grossen  Schwierigkeiten  unterworfen,  und  wenn 
sie  auch  ausgeführt  werden  kann,  so  werden  die  Formeln  dermassen  ausfuhr- 
lich, dass  ein  Schluss  unmöglich  ist.  Es  war  daher  natürlich,  dass  man  ein  an- 
deres Zeichen  aufsuchte,  und  Cauchy  namentlich  hat  dies  gethan.  Er  ist  aber 
dabei  in  einen  Irrthum  gerathen,  indem  er  aus  flVl  und  ihrem  ersten  Differen- 
zialquotienten  dieses  Kennzeichen  ableiten  wollte,  was  unmöglich  ist.  Um  die- 
sen Irrthum  zu  verbessern,  und  eine  einfachere  Ableitung  zu  geben ,  hat  der 
Verf.  die  vorliegende  Abhandlung  veröffentlicht. 

Nach  einer,  in  jeder  Weise  ausgezeichneten  Einleitung,  welche  die  Fest- 
stellung des  Begriffs  diskontinuirlicher  Funktionen  und  des  bestimm- 
ten Integrals  betrifft,  wobei  als  Resultat  sich  ergiebt,  dass,  wenn  f(xj  zwi- 
schen x  =  a  und  x  =  b  für  x  =  £i,  £},....  £n  Unterbrechungen  der  Kontinuität 
erleidet,  man  hat 

J\x)  =  F(b)  -  F(0  +  -*i)  -  Fft  +  «,) 


+  Ftfo-ÖD)  —  FO+en)], 
wobei  das  Zeichen  Lim.  bedeutet,  dass  die  Grösse  2,  s  bis  zu  Null  abnehmen 
sollen,  dass  ferner  a  und  b  nicht  mit  einer  der  Grössen  £  zusammenfallen,  und 
wo  F(x)  das  unbestimmte  Integral  von  f(x)  ist,  so  dass  F(x)  +  C  = 


ST 


f(xjdx,  wendet  sich  die  Abhandlung  zur  Berechnung  des  bestimmten  Integrals 
F(re«i)dt.   Referent  hätte  es  dabei  für  nicht  unpassend  erachtet,  wenn  statt 


o 

der  Bezeichnungen  £  -f-  o  gleich  £  —  8  oder  £  + 1  eingeführt  worden  wären, 
dass  ferner  der  Fall  auch,  der  Allgemeinheit  wegen,  betrachtet  worden  wäre, 


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da  a  and  b  mit  einer  der  Grössen  £  zusammenfallen,  was  eich  allerdings  un* 
ine  dem  Gejagten  ergiebi  und  dass  endlich  der  Satz  (S.  14),  dass 


f. 


oder  vielmehr: 

J],fCx)dx=LimfJ';",|Cx)^+^b+4^)<'x] 

er]  i utert  worden  wäre,  wie  dies  z.  B.  Moigno,  Integralrechnung,  siebente 
Vorlesung,  thut,  obwohl  das  Unterbleiben  der  Deutlichkeit  kaum  Eintrag  thut. 

Was  nun  das  Integral^2"  F(re  «0  dl,  worin  r  eine  positive  Konstante 

nnd  i  =  Y  —  1  und  r  so  gewählt  ist,  dass  F(re«0  nicht  diakontinuirlich  wird 
von  t=o  bis  t=2u  betrifft,  so  findet  sich: 

>2ic   „  % 

o 

o\  b.  einer  Konstanten  gleich.  Diese  Konstante  wird  durch  spezielle  Wertbe  von 

r  bestimmt  werden  können.    Ist  die  oben  genannte  Bedingung  erfüllt  von  r=o 

an,  so  genügt  die  Annnhiue  r=o  und  man  hat  C=2r.  F(o).   Ware  z.  B.  F(reu) 

so  beschaffen,  dass  jene  Bedingung  von  r  =  o  bis  r  =  «o  nur  ein  einziges  Mal 

für  r  =  p  nicht  erfüllt  wäre,  so  wurde  für  r  >.  p  also  C  =  2-  F(o)  für  r  >  p, 

C  aber  durch  eine  andere  Annahme,  etwa  r  =  oo  bestimmt  werden  müssen.  So  ist 

P2u      re'i  .      P2*     reu      .     _  . 

I   :dt  =  o,  r<p;  I     —  .  dt=2rc,  r>p, 

J  o   ret. — pexi  J  o   reh— pen  r 

wie  man  leicht  a  posteriori  nachweisen  kann. 

Setzt  man  F(i)  =  *S*1  und  sind  ffre"),  f'(re,i)  tf»0(reti)  sämmüich 

xm 

kontinnirlich  für  r«r0  und  t  von  o  bis  2t:,  so  ist: 

JV")-  rc«'0<»*=  -5*^3-.  '<ro-  (ai 

Es  ist  nun  ein  Leichtes,  das  Theorem  von  Mac-Laurin  abzuleiten.  Setzt 
man  nämlich  F(i)=  fCx)~f(a)  x,  w0  a  =  pcTi  und  ei  tretc  die  Unterbrechung 


der  Kontinuität  zuerat  für  r=r0  ein,  so  ist: 

re^pe'    J  ""*=o,  r<rtf,  *-  * 


woraus  dann  aus  dem  Frühern : 

*2u  re»' 

TfCre«iJdt  =  o,  r0>r<p, 


f. 

r 


o   re'1— pe?i 

f(re'0dt  =  2<peTi),  r0>r>p. 


o   re" — pevi 


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Karze  Anzeigen.  633 
re-1  1 

Entwickelt  man  in  der  letzten  Formel^^— jj^=  |_^e(T_,)i  in  eine 


nach  den  Potenzen  von      fortschreitende  Reihe,  was  immer  möglich  ist,  da 

nnd  wendet  das  oben  unter  (A)  angeführte  Theorem  an,  so  erhält  man: 

r  t ' 

jO*M»>f        pe-+  ^  (pe,i)s  +  ,  r0>  p  >  o. ,  • .  '. 

wenn  f(reii),  P(reli)   kontinuirlich  bleiben  von  r=o  bis  r=ro  nnd  t=»o 

bis  t=s2ic.    Man  kann  daher  auch  folgende  Regel  aufstellen: 

Man  snche  diejenigen  (reellen  oder  inimaginären)  Werthe  von  x  auf,  für 

welche  f(x),  P(x),  f"(x)          diskontinuirlich  werden  und  nenne  xo  denjenigen, 

der  den  (absolut)  kleinsten  Modulus  hat,  so  gilt  die  Gleichung: 

*  *  •       »     *  *  * 

für  alle  x,  deren  Modulus  kleiner  ist,  als  der  von  x*  Diess  ist  nun  das  Theo- 
rem von  Mac-Laurin.  Allerdings  bleibt  in  den  speziellen  Fällen  noch  zu  unter- 
suchen, ob  das  Theorem  noch  gilt,  wenn  der  Modulus  von  x  gleich  dem  von  x0. 
Darüber  hinaus  gilt  es  jedenfalls  nicht. 

Die  Bür  mann  'sehe  Reihe  ist  nun  nur  eine  Folge,  wenn  auch  bedeu- 
tende Verallgemeinerung  der  frühern.  Es  kann  nämlich  die  Aufgabe  gestellt 
sein,  f(x)  nach  den  fortschreitenden  Potenzen  einer  willkürlichen  Funktion  <p(x) 


)     •  •  •  •  • 


'CO = »o  +4"  ai  *00+  75-  °aO02 + — • 

Setzt  man  <p(x)  =  t  und  f(x)  =  F(t),  so  hätte  man: 

und  diese  Reihe  (die  Mac-Laurin'scbe)  gilt  unter  den  für  jene  aufgestellten  Be- 
dingungen.   Nun  ist: 

■©=■00.  IW-^I  n*y=™%^ 

Obige  Reihe  gilt  somit  in  so  weit,  als  der  Modulus  von  F(<px)  kleiner 
ist  als  der  Modulus  des  kleinsten  Werthes  von  t,  für  den  eine  der  Funktionen 
F(t),  F'(t)....  diskontinuirlich  wird.  Nun  ist  klar,  dass  keine  dieser  Funktio- 
nen diskontinuirlich  wird,  wenn  weder  f(x),  f'(x)....  <p(x),  <p'(x),....  im  Zähler 
diskontinuirlich  werden,  noch  der  Nenner  <p'(x)  verschwindet.  Ist  nun  ?(x)  =  o 
für  das  reelle  x=a,  so  findet  mr.n  die  Bedingungen,  wenn  man  die  (komplexen, 
d.  h.  allgemein  imaginären)  Werthe  von  x  aufsucht,  für  welche  eine  der  Funk- 
tionen <p(x),  <?'(x),...,  f(x),  P(x)...  diskontinuirlich  oder  <p'(x)  Null  wird  und 
so  dann  den  auswählt,  der  Tür  ?(x)  den  absolut  kleinsten  Modulus  gilt.  Als- 
dann gilt  die  Reihe  für  alle  Werthe  von  <p(x) ,  deren  Modulus  kleiner  als  jener 
Modulus  ist,  vorausgesetzt,  dnss  zwischen  dem  Werthe  x=a  und  dem  gefunde- 
nen kein  Modulus  eines  komplexen  Werthes  von  x  liegt,  für  den  die  Diskonti- 


r 

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634  Karze  Anzeigen. 

nuität  von  <p(x),  ?'(*)...,  f(x),  f'(x),...  eintritt  oder  c'(x)  =  o  wird.  Man  wird, 
wenn  man  diess  zusammenfaßt,  da  gerade  die  letztere  Voraussetzung  Schwie- 
rigkeiten macht,  einsehen,  dass  alle  Bedingungen  erfüllt  sind,  wenn  man,  gesetzt, 
dasj  x=£  die  Funktion  <j>'(x)  zu  Null  macht  und  x=b  der  Gleichung  mod  <p  (x)  = 
mod  <p(£)  entspricht,  x  von  a  bis  b  gehen  lasst,  ferner  festsetzt,  da.«s  <jp(x)  and 
f(xj  innerhalb  dieses  Intervalls  sich  nach  dem  Mac-Laurin'schen  Theoreme  ent- 
wickeln lassen,  und  mod  p(x)  beständig  wächst  von  o  bis  mod  c(;),  wenn  x 
von  a  bis  b  geht,  in  welchem  Falle  es  keinen  Werth  y'(x)=o  zwischen  a  und 
b  gibt.  Diess  ist  denn  auch  die  Bedingung,  welche  das  Buch  feststellt,  mit  dem 
Unterschiede,  dass  da  man  nur  reelle  x  anwendet,  auch  ^p(x)  reell  ist,  und  also 
das  Buch  die  Gleichung  <p(x)  =  mod?(£)  annimmt,  was  aber  eigentlich  ^(x)  = 
-j- mod <p (£)  heisaen  sollte,  also  auch  7  (x)  selbst  entweder  zwischen  x  =  a 
and  x=b  beständig  zu-  oder  auch  abnimmt.  Gerade  diese  letztere  Bemer- 
kung würde  in  den  Anwendungen  die  Gültigkeit  der  Formeln  erweitern,  so 
x.  B.  würde  die  Reihe  (25)  auch  von  x  =  o  bis  x  =  —  |,  letzteres  ausgeschlos- 
sen, gelten,  wobei  ja  auch— 4x  (1+x)  <  1  ist  u.  s.  f. 
Durch  eine  scharfsinnige  Entwicklung  findet  sich: 

Es  sind  sodann  nach  einander  die  Spezialisirnngen  <p  f  x)  gleich  , 

l±x 

X  (1  +X3),  -T^— ,sinx,  cosx,  arc(tg=x),  xe~»  eingeführt. 

Da  im  Frühem  vorausgesetzt  wurde,  dass  es  ein  reelles  ä  gibt,  für  das 
^p(a)  =  o,  diese  Bedingung  aber  nicht  immer  erfüllt  ist,  so  war  eine  Verallge- 
meinerung der  Formel  nothwendig,  die  dadurch  herbeigeführt  wurde,  dass  man 
<p(x)-?(a)  statt  ?(x)  schrieb. 

Es  ist  klar,  dass  Integrationen  der  Form  I  f(x)  <f»  (x)  dx  durch  die  Bür- 

mann'sche  Formel  sich  ableiten  lassen,  indem  man,  wenn  <Ji(x)=<p'(z)  ist,  f( x j  nach 
den  Potenzen  von  f(x)— <p(a)  entwickelt.  Dergleichen  ist  die  ü  m  k  e  b  r  ■  n  g  der 
Funktionen,  sowie  das  bekannte  Lagrange'sche  Theorem  nur  eine  ein- 
fache Anwendung  jenes  Satzes.   Ist  nämlich  Y=<p(x)  gegeben,  so  folgt  daraus: 



m  ~  dx^V  ~f*  A01) 

deren  Giltigkeit  leicht  bemessen  werden  kann. 

Laplace  hat  in  der  theorie  analytique  des  probabilite*  (Liv.  I.  II.  partie, 
chap.  III)  eine  Methode  gegeben,  die  numerischen  Werthc  von  Integralen  zu 
finden  der  Form: 


in  denen  f(z)  Null  ist  für  z  =  a  und  z  =  ß  und  innerhalb  dieses  Intervalls 
einziges  Maximum  oder  Minimum  erreicht.    Da  seine  Entwicklung . 


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Kurze  Anzeigen.  63$ 

»  Bestimmung  hinsichtlich  der  Konvergenz  der  Reihen,  nicht  bestimmt 
genüg  ist,  so  bat  onser  Buch  den  Gegenstand  in  der  IV.  Abhandlung  neu  auf- 
gegriffen. 

Es  habe  fl»  für  z  =  u.  ein  positives  Maximum,  für  z=u  ein  negatives 
Minimum  und  sei  stetig  von  z  =  [i  bis  z=u  so  gibt  es  einen  Werth  ß, 

zwischen  jenen  zweien,  für  den  f(ß)  =  o  ist  und  f(z)  nimmt  beständig  ab  von 
x  =  o,  wenn  bis  wo  dann  f(a)  der  grösstc,  f(ß)  der  kleinste  Werth 

Setzt  man  also . 

f(0=fC«>  fCy). 

10  i»l  Fl  vi  eine  beständig  abnehmende  Funktion,  die  etwa  durch 

F(y)  =  l-.y-by'-ey9-.... 

dargestellt  werden  kann.  Für  z=a  wäre  dann  y=o,  für  z=ß  ist  F(y)=o  und 
wenn  ij  eiae  Wurzel  dieser  Gleichung  ist,  so  ist  y=Yj  für  z=*ß.  Man  wird  na- 
türlich für  t]  die  kleinste  (positive)  Wurzel  wählen.  Wählt  man  nun  F(y)  so, 
aus  F(y)=q  folgt  y=E(q J,  d.  b.,  dass  Fl  v  J  sich  leicht  umkehren  läset,  so  ist 

Setzt  man  nun: 

-^K^?>M"C^)T+  

der  Bürmann'sche  Satz  für  y(x)=;E^.^°^X^  ^ist,  und  bemerkt,  das 

Funktion  IS'ull  ist  für  x=:o,  so  ist  in  jenem  Salz  a  =  o,  also  n0  — o  und  an  zs, 
d»'1  r         x  Y 

TLe  S1(*+x)\J  O  =  <0 


LEff(afx)V 


Setzt  man  hier  x  =  z  — a,  so  erhält  man: 
wodurch  da  gefunden  wird,  somit: 

ist.  Man  findet  leicht,  dass  diese  Gleichung  giltig  ist,  indem  die  Reihe  Geltung 
bat  von  y=o  bis  y=yj,  während  y=e(5Ö^  sich  nach  den  Potenzen 

\n<o/ 

muss  entwickeln  lassen  im  Raum  z=a  bis  z=43,  welch  letztere  Bedingung  im 
Buche  nicht  angegeben  ist. 

Als  Spezialisirung  wurden  aufgeführt  F(y)  gleich  1— y,  e->. 

Trifft  a  mit  ja  zusammen,  so  muss  man  F(y)  die  Form  1— b  yi— cy3..«.. 
geben,  da  dann  F'(o)  =  o  sein  muss,  indem  aus  f(z)  =  f(p)  F(y)  folgt  dz  = 


von  z 


*-^~!—>  WRS  für  z  =  j*,  dem  y  =  o  entspricht,  sonst  unendlich  wäre.  Alf 
f(zj 

Beiipicl  ist  F(y)  =  l— y2,  c~T*  gebraucht. 


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636 


Kurze  Anzeigen, 


Du  tu  Anfang  angegebene  Integral,  daa  Laplace  betrachtet,  zerfallt  nun 

leicht  in  zwei  andere,  welche  beide  die  Form  der  betrachteten  haben.  Denn 
ist  U  z)  Kall  für  x=a  und  x=ß,  erreicht  weiter  ein  einziges  Maximum  zwischen 
diesen  Werthen  für  x=ji,  so  ist: 


welche  letztere  die  frühere  Form  haben.  Mehrfache  Beispiele  zur  Anwendung, 
unter  andern  auch  die  Berechnung  der  Funktion  r(l-j-jx)  bilden  dann  den  Schluss 
dieser  Abhandlung. 

Hat  man  ein  bestimmtes  Integral  der  Form 


so  kann  dasselhe  auf  einfache  Integration  (Quadratur)  zurückgeführt  werden, 
indem  es  gleich 


ist,  wo  V(y)  die  Umkehrung  von  <p(y)  ist,  d.  h.  wo  aus  <?(z)=x  folgt  x=V(z). 
Diese  Integration  lässt  sich  bei  der  Bestimmung  der  Masse  eines  Körpers  leicht 
anwenden,  wenn  masT  annimmt,  der  Körper  habe  Cylinderform  oder  sei  ein  Ro- 
tationskörper und  'die  Dichtigkeit  indere  sich  nur  von  Schicht  tu  Schicht.  — 
Diese  Gegenstände,  mit  ziemlich  zahlreichen  Beispielen,  erfüUen  die  zwei  letzten 
Abhandlungen. 

Wie  wir  diess  schon  zu  Anfang  ausgesprochen,  wird  jeder  Freund  ma- 
thematisoher  Untersuchungen  die  kleine  Schrift  nur  mit  Befriedigung  aus  der 
Hand  legen  und  wenn  Ref.  auch  in  der  zweiten  Abhandlung  grossere  Bestimmt- 
heit des  Ausdrucks  und  etwa  schärfere  Erörterung  gewünscht  hatte,  so  ist  doch 
im  Allgemeinen  die  Entwicklung  klar  und  verständlich,  wenn  freilich  der  Ge- 
genstand an  und  für  sich  keineswegs  zu  den  leichtesten  gehört. 


P.  A.  Hansen,  Mitglied  der  hönigl.  sächsischen  Gesellschaft  der  Wissenschaften. 

I.  Allgemeine  Auflösung  eines  beliebigen  Systems  von  linearen  Gleichungen. 

II.  Veber  die  Entwicklung  der  Grösse  (l^2aH-|-a2)— |  nach  den  Po- 
tenten von  a.  Ans  den  Abhandlungen  der  mathematisch-physischen  Klasse  der 
konigl.  sächs.  Gesellschaft  der  Wissenschaften  sm  Leipzig.  Leipzig.  Weid- 
mann'sehe  Buchhandlung.    1849.    (130  S.  in  kl.  4.) 

Die  vorliegende  Schrift  ist,  wie  ihr  Titel  besagt,  ein  besonderer  Abdruck 
aus  den  Abhandlungen  der  königl.  sächs.  Gesellschaft  der  Wissenschaften  und 
behandelt  zwei  Probleme,  von  denen  namentlich  das  erste  in  ziemlicher  Voll- 
ständigkeit ausgeführt  ist  und  die  Aufmerksamkeit,  zumal  der  praktischen  Rech- 
ner, in  hohem  Masse  verdient.  Die  Auflösung  eines  Systems  von  n  Gleichun- 
gen des  ersten  Grades  mit  n  Unbekannten  ist  hier  ganz  in  derselben  Wretse 
durchgerührt,  wie  Gauss  diess  für  die  speziellem  Systeme  solcher  Gleichungen 
gethan,  die  bei  der  Anwendung  der  Methode  der  kleinsten  Quadrate  auftreten. 
(Man  sehe  z.  B.  die  Abhandlung  von  Encke  über  die  Methode  der  kleinsten 


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Kurze  Anzeigen. 


C37 


Quadrate  in  dem  Berliner  astronomischen  Jahrbuch  1834 — 1836.)  Die  Bezeich- 
nung* weise  der  Koeffizienten  ist  gtinz  annlog  der  ton  Gauss  gewählten,  nur 
dass  hier  die  Gleichungen  in  ihrer  allgemeinsten  Form  auftreten.  Der  Verfasser 
gibt  zwei  Methoden  der  Auflösung,  von  denen  namentlich  die  zweite,  wenn  es 
lieh  bloss  nm  die  Bestimmung  der  Unbekannten  handelt,  sich  durch  grössere 
Kurze  und  Einfachheit  empfiehlt.  Der  Grundgedanke  der  ersten  Methode  ist 
folgender  : 

Seien  (aa)z  +  (ab)z' -f- (ac)x" +  + q = 0 

(ba)x  +  (bb)z'-r-  (bc)x"  +  + q'=0 

(ca)x  +  (cb)x'  +  (cc)x"  +  +  q"=0 

die  Gleichungen,  aus  denen  die  Unbekannten  x,  \',  x",  zu  bestimmen  sind. 

Man  maltiplizire  die  erste  mit  a  und  addire  sie  zur  zweiten,  setze  sodann: 

(•■)a+(ba)  =  o         (ac)a-j-(bc)  =  (bc,l), 
(ab)a  +  (bb)  =  (bb,i),  (ad)a+(bd)  =  (bd,l)  u.a.w. 
so  erhält  man  die  Gleichung: 

(bb,l)x'+(bc,l)x"+  +  Q'  =  0, 

die  eine  Unbekannte  weniger  enthält. 

Eben  so  multiplizire  man  die  erste  Gleichung  mit  a',  die  zweite  mit  tV, 
addire  sodann  beide  zur  dritten,  und  setze: 


so  erhält  . 

(cc,2)x"+<cd,2)x"-|-  +Q"=0. 

So  fährt  man  fort  und  erhält  nach  und  nach  n  Gleichungen ,  jede  eine 
Unbekannte  weniger  enthaltend,  als  die  vorige,  die  man  darstellen  kann  unter 
den  Formen: 

(aa)x+(ab)x'-Kac)x"+  +  q=0 

(bb,l)x'+(bc,tK+  +Q'=0 

(cc,2)x"+  +Q"=0 

I 

Aua  diesen  folgt: 

Q'  Q" 
X  -(cc,2)+ 

n.  s.  w.,  worin  A,  A'...,  B'...  unbestimmte  Zahlen  sind,  die  man  (rekurrirend) 
bestimmt,  wenn  man  diese  Werthe  in  vorstehende  Gleichungen  setzt  Zur  völ- 
ligen Auflösung  ermangelt  noch  die  Bestimmung  der  Grössen  ot,  et',  3\  et",  ß", 

-{"          Diese  sind,  wie  man  sieht,  durch  Systeme  von  Gleichungen  gegeben, 

von  denen  das  höchste  n  —  1  Gleichungen  (Unbekannte)  enthält.  Zugleich  ha- 
ben diese  Gleichungen  die  Eigenschaft,  dass  ihre  Koeffizienten,  in  Bezug  auf  die 
urtprünglichen  Gleichungen  dergestalt  geordnet  sind,  dass  die  horizontal  stehen- 


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638  Kurze  Anzeigen. 

den  Koeffizienten  der  letztern  in  den  ersten  in  vertikaler  Reihe  stehen  und  um- 
gekehrt.  Die  Auflösung  dieser  Systeme  kömmt  auf  das  Vorangegangene  zurück, 
und  zugleich  macht  die  eben  erwähnte  Anordnung  die  Auflösung  leichter.  In  dieser 
Weise  bedarf  es  der  Auflösung  eines  Systems  zweier  Gleichungen  mit  zwei  Unbe- 
kannten, dreier  mit  drei  Unbekannten,. ..  n-1  Gleichungen  mit  n-1  Unbekaanten, 
um  zu  der  eigentlichen  Lösung  zu  gelangen.  Die  Ausführung,  wegen  der  Sy- 
metrie  der  Resultate,  ist  nicht  schwer  und  die  vorliegende  Schrift  gibt  ($.  7) 
das  allgemeine  Schema  dieser  Ausfuhrung.  Wenn  Referent  hiebet  Etwas  zu 
erinnern  hat,  so  ist  es,  dass  die  Auflösung  insofern  nicht  allgemein  ist,  als 
die  allgemeine  Gültigkeit  der  Resultate  nicht  nachgewiesen  ist.  Bei  einem  Theile 
der  Resultate  lässt  sich  diese  allgemeine  Gültigkeit  leichter  übersehen,  schwerer 
aber  bei  andern,  z.  B.  den  Resultaten  des  $.  5  u.  s.  w.  Uebcrhaupt  dient  diese 
Nachweisung  der  allgemeinen  Gültigkeit  ge Wissermassen  zur  Beruhigung,  und 
legt  das  waltende  Gesetz  ganz  offen  vor  Augen.  So  sollte  also  z.  B.  der  Werth 
von  AO»)...,  AiC»)...,  a(™\...,  otjO»)...,  gebildet  sein,  ebenso  allgemein  be  Wie- 
len werden,  dass  A1(m)  =  a(ni\  AC"0  =  O|0»)  u.  s.  w. 

Allerdings  hätte  dieser  Nachweis  den  Umfang  der  Abhandlung  bedeutend 
vermehrt,  doch  wäre  er  wohl  nicht  am  unrechten  Platze  gewesen,  zumal  in 
einer  selbstständigen  Schrift,  als  welche  doch  der  vorliegende  Abdruck  anzu- 
sehen ist.  Eine  derartige  Schrift,  namentlich  über  einen  solchen  Gegenstand, 
sollte  auch  Dem  genügen,  der  das  darin  Gesagte  zum  ersten  Male  liest,  und  «ich 
also  noch  nicht  mit  Aehnlichem  beschäftigt  hat.  Dazu  dürfte  aber  eben  der  ver- 
langte Nachweis  erforderlich  sein. 

Will  man  die  vorgelegten  Gleichungen  unbestimmt  auflösen,  d.  h.  die 
allgemeinen  Werthe  von  q,  q1, ...  einführen,  so  gibt  $.  8  dazu  Anleitung-,  indem 
diese  Auflösung  unmittelbar  aus  der  frühern  geschlossen  wird. 

zweite  Methode  ist,  wie  bereits  oben  gesagt,  für  die  praktische  Be- 
sinfacher.  Man  muhiplizirt  die  erste  Gleichung  mit  0  und  addirt  sie 
i;  die  erste  mit  y  und  addirt  sie  zur  dritten  u.  s.  f.  und  setzt: 
(aa)  ß  +  (ba)  =  o,  (aa)  y  4.  (ca)  ass  o  u.  s.  w., 
so  erhalt  man  n— 1  Gleichungen  mit  n— 1  Unbekannten.  Ganz  dasselbe  Verfah- 
ren wendet  man  nun  auf  diese  an,  und  erhalt  so  n  —  2  Gleichungen  mit  n— 2 
Unbekannten  u.  •.  w.    Dann  folgt: 

OM)    +  +0M)' 

-Cec,2)X  +--+(^2? 

i     «  .    •  ■  i  ■  }  —  ..  . 

woraus  dann  rückwärts  die  Unbekannten  folgen.  Auch  die  oben  angedeutete 
unbestimmte  Lösung  ergibt  sich  hieraus  (S.  11).  Auch  hier  ermangelt  der  all- 
gemeine Nachweis,  zumal  in  dem  au  Ende  des  §.  10  Gesagten,  sowie  auf  S.  103. 
Die  von  Gauss  bebandelten  Gleichungen,  die  bei  den  Losungen  nach  der 
der  kleinsten  Quadrate  auftreten,  sind  ein  spendier  Fall  der  hier  be- 


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Kurze  Anzeigen.  639 

bandelten,  der  eich  daraus  ergibt,  wenn  man  allgemein  setzt:  (ab)  =  (ba),  (cd) 
=(dc)  u.  f.  w. 

Aach  der  Fall  wird  untersucht  (§.12—14),  wenn  eine  oder  mehrere  der 
gegebenen  Gleichungen  eine  Folge  der  übrigen  sind,  oder  ihnen  widersprechen 
nnd  die  Kennzeichen  angegeben,  wie  man  diess  bestimmen  kann.  Wenn  näm- 
lich in  einem  der  Systeme  von  Zahlen: 

(bb,l),  (bc,l),  (bd,l)  

(cc,2),  (cd,2),  

C*M).  

alle  vorhandenen  Zahlen  Null  werden,  so  ist  eine  der  Gleichungen  eine  Folge 
der  andern  oder  widerspricht  ihnen  und  die  Auflösung  der  Gleichungen  ist  un- 
möglich. Auch  die  alsdann  stattfindende  Bedingungsgleichung  lehrt  die  Abhand- 
lung finden. 

Wenn  m  einem  der  eben  genannten  Systeme  nicht  alle  Zahlen  Null 
werden,  so  ist  man  nicht  sicher,  ob  nicht  eine  Gleichung  eine  Folge  der  übri- 
gen sei.  Wie  man  sich  dabei  zu  benehmen  hat,  lehrt  §.  14.  Einige  Beispiele 
über  die  snlctzt  angeführten  Untersuchungen  gibt  §.  15,  während  §.  16  die  voll- 
ständige Auflösung  von  5  Gleichungen  mit  5  Unbekannten  nach  jeder  der  zwei 
Methoden  gibt,  so  dass  dadurch  das  vom  Verfasser  gebrauchte  Rechnungsschema 
vollständig  klar  wird. 

Aus  den  vorstehenden  Andeutungen  wird  erhellen,  dass  die  vorliegende 
Abhandlung,  wie  Eingangs  gesagt  wurde,  zumal  für  den  praktischen  Rechner, 
grosser  Wichtigkeit  ist. 

Die  aweite  Abhandlung  (S.  123  —  130)  gibt  einen  neuen  Beweiss  dafür, 
wenn 

(i-2aH+asr)--*  =  l+  0,00 +«*»(£)+•»-•  ' 

wird,  wo 

H  =  co»<i>ooii}<-f-iiiiu>sio<|i«>»(e— 6')  . 
U,  ma  „  findet  ^  ^  _  Un  ^  Ub  jyj 

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n.  s.  w.,  wo  x=cosu»,  y  =  cos<|»  ist.  Referent  enthält  sich  hier  weiter  ins 
Einzelne  einzugehen,  da  einerseits  der  Satz  selbst  nicht  neu  ist,  anderseits  die 
vorliegende  Abhandlung  auf  andere  Schriften  mehrfach  Bezug  nimmt,  somit  nicht 
als  völlig  selbständig  angesehen  werden  kann.  Jacobis  Beweis  findet  sich  f.  B.  in 
Liouvilles  Journal  de  Mathematiques  pures  et  appliquees,  Juin  1845. 

Dr.  Jf.  Diesiger. 


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640 


Kurze  Anzeigen. 


Chr.  Ferd.  Schuliii  Laudatio.    Scripsit  E.  F.  Wuettemann.  GvÜuxe, 
in  commissis  Car.  Glaeseri  1851.  32  S.  gr.  8. 

Der  Mann,  dem  hier  ein  eben  so  ehrenvolles  als  würdiges  Denkmal  ge- 
letzt wird,  ist  nicht  bloss  in  seinen  nächsten  Kreisen,  sondern  auch  durch  seine 
gelehrten  Leistungen  in  ganz  Deutschland  bekannt  geworden;  fast  ein  halbe« 
Jahrhundert  hat  er  segensreich  an  der  Anstalt  gewirkt,  die  ihm  jetzt  durch  einen 
der  Ihrigen  ein  Wort  des  Dankes  und  der  gerechten  Anerkennung  zuruft,  das 
auch  die  ausserhalb  des  Kreises,  welchem  der  Hingeschiedene  angehörte,  Ste- 
henden nicht  minder  ergreifen  wird,  als  diejenigen,  welche  in  diesen  Worten 
den  innersten  Autdruck  der  Gefühle  und  der  The  i  Ina  Line  anerkennen,  welche 
der  Hingeschiedene  in  seinen  nächften  Umgebungen,  bei  Freunden,  Collegen 
und  Schülern  gefunden  hat.  Der  Grund  davon  liegt,  abgesehen  von  den  wirk- 
lichen Verdiensten  des  hier  geschilderten  Mannes  während  einer  acht  und  vier- 
zigjährigen, mit  gelehrten  Leistungen  jeder  Art  verbundenen,  amtlichen  Thätig- 
keit, insbesondere  in  der  herrlichen  Darstellung,  weiche  in  dieser  Laudatio  uns 
ein  wahres  Meisterstück  lateinischer  Rede  erkennen  lässt  und  damit  zugleich  den 
Beweis  liefert,  dass  es  den  humanistischen  Studien  in  Deutschland  noch  keines- 
wegs an  solchen  Vertretern  fehlt,  die  den  Ruhm  der  Väter  zu  erhalten  und  zu 
bewahren  wissen.  Es  wird  uns  in  der  That  ein  äusserst  anziehendes  Bild  des 
Verstorbenen  hier  vorgeführt:  ein  Bild  um  so  anziehender,  als  es  nicht  zu  sehr 
in  Specialitäten,  die  für  weitere  Kreise  nicht  ein  gleiches  Interesse  haben  kön- 
nen, sich  einlässt,  wohl  aber  uns  die  Thätigkeit  des  Mannes  in  ihren  verschie- 
denen Stufen  und  nach  ihren  verschiedenen  Richtungen  erkennen  lässt,  und 
dann  auch  den  ganzen  Charakter  und  die  liebenswürdige  Persönlichkeit  in  allge- 
meinen Umrissen  uns  schildert,  die  unsere  ungetheilte  Aufmerksamkeit  nach  Form 
wie  nach  Inhalt  in  Anspruch  nehmen.  Christian  Ferdinand  Schulze  war 
zu  Leipzig  am  17.  Januar  des  Jahres  1774  geboren  worden;  er  hatte  auf  der 
dortigen  Universität  im  Jahre  1792  seine  Studien  begonnen  und  am  10.  Januar 
1795  die  Doktorwürde  daselbst  erhalten;  schon  im  Jahr  1800  am  25.  Marz  er- 
folgte der  Eintritt  in  ein  Lehramt  an' dem  Gymnasium  zu  Gotha,  dem  er  auch, 
ungeachtet  mehrfacher  Berufungen  nach  andern  Orten,  seine  Kräfte  wahrend  ei- 
ner acht  und  vierzigjährigen  Thätigkeit  gewidmet  hat.  Sein  Tod  erfolgte 
am  2.  December  des  Jahres  1850. 

Wir  unterlassen  es,  Einzelnes  aus  der  Schilderung  seiner  Wirksamkeit, 
wie  »einer  Persönlichkeit  anzuführen,  weil  in  der  That  die  ganze  Schilderung 
gelesen  werden  muss  und  auch,  schon  um  der  herrlichen  Sprache  willen,  gern 
gelesen  werden  wird.  Eine  schätzbare  Zugabe  bildet  das  Verzeichniss  aller  der 
einzelnen,  von  Schulze  herausgegebenen,  kleineren  wie  grösseren  Schriften. 

.  •  • 


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Hr.  41.  HEIDELBERGER  1851. 

JAHRBÜCHER  OER  LITERATUR 


Aus  meinem  Leben.  Friedrich  Karl  Ferdinand  Freiherr  ton  Müffling, 
sonst  Weiss  genannt.  Zwei  Theüe  in  einem  Bande.  Berlin  bei 
Mittler.    1851    X  Vorwort.    S.  403.  8. 

Ein  als  Krieger  und  Militärverweser  ausgezeichneter  und  bekannter 
General  Preussens  gibt  in  diesem  hinterlassenen,  durch  den  Sohn  ver- 
öffentlichten Werke  beachtenswerte ,  theilweise  wichtige  Beiträge  zur 
Kriegs-  und  Slaatsgeschichte  der  entscheidenden  Jahre  1805 — 
1815.  Ein  Anhang  greift  noch  Uber  den  Zeitpunkt  hinaus  und  behandelt 
den  Conflict  zwischen  Russland  und  der  Pforte,  welchen  der  Friede 
von  Adrianopel  (1829)  beendigle.  Der  Verf.  zeigt  sich  aberall  als 
ruhiger,  scharfsichtiger  und  unparteiischer  Beobachter,  welcher  im  vorge- 
rückten , Alter  von  70  Jahren  die  Denkwürdigkeiten  niederschrieb, 
dnmit  sie  ohne  Hass  und  Vorliebe  Persönlichkeiten,  Verhältnisse  und  ein- 
zelne Begebenheiten  durch  das  Zeugniss  des  befähigten  Zeitgenossen 
nnd  stellenweise  Mithandelnden  aufklärten.  Die  strengste  Wahrheits- 
liebe, welche  neben  einer  gewissen,  hier  und  da  durchblickenden  Zu- 
nnd  Abneigung  recht  gut  bestehen  kann,  bleibt  dem  Genossen  so  aus- 
serordentlicher und  tief  eingreifender  Ereignisse  das  oberste  Gesetz;  der 
eigene,  wie  es  scheint,  oft  mühsame  und  drangsalsvolle  Entwicklungsgang 
ist  dabei  ausgeschlossen;  „denn  so  wenig  das  Memoire41,  heisst  es  S.  4, 
„ Vollständigkeit  in  der  Breite  geben  soll,  eben  so  wenig  soll  es  nach 
einer  solchen  Vollständigkeit  in  subjektiver  Lunge  streben,  und  Jemand, 
der  einige  interessante  Momente  zu  erzählen  vermag,  darf  nicht  in  dem 
Wahn  stehen,  er  sei  aus  diesem  Grunde  berufen,  sein  ganzes  Leben  vor 
den  Augen  seiner  Leser  abzuwickeln."  —  Gemäss  diesem  Grundsatz,  des- 
sen buchstäbliche  Anwendung  man  bedauern  muss,  werden  wir  daher  so- 
gleich ohne  Umschweife  in  die  Wechsel  des  kriegerischen  Lebens  einge- 
führt, für  welches  sich  Müffling  durch  Theorie  und  Praxis  der  dem 
Generalstabe  angehörigen  Militürdisciplinen,  namentlich  unter  Scharn- 
horst's  Leitung,  sorgfältig  vorbereitet  halle.  Dessbalb  kann  er  auch 
die  vorzüglichsten  Persönlichkeiten  des  Hauptquartiers  in  den  Feldzügen 
1805  und  1806  mit  Erfolg  schildern,  die  guten  und  schlimmen  Seiten 
ohne  Befangenheit  hervorheben.  Diess  geschieht  in  Betreff  der  Obristen 
Pfull,  Massenbacb,  Scharnhorst,  welcher  bei  der  Beurtheilung 
der  Menschen  immer  mehr  das  Können  als  das  Wissen  im  Auge  hatte 
XUV.  Jahrg.  5.  Doppelheft.  41 


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642  Bfülffiog:   Am  meinen  Leb«. 

($L  8),  des  tapteu,  ruhmsüchtigen,  am  Podagra  leidenden  Fürsten  von 
II  oh  od  lobe,  des  bei  72  Jahren  noch  körperlich  und  geistig  rüstigen, 
aber  mißtrauisch  und  übermässig  vorsichtig  gewordenen  Herzogs  von 
Braunschweig,  welcher  das  Commando  angenommen  hatte  (1806}, 
um  dem  Kriege  auszuweichen  (S.  15)  und  daher  Widersprüche, 
Fehler  Uber  Fehler  troU  seiner  sonstigen  Tauglichkeit  anhäufen  musste. 
„Mir  war,  wird  beigefügt,  das  herizerreissende  einseitige  Wiedersehen  des 
Herzogs  auf  seinem  Bett  in  Braunschweig  mit  der  blutigen  Binde  Uber 
den  leeren  Augenhöhlen  und  der  eben  so  traurige  Anblick  seiner  Leiche 
an  seinem  Todestage  in  Oltensee  vorbehalten.  Mit  tiefem  Schmerze  starrte 
ich  auf  diese  Ueberreste  eines  Fürsten,  der  seit  dem  7-jährigen  Kriego 
eine  so  bedeutende  Bolle  in  der  Weltgeschichte  gespielt,  der  viele  grosse 
und  vortreffliche  Eigenschaften  hatte  und  ein  besseres  Loos  verdiente" 
(S.  20).  Nach  dem  Tilsiter  Frieden  vorläufig  als  bekannter  Feind 
Napoleons  beurlaubt,  lebte  der  Verfasser  etliche  Jahre  lang  unter  dem 
Titel  eines  Vice- Präsidenten  zu  Weimar  im  eugern  Kreis  des  edlen  und 
wahrhaft  patriotischen  Herzogs  Karl  August,  seines  ehemaligen  Waf- 
fengeführten. Weimar  sollte  wie  früher  für  Kunst  und  Wissen- 
schaft, so  jetzt  für  die  tentsche  Freiheit  der  Centraipunkt  wer- 
den, natürlich  nach  dem  Mass  der  Verhältnisse  und  ohue  die  Aufmerk- 
samkeit des  Machthabers  zu  erwecken.  Die  vielen  literarischen  Corre- 
spondenzen,  Berichte  der  herzoglichen  Botschafter  und  Agenten,  dienten 
dafür  und  erleichterten  das  Nachricbtenfacb,  Fremde  und  Gastfreunde  ga- 
ben Anlass  zur  Verbreitung  von*  Ansichten,  welche  mit  dem  Zweck  in 
naher  Verbindung  standen  (S.  22).  Die  äusserlich  leichte  und  joviale 
Weise  des  Herzogs  entfernte  dabei  jeden  Verdacht;  die  Franzosen  hiel- 
ten ihn  für  unschädlich.  Daher  nehmen  denn  auch  Napoleon  und  seine 
Grossen  bei  Gelegenheit  des  Erfurter  Congresses  (1808)  keinen  An- 
stand, unerhörte  Beweise  ihres  Uebermuthes  zu  geben*,  so  musste  z.  B. 
Kaiser  Alexander  persönlich  der  feierlichen  Belohnung  beiwohuen,  wel- 
che der  neue  Freund  und  Bundesgenosse  denjenigen  Soldaten  durch  Wrort 
und  Ehrenkreuz  crtheiltc,  die  sich  unlängst  in  dem  russischen  Kriege 
ausgezeichnet  hallen. ■■  „  Die  Leute  erzählten  nun",  heisst  es,  „ihr  Be- 
nehmen wahrend  der  Schlacht  (bei  Friedland).  Der  eine  hatte  mit  ei- 
gener Hand  so  viel  Bussen  gclödlet,  so  viel  zu  Gefangenen  gemacht, 
der  andere  hatte  eine  Fahne,  der  dritte  hatte  Kanonen  erobert,  ein  vier- 
ter hatte  ein  russisches  Bataillon  ins  Wasser  gejagt,  wo  es  ertrank.  — ■ 
Alle  Augen  richteten  sich  unwillkürlich  auf  den  Kaiser  Alexander, 
dar  in  der  ruhigsten  Haltung  neben  Napoleon  stand,  bis  der  letzte  der 


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MufTlüv»:    Aus  meinem  Leben.  ß43 

zu  Belohnenden  seine  Heldenthaten  in  ein  glänzendes  Licht  gestellt  hatte. 
Der  Grossfttrst  Constantin  hatte  sich  aus  dem  Kreise  entfernt  und  be- 
richtigte eine  ourgefahrene  Batterie«  (S.  24).    Gleiche  Verhöhnung  des 
Auslandes  zeigte  sich  in  der  Tafel eti kette,  welche  i.  B.  bei  einem 
in  Weimar  gegebenen  Gastmahle  die  Herzogin  von  Würtemberg  als  nicht 
ebenbürtig  ausschioss.    Von  den  überaus  gefälligen  und  duldsamen  Teut- 
leben ur( heilte  der  soldatische  Emporkömmling  ziemlich  offenherzig:  „Sie 
iiad  Schlafmützen  und  zufrieden,  wenn  sie  ihre  Kohl- 
erndte  im  Keller  haben.*  -- Dabei  wird  nun  ein  bisher  unbekann- 
tes, dem  gestrengen  Kritiker  fast  gefährlich  gewordenes  Unternehmen  er- 
zählt. Zwei  gutberittene,  in  Hantel  gehüllte  Preussen  wollten  auf  einer 
Jagd  bei  Weimar  am  Webicht  den  Kaiser  erschlossen,  standen  aber  von 
dem  Gedanken  ab,  als  jener  in  einem  offenen  Wagen  anlangte  und  den 
Prinzen  WUbelm  von  Preussen  zur  Seite  hatte.    Dieser  Anblick  erschüt- 
terte die  Versch wornen;  sie  fürchteten,  eine  oder  die  andere  der  den 
Musquetous  angehörten  Kugeln  möchte  den  Bruder  ihres  Königs  treffen; 
der  Arm  versagte  den  Dienst  (S.  27).    Bin  munteres  Gegenstück  bilden 
die  kaiserlichen,  den  Gästen  zn  Ehren  veranstalteten  Jagden.    „Der  Prin» 
von  Nenfchatel",  heiast  es  S.  27,  „als  graod  veneur  hatte  mich  zuvor 
Uber  die  Art  des  Treibens  sehr  genau  befragt  und  darauf  bestanden,  dass 
für  die  Schützen  beim  Feldtreiben  tiefe  Löcher  eingegraben  würden.  Dies 
geschah  und  bei  der  Jagd  erwies  sich  der  gute  Grund  dazu.  Napoleon 
und  der  Kaiser  Alexander  standen  neben  einander,  die  französischen  Mar- 
schälle rechts  und  linka.    Als  der  erste  Hase  ankam,  wurden  stimmtliche 
Marschälle  in  ihren  tiefern  Löchern  unsichtbar  und  Napoleon  schoss  rück- 
sichtslos auf  die  Stützen  seines  Reichs,  auf  die  Hasen  und  Treiber.  Als 
nach  der  Jagd  die  Gewehre  eingepackt  wurden,  und  ick  dem  Prinee  de 
Ncufchatel  auf  seine  Frage  erwiedern  konnte,  dass  wir  keine  Verwunde- 
ten hätten,  rief  er:  „Dien  mercil"  —  Den  traurigen  Stand  der  teutseben 
Angelegenheiten,  welche  bald  nach  dem  unglücklieben  Kriege  Oesterreichs 
(1809),  sogar  in  Weimar,  der  guten  Stadt,  eine  völlig  organisirte  Es- 
pionage  vergönnten,  schildert  Herr  von  Müffling  also:  „Elende  Zeit! 
Einer  fürchtete  den  Andern,  alles  Vertrauen  war  völlig  verloren!  Den  Gut- 
gesinnten, aber  Schwachen,  schwebte  der  blutige  Palm  vor,  ond  sie  ver- 
krochen sich,  zu  allem  Ja  sagend  in  ihre  Häuser.    Von  den  Starken  und 
Unbeugsamen  ging  der  grössere  Theil  nach  Spanien  oder  Rnssland,  um 
den  Krieg  gegen  den  Unterdrücker  deutscher  Freiheit  fortzusetzen«  (S.  30). 
Mit  dem  Beginn  des  von  Spanien  und  Russland  auch  auf  einen  grossen 
Theil  Teutschlands  Übergegangenen  Befreiungskampfes  wider  Napoleon  und 

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644 


Müffling:    Aus  meinem  Leben. 


die  Lehenträger  desselben  werden  die  Memoiren  genauer  und  vollständiger ; 
fast  nur  auf  die  Militärereignisse  gerichtet,  denen  der  Verfasser  als  Quar- 
tiermeister des  schlesischen  Meeres  nach  dem  Waffenstillstand  ganz  nahe 
stand,  geben  sie  eine  sorgfältige  Schilderang  der  vorzüglichsten  Schlach- 
ten und  strategischen  Bewegungen,  bieten  manches  Neue,  manche  Berich- 
tigung ,  wie  sie  von  einem  so  kundigen  Fachmanne  allein  ausgeben  und 
selbst  den  sonst  vortrefflichen  Cleusewitz  hier  oder  dort  eines  Bes- 
sern belehren,  uud  verfolgen  dergestalt  kritisch-militärisch  den  Faden  der 
oft  sehr  wirren  Begebenheiten  bis  zur  zweiten  Besetzung  der  französi- 
schen Hauptstadt.    Ueber  die  Schlachten  bei  Bautzen,  od  der  Hatzbach, 
Leipiig,  die  Gefechte  bei  Yauchamp  und  Etoges  (Februar  1814) ,  den 
Hauptkampf  des  zweiten  Feldzuges  bei  Waterloo  wird  der  Leser  auf 
eine  eben  so  anschauliche  all  streng  wissenschaftliche  Weise  belehrt  und 
dabei  in  Kenntniss  gleichlaufender  Diplomatik,  bisweilen   auch  wirkli- 
cher Hanke-  oder  Intriguenkunst  gesetzt.  —  Die  rücksichtsloseste  Wahr- 
heitsliebe ,   auf  Kenntniss  der  Sachen ,   Personen  und  Verhältnisse  ge- 
stutzt, Feinden  und  Freunden  gerecht,  leitet  Uberall,  wie  er  es  selber 
gesteht,  den  Verfasser,  deckt  manchen  bisher  gar  nicht,  oder  nur  halb 
bekannten  Hebel  und  entscheidenden  Umstand  auf,  ja,  zerstört  bisweilen 
einen  gewissen,  romantischen  Nimbus,  welcher  nur  zu  oft  hochherzige  und 
beldenmüthige  Thaten  bei  stark  bewegten,  erschütterten  Zeitgenossen  ohne 
den  eigentlichen  Willen  der  Urheber  umzieht  und  gleichsam  verklärt.  So 
wird  z.  B.  eine  Hauptursache  des  Verlustes  der  Bauzener  Schlacht 
(21.  Mai)  darin  nachgewiesen,  dass  theils  der  Generalissimus,  Graf  Witt- 
genstein, dem  Kaiser  Alexander  die  Stärke  B a r k  1  a y 's  auf  dem  rech- 
ten Flügel  unwahr  auf  15,000  Mann,  statt  4,000  angab,  theils  Blücher 
und  Gneisenau  die  Kreckwitzer  Höhen,  welche  man  vorweg  die  Tbermo- 
pylen  nannte,  ans  übertriebener  Hartnäckigkeit  zu  lange  festhielten  und 
endlich  doch  räumten.    Eine  Viertelstunde  weitern  Zauderns  hätte  Um- 
zingelung und  Verderben  herbeigeführt.   ..Gneisenau* s  Benebmeott,  setzt  der 
Verfasser  hinzu,  „ verdient  demnach  das  höchste  Lob.    Er  war  sich  be- 
wusst,  dass  er  eine  Uebereilung  begangen  hatte,  die  er  nicht  anders  gut 
machen  konnte,  als  durch  eine  ihn  compromittirende  Inconsequenz.  Er 
brachte  seiner  Eitelkeit  (?)  willig  diess  Opferu  (S.  43).  Wittgen- 
stein verlor  übrigens  in  Folge  der  aus  Fahrlässigkeit  gesprochenen  Un- 
wahrheit bald  darauf  den  Oberbefehl,  welcher  auf  Barklay  de  Tolly 
überging.  Auf  eine  ähnliche  Weise  wird  der  glänzende  Katzbachsieg 
durch  eine  nüchterne,  unparteiische  Kritik  nicht  etwa  verkleinert,  aber 
dem  streng  wissenschaftlichen  Mass  zurückgegeben.    Der  Untergang  des 


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Muffling:   Ans  meinem  Loben. 


französischen  Heeres  erfolgte  nämlich,  wie  der  Verfasser  weitläufig  be- 
weist (S.  73),  hauptsächlich  desshalb,  weil  sich  Maodonald  während 
der  Nacht  übereilt  zurückzog,  erschöpft  bei  Goldbürg  ankam  und  hier 
desshalb  am  27.  Aug.  Morgens  dem  kräftigen  Angriff  des  Generals  Lan- 
geron erlag.  Der  angebliche  Ueberfall  auf  das  Schloss  Brienne  (29.  Jan. 
1814)  während  des  hier  gelieferten  Treffens  wird  also  geschildert:  „Vom 
feindlichen  rechten  Flügel  war  ein  Bataillon  bis  in  die  Weinberge  und 
einzelne  Tirailleure  davon  auf  das  Scbloss  Brienne  gekommen,  wo  sich 
der  Feldmarschall,  von  seiner  Stabswache  gedeckt,  befand.  Diese  Tirail- 
leure erkannten  beim  Schein  der  brennenden  Stadt  auf  dem  Schlosshofe 
Handpferde,  auf  welche  sie  schössen.  Der  Feldmarschall  verliess  hierauf 
mit  seinem  Gefolge  und  der  Stahswache  das  Schloss,  und  ritt  über  das 
Feld  zum  Sackeu'schen  Corps,  um  den  Weg  durch  die  breunende  Strasse 
nicht  zu  verstopfen.  —  Das  war  das  Ereigniss,  welches  im  grossen  Haupt- 
quartier (und,  kann  mau  beifügen,  in  allen  spätem  Darstellungen)  als  ein 
Ueberfall  bezeichnet  wurde.«  —  In  dieser  nüchternen,  kritischen  Weise 
beleuchtet  der  kundige  Augenzeuge  die  Feldzüge  von  1813  bis  1815; 
überall  wird  man  reichhaltigen,  oft  berichtigten  Stoff  finden  und  mehr- 
mals wirklich  neue  Beiträge  und  Aufschlüsse.  Diess  gilt  namentlich  auch 
von  den  oft  missverstandenen,  romantisch  ausgeschmückten  Gefechten  bei 
Vauchamp,  Champeaubert  und  Etoges.  Der  Verfasser  weist  mit  rücksichts- 
loser Wahrheitsliebe  die  begangenen  Fehlgriffe  nach,  entwickelt  dann  die 
oft  nur  durch  glücklichen  Zufall  gewonnene  Rettung  und  bezeichnet 
am  Schluss  des  genauen  Berichts  die  Irrthümer,  welche  der  berühmte 
Clausewitz  bei  seiner  Kritik  der  Ereignisse  von  der  Schlacht  bei  La 
Rothiere  bis  zur  Mitte  Februar  aufgestellt  hat  (Werke,  7.  Band).  Wie 
leicht  man  oft  glückliche  Zufälle  in  vorbedachte,  grossartig  ausgeführte' 
Theten  umwandelt,  wird  Seite  133  an  einem  Beispiel  nachgewiesen.  — 
tt Wohlan,  erwiederte  Gneisenau,  so  lassen  wir  es  bei  der  Disposition 
(des  Durchschlagens  zum  Walde  von  Etoges).  Gehen  Sie  mit  der  Tete 
frisch  vorwärts,  ich  werde  dafür  sorgen,  dass  Alles  geschlossen  folgt. 
Und  so  geschah  es  denn  auch.  Ein  feindliches  Cürassier  -  Regiment  for- 
mirte  sich  zu  einer  Attaque  auf  die  russischen  3  Bataillons  an  der  Spitze. 
Es  waren  zufällig  die  eben  erst  angekommenen  formirten  Bataillone.  Ihre 
Commandeure  liessen  Halt  und  fertig  machen;  sie  Hessen  den  Feind  auf 
60  Schritte  heran,  ehe  sie  Feuer  commaodirten.  Anstatt  dass  das  erste 
und  zweite  Glied  der  Töte  Feuer  geben  sollte,  schoss  das  ganze  Batail- 
lon, und  gab  das  Beispiel  von  drei  pots  a  feu.  Nichts  hinderte  die  CU- 
rassiere,  in  die  Bataillons  -  Massen  einzubrechen,  denn  kein  Pferd,  kein 


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Müffling:   Au  meinem  Leben. 


Manu  war  gefallen,  aber  sie  waren  umgekehrt  Dieser  Augenblick  musste 
benutzt  werden,  um  den  unerfahrenen  Soldaten  glauben  zu  machen,  dass 
aie  eine  Heldenthat  gethan  hätten.  Ich  rief  ihnen  mein  Hurrah  kräf- 
tig zu,  und  perroll  und  perebonschek  thaten  ihre  Wirkung.  Es  wurde 
frisch  angetreten,  die  Tambours  schlugen  Marsch  und  die  sämmtlichen 
Tambours  der  beiden  Corps  folgten  in  diesem  Schlage  nach."  Wie  gräu- 
lich aber  dennoch  in  der  stockflastern  Nacht  die  Unordnung  bei  etlichen 
zerstreut  fechtenden  Bataillonen  war  und  wie  bedeutend  der  Verlust  in 
dem  Dorfe  Etoges,  wo  mehre  Hänfen  in  Brunnen  and  schlammige  Grä- 
ben fielen,  das  hat  der  Augenzeuge  und  Mitkämpfer,  Herr  Ton  Rahden, 
anschaulich  genug  beschrieben.  (Wanderungen  eines  alten  Soldaten  I.  250  ff.) 
Die  zweite  Ablheiluog  des  Werks  hebt  natürlich  als  Glanz-  und  Kern- 
punkte die  Schlachten  bei  L  i  g  n  y  und  Waterloo  und  die  unmittelbaren 
Folgen  derselben  hervor.  Unparteiischer  und  vollständiger  in  strategisch- 
taktischer  Rücksicht  hat  Niemand  vorher  diesen  grossen  Schicks  als  warf 
geschildert  Auch  der  Herzog  von  Wellington,  in  dessen  Hauptquar- 
tier sich  Herr  von  Müflling  als  Vertreter  des  Blücher'scben  Heeres  be- 
fand, wird  nach  Verdienst  gewürdigt;  „es  zeichneten  ihn,  beisst  es,  eben 
ao  ungewöhnliche  Feldherrntalente  als  Offenheit  und  Gradheit  des  Charak- 
ters aus"  (S.  251),  eine  Bemerkung,  welche  nicht  gar  häufig  gemacht 
wird.  Neben  manchem  andern  erscheint  besonders  die  Nachriebt  neu, 
dass  Blücher  auf  dem  Marsch  nach  Paris  einmal  Hoffnung  hatte,  den  Kai- 
ser Napoleon  zu  fangen,  und  ihn  dann  als  Hochverräther  standrecht- 
lich erschlossen  zu  lassen.  Wie  die  gänzlich  bisher  unbekannten,  im  An- 
hange abgedruckten  Briefe  beweisen,  hatte  der  alte  Feldmarscball  diesen 
Gedanken  förmlich  ausgebildet,  während  Wellington  ihn  auf  alle  Weise 
bekämpfte.  Ein  solcher  Akt,  meinte  er  darüber  befragt,  würde  unsre 
Namen  der  Weltgeschichte  befleckt  überliefern,  und  die  Nachwelt  von  nns 
sagen,  das  wir  es  nicht  verdient  hätten,  seine  (des  Kaisers)  Besieger  zu 
sein,  um  so  mehr,  als  ein  solcher  Akt  jetzt  völlig  überflüssig,  völlig 
zwecklos  #eiu  (8.  253).  Blücher,  gestutzt  auf  die  Vogelfreierklärung 
durch  den  Wiener  Congress,  urt heilte  dagegen  io  einem  Schreiben  vom 
29.  Juni  also :  „  Wenn  der  Herzog  von  Wellington  gegen  die  Tödtong 
Bonaparte's  sich  erklärt,  so  denkt  und  bandelt  er  als  Britta.  Grossbri- 
tannien hat  keinem  Sterblichen  mehr  Verbindlichkeiten,  als  gerade  diesem 
Bösewicht;  denn  durch  die  Begebenheiten,  die  er  herbeigeführt  hat,  ist 
Englands  Grösse,  Wohlstand  und  Reichthum  so  sehr  hoch  gesteigert  wor- 
den. Sie  sind  die  Herren  des  Meeres  und  haben  weder  in  dieser  Herr- 
schaft noch  im  Welthandel  eine  Nebenbuhlerschaft  mehr  zu  fürchten.  — 


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Müffling:   Aus  meinen  Leben. 


647 


Bin  Anderes  ist  es  mit  uns  Preussen.  Wir  sind  durch  ihn  verarmt.  Un- 
ser Adel  wird  nie  mehr  sich  Aufrichten  können.  —  Und  müssen  Wir  uns 
nicht  als  Werkzeuge  der  Vorsehung  betrachten,  die  uns  einen  solchen 
Sieg  verliehen  hat,  damit  wir  die  Gerechtigkeit  üben?  —  Verlangt  nicht 
schon  der  Tod  des  Herzogs  von  Enghien  eine  solche  Rache?  Werden 
wir  uns  nicht  die  Vorwürfe  der  Völker  Preusseas,  Russlands,  Spanien*, 
Portugals  zuziehen,  wenn  wir  die  Ausübung  der  Gerechtigkeit  unterlassen? 

Es  sei  indessen  1  Will  man  theoretische  Grossmuth  üben,  so  will 
ich  mich  dem  nicht  widersetzen.  Es  geschieht  diess  aus  Achtung  gegen 
den  Herzog  und  —  aus  Schwäche." 

Neu  wie  diese  ganze  Verhandlung  ist  auch  die  von  dem  Verfasser 
klar  bewiesene  Kunde,  dass  die  englische  Regierung  zeitig  an  die  Re- 
stauration Ludwigs  XVIII.  dachte,  Russland  und  Preussen  aber  da- 
von einstweilen  Umgang  nahmen.  Der  kluge  Herzog  wusste  bei  solcher 
Sachlage  dadurch  seinem  Gouvernement  Vorschub  zu  leisten,  dass  er  in 
Chateau  Cambresis  von  Müffling  und  Pozzo  di  ßorgo  begleitet,  dem  nahen- 
den Bourbon  entgegenritt  und  darnach  in  den  Zeitungen  verbreiten  liess, 
er  (Wellington)  habe  den  König  in  der  Mitte  eines  russischen  und  prous- 
siseben  Generals  eingeholt.  „Ich  tröstete  mich  damit",  fügt  Müffling  bei, 
„dass  mein  russischer  Kollege  Pozzo  di  ßorgo  wie  ich,  als  Schauspieler 
wider  Willen  auftreten  musstett  (S.  254).  Den  Schluss  des  Abschnittes 
macht  die  Schilderung  der  Pariser  und  französischen  Verhältnisse  Uber« 
baupt,  welche  Herr  von  Müffling  als  fünfmonatlicher  Gouverneur  der 
Hauptstadt  genau  beobachten  konnte.  Unzugänglich  der  Bestechung  durch 
Geld,  Höflichkeit  und  Schmeichelei,  wachsam  und  gerecht,  gewann  er  die 
Achtung  der  Fremden  und  Einheimischen,  hielt  strenge  Mannszucht,  ohne 
die  billige  Pflege  siegreicher  Truppen  zu  vernachlässigen,  sorgte  für  die 
Heransgabe  der  entführten  Bildwerke  und  Gemälde,  schilderte  bei  der  Ab- 
schiedsaudienz dem  anfangs  misstranischen  Könige  Ludwig  mit  solcher 
Wahrheit  seine  schwierige  Lage,  welche  gemessene  Strenge  und  ange- 
borne  Milde  fordere,  dass  der  alte  Bourbon  in  grosse  Bewegung  gerietb, 
und  in  einen  Strom  von  Timmen  ausbrach,  darauf  alle,  ihm  Von  den 
Preussen  zu  böbern  Stellungen  vorgeschlagene  Personen,  unter  ihnen  De- 
cazes,  zu  sieb  berief,  prüfte  und  beförderte  (S.  272). 

Der  zweite  Abschnitt  des  zweiten  Theils  betrifft  die  Sendung  der 
Generals  nach  Konstantinopel  und  8t.  Petersburg  in  den  Jahren 
1829  und  1830.  Sie  geschah  auf  den  Wunsch  des  Kaisers  Nikolaus, 
um  den  allerdings  glücklichen,  aber  keineswegs  ganz  entschiedenen  Feld- 
zug durch  einen  billigen  Frieden  mit  der  Pforte  zu  beendigen.  Müffling, 


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648 


Müffling:   Aus  meinem  Leben. 


welcher  den  Zweck  seiner  nicht  sowohl  vermittelnden,  als  Rath 
gebenden  Mission  im  Namen  Preussens  vollkommen  erreichte,  veröffent- 
licht in  dem  jeUt  gedruckten  Bericht  ansehende  und  lehrreiche  Beobach- 
tungen historisch-politischen  Inhalts.  Die  Anschauungen  und  Sit- 
ten des  türkischen  Ministeriums,  Hofes  und  Sultans  werden  dabei  nach  dem 
Leben  beschrieben  und  von  vieirachen  Irrthümern  wie  Vorurtheilen  ge- 
reinigt. Der  gewöhnlich  als  hart  und  grausam  verschrieene  Padischah 
Mahmud  (II.),  der  Janitscharenfresser,  erscheint  dabei  in  einem 
ganz  andern,  freundlichem  Lichte.  „In  seinem  Gesicht",  beisst  es  S.  360, 
„lag  ein  bedeutender  Ernst,  aber  seine  Augen  hatten  etwas  Sanftes,  ich 
möchte  sagen  Schwärmerisches.  Seine  Stimme  war  ausserordentlich  so- 
nor, seine  Manieren  gratiös  und  verbindlich,  so  dass  Jeder,  der  ihn  so 
sah  und  hörte,  sich  sagen  musste  :  „Das  kann  kein  wilder  Kopfabschneider 
seinl"    Nach  später  erhaltenen  Belehrungen  ist  es  auch  wirklich  so. 

„Von  seinen  Umgebungen,  seinen  Dienern,  Frauen  und  Kindern  ge- 
liebt, geachtet,  ja  auf  Händen  getragen ,  verbreitet  er  Freude  und  Glück 
um  sich.  —  Alles  ging  hier  (bei  der  Audienz)  mit  dem  grüssten  Anstand 
zu  und  der  Sultan  zeigte  sich  als  ein  heiterer  Hann,  der  gern  lacht." 

.  Da  man  noch  jüngst  viel  von  nahen  Eroberungsplänen  Russlands 
gegen  die  Pforte  sprach  und  dermalen  sogar  eiue,  unter  gegebenen, 
offensiven,  Umstanden  nicht  unwahrscheinliche  Heerfahrt  nach  dem 
Westen  befürchtet :  so  ist  es  interessant ,  M  ü  f  f  1  i  n  g 1  s  Bericht  über 
den  russischen  Czar  vom  Jabr  1830  zu  vernehmen.  „Wenn",  sagte  ne- 
ben anderm  Nikolaus,  in  Europa  bin  und  wieder  die  Besorgniss  laut 
geworden  sei,  als  könne  er  (der  Kaiser)  aus  Kriegslust  oder  falschem 
Ehrgeiz  verleitet  werden,  gegen  die  Pforte  als  Eroberer  aufzutreten,  so 
beweise  diess  nicht  allein  eine  völlige  Unbekanntschaft  mit  der  Richtung 
seines  Geistes,  sondern  auch  die  Voraussetzung,  dass  er  seine  eigene  Lage 
und  die  Verhaltnisse  seines  Reichs  wenig  durchdacht  habe.  Sowohl  der 
Umfang  der  seinem  Scepter  unterworfenen  Länder,  als  ihre  Population  be- 
schäftige für  ein  Menschenleben  vollauf;  es  würde  eine  Tborheit  von  ihm 
sein,  nach  Eroberungen  zu  streben-,  der  ihm  von  Gott  vorgezeigte  Weg 
sei,  das  Wohl  seiner  Unterthanen  zu  fördern,  und  dazu  gehöre  vor  Al- 
lem, es  vor  frivolen  Kriegen  zu  bewahren.  Diess  werde  erreicht  durch 
treues  Festhalten  der  eingegangenen  Verbindlichkeiten  gegen  andere 
Mächte  und  durch  ein  consequentes  Enthalten  aller  Einmischung  in 
fremde  Rechte.  Diess  sei  das  Streben  seines  Lebens,  und  er  bite 
Gott,  ihm  dazu  die  nöthige  Gesundheit  und  Kraft  zu  verleihen. 


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Müffling:    Ans  meinem  Leben.  649 

Diese  Aeusserungen  versetzten  mich  io  eine  schwer  zu  beschrei- 
bende Bewegung.  Sie  waren  so  einfach  und  doch  mit  so  viel  Wärme 
ausgesprochen ,  dass  jeder  Gedanke  an  Kunst  und  Absicht  nicht  auf- 
zukommen fähig  war.  Es  hatte  sich  ein  edles  Herz,  ein  reiches  Gemiitii, 
ein  klarer  Verstand  bei  einer  grossen,  aber  ganz  zufalligen  Veranlassung 
mit  Wahrhaftigkeit  entfaltet«  (S.  389).  : 

Diesem  merkwürdigen  und,  wie  es  scheint,  aufrichtigen  Selbst- 
geständniss  eines  jedenfalls  kräftigen  und  folgerechten  Selbstherr- 
schers, könnte  der  kritische,  allzeit  fertigo  Leser  einwenden,  wider- 
sprechen, die  folgenden,  Jedermann  bekannten  Handlungen.  Sie  wei- 
sen anf  kein  bescheidenes,  der  Eroberungslust  abgeneigtes  Charak- 
terbild hin.  Denn,  um  hier  nur  die  auswärtige  Politik  festzuhalten, 
wo  ist  Polen,  das  tractatenmüssig  konstitutionelle  und  gewissermasscn 
autonome  DnglUcksland  der  Shwenvölker?  Seine  Verfassung,  wie  sie  - 
Kaiser  Alexander  schuf,  ist  zerrissen,  seine  Zoll  Ii  nie  aufgelöst,  seine 
Verwaltung  russifizirt,  seine  Adelsblüthe  zerknickt,  verbannt,  eingekerkert, 
gezähmt.  Leidiges  Schicksal  jeder  gescheiterten  Revolution,  auch  wenn 
sie  volle  Berechtigung  hatte,  bittere  Frucht  des  unglückseligen  Aufwan- 
des vom  Jahr  1830,  welchen  nicht  allein  Busala  nd,  dazu  verpflichtet, 
sondern  auch  Preussen  ohne  weitere  Veranlassung,  freilich  nur  mittel- 
bar, bekämpfte  und  darniederwarf.  —  Aber  wo  ist  die  vertragsmäßig  ge- 
währleistete Republik  Krakau?  Dieses  Kind  der  Wiener  Congressver- 
legenheit  wurde  nicht  von  Russland,  sondern  von  Oesterreich  für 
einverleibt  erklärt  oder  als  gute  Prise  aufgezehrt.  Das  ist  allerdings  kein 
grosses  Unglück  —  denn  lialbschlechtige  Duodezstaaten  besitzen  keine 
Lebensfähigkeit  —  aber  doch  ein  Bruch  der  Verträge,  welche  doch  stets 
im  Munde  geführt  werden.  Warum  nahm  der  Habsburger  das  von  den 
Donaern  gebotene  Geschenk  an?  —  Allein  der  Tsc  h  er  k  essenkrieg 
zeugt  der  nicht  für  die  unersättliche  Eroberungsgier,  welche  lüer  auf  Asien, 
dort  auf  Europa  mit  hungrigem  Blick  schaut  und  jeden  Anlas*  der  Be- 
friedigung benutzt?  Sicherlich;  aber  es  ergeht  den  Russen  da  gerade 
wie  den  Engländern  gegenüber  Hindostan,  den  Franzosen  in  ih- 
rem Verhältniss  zu  Algier,  und  den  Californischen  Goldsuchern 
gegenüber  den  wilden  Eiogeborneu  des  neuen  Eldorado.  „  Civilis a- 
tion,  materielle  Interessen! tt  Das  ist  und  bleibt  die  Fahne  der 
heutigen  Kreuzfahrer  im  Osten  uud  Westen,  am  Nord-  und  Südpol. 
Ueberdiess  bilden  die  tapfern  und  Freiheit  liebenden  Tscherkessen  seit  Jah- 
ren bekanntlich  den  Stoff  einer  tüchtigen  Kriegsschule,  wie  die  Ara- 
ber, Berbern  und  Kabylen  Algiers  gegenüber  Frankreich.    Da  lernt  man 


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bangem  und  dürften,  wachen  nnd  streiten,  um  dann  einst  für  höhere 
Zwecke  and  auf  grüsserm  Schauplatz  gerüstet  da  zu  stehen,  während 
andere  Völker,  x.  B.  die  Teotschen,  ihren  Heerdienst  in  Garnisonen  ond  traa- 
rigen Putscbkriegen  erlernen  oder  den  eigenen  Bürger  nnd  Landmann, 
Henschreckenzügen  ähnlich,  durch  wechselnde  Einlagerungen  bis  auf  das 
Hemde  aassaugen.  —  Aber  die  heil  ige  A  Iii  am,  hat  die  nicht  der 
Kaiser  aller  Reussen  wiederhergestellt,  daneben  Schleswig- Hol- 
et ein  gedemOthigt,  das  Frankfurter  Parlament  gesprengt,  die  Er- 
furter Union,  den  jungen  Herkules,  in  den  Windeln  erstickt  nnd  den 
gesnmmteu  Katzenjammer  der  laufenden  Tage  durch  klug  eingege- 
bene, vergoldete  Pillen  der  Diplomatik  hervorgerufen,  endlich  den  Bun- 
destag restanrirt?  —  Unglückselige  Verblendung,  welche  die  Frucht 
eigenen  Irrthums,  selbstgesogenen  Leichtsinns,  stets  den  Fremden  zu- 
schiebt! Und  der  Bundestag!  Ist  er  nicht  besser  als  Bundesanar- 
chie? Sind  denn  die  Briefe,  die  Couriere,  welche  inmitten  der  Wirren 
Yon  bedrängten  Landesvätern  nach  St.  Petersburg,  Hülfe  suchend,  abgin- 
gen, nur  Erzeugnisse  der  Phantasie?  —  Die  Seemen  der  leidigen  Ver- 
hältnisse wurden  also  in  die  eigene  Erde  uranfänglicb  ausgestreut  und  in 
ihr  grossgezogen;  man  muss  mithin  die  Sämänner  und  Gärtner  anklagen, 
nicht  den  Schnitter,  welcher  das  Unkraut  der  Halbheit  und  Unklarheit, 
wie  es  im  Duodezkonstitutionalismus  sitzt,  mit  manchem  guten 
Korn  ausjätet.  — 

In  Betreff  der  grossen  West  fahrt  endlich,  weiche  1853,  wie 
weitend  450  unter  dem  Mongolenchan  Attila  in  Gallien  einbrechen, 
dieses  nnd  die  Scbweizerberge  von  der  Republik  befreien  soll, 
sei  man  doch  ohne  Sorgen !  Principienkriege  sind  im  technisch- 
materiellen  Zeitalter  rein  unmöglich  und  für  Eroberungsfehden 
fehlt  es,  wenn  auch  nicht  am  Willen,  doch  an  der  Eintracht  des  etwa 
umur  uerurenen  ineiis.  —  oo  wiru  sicn  nenn  aner  vy  arirscneinucnaeii 
nach  Kaiser  Nikolaus  so  gut,  wie  was  ihm  befreundet  ist  vor  frivo- 
len Heerfahrten  hüten,  der  Franzose  seine  Republik,  bald  aus  Ver- 
legenheit, bald  aus  Eifer  auf  gesetzlicher  Basis  einstweilen  befestigen, 
die  Schweis  dem  Könige  von  Preussen  ein  billiges  Äquivalent  für 
Neuenbürg,  den  alleinigen  Erisapfel,  geben  und  der  Ten t sehe  deu 
B  o  n  d  e  s  t  a  g,  wenn  er  nicht  gar  zn  hart  straft,  einen  nicht  gar  zu  drücken- 
den Nasenring  oklroyirt,  gemach  lieben  und  ehren  lernen.  Das  dürfte 
der  einstweilige  Ausgang  des  grossen  europäischen  Revolution s- 
dremas  sein. 


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Der  Feldsug  in  Ungarn.  651 

Der  Feldzug  in  Ungarn  und  Siebenbürgen  im  Sommer  des  Jahres  1849. 
Peslh.  Gedruckt  bei  Lindner  und  Heckenast.  1850.  Vorwort  IV. 
S.  549.    gr.  8.    Nebst  einem  Atlas. 

» 

Bericht  über  die  Kriegs-Operationen  der  russischen  k*  k.  Truppen  gegen 
die  ungarischen  Rebellen  im  Jahr  1849.  Nach  offiziellen  Quellen 
zusammengestellt  von  II.  v.  N.  K .  R.,  Obristen  des  Generalstabs* 
Erster  und  zweiter  Theü.  Berlin,  1851.  In  Kommission  bei  Schropp. 
S.  190.    gr.  8. 

Beide  Schriften,  von  welchen  die  erste  dem  österreichischen, 
die  zweite  dem  rassischen  Generalstab  als  Quellen  der  Nachrich- 
ten angehören,  sind  rein  militärisch;  sie  mischen  daher  auch  in  der 
Regel  nichts  ein,  was  jenseit  des  taktisch-strategischen  Stand- 
punktes liegt  oder  mit  der  politisch-historischeu  Erklärung  des 
Aufstandes  und  seiner  Geschicke  zusammenhängt;  sie  springen  eben  dess- 
balb  fogleich  in  die  volle  Strömung  des  Kriegsaktes  hinein,  ohne  die  kurz 
vorangegangenen,  den  Österreichischen  Waflfen  ungünstigen  Ereignisse  des 
Winterfeldzuges  zu  berühren.  Je  engere  Grenzen  demnach  der  Aufgabe 
gesteckt  wurden,  desto  grösser  mussten  auch  die  Ansprüche  auf  eine 
vollständige,  wahrheitsgetreue  Darstellung  der  Thatsachen  werden.  Aber 
bei  dem  redlichsten  Streben  wird  man  dem  Ziel  so  lange  fern  bleiben, 
bis  auch  von  der  dritten,  der  ungarischen  Seite  her  nicht  etwa  ge- 
legenheitliche, sondern  amtliche,  das  heissr,  dem  Generalquartier 
entnommene  Kundschaften  kommen.  Diess  kann  aber  bei  der  wirklichen  Sach- 
lage und  dem  Parteihass  der  gebrochenen  Insurrektion  noch  lange  dauern, 
vielleicht  nie  io  Erfüllung  gehen.  Man  kann  sich  daher  einstweilen  nur  au 
die  Berichte  des  Siegers  halten  und  muss  weitere  Aufklärungen  von  der 
Zeit  erwarten,  welche  allein  das  Dunkle  aufhellt,  das  Zweifelhafte  verge- 
wissert Letzterem  fällt  z.  ß.  der  merkwürdige  Umstand  anheim,  dass  in 
beiden  Berichten  bei  den  vielfachen  Gefechten  und  Schlachten  die  Ver- 
bündeten eine  fast  unbedeutende,  die  Ungarn  eine  sehr  massige  Einbusse 
ao  Todten  und  Wunden  trifft,  dagegen  Krankheiten  theilweise  ungeheuer 
aufräumen.  Ueberhaupt  wird  aus  mannichfaltigen  Anzeigen  klar,  dass  man 
in  diesen  geräuschvollen,  an-  und  abprallenden  Kämpfen,  welche  häufig 
an  die  Skythen  nnd  Parther  erinnern,  mehr  Kraft  und  Wildheit  in 
raschen  Zusammenstössen  und  fluchtühnlichen  Bückzügen,  denn  kaltblütige, 
kombinirt  wirkende  Kriegskunst  entwickelte.  Hinsichtlich  der  Dar- 
stellung beflei' ssigt  sich  der  Oesterreicher  des  möglichst  vollständi- 
gen Stoffs ummelns  und  einer  nüchternen,  bescheidenen,  auch  dem  Bun- 


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Der  Feldzng  in  Ungarn. 


desgcnosscn  and  Feind  gerechten  Sprache,  der  Russe  dagegen  begnügt 
sich  mit  einer  übrigens  lichtvollen,  nur  seine  Angelegenheiten  mit  be- 
sonderer Breite  behandelnden  Schilderung  der  Operationen  und  schweift 
dabei  bisweilen  in  einen  wahrhaft  schwülstigen,  fast  byzantinischen  Styl 
hinüber.  So  heisst  es  S.  183:  „Unsere  Artillerie  benahm  sich  vorzüg- 
lich, trotz  dem  feindlichen  Kreuzfeuer  behauptete  sie  mit  unbegreif- 
licher (?)  Standhaftigkeit  ihre  Stellungen.1"  Den  reichen,  seiner  .Natur 
nach  sehr  zerstückelten  Inhalt  der  Berichte,  welche  auch  Referent  nur 
•tückweise  lesen  konnte,  überblickt  man  vielleicht  am  Besten,  wenn  er 
in  einzelne  Abtheilungeu  oder  Rubriken  kurz  zerlegt  oder  betrachtet  wird. 
Zuerst  kommen  nun  die  Streitkräfte  der  Kriegführenden,  dort  der 
Verbündeten,  hier  der  Ungarn,  welche  bei  den  Russen  regel- 
mässig die  Rebellen,  bei  den  Oesterreichern  etwas  milder  die 
Insurgenten,  selten  oder  nie  der  Feind  u.  s.w.  heisseo.  Die  Starke 
der  Oesterreich  er  für  den  zweiten  Feldzug  wird  also  angegeben: 
1)  Die  Donau-Armee  unter  dem  F.  Z.  AI.  Baron  Haynau  (Chef 
des  Generalslabs  Obristl.  Ramm  in  g)  züblte  in  vier  Armeekorps  70  Ba- 
taillons oder  55,690  Mann  Infanterie  nach  Abzug  der  Kranken  und  Un- 
dienstbaren, 76  Eskadrons  oder  9,740  Mann  Kavallerie,  288  Geschütze 
oder  5,003  Mann  Artillerie  mit  3,933  Bespannungspferden.  Die  dazu 
gehörige  9.  kombinirte  russische  Infanterie-Division  unter  Generallieu- 
tenant  von  Panutine  betrug  10,780  Mann  Infanterie,  250  Reiter,  908 
Artilleristen  mit  48  Geschützen  und  347  Bespannungspferden,  die  gesammte 
Donau-Armee  also  60,670  Mann  Infanterie,  10,000  Mann  Kavallerie 
und  324  Geschütze  (Oester.  Bericht  S.  17).  Der  rusai sehe  Bericht 
(S.  9)  führt  13,000  Mann  Infanterie  für  die  Uülfsschaar  Pa  mit  ine's 
auf;  die  Differenz  wird  erklärlich  durch  >  put  er  hinzugetretene  Kranke  und 
Undienstbare.  —  Die  österreichische  Süd-Armee  unter  dem  Ban  von 
Kroatien,  F.  Z.  AI.  Jellachicb,  zählte  in  vier  Divisionen  26,700  Mann 
Iufanterie,  4,400  Kavallerie,  2,600  Artillerie  mit  83  Geschützen  und 
2,250  Bespannungspferden  föster.  Ber.  S.  22).  Dos  Cernirungskorps 
von  Peterwardein  hatte  10,400  Mann  Infanterie,  51  Geschütze  und 
3 1 5  Pferde ;  ungerechnet  die  Besatzungen  von  Semlin,  Essek  und  Agram, 
betrug  im  Ganzen  die  mobile  Süd-Armeo  44,100  Mann  Iufanterie, 
7,165  Pferde,  168  Feld-  und  20  Belagerungsgeschütze.  Das  Sie  ben- 
bürg er  Armeekorps  unter  F.  M.  L.  C 1  a  mm- G  a  llas,  bei  ErölTnuog 
des  Feldzugs  in  der  Wallachei  bei  Csernetz  aufgestellt,  zählte  10,000 
Mann  Infanterie,  36  Geschütze,  2,200  Pferde  (oster.  Ber.  S.  24).  Da- 
neben wurden  im  Innern  der  Monarchie  zwei  mobile  Reserve- 


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Der  Feldzug  in  Ungarn. 


653 


korps  gebildet,  um  die  Grenzen  tu  decken  und  die  aktiven  Opera- 
tionen in  Ungarn  zu  unterstützen  (Oesterr.  Ber.  S.  25) ;  sie  mochten  im 
Ginzen  etwa  15 — 20,000  Mann  betragen.  —  Dieses,  etwa  100,000  Mann 
starke  Heer  war  bei  dem  Eindruck  der  letzten  Missgeschicke,  den  Güh- 
rongen  Italiens,  Teutschlands,   allerdings  unfähig,  mit  einem 
Schlage  den  magyarischen  Aufstand  niederzuwerfen;  Oesterreich, 
von  Preussen,  Teutschland  verlassen,  begehrte  und  erhielt  daher 
nachdrückliche  Hülfe  von  dem  nordöstlichen  Nachbar.    Derselbe,  durch 
Polen,  den  Fortschritt  der  ungarischen  Bewegung  beunruhigt,  stellte 
bei  130,000  Mann  unter  den  Oberbefehl  des  Fürsten  von  Warschau,  Pas- 
ka witsch;  vier  Armeekorps  sollten  in  zwei  Hauptkolonnen  unmittelbar 
über  die  Karpathen,  meistens  in  der  Gegend  des  Bergpasses  Dukla,  an 
die  Donau  vorbrecheo  und  den  Feind  auf  die  Oesterreicher  werfen; 
das  fünfte  Korps  unter  dem  General  Lüders  war  mit  einer  österrei- 
chischen Abtheilung  zunächst  gegen  Siebenbürgen  bestimmt.  Die 
Summe  aller  Truppen  berechnete  man  auf  108  Bataillons,  138  Eskadrons, 
48  Batterien  zu  528  Geschützen,  68  Generale,  3,177  Offiziere,  5,914 
Musikanten,  132,626  Gemeine,  5,891  Nicht-Kombattanten,  11,304  Artil- 
lerie- und  13,907  Trainpferde.  (Busi.  Ber.  S.  126.}  —  Die  geregelte 
Streitmacht  der  Ungarn  zählte  etwa  162,564  Mann  und  27,103  Pferde 
mit  488  Feldgeschützen;  die  obere  Donau-Armee  unter  Arthur 
Görgei  hatte  61  Bataillons,  83  Eskadrons,  229  Geschütze,  die  Nord- 
Armee  unter  Dembinski  21  Bataillons,  12  Eskadrons,  57  Geschütze; 
die  Bäcs-Ba  nater  Armee,  später  Süd-Armee,  unter  Moritz  Per o- 
zel  (später  Vetter),  32  Bataillons,  28  Eskadrons,  88  Geschütze;  dio 
Armee  BenTs  47  Bataillons,  29  Eskadrons,  102  Geschütze;  das  Re- 
servearmeekorps  10  Bataillons,  6  Eskadrons,  12  Geschütze;  die  Be- 
satzung von  Peterwardein  endlich  betrug  5  Bataillons;  Summa:  179 
Bataillons,  158  Eskadrons,  488  Geschütze.    Die  irreguläre  Streitmacht 
zählte  etwa  8,850  Mann  und  1,540  Pferde;  dazugerecbnet  die  bei  De- 
brezin  gebildete  Reserve  von  20,000  Mann  umfasste  das  Ganze  an 
192,000  Bewaffnete,  welche  durch  den  thcilweise  organisirten  Land- 
sturm leicht  bis  zu  200,000  Mann  und  darüber  anstiegen  mit  1,800 
Geschützen  (Oester.  Ber.  nach  vorgefundenen  Dokumenten  S.  36  u.  37). 
Den  Ungarn  fehlten  dagegen  Einheit  des  Oberbefehls  und  des  Kriegs- 
plans, wie  hinlängliche  Uebung  einzelner  Truppentheile ;   Reiterei  und 
Artillerie  waren  vorzüglich ;  die  Hauptschwäche  lag  in  der  Unklarheit  des 
Ziels,  dem  Mischmasch  der  Führer,  dem  oft  willkürlichen  Eingreifen  der 
provisorischen  Regierung  und  des  Diktators  Kossuth  in  die  Miü- 


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654 


Der  Feldxug  in  Ungarn. 


türoperatioueo ,  welche  z.  B.  wahrend  der  österreichisch-russi- 
schen Veranstalten  statt  der  Offensive  theils  rasteten,  theils  die  ans 
Eitelkeit  unternommene  Belagerung  und  Einnahme  Ofens  als  mehrwe- 
chentliches  Objekt  festhielten. 

Der  Verbündeten  Operationsplan  bestand  hauptsächlich  dam, 
dass  man  vom  Norden  her  über  Dukla  auf  Pesth  und  an  die  Donau  vor- 
brechen, vom  SUden  ans  Siebenbürgen  angreifen,  das  aufstand  ige  Land 
ip  zwei  Halft*!  trennen,  alle  Kräfte  möglichst  couzentrireo  und  den  zu- 
rückgedrängten Feind  auf  die  Armee  des  Generals  Haynan  werfen  sollte. 
(Rnss.  Ber.  S.  10.)     Dieser  müsste  seinerseits  den   Kern  der  Gegner, 
(Jorg  ei,  mittlerweile  festhalten,  im  geeigneten  Augenblick  gemeinsam  be- 
kämpfen und  erdrücken.    Natürlich  blieb  es  dabei  dem  österreichi- 
schen Oberbefehlshaber  unbenommen,  den  ihm  etwa  günstig  erscheinen- 
den Zeitpunkt  zu  ergreifen  und  vor  Allem  ans  die  etwaige  Verbindung 
der  westlichen  (Görgei)  und  östlichen  (Dembinski,  Bern)  Streit- 
kräfte  des  Feindes  nach  Kräften  zu  verhindern.    Wollten  die  Ungarn 
den  drohenden  Gefahren  mit  Hoffnung  auf  Erfolg  begegnen,  so  blieb  ihnen 
nur  ein  doppelter  Weg  übrig;  sie  mussten  entweder  jedes  ernsthafte 
Zuaammenstossen  meidend  ihre  geregelten  Truppen,  theils  in  die  Festen 
und  verschanzten  Lagerstätten  zurückziehen,  theils  debandiren  nnd  den 
Guerillnkampf  führen,  oder  angriffweise  und  mit  möglichst  con- 
zentrirtun  Kräften  handeln.    Im  letzten  Fall  war  es,  dn  man  einmal  im 
April  nnd  Mai  die  Gelegenheit  der  Gr  iinzübersch  reitung  verabsäumt 
hatte,  vor  Allem  nötuig,  die  Verbindung  der  Bussen  und  Oesterrei- 
ch er  bei  Ko  m  o  rn ,  dem  westlichen  Drehpunkt  der  kriegerischen  An- 
gelegenbeiten,  um  jeden  Preis  zu  bindern,  oder  solche  Anstalten  zu  tref- 
fen, dass  man  •  durch  Ueberzahl  und  Vorzüge  der  Stellung  gegenüber  dem 
österreichischen  Oberfeldherrn  bei  einem  offensiven  Schritt  die 
Wahlstalt  behaupten  und  den  Sieg  gewinnen  könnte.  Instinktmas- 
sig hatte  man  auch  den  letzten  Plan  entworfen  und  beschlossen,  die 
grösstmöglichstee  Hassen  gegen  die  österreichische  Armee  zu  fuhren, 
so  lange  noch  nie  russische  der  untern  Donaulinie  oder  Komorn 
fern  blieb.    Aber  bald  verlor  die  Regierung  den  Kopf ;  „  sie  floh  klein- 
müthig  aus  Pesth  und  entsandte  in  die  Gegend  zwischen  der  Denan  nnd 
uniern  Tfceiss  nicht  nur  die  Truppen,  die  aus  verschiedenen  Gegenden  her 
Görgej  hätten  verstärken  können,  sondern  auch  die  von  ihm  nach  der 
Schlacht  beiH;. ab  abgeschnittene  Division  von  K me titt  (Buss.  B.  S.  172). 
Die  für  die  Ungarn  unglückliebe  Schlacht  bei  Komoru  (Ii. Juli)  war 
dann  nur  ein  taktischer  Versuch,  den  strategischen  Fehlgriff  wie- 


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Der  Feldzug  io  Ungarn. 


655 


dir  gut  zu  machen  und  hatte  um  so  grossere  Folgen,  je  rascher  der 
Sieger  seinen  Vortbeil  benutete,  ostwärts  an  die  Theiss  und  über  dieselbe 
hinauszog.  Der  zweite,  angedeutete  Weg,  der  kleine  Krieg,  wurde  eben 
so  wenig  mit  entschiedenem  Uebergewicht  an  Kraftanstrengung  einge- 
schlagen ;  man  that  dafür  wenig  oder  gar  nichts,  indem  ihn  theils  das  hohe 
militärische  Selbstgefühl  der  Regenten  und  Feldherrn,  theils  der  schwer- 
fällige, derbe  Charakter  des  Soldaten,  endlich  auch  vielfach  die  Beschaf- 
fenheit des  Landes  binderten.    Nur  in  Siebenbürgen  wurde  and  zwar 
mit  Erfolg  die  kleine  Kriegführung  vorsucht,  obschon  es  auch  au  gere- 
gelten Treffen  nicht  fehlte.    Dagegen  unterliess  man  es  anf  unbegreifliche 
Weise,  in  den  eigentlichen  Gebirgsgegenden,  welche  das  grosse 
Russen  he  er  durchziehen  musste,  Pässe,  Flüsse  und  durchschnittenen  Bo- 
den auf  das  Hartnäckigste  zu.  vertheidigen ;  es  war,  wie  wenn  der  Feind 
absichtlich  das  Innere,  da*.  Flachland,  erreichen  und  hier,  sei  es  durch 
Schlachten,  oder  durch  Mangel  und  Krankheit  tu  Grunde  gehen  sollte, 
Berechnungen,  welche  t  h  e  i  I  w  e  i  s^  ohne  Zutbun  des  aufständischen  Kriegs- 
raths  erfüllt  wurden.  Die  Verpflegung  der  russischen  Hauptarmee 
bildete  nämlich  ein  bedeutendes  Hinderniss  für  rasches  Vorrücken.  Man 
fand  nicht  die  von  den  Oesterreichern  zugesagten,  durch  eigene  Noth 
und  grosse  Zwischenräume  unmöglich  gewordenen  Vorratne  und  Magazine; 
man  musste  mühsam  den  Bedarf  in  einer  langen  Wagenreihe  (2000  Kar- 
ren} theils  aus  Polen  und  Galizien  herbeischaffen,  theils  in  den'  nördlichen 
Provinzen  Ungarns  langsam  und  oft  ungenügend  durch  Requisitionen 
gewinnen  und  aufspeichern,  dabei  Bartenfeld,  Eperies,  Kascnau 
beim  umsichtigen  Vorrücken  als  Verbindungspunkte  mit  der  Karpathen^ 
Ii  nie  und  Sitze  der  Kranken-  und  Verpflegungsanstalten  so  gut  es  gehen 
wollte,  befestigen,  und  mit  Besatzung  versehen  (VrgL  mts.  Ber.  S.  5.  u. 
13 ff.).    Diese  berechnende  Vorsicht  macht  dem  russischen  Hauptquar- 
tier, welches  nicht  zwischen  Himmel  und  Erde  schweben,  sondern  siche- 
ren Halt  haben  wollte,  alle  Ehre;  ja  in  diesem  klugen  Befestigen  der 
Basis  liegt  eine  Hauptursache  des  spätem  Erfolgs,  zumal  der  Feiod,  wie 
gesagt,  es  nicht  verstand,  den  kleinen  Krieg  zu  orgenisireo.  Was  hal- 
fen öberdiess  alle  Tapferkeit  und  Waflenkunsl,  alle  Taktik  und  Strategie, 
wenn  es  an  zwei  materiellen  Vorbedingungen  fehlt,  an  Geld  und 
Lebensmitteln?  —  „Jemand",  bemerkt  Monteonculi  (Memoi- 
res  Seite  67),  „sagte,  Uber  die  Kriegsbedürfnisse  befragt:  „Dreierlei 
Dinge  sind  nöthig:  Geld,  Geld,  Geldlu  —  Hinsichtlich  der  Vorrath  o 
anheilte  derselbe  Heerführer:  „Wer  das  Geheimnis»  besitzt,  ohne  Essen 
zu  leben,  der  kann  ohne  Provision  in  den  Krieg  ziehen"  (S.  03). 


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656 


Der  Feldzug  in  Ungarn. 


Minder  glücklich  konnte  man  von  russischer  und  österrei- 
chischer Seite  her  den  nalurnothwendigen  Feind,  die  Krankheit,  be- 
kämpfen. Tausende  und  aber  Tausende  starben  an  der  Cholera,  einer 
Pest,  welche  weniger  heftig  bei  den  Magyaren  und  Bundesgenossen  der- 
selben wüthete.  Am  Ende  Juni  zeigte  sie  sich  zuerst  bei  den  Russen 
in  bedeutender  Stärke  und  suchte,  durch  Regen  hinter  Kaschau  gesteigert, 
ihre  Opfer  selbst  unter  den  in  Reih  und  Glied  stehenden  Leuten;  „diese 
starben  alsdann  entweder  plötzlich  oder  nach  sehr  kurzen  Leiden.  Wäh- 
rend des  Marsches  gingen  auf  diese  Weise  in  jedem  der  vier  Armeekorps 
tiiglicli  60 — 100  Mann  zu  Grunde,  deren  Leichen  von  den  naciitolgeiten 
Truppen  aufgehoben  werden  mussteu.  Alle  Bugagcwagen  waren  mit  Kran- 
ken angefüllt;  die  Notwendigkeit  zwang,  eine  grosse  Anzahl  Fuhrwerke 
tu  requiriren,  weil  die  Korps  nicht  Hunderte,  sondern  Tausende  von  Kran- 
ken und  Sterbenden  mit  sich  schleppten44  (Rus*.  Oer.  S.  62).  An  dem- 
selben Lehel  litten  auch  die  Oesterreieher,  jedoch  minder  stark: 
bessere  Pflege  und  Behandlung  geboten  ihm  Halt;  mit  der  Bewegung  nach 
Osten  hurte  es  ganz  uuf;  dagegen  i/iallc  auf  dem  zehnliigigen  Eilmarsch 
von  Pesth  an  din  Theiss  hei  verschütteten  Brunnen  und  der  Tageshitze 
häufig  unerträglich  der  Dur*t;  dem  Mangel  wusste  man  trotz  der  verwü- 
steten und  nusgeatgenen  Ebene  durch  ausgezeichnete  Vorkehr  zu  begegnen; 
nicht  eine  Abtheilun?  das  Heeres  darbte  auch  nur  einen  Tag  lang,  lautot 
der  ös^rr  icbische  Ccricht  (S.  313).  - —  Hinsichtlich  der  einzelnen 
Operationen  oder  mehr  oder  weniger  heissen  Gefechte  widersprechen 
eiotnder  häufig  die  beiderseitigen  Darstellungen;  bei  Pered  (21.  Juni), 
llarkaly  (2.  Juli),  Komorn  (11.  Juli),  soll  nach  dem  russischen  Be- 
riebt die  Division  des  Generals  Panutine  den  Ausschlag  gegeben  haben, 
ubreud  die  österreichische ,  in  das  Einzelne  genau  eingehende  Relation 
davon  schweigt,  aber  rühmend  die  Tapferkeit  und  Dienstleistung  des  Bun- 
desgenossen anerkennt,  überhaupt  bescheiden  und  ohne  rednerische 
Blumelei  nur  den  Thatbestand  schildert.  Desshalb  kann  man  bei  der 
Wahl  des  Urtheils  kaum  schwanken,  zumal  schon  das  Vorwort  dem  nor- 
dischen Machbar  ohne  Minderung  des  eigenen  Verdienstes  volle  Gerechtig- 
keit widerfahren  lässt  und  das  wirklich  Geleistete  keineswegs  verkleinert. 
Am  heftigsten  werden  Tadel  und  Vorwurf  des  russischen  Berichts  gegen- 
über dem  Oberfeldherrn  Hayn  au  nach  der  Schlacht  bei  Komorn;  er 
habe,  heisst  es,  die  dem  Fürsten  von  Warschau  gegebene  Zusage  nicht 
gehalten,  keineswegs  den  geschlagenen  Gorgei  dem  Plane  gemäss  ver- 
folgt, sondern  ohne  weiteres  entgegen  der  Verabredung  den  berühmt  und 
folgerejch  gewordenen  Ostmarsch  angetreten. 

(Schluu  folgt.) 


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Nr.  42. 


HEIDELBERGER 


18». 


JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR. 


Oboe  diesen  wäre  aber  Görgei  sicherlich  vernichtet  und  der  Krieg 
mit  einem  Schlage  beendigt  gewesen.  Die  angedeutete  Zusage  Haynau's 
vom  10.  Joli  lautet  also:  „Es  ist  wahrscheinlich,  dass  der  Feind,  der 
die  Brücke  bei  Gran  selbst  zerstörte,  versuchen  wird,  Waitzen  auf  dem 
linken  Donauufer  zu  erreichen,  nachdem  er  eine  hinlängliche  Garnison  zur 
Verteidigung  von  Komorn  zurücklässt.  In  diesem  Falle  lasse  ich  vor 
dieser  Feitung  ein  zur  völligen  Einschliessuug  derselben  hinlänglich  star- 
ke« Korps;  mit  allen  übrigen  meinen  Truppen  aber  werde  ich 
auf  das  linke  Ufer  der  Donau  zur  Verfolgung  des  Feindes  übergehen." 
(R.  Ber.  S.  17  7. )  Die  Umstände  änderten  sich  aber  einigermassen;  Görgei, 
um  am  rechten  Donauufer  für  die  Verbindung  mit  den  östlichen  Streit- 
kräften durchzubrechen,  wagte  und  verlor  die  Schlacht  bei  Komorn 
(11.  Juli),  ging  etliche  Tage  später  (13.  Juli),  um  nicht  eingeschlossen 
zu  werden,  mit  etwa  30,000  Mann  und  130—140  Geschützeu  bis  auf 
Waitzen  vor  (15.  Juli);  er  wusste  nicht,  dass  mittlerweile  die  Russen 
in  ihrer  Hauptstärke  die  Linie  über  Hatven  und  Gödöllö  bereits  am  13. 
erreicht  und  den  Weg  an  die  Theiss  verlegt  hatten.  Dennoch  zog  sich 
Görgei  die  weit  überlegene  Macht  des  Feindes  geschickt  nach;  es  ge- 
schahen vielfache  Märsche  und  Gegenmärsche,  Treffen  und  Postengefechte; 
aber  die  eigentliche  Entscheidung  kam  von  Oesterreichischer  Seite 
durch  den  Eilzug  an  die  Theiss,  die  Schlachten  bei  SzÖreg  (5.  Aug.) 
und  Temesvar  (9.  Aug.).  Jetzt,  da  Dcmbinski  und  Bern,  wenn 
auch  nicht  vernichtet,  doch  für  erfolgreichen  Widerstand  gelähmt  waren, 
musste  auch  Görgei,  abgemattet  durch  den  langen  Marsch,  von  der 
Oesterreichischen  und  Russischen  Armee  eingeschlossen,  entwe- 
der fechtend  sterben  oder  die  Waffen  strecken.  Erwählte  bei  Vilägos 
den  letztern  Ausweg  und  endigte  dadurch  den  Krieg.  Diess  ist  der  be- 
kannte Hergang;  es  fragt  sich  nun,  ob,  wie  die  Russischen  Berichte 
klagen,  der  General  von  Haynau  die  Zusage  gebrochen  und  rein  selbst- 
mächtig,  wenn  auch  mit  GlUck  gehandelt  habe.  Dabei  muss  man  als 
leitenden  Gesichtspunkt  festhalten,  dass  eine  gleicbrechtliche  und  gleichbe- 
fug le  Cooperation  bestand;  der  eine  und  andere  Theil  handelte  ohne 
Subordinations verhöltniss  nach  dem  vorläufig  entworfenen  Ope- 
XLIV.  Jahrg.  5.  Doppelheft.  42 


Der  Feldzuff  In  Ungarn. 


(Scliluss.) 


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658  Dir  Feldxug  in  Ungarn. 

■ 

rationsplan;  dem  Russen  war  mehr  und  beinahe  ausschliesslich  das  nörd- 
liche, dem  Oesterreicher  eben  10  das  südliche  Donauufer  an- 
gewiesen; der  eine  sollte  natürlich  den  andern  unterstützen,  aber  toi 
einem  einzigen  Oberkommando,  welches  etwa  überall  gültige  Befehle 
und  Vorschriften  geben  konnte,  war,  wie  gesagt,  nicht  die  Rede.  Die 
gegenseitige  Stellung  erscheint  nicht  einmal  so  fest  und  bestimmt,  wie 
%  B.  die  Wellington'  s  und  Blücher  's  yor  der  Waterloo  schlecht 
„Wählte,  heisst  es  desshalb  in  der  Oes terr eich icben  Geschichte  des 
Feldzugs  (S.  76),  die  österreichische  Armee  das  linke  Ufer  für  ihre  Ope- 
rationen, so  blieb  einer  Offensive  des  Gegners  über  Raab  unter  allen 
Umständen  der  Weg  nach  dem  Herzen  der  Monarchie  offen,  und  die  Ver- 
einigung der  beiden  operirenden  k.  Haupt-Armeen  hätte  wahrscheinlich 
kein  anderes  Resultat  gehabt,  als  gemeinschaftlich  nach  Wien  zurüekzu- 
marschiren.  Diese  Vereinigung,  oder  die  baldige  Verbinduog  der  beiden 
Haupt- Armeen  lag  übrigens  gar  nicht  im  Zweck  der  Operationen; 
denn  jede  derselben  war  stark  genug,  um  selbst  dem  grösseren  Theile 
der  Insurgentenmacht,  wenigstens  in  so  lange  die  Spitze  zu  bieten,  bis 
durch  die  Fortschritte  der  befreundeten  Armee  das  Gleichge- 
wicht hergestellt  war.«  —  Es  springt  nun  aus  dieser  deutlichen  Entwick- 
lung die  zweite  Frage  hervor:  „Wurde  durch  den  Abmarsch  des  Gur- 
gei'schen  Korps  die  Russische  Hauptarmee  wirklich  bedroht  und  be- 
durfte man  daher  für  die  Herstellung  des  Gleichgewichts  der  Oesterreicbischen 
Beihülfe  oder  realen,  d.  h.  auf  derselben  strategischen  Linie  werktä- 
tigen Cooperation?44  —  Die  überlegene  Starke  des  Russischen  Hee- 
res und  der  nie  auf  dem  linken  Donauufer  schwankende  Ausgang  des 
Kampfes  verneinen  die  Frage  oder  entscheiden  dahin,  doss  der  Fürst  von 
Warschau  auch  ohne  die  Vereinigung  mit  der  befreundeten  Hauptarmee 
Kräfte  genug  besass,  um  den  Feind  erfolgreich  zu  bekriegen.  Wenn  er 
dennoch  anfangs  entkam,  so  verdankte  er  das  lediglich  seiner  Thätigkeit 
und  Kenntniss  des  Landes.  An  diese  Betrachtung  knüpft  sich  von  selbst 
die  dritte  Frage:  „Konnte  die  Oesterreichische  Haoptarmee  durch  ein 
rasches  Abschwenken  gen  Osten  grössere  und  zwar  mehr  oder  weniger 
entscheidende  Vortbeile  gewinnen  als  durch  den  Donauübergang 
und  die  Verfolgung  des  30,000  Mann  zählenden  Görgei?tt  —  Die  An- 
wort  liegt  in  den  Siegen  bei  Szegedin  (2.  u.  3.  August),  Kanisa 
(3.  u.  5.  August),  Szöreg  (5.  Aug.),  Tcmesvar  (9.  Aug.)  und 
Dreispitz  (10.  Aug.).  Dadurch  wurden  die  östlichen  Streitkräfte 
4er  Ungarn  zerrissen,  gelähmt,  die  vom  Norden  herabgedrängten 
Heereslrümmer  Görgei's  zwischen  zwei  Feuer  gebracht  und  xor  Wal- 

p 

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Der  Fcldzug  in  Ungarn.  659 

fenstreckung  genöthigt.  Würe  diese  auch  am  linken  Donauufer  etwa 
drei  Wochen  früher  in  Folge  der  Vereinigung  beider  Hauptarmeen  ge- 
schehen, so  hatten  sich  iniwischen  ohne  den  Oesterreichischen  Theisi- 
10  g  die  Ungarischen  Streitkräfte  im  Osten  von  neuem  conzentrirt,  viel- 
leicht T  ein  es  va  r  bezwungen,  den  Kampf  jedenfalls  in  die  Länge  gezogen. 
Der  Ostmarsch  war  also  offenbar  ein  strategischer  Handstreich,  wel- 
cher von  Kopf,  Muth  und  Ausdauer  zeugt.  Daran  knüpft  sich  von  selbst 
die  letzte  Frage :  „Hat  der  0  e  s  t  e  r  r  e  i  c  h  i  s  c  h  e  Oberbefehlshaber,  durch 
Stellung  und  Vollmacht  zum  Selbstbandeln,  ohne  die  gleichzeitige, 
derselben  strategischen  Linie  folgsame  Cooperation  der  Russen, 
dem  befreundeten  Hauptquartier  die  schuldige  Anzeige  seiner  gefassten 
Entschlüsse  zu  machen  verabsäumt  und  dadurch  einen  gerechten  Tadel 
hervorgerufen ?  u  —  Auch  in  dieser  Rücksicht  wird  der  Armee- Oberkom- 
mandaat  durch  beiderseitige  Zeugnisse  hinlänglich  gerechtfertigt.  „Er,  h  eis  st 
es  im  Oeater.  Bericht  (S.  152),  verständigte  ungesäumt  (13.  Juli)  mit- 
telst eines  eigenen  Kouriers  den  F.  M.  Fürsten  von  Warschau  von  dem 
Abzage  der  magyarischen  Ober-Donau- Armee,  und  von  der  Richtung  (am 
linken  Dooauufer  über  Bätorkessi  an  die  Gran),  welche  sie  genommen, 
damit  die  russische  Armee  (sie  hatte  schon  am  12.  Wailzen  besetz»)  Zeit 
gewinne,  Gurgei  den  Weg  zu  verlegen;  ja,  er  bezeichnete  schon  am 
15.  Juli,  in  der  aichern  Voraussicht,  dasa  Görgei  bei  WaiUen  Un- 
möglich seinen  Durchbruch  erzwingen  könne,  den  Weg  Uber  Ipolysagb, 
Bailassan  Gyarmath  und  Rima  -  Szouibath  auf  lliskolcz  als  denjenigen, 
welchen  die  magyarische  Armee  unfehlbar  einschlagen  werde,  um  sich 
auf  die  Kommunikation  der  russischen  Armee  zu  werfen  und  sich  dann 
Iber  die  T heisa  nach  Debreczin  durchzuschlagen."  —  Freundlicher 
und  aufrichtiger  konnte  doch  wohl  nicht  gehandelt  werden,  ala  wenn  das 
ei;:?  Hauptquartier  dem  lindern  nicht  nur  den  nahenden  Feind  deklarirt, 
sondern  auch  die  Wege  und  Stege  bezeichnet,  auf  welchen  er  vorgeht. 
(VgL  Russischen,  in  der  Hauptsache  übereinstimmenden  Bericht,  S.  178.) 
Welch'  ein  entsetzliches  Drängen  und  Anhäufen  der  Massen  hätte  es  nun 
nicht  gegeben,  wäre  auch  die  ganze  Oesterreichische  Donauarmee 
nach  dem  Wunsch  und  Erwarten  des  Fürsten  von  Warschau  über  den 
Strom  gegangen !  Blieb  da  nicht  im  Nothfall  dem  wachsamen  und  kühnen 
Gurgei  Gelegenheit,  seinen  verbältnissmässig  genügen  Heertheil  zu  d  e- 
bandiren  nnd  ihm  die  beiden  Hauptarmeen  nachzuziehen?  Das  hätte 
in  den  Bergen  eine  wilde  Jagd  gegeben,  deren  Wechsel  und  Dauer  die 
Ungarn  in  den  Theiasgegenden  trefflich  für  Concentrirung 
benutzen  konnten.    Hayn  au  handelte  daher,  ist  die  Folgerung  aus  des 

42* 


/ 

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660 


Der  Feldzag  in  Ungarn. 


voranstehenden  Prämissen,  klug  und  pflichtgetreu,  wenn  er  unter  ver- 
änderten Umständen  die  im  Allgemeinen  gegebene  Zusage  zurück- 
nahm, den  General  Görgei  der  Russischen  Haoptarmee  überliess,  mit 
der  eigenen  aber  einen  fernen  und  vielfach  entscheidenden  Kampfplatz 
aufsuchte.  Dadurch  sind  denn  auch  die  weitläufigen,  stellenweise  leiden- 
schaftlichen Vorwürfe  des  Russischen  Berichts  (S.  184  ff.)  theils  wider- 
legt, theils  auf  ihr  richtiges  Mass  zurückgeführt.  Manche  Dunkelhei- 
ten und  Widersprüche  in  dem  blutigen,  unheilvollen  Bürgerkriege, 
welcher  ein  edles  Volk  für  viele  Jahre  zerriss  und  abschwächte,  werden 
sich,  wie  schon  früher  gesagt  worde,  nicht  eher  aufklären  und  ausglei- 
chen, als  bis  auch  der  besiegte  Theil,  wie  er  hin  und  wieder  schon  an- 
fängt, möglichst  sorgfältige  und  unparteiische  Berichte  gegeben  hat.  Jetzt 
nach  dem  thatsäeblichen  Abschluss  des  traurigen  Dramas  wäre  es 
ungereimt,  über  Fehlgriffe,  welche  auf  beiden  Seiten  begangen  worden, 
zu  klagen  oder  den  unleugbaren  Einfluss  zu  bejammern,  welchen  bei  dem 
trägen  Stillsitzen  der  Teutschen  Staatsmänner  und  leidigen  Parlaments- 
beiden  naturgemäss  Russland  durch  die  kräftige  und  grosse  Opfer  forderode 
Intervention  gewonnen  hat.  „ Europa,  schrieb  bereits  im  Junios  der 
Kommissär  L  u  d  v  i  g  h  aus  Komorn  an  K  o  s  s  u  t  h ,  benimmt  sich  überhaupt 
uns  gegenüber  sehr  schändlich.  Siegen  wir,  dann  erhebt  es  sich  gans 
gewiss  gegen  die  russische  Intervention;  sind  wir  aber  besiegt,  so  wird 
es  Uber  uns  eine  Trauerrede  halten.  —  Wir  können  ons  also  nur  auf 
unsere  eigene  Kraft  verlassen;  schaffe  daher  nur  Soldaten,  Waffen  nnd 
Geld,  und  solltest  du  dies  Alles  aus  der  Hölle  holen/'  (Oestr.  Ber.  131.) 
—  Da  aber  letztere  bekanntlich  sehr  feste  Riegel  hat,  welche  nur  durch 
Zauberwort  gesprengt  werden,  so  blieben  die  infernalen  oder 
hochrevolutionären  Kräfte  aus,  und  die  auch  folgerichtig  beliebten, 
modischen  Sympathieen  und  Solidaritätsverträge  der  Völker 
zeigten  sieb  hier  wie  anderswo  in  ihrer  ächten  Gestalt,  als  —  Zangen-, 
P r e  s s -  und  W  e i  n  d  ü n  s  te.  —  „lastitiam  discite  moniti  !u  gilt  von  Fürsten 
und  Völkern. 


Unsere  Politik.    Berlin.    Schneider,  1850.    &  70.  12. 

Uns  ist  in  alten  mären  Wunders  viel  geseit. 

Von  heleden  lobebären.  von  grozer  arebeit. 

Von  freude  und  hochgecilen:  von  weinen  und  klagen. 

Von  kuner  recken  striten,  muget  ir  nu  wunder  hören  sagen. 

Der  Nibelungen  Lied.   Leipzig,  1840. 

Die  Neu-Preussischc  Politik  trägt  io  Bezug  auf  Schleswig- 
Holstein,  die  Union  oder  Teutsche  Einheitsfrage  einen  wahr- 


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Unsere  Politik. 


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halt  tragischen  Charakter ;  nach  ungeheuren,  durch  viele  Geld-  und  Men- 
schenopfer beurkundeten  Anstrengungen  stehet  alles  an  dem  Platz,  von 
welchem  man  ausging;  die  Helden  des  nationalen  und  unitarischen  Prin- 
zips, den  Herrn  von  Radowitz  an  der  Spitze,  fallen;  die  Cohorten  der 
Agenten,  Redner  und  Schriftsteller  stieben  auseinander  und  warten  auf 
besseres  Welter;  der  so  oft  verhöhnte  Bundestag  nimmt,  durch  den 
Anschluss  reu  voller  Söhne  verstärkt,  wieder  das  Heft  in  die  Hand;  kurz, 
aller  Streit  hat  nun  ein  Ende.   Wenn  Spötter  sagen,  die  gesammte  Ent- 
wicklung gleiche  nicht  der  Iii  ade,  sondern  der  Jobsiade,  so  ist  das 
eine  ans  Missgunst  nnd  Neid  entsprossene  Verdrehung  der  Sachverhältnisse. 
Jedenfalls  lohnt  es  die  Mühe,  auf  jenen  merkwürdigen,  in  mancher  Rück- 
sicht beispiellosen  und  unvergleichbaren  Wendepunkt  der  Teutschen, 
insonderheit  Neu-Preussischen  Angelegenheiten  einen  kurzen  Rück- 
blick zu  werfen.  Diess  thut  zuerst  die  oben  genannte  Broschüre,  welche, 
ruhig  geschrieben,  von  dem  politischen,  nicht  einheitlichen  oder  phi- 
lanthropischen Standpunkte  aus  den  etwas  abentheuerlicben  Herlauf  der 
Dinge  betrachtet.  Gegenüber  der  Teutschen,  auf  die  vaterländische  Ein- 
heit scheinbar  gerichteten  Bewegung  erklärt  sie  die  bekannte  Proklama- 
tion vom  21.  März:  „Preussen  geht  in  Teutschland  aufu  für 
den  Knoten  der  ganzen  ferneren  Verwickelung.  Denn  dadurch  habe  nicht 
nur  der  bisher  scharf  markirte  Preussische  Staat  sich  selbst  uud  seine 
Eigentümlichkeit  aufgegeben,  sondern  auch  den  Souveräne!« ti- 
sch wind  el  des  Frankfurter  Parlaments  um  ein  Bedeutendes  gefördert. 
(S.  7  ff.)  Der  Verfasser  konnte  hier  den  leichtern  und  sicherern  Weg 
des  Aufgehens  dadurch  bezeichnen,  dass  er  etwa  die  Einverleibung 
kleinerer  Gemeinwesen  in  die  Monarchie  Friedrichs  des  Grossen  als 
idealen  Zielpunkt  des  instinktiven  Verschwindens  in  Teuschland  bezeichnete. 
So  machte  und  macht  es  ja  bekanntlich  die  S  lavische  Hauptmacht 
gegenüber  Teutschen  und  Slavischen  Elementen,  ohne  dass  dawider  Eu- 
ropäische Einsprache  von  Belang  versucht  wurde.    Und  dieses  langsame 
Verzehren  durch  Assimilirung  herbeigezogener  Kräfte  hat  bekanntlich 
auch  Frankreichs  Abrundung  bewerkstelligt,  ja,  selbst  dem  frühem 
Wachsthum  Preussens  wie  Oesterreichs  den  historischen  Bo- 
den bereitet.    Der  diplomatische  Fehler  lag  also  nicht  sowohl  in 
der  Proklamation,  als  in  dem  langeu  Stillsitzen  und  Zuwarten, 
während  eine  praktische  Politik  als  Beweis  des  wirklichen  Aur- 
gehens etliche  Territorien  sei  es  unter  dem  Vorwand  der  Teutschen  E  i  n- 
heit  oder  des  Iondfri ertlichen  Protektorats  würde  einverleibt  haben. 
Dem  Allen  aber  entgegen  blieb  man  Monate,  ja,  Jahre  lang  zwischen 


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Unser©  Politik. 


dem  Hangen  und  Bangen ,  und  glich  zuletzt  dem  gierigen  Tantaloe,  dessen 
Hand  umsonst  nach  den  rasch  entschlüpfenden  Früchten  ausgereckt  wird. 
—  Die  Folgen  der  Halbheit,  welche  zwischen  dem  aktiven  und  pas- 
siven Princip  unschlüssig  schwankt  und  eine  Art  politischer  Mystik  be- 
treibt, werden  (Nr.  2.)  also  bezeichnet:  „Preussen  steht  in  Deutschland 
da,  einflusslos,  theils  gehasst  und  theils  verachtet."  Das  erste  war  kaum 
zweifelhaft,  das  zweite  ist  trotz  der  Fehlgriffe  eine  leere  Redensart,  welche 
höchstens  für  die  doktrinär- burschikosen  Kaisermacher  und  Zeitungsschrift- 
steller  Wahrheit  besitzt.  In  den  folgenden  beiden  Abschnitten  (3.  u.  1  ) 
werden  gut  die  Missgriffe  gegenüber  Oesterreich  nachgewiesen,  wel- 
ches man  inmitten  seiner  Bedränguisse  als  verlornen  Posten  aufgab  und 
dem  russischen  Bündnis«  entgegentrieb.  „Maulaffen,  heisst  es  etwas 
rauh  (S.  17},  sassen  in  der  Paulskirche,  welche  die  deutsche  Einheit 
anstrebten,  während  sie  die  Uneinigkeit  beförderten ;  welche  von  deutscher 
Grösse  sprachen,  wahrend  sie  Deutschland  verstümmelten',  welche  gegen 
Russland  deklamirten,  während  sie  mit  allen  Kräften  beflissen  waren, 
Russlauds  Ansehen  zu  erhöhen.44  —  rO  schnöde  Eifersucht!  Jeder  für  sieb, 
und  darum  Beide  ohnmächtig!  Haben  wir  denn  die  Geschichte  verges- 
sen, und  Austerlitz  und  Jena  haben  uns  Nichts  gelehrt?  Dort  fiel  Oester- 
reich, verlassen  von  Preussen;  hier  Preussen,  verlassen  von  Oeslerreich.* 
(S.  19.)  —  Darauf  werden  die  S  ch  les  w  i g  -  H  o  I  s  t  ei  nisc h  e n  An- 
gelegenheiten, eine  staatsrechtliche  Controverse,  beleuchtet  und 
dahin  entschieden,  dass  Preussen  entweder  den  heiklen  Streitpunkt  hätte 
nimmer  berühren  oder  durch  eine  kräftige  Kriegsführung  entscheiden  sol- 
len. Letzteres  wäre,  meint  dor  Verfasser,  im  Jahre  1848  wohl  möglich 
gewesen,  und  zwar  so,  dass  Dänemark  für  Schleswig  -  Holstein  dem 
Teut sehen  Bunde  beitrat,  Preussen  dagegen  die  Garantie  der  Däni- 
schen Gesammtmonarchie  Ubernahm.  Statt  dessen  aber  habe  man 
hin  und  her  lavirt  zwischen  dem  Popanz  von  Reichsministeriuro,  Reicbskom- 
mission,  Reichsflagge  u.  a.  w.,  habe  die  Bewegung  gefördert  und  zuletzt 
das  arme  Ländohen  im  Stiebe  gelassen.  (S.  27.)  In  dem  gleichen  Ton 
werden  darnach  die  Nebelgebilde  und  Luftstreiche  des  Frankfurter  Kaisei- 
thums oder  Centraireichs  und  die  schon  mehr  realen  Entwürfe  der  po- 
litischen Nachgeburt,  des  Erfurter  Unionsstaats,  besprochen,  dabei  die 
mannigfaltigen  Widerspruche  und  Halbheiten  hervorgehoben,  die  kost- 
baren nnd  fruchtlosen  Novemberrüstungen  bitter  geladelt,  Reue  und  Rück- 
kehr zu  einer  gesunden,  um  das  historische  Preussen,  nicht  das  ima- 
ginäre Gesammtreich  sich  drehenden  Politik  empfohlen  und  statt  der  u*i- 
tarischen,  centralistiscben  Ideen  die  Grundsätze  des  reinen  Föderalismus 


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all  leitende  Gesichtspunkte  gepriesen.  „Land  der  Denker,  lautet  der  Schluse, 

wo  ist  Deine  Logik  geblieben?  Professoren!  wo  ist  Enre  Geschichte 
und  Geographie  geblieben,  wenn  Ihr  es  nicht  wisst,  dass  ein  Land  wie 
Deutschland  sich  nicht  organisiren  kann  wie  Frankreich,  noch  auch  wie 
England  oder  Nord-Amerika?  Ihr  Anderen  aber,  die  Ihr  nicht  Professo- 
ren seid,  wo  ist  der  gesunde  Menschenverstand  geblieben? 

„Ja,  zum  Teufel  ist  er!  Denn  der  Teufel  ist  der  Eigendünkel,  der 
Dinge  erstrebt,  nicht  wie  sie  der  Natur  nach  sein  können,  sondern  wie 
sie  nach  eigenem  Belieben  sein  sollten;  der  Eigenwille,  der  nur  sich 
selbst  will,  im  Gewände  des  Patriotismus  als  ein  Engel  des  Lichts.  — 
Wss  Wunder  nun,  wenn  Alles  sich  ins  Gegenthei!  verwandelt?  Die  Ein- 
tracht in  Zwietracht,  die  Macht  in  Ohnmacht,  die  Ehre  in  Unehre  ?fi Weint 
Patrioten!  aber  werdet  weise !u 

Der  unbekannte  Verfasser  hat  nun  gleichfalls  zwei  bedeutende  Fehler 
begangen;  erstens  kommt  seine  Mahnung  nicht  vor,  sondern  na  oh  dem 
Convolut  verschiedenartiger  Missverstandnisse  und  Fehlgriffe  ;  ein  Umstand, 
welcher  den  in  diesen  Blättern  oft  während  der  Fluth  ausgesprochenen 
Tadel  des  blinden  Centralisirens  und  Unirens  keineswegs  berühren  kann. 
Zweitens  wird  das  Heilmittel  zu  unbestimmt  angegeben,  indem  die  ein- 
fache Wiederkehr  des  Bundestages  den  Status  quo  vor  der  Kata- 
strophe, mithin  den  Complex  vielfach  anerkannter  Uebel  und  Widerwär- 
tigkeiten, bezeichnet.    Die  Reform  ist  dadurch  eben  so  wenig  ausge- 
sprochen als  gewährleistet.   Und  dennoch  bleibt  sie  unabweisbar.  Sy Ste- 
ina tisirte  und  concentrirte  Repressivmassregeln    mehren  nur  die 
Krankheitsstoffe;  das  wirklich  Böse  kann  man  ausbrennen,  das  Verkehr- 
te nur  auf  dem  Wege  der  Besonnenheit  zum  Rechten  bringen.  Aecht  de- 
mokratische oder  der  Gesammtheit  entsprossene  Errungenschaften,  wie 
Schwurgerichte  und  Oeffentlicbkeit  der  Rechtspflege,  Endschaft  materieller 
Privilegien   und  bevorzugter  Corporationen ,  selbständige  und  geregelte 
Gemeindeverfassung,  Pressfreiheit  unter  einem  vernünftigen  Gesetz 
und  kirchlich-religiöse  Toleranz,  haben  höhern  Werth  als  wan- 
delbare Edikte,  oktroyirte,  bald  rechts,  bald  lioks,  hier  nach  unten,  dort 
nach  oben  gekehrte  Schrift-  und  Ständeverfassungen,  welch« 
in  den  erwähnten  Voraostalten  die  eigentliche  Bediogung  ihrer  dauerhaf- 
ten nnd  woblthatigen  Wirksamkeit  besitzen.  Anf  dergleichen  Punkte  hätte 
sich  „unsere  Politik44,  welche   mehre  ihrer  verständigen  Winke, 
beisst  es,  dem  K.  Russischen  Gesandten  von  Meiendorf  verdankt,  am 
Ende  richten  sollen.    Auch  mit  dem  alten  Organisation*  -  und  Ge- 
schäftsgang des  Bundes  wird  man  bei  neuen  Bedürfnissen  und  Ver- 


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664      Westermann:   üeber  die  Urkunden  in  den  Altischen  Rednern. 

Wicklungen  aHein  nicht  ausreichen.  Der  Wohlthat  des  allgemeinen,  jetzt 
wieder  aufgenommenen  und  gültigen  Centroiorgans  muss  wohl  die 
zweckmässige  Keform  beitreten,  sichtbar  in  einem  vollziehenden  Direc- 
lorium  von  drei  bis  fünf  Mannern,  Wechsel  des  Stimmenverhält- 
nisses zu  Gunsten  der  grössern  Staaten  und  ähnlichen,  auf  der  Hand 
liegenden  Dingen.  Dass  bei  dem  etwaigen  Eintritt  Gesammt-Oester- 
reichs  wie  früher  Gesammt-Preussens  die  materiell-natio- 
nalen Kräfte  ausserordentlich  gewinnen  und  in  Folge  richtiger  Manipu- 
lation etwelche  Einreden  (Proteste)  des  Auslandes  spurlos  vorübergehen, 
bleibt  wahrscheinlich,  wenn  man  die  Sache  ganz  und  nicht  halb  will, 
dafür  auch  etwaigen  Waflenstreit  nicht  scheut.  Aber  wie  gesagt,  die 
Teutsche  Nation  muss  dann  auch  innerlich  frei  seyn.  Dergleichen 
hätte  das,  gegen  allerlei  Träumereien  mit  Nachdruck  reagirende  Büchlein 
mindestens  andeuten  sollen. 


1.  Untersuchungen  über  die  in  die  Attischen  Redner  eingelegten  Urkun- 

den von  Anton  Westermann.  Erste  Abhandlung:  Die  Mo- 
dalität  der  Athenischen  Gesetzgebung,  geprüft  an  den  in  der  Rede 
des  Demosthenes  gegen  Timokrates  §$.  20—23.  27.  33.  39.  40. 
59.  eingelegten  Urkunden  pgg.  3 — 60.  Zweite  Abhandlung:  Prü- 
fung sämmtlicher  in  die  Attischen  Redner  eingelegten  Zeugenaus- 
sagen, pgg.  63—136.  [Beide  in  den  „Abhandlungen  der  Philo- 
logisch-Historischen Klasse  der  Königlich  -  Sächsischen  Gesellschaft 
der  Wissenschaften."  Erster  Band.  Leipzig,  Weidmannsche  Buch- 
handlung, 1850.] 

2.  Commentationum  Criticarum  in  scriplores  Graecos  pars  altera,  quam 

—  scripsit  Antonius  Westermannus  Litt.  Gr.  et  Lat.  P.P. 
0.  Lipsiae,  liUeris  StariUii,  typogr.  Unitersit.  MDCCCL.  p.  tS.  4. 

• 

Insofern  die  in  die  Attischen  Redner  eingelegten  Gesetze  Verträge 
und  Zeugnisse  bisher  fast  allgemein  so  gut  wie  der  Text,  dem  sie  zur 
Bestätigung  beigerügt  schienen,  als  wichtige  Quellen  Griechischer  Alter- 
thumskunde betrachtet  wurden,  möchte  man  fast  glauben,  Herr  Prof.  We- 
stermann habe  einen  kühnen  Griff  gethan,  wenn  er  diese  ehrwürdigen 
Denkmäler  anzuzweifeln  sich  erlaubte.  Namentlich  bat  Uber  die  ausführ- 
liche Irci^eipOTOVia  vöfjuov,  (Dem.  Tim.  pag.  706)  womit  das  bei  den 
jährlichen  Gesetzesrevisionen  in  Athen  übliche  Verfahren  bezeichnet  wird, 


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Wettermann:   Ueber  die  Urkunden  in  den  Attischen  Rednern.  665 


unseres  Wilsens  Niemand  je  ein  Bedenken  geäussert,  sie  diente  vWmehr 
bei  allen  Untersuchungen  und  Erörterungen  über  diesen  Gegenstand  zur 
Grundlage.  Und  doch  kann  Ref.  nachdem  er  die  erste  Abhandlung,  ein 
Musler  umsichtiger  Prüfung  gelesen,  es  nur  fUr  sehr  schwer,  wo  nicht 
unmöglich  halten,  irgend  etwas  beizubringen,  was  sich  gegen  die  von  W 
.  aufgebotenen  Reweise  anführen  Hesse.  Versuchen  wir  in  Kürze  seine  An- 
licht hier  wiederzugeben. 

Zunächst  vergleicht  W.  die  in  deu  Reden  für  Timokrates  und  Lep- 
tines  auf  die  Gesetzesrevisionen  bezüglichen  Stellen,  dazu  noch  den  Aescbi- 
nes  adv.  Ctesipb.  §.  39.  In  jenen  beiden  bringt  Demosthenes  nur  die 
Punkte  zur  Sprache,  welche  mit  seiner  Anklage  in  unmittelbarer  Verbin- 
dung stehen,  daher  wir  von  dem  ganzen  Unifaug  der  die  Legislation  selbst 
betreffenden  Gesetze  nur  Bruchstücke  erhalten.  Timokrates  hatte  die  zur 
Einbringung  neuer  Vorschläge  gesetzlich  angeordnete  Frist  nicht  beobach- 
tet, indem  er  hinterlistig  ein  Gesetz  zu  Gunsten  gewisser  Staatsschuldner 
durchzudringen  suchte;  dabei  verging  er  sich  gegen  die  in  der  Rede  §.  18 
und  25  citirteu  Sätze.  Leptines  hatte  seinen  Vorschlag  nicht  einmal, 
wie  Timokrates,  den  Nomotheten  vorgelegt,  sondern  wie  zu  vermuthen, 
durch  direkte  Bearbeitung  der  Ekklesia  durchgesetzt,  also  gegen  die  Be- 
stimmungen gehandelt,  welche  adv.  Lept.  §.  94  aufgezählt  werden.  Aeschi- 
nes  berührt  I.  c.  uur  die  von  den  Thesmotheten  angestellte  Prüfung  der 
alteu  Gesetze  und  spricht  von  der  durch  die  Prytanen  verkündeten,  von 
den  Proedren  geleiteten  Volksversammlung,  welche  der  eigentlichen  No- 
mothesie vorausgingen  und  sie  einleiteten. 

Es  wäre  daher  bei  der  durch  die  Sachlage  natürlich  hervorgebrach- 
ten Lückenhaftigkeit  dieser  Traditionen  von  grösstem  Werth,  wenn  die 
genannte  \-\yv//~<jv.ri  eine  vollständige  Einsicht  in  die  Gesetze  Solons, 
welche  den  Geschäftsgang  bei  Rogationen  betrafen,  gewährte.  Auf  Solon 
führt  nämlich  Demosthenes  diese  vojjloi  (~-  w/xvx  oder  xecpaXaw)  darüber 
zurück  (adv.  Tim.  §.  24),  wobei  man,  wie  sich  von  selbst  versteht,  voo 
notorisch  spätem  damit  zusammenhängenden  Instituten  absehen  muss.  In- 
dess  gibt  fast  jede  Zeile  dieser  Urkunde  irgend  einen  Anstoss,  sey  es 
nun  gegen  die  handgreiflichste  Logik  oder  gegen  andere  allbekannte  Ge- 
setze, oder  gegen  den  Athenischen  Curialstyl,  wie  sich  sogleich  zeigen  wird. 

Der  erste  §.  (20)  schliesst  mit  dem  Satz:  tip  ff  faoXKpomCtt 
elvott  tojv  vojitov  xaia  tou;  vojiguc  tüü;  xstjxevooc  Die  bestehenden  Ge- 
setze sind  es  eben,  welche  hier  mitgetheilt  werden,  und  dass  sie  als  solche 
auch  gehalten  werden  müssen,  bedarf  keiner  Erwähnung,  doch  lautet  dies» 
X.  T.  v.  t.  x.  gerade  so  als  beziehe  man  sich  auf  andere,  ausserhalb  der 


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fififi         WMtrrmann*    ITaW  iti«  ITrkimH*n  in  <fon  AtllcrhAn  Rf»Hn*rn 

FnipM+Mnnia    WafranAa    ColinilMa      nmA    Aaa    ist    im    kKoVicton    CUaila  u.'i/4nr 

npivun munic  iicgciiuo  cöituiiyeu,  unu  uos  ist  im  uutusicu  uiuuc  wiuer- 

sinnig.  Eine  unlogische  Einteilung  der  Nomoi  gehl  voraus  in  ßouXeimxoi, 
xoivoi,  oTxcTvrat  toT;  £w$a  Spxoooi,  dann  °^  *•  Rtpittifr  5XXu>v  dr/tüv: 
unlogisch  ist  sie,  weil  dadurch  species  zu  genera  erhoben  und  zwei  ge- 
nera  weggeblieben  sind,  die  v.  rapi  tu>v  t&coxixüjv  und  die  ~*pl  tujv 
bptuv,  ausserdem  ist  die  Bezeichnung  durch  xotvot  ganz  verfehlt,  wenn, 
wie  der  Zusammenhang  erweist,  darunter  die  Anordnungen  verstanden 
werden  sollen,  welche  den  Autheil  der  ISation  an  der  Staatsregieruog  in 
der  Ekklesia  betreffen.  Was  nun  die  Epichirotonie  selbst  angeht,  scheiot 
der  Verfasser  geglaubt  zu  haben,  das  Volk  hätte  ohne  vorausgehende 
Debatte  der  Rechtskundigen  einfach  votirt  über  die  Beibehaltung  oder 
Aufhebung  der  bestehenden  Gesetse,  indem  er,  was  doch  in  einer  gründ- 
lichen Constitution  nicht  fehlen  durfte,  einer  solchen  gar  nicht  gedenkt, 
10  wenig  als  der  jene  Besprechung  selbst  vorbereitenden  Revision  der 
Thesmotbeten.  Unnütz  dagegen  ist  gewiss  die  Vorsorge  für  die  Anwei- 
sung der  Nomotheten  an  eine  in  der  Ekklesia  jedesmal  zu  bestimmende 
Kasse  ($.  21 ;  rcepl  Äpppfou,  oicöfav  toi;  vojmo&sxaic  lotai),  da  sie  ab 
Richter  ihren  gewöhnlichen  Heliastensold  bezogen  haben  werden ,  und  ganz 
unpraktisch  die  Forderung,  im  Voraus  die  Dauer  der  Sitzung  derselben 
festzusetzen,  da  die  Lange  der  Berathuag  weder  berechnet  werden  konnte, 
noch  von  den  Nomotheten  abbing.  Weiterhin  ist  es  ein  starker  Missgriff, 
wenn  die  Prytanen,  falls  sie  nicht  die  Ekklesia  zum  Behufe  der  Epichiro- 
tonie promulgiren,  mit  tausend  Drachmen  (jeder  einzeln}  bestraft  werden 
sollen,  wahrend  die  Proedren,  wenn  sie  in  der  Versammlung  die  Tages- 
ordnung nicht  einhalten,  nur  vierzig  Drachmen  zu  erlegeu  haben.  Das 
Vergehen  der  Letzteren  wäre  doch  gewiss  das  grössere  gewesen.  Viel- 
leicht liegt  hier  die  Schuld  nicht  an  dem  Verfasser;  die  Abschreiber  können 
M  =  fi6ptai  für  u  =r  Tercapaxovxa  genommen  haben,  wie  W.  vermutbet. 
Uebrigens  ist  kaum  denkbar,  dass  Prytanen  und  Proedren,  wenn  für  die 
erste  Ekklesia  des  Jahres  einmal  der  Gegenstand  festgesetzt  war,  davon 
abzugeben  im  Stande  waren.  Indess  unser  Autor  ist  gerade  hier  recht 
ausführlich.  Er  fährt  fort,  gegen  beide  zu  operiren :  Ivfe&c  Outöjv  £ar© 
rcpos  toik  fteojiofreTac,  xa&arcep  low  ti;  ap)r?j  öqpstXojv  toj  dqjuiooiro. 
Der  Sinn  dieses  höchst  unklar  ausgedrückten  Satzes  scheiot  der  zu  seyn: 
bleibt  einer  in  seinem  Amt  ohne  die  Strafe  zu  zahlen,  so  ist  er  bei  den 
Thesmotbeten  zu  belangen,  gleich  den  Staatsschuldnern,  die  ihre  ay/j, 
nicht  niederlegen.  Aber  die  Proedrie  kann  mit  einer  äp/j,  nicht  vergli- 
chen werden,  da  ihr  Walten  mit  der  Ekklesia  aufhört ,  wofür  die  Proe- 
dren erloost  worden  sind,  wäre  es  aber  eine,  dann  hätte  der  Zusatz 


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Weitermann!  Ueber  die  Urkunden  in  den  Attischen  Rednern.  667 


xofoksp  wieder  keinen  Sinn,  denn  so  würde  Amt  mit  Amt  d.  h.  Gleiches 
mit  Gleichem  zusammengestellt  als  wlre  es  nnr  Aehnliches.  Auch  die 
Prylanen  würden  durch  das  Gebot  aus  dem  Ausscboss  zu  treten,  oder 
eine  Klage  zu  gewärtigen,  nicht  sehr  affin rt  worden  seyn,  da  nach  der 
dritten  Ekklesia  ihr  Regiment  ohnehin  bald  zu  Ende  ging. 

Eine  verkehrte  Vorstellung  ?om  Zweck  zeitiger  Bekanntmachung 
der  Gesetzesvorschläge  verräth  §.  23:  oiuo{  5v  Ttpö«;  TO  id^oc  TÄV 
tsOevtü>v  vöjiü)v  ^(pioifjTat  6  ö^jao;  rcspi  tou  xpoyOÜ  ^  vofiofrlTats. 
Wie  schon  bemerkt,  war  das  festzusetzen  gar  nicht  thunlicb,  doch  davon 
abgesehen,  wie  nahe  lag  es  das  wirkliche  Motiv  zu  entdecken,  wenn  es 
aocb  Demoslhenes  nicht  selbst  mehremale  hervorkehrte:  nämlich  um  eine 
ruhige  besonnene  und  umsichtige  Prüfung  der  Vorschläge  möglich  zu  ma- 
chen. Aus  eben  diesem  Grund  mussten  sie  von  dem  Grammateus  in  den 
nächstfolgenden  Versammlungen  vorgelesen  werden,  wie  adv.  Lept.  §.  94 
angegeben  wird,  was  der  Verf.  der  Epichirotonie,  so  wesentlich  es  auch 
wir,  anzuführen  unterlassen  hat.  Dafür  ist  zum  Ueberfluss  das  Uber  die 
schriftliche  Publikation  Angeordnete  zweimal  gesagt,  zuerst  in  den  Wor- 
ten (§.  23)  izpb  dh  rffi  ixxX^ata;  —  vojioölxatc,  deno  in  den  sogleich 
folgenden  6  is  ndsl;  —  yevr/xat.  Obgleich  in  allem  bisher  Vorgekom- 
menen wenig  Verstand  sich  offenbart,  wird  doch  schwerlich  anzunehmen 
seyn,  dass  eine  so  plumpe  Wiederholung  dem  Autor  unbewusst  entschlüpft 
sey,  wesshalb  man  den  zweiten  Satz  trotz  der  Bereicherung  durch  das 
ivoroety«;  ei;  Xeuxiuu.«  besser  streicht  als  beibehält. 

Mangel  an  Kenntniss  der  Athenischen  AlterthUmer  ist  zu  erkennen 
in  Ausdrücken ,  wie  tt]v  TsXeoratav  tojv  xpitov  ixxXrpuiuv,  (§.  21)  eine 
wunderliche  Umschreibung  von  Tr^v  toittjv  Ixxa.  worin  W.  eine  Spur  von 
der  Zeit  der  Abfassung  findet,  es  war  die  Epoche,  als  Athen  zwölf  Pby- 
lea  hatte  und  in  jeder  der  12  Prytaniecn  nur  drei  Ekklesien  gehalten 
Warden.  Nach  der  sclavischen  Art  der  Scholiasten,  die  aus  einem  spe- 
cialen nnd  einzelen  Fall  allgemeine  Regeln  sich  abstrahirten,  wird  auch 
hier  zu  Anfang  und  Ende  der  Urkunde  der  eilfte  Hekatombaeon  als  der 
jedes  Jahr  wiederkehrende  Tag  der  Epichirotonie  bestimmt,  der  Autor 
bedachte  also  nicht  die  Wandelbarkeit  des  Attischen  Jahres,  welche  gar 
keine  bestimmten  Prytanientage  ein  für  allemal  zu  fixiren  erlaubte,  da 
diese  sonst  Öfters  mit  den  Festtngen  zusammengefallen  wären.  Weil  Timo- 
krates  den  genannten  Tag  zu  seiuem  Zweck  benutzt  hatte,  meinte  der 
Verf.  sicher  zu  gehen,  wenn  er  für  alle  Zeit  jenes  Datum  vorschriebe, 
statt  einfach  die  xupia  ixxXrp'a  des  Hekatombaeon  zu  nennen.  Irgend 
woher  ist  in  §.  23  in  ähnlicher  Weise  die  Bestellung  von  fünf  Anwälten 


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668      Westermann:   lieber  die  Urkunden  in  den  Attischen  Rednern. 

für  die  angegriffenen  Gefetze  entlehnt;  warum  es  immer  fünf  seyn  musi- 
ten,  ist  nicht  zu  begreifen,  ihre  Anzahl  wird  »ich  nach  der  grössern  oder 
geriogern  Masse  des  Stoffes  gerichtet  haben.  Sie  heissen  hier  nicht,  wie 
adv.  Lept.  §.  146  ouv&xoi,  sondern  mit  einem  ganz  befremdlichen  Ter- 
minus ouva7toXöyrja6jievot.  In  derselben  Rede  I.  c,  welche  Stelle  viel- 
leicht zu  der  Annahme  der  fttnfe  verleitete,  werden  für  das  Gesetz  des 
Leptines  nur  vier  An  walte  genannt,  aber  den  Urheber  des  Gesetzes  mag 
er  mitgezählt  haben. 

Die  bestehende  Ordnung  über  Einbringung  neuer  Gesetze  umging 
nun  Timokrates  durch  ein  Psephisma,  welches  angeblich  für  die  nahe  be- 
vorstehenden Panathenaeen  eine  ausserordentliche  Sitzung  der  Nomotheten 
•uf  den  12.  Hekatombaeon  anberaumte;  das  war  ein  Festtag  (Krouia) 
an  dem  der  Rath  nicht  zusammenkam.    Dies  Dekret  war  nach  Demo- 
•thenes  Urtheil  recht  schlau  (tsxvucü>0  abgefasst:  die  gutwillig  erschei- 
nenden Nomotheten  vernahmen  kein  Wort  Uber  die  Panathenaeen,  son- 
dern T.  legte  ihnen  jetzt  seine  Rogation  vor,  wobei  er  ein  Privilegium 
für  einige  seiner  Freunde  zu  erschleichen  suchte.  In  dem  zu  §.  27  mit- 
getheillen  Psephisma  ist  von  jener  gerühmten  Schlauheit  nichts  zu  entdecken. 
Der  Sykophant  musste  um  ein  gegen  den  gewöhnlichen  Geschäftsgang 
verstossendes  Verfahren  plausibel  zu  machen  ganz  andere  Dinge  vorbrin- 
gen als  diess  oitü>c  —  öiotxr^i  dazu  bedurfte  es  weder  eines  Timokra- 
tes noch  der  Nomotheten.    Der  Satz  ist  noch  dazu  sehr  linkisch  ausge- 
fallen:  die  Panathenaeen  werden  hinterher  genanut,  nachdem  sie  schon 
unter  kpa  verstanden  waren  und  dtoix^*'  in  der  Bedeutung  von  uopio^g 
ist  im  Attischen  Sprachgebrauch  unerhört.  Im  Eingang  des  Psephisma  ist 
das  Datum  weggeblieben,  und  zu  Im  ttJ;  lIav£uMÖkG{  nparnjc  fehlt  rcpuxa- 
vsoouar^;  beides  starke  Verstösse  gegen  die  übliche  Form.    Dass  die 
Nomotheten  zu  berufen  Sache  der  Thesmolheten,  nicht  der  Prytanen  war, 
wuasta  der  Verf.  nicht.    Das  tollste  ist  aber,  dass  er  den  Zusatz  macht 
ouwojio&STstv  6s  xai  tt,v  ßouXfjV,  wodurch  Timokrates  sein  ganzes  Spiel 
vereitelt  hätte,  dieser  wollte  eben  darum  den  Feiertag  benutzen  um  hinter 
dem  Rücken  der  Bule  einem  Theil  der  Staatsschuldner  die  gewünschte 
Erleichterung  zu  verschaffen. 

In  dem  von  Demostbenea  zu  §.  59  gegen  Timokrates  angeführten 
Gesetz  ist  jedenfalls  die  Schlussbemcrkung  oi;  av  jxtj  öo£g  xpüßöty 
«lYf ^GiiEvoi;  weder  grammatisch  noch  sachlich  haltbar.  Letzteres  darum 
nicht,  weil  es  dem  Timokrates  nicht  einfallen  konnte,  seinem  Vorschlag 
durch  geheime  Abstimmung  der  ganzen  Ekklesia  Gesetzeskraft  zu  erthei- 
len ;  der  Redner  tadelt  daran  nur,  dass  es  Einzelen  ein  Privilegium  ertheile 


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Wettermann:    Uebcr  die  Urkunden  in  den  Attischen  Rednern.  669 

und  so  gegen  das  Gesetz  fnj  vöfiov  i£slvat  W  ävdpi  Oetvat,  iotv  fnj  töv 
onVciv  Irrt  naotv  'A^jvaioic  Ttftj  Verstösse. 

Ein  anderer  Nomos  tu  §.  32  citirt  enthalt  ebenfalls  mehrere  offen- 
bar unrichtigen  Sätze;  wie  die,  dass  die  Proedren  die  Diacbirotonie  der 
Nomotheten  leiten  sollen.  Auch  hier  wieder  sind  die  Thesmotheten  (ot 
Iro  tooc  vdfiooc  xXr^poujiSvot ,  adv.  Lept.  §.  90)  von  ihrer  Stelle  ver- 
drängt um  denen  Platz  zo  machen,  welche  mit  dem  Gerichtswesen  Nichts 
io  schaffen  haben.  Die  Sitzungen  der  Nomotheten  werden  aber  ausdrück- 
lich als  gerichtliche  betrachtet.  Die  Gegner  des  neuen  Gesetzes  erschie- 
nen als  Ankläger  desselben  (Lept.  §.  89)  und  die  Nomotheten  wurden 
zur  Abstimmung  in  der  bei  Gerichten  bräuchlichen  Weise  aufgefordert; 
dieses  Votiren  heisst  nirgends  ^sipoiovia  oder  faay&ipvzovla. 

Die  Klage  gegen  Leptiues  wurde  ohne  Zweifel  vor  den  Nomothe- 
ten verbandelt,  nicht,  wie  F.  A.  Wolf  anuabm,  vor  einem  helia Mischen 
Gerichtshof.  Hier  hätte  es  bei  der  Verwerfung  des  Vorschlags  von  Lep- 
tines  sein  Bewenden  gehabt.  Dagegen  spricht  aber  die  Erklärung  des 
Demoslhenes  in  Lept.  §.  89,  93,  99;  er  musste,  wenn  er  den  Leptiues 
angriff,  zugleich  sein  eigenes  Amendement  den  Nomotheten  vorlegen  (§.  137}, 
bitte  er  damit  bis  zum  folgenden  Jahr  warten  dürfen,  so  wäre  unterdes- 
sen eine  Lücke  in  der  Gesetzgebung  geblieben. 

In  demselben  Nomos  (§.  33)  wird  die  von  den  Proedren  veran- 
lasste Abstimmung  zugleich  über  das  alte  und  das  neue  Gesetz  verlangt: 
dadurch  konnten  aber  beide  verworfen  werden  und  dann  entstand  gleich- 
falls eine  Lücke.  Allerdings  erlaubten  sich  Manche,  Gesetze  erst  zu  Fall 
zn  bringen  und  dann  ihre  dafür  in  Aussiebt  gestellten  eigenen  zurück- 
zuziehen,  so  dass  jene  Folge  wirklich  eintrat,  aber  wie  darf  eine  fest- 
stehende Ordnung  solchen  Unfug  selbst  hervorrufen?  Weil  Demosthenes 
Gegner  des  Gerücht  verbreitet  hatten,  er  werde  es  auch  so  machen,  bit- 
tet er  Lept.  §.  100  die  Thesmotheten  sein  Versprechen  zu  Protokoll  zn 
nehmen,  dass  er  sein  Wort  halten  und  einen  eigenen  Vorschlag  einbrin- 
gen werde.  Freilich  mttssten  das  nach  der  Ansicht  unseres  Nomotheten 
die  Proedren  thun. 

Die  Bestimmung  endlich,  dass,  wenn  Jemand  ein  Gesetz  aufhebe 
nnd  dafür  ein  anderes  vorschlage  fnj  imxrjo'eiov  tj  baVT&V  töv  X8tfi<V0)V 
tu,  solle  gegen  ihn  das  Gesetz  in  Anwendung  kommen,  welches  dieje- 
nigen treffe,  die  einen  vojioc  fAT)  eTtiTTj&ioc  vorschlagen,  beruht  auf  der 
Voraussetzung,  dass  ein  Vorschlag  der  einem  frühem  Gesetz  widerspreche, 
notwendig  auch  oux  &UTt)$eio;  oder  die  Strafbarkeit  beider  Missgriffe 
gleich  gross  se^. 


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670       Westermann:   Ueber  die  Urkunden  in  den  Attischen  Rednern. 

In  der  zweiten  Abhandlung  ergeben  sich  ähnliche  Fehler  bei  der 
Prüfung  der  testimonia,  dass  sie  gegen  den  üblichen  Gerichts* tyl  Ver- 
stössen, z.  B.  Namen  des  Vaters  oder  des  Demos  oder  auch  beide  weg- 
lassen, dass  sie  geradem  der  Aussage  des  Redners  widersprechen,  we- 
nigstens etwas  bezeugen,  was  gar  nicht  nötbig  war  oder  sich  von  selbst 
verstand;  dass  sie  grosse  Unkenntniss  der  Attischen  Institutionen  an  den 
Tag  legen,  und  ihre  Unächlheit  auch  durch  unbeholfene  Ausdrucks  weise 
verrathen.  So  heisst  es  z.  B.  in  den  Zeugnissen  der  Midiann  immer 
ATTflAOO&svTQC  (p  jiapTopoüuav  oder  gar  Ms'.&'a;  6  xptvofitvos  At}jig- 
oftivooc,  in  der  Rede  gegen  die  Neaera  kehrt  sechs  Mal  das  nichtssagende 
N.  tj  vuvl  &Yü>viCGjjiv7}  wieder.  Dadurch  erhellt  zugleich,  dass  verschie- 
dene Hände  bei  diesen  Fälschungen  beschäftigt  waren.  Unter  den  Hand- 
schriften hat  I  verhältnissmässig  davon  am  freisten  sich  erhalten,  indem 
nur  die  Einlagen  zur  Midiaoa,  den  Reden  rcepl  Gxscpavoo  und  gegen  Neaera 
darin  vorkommen,  gerade  diese  fehlen  wieder  (mit  Ausnahme  der  letzt- 
genannten Rede)  im  Aug.  1.  Diess  lässt  ebenfalls  auf  verschiedene  Ver- 
fasser scbliessen,  welche  aber  sämmtlicu  mit  ihren  Produkten  wenig  Ehra 
einlegen. 

Um  nun  mit  den  Aktenstücken  zur  Redo  r..  ct.  zu  beginnen ,  so 
gibt  das  erste  (§.  135)  gegen  Aescbines,  dass  ihm  den  Hyperidei  als 
Pylagoren  der  Areopag  vorgezogen  habe,  als  der  Demos  einstmals  ihn  zo 
dieser  Stelle  designirt  halte,  nur  eine  sehr  abschwächende  Variation  der 
scharfen  Worte  in  §.  134,  das  zweite  greift  auf  ähnliche  Weise  fehl, 
wie  die  Fictiooen  der  Timocratea.  Wenn  dort  bei  der  Tpaqnj  7iapavö|i<i>v 
das  Praesidium  den  Proedren  übertragen  wird,  und  dem  Verfasser  nicht 
von  ferne  einfällt,  dass  er  damit  die  Thesmotbelen ,  die  wirklichen  Ge- 
richtspräsidenten iguorirt,  so  werden  hier  in  einem  Prozesse  derselben 
Gattung  die  Thesmolheten  durch  die  Strategen  ersetzt,  welche  die  Zeugen 
beeidigen  sollen.  Andere  Verstösse  dieser  beiden  Stücke,  welche  zum 
Theil  schon  von  Droysen  in  seiner  Schrift  „über  die  Echtheit  der  Urkun- 
den in  Demosthenes  Rede  vom  Kranze«  p.  127  CT.  179  ff.  besprochen  sind, 
übergehen  wir. 

Ueber  die  Zeugnisse  in  der  Rede  gegen  Midias  hat  Westarmann 
schon  1844  in  der  Grarulationsschrift  an  G.  Hermann,  betitelt:  „de  litis 
instrumentis  quae  exstent  in  Demosthenis  oratione  in  Midiam  commentatiotf 
gehandelt,  und  zwar  dort  auch  über  die  in  der  Midiana  vorkommenden 
Gesetze.  Hier  beschränkt  er  sich  auf  die  eine  Gattung  der  testimonia 
und  sucht  seine  Kritik  gegen  die  unterdessen  gemachten  Einwendungen 
zn  rechtfertigen.    Es  ist,  glauben  wir,  nicht  in  Zweifel  zo  ziehen,  dass 


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Weslermann :  Ucbcr  die  Urkunden  in  den  Attischen  Rednern.  671 

gleich  der  Inhalt  der  ersten  Urkunde  mit  deo  Worten  des  Demosthenes 
Dicht  gehörig  barmonirt  (vrgl.  §.  21  sq.).  Denn  dieser  erzahlt,  Midias  habe  die 
bei  dem  Goldarbeiter  für  ihn  bestellten  Kranze  verdorben,  Meister  Pam- 
meoes  weiss  aber  nur  von  einem  Krame  zu  berichten,  wie  nur  von  ei- 
ne m  tusretov,  was  wohl  in  falscher  Auffassung  de«  collektiven  ioWj;  sei- 
nen Grund  hat  Ferner  beguUgt  sich  der  Verf.  hier  mit  einem  Zeugniss,  da 
doch  schon  ans  icpaytvjv  dann  aber  auch  aus  §  13 —  18  und  25  erbellt,  dass  der 
Redner  eine  bedeutende  Anzahl  belastender  Aussagen  für  diese  Stelle  gesam- 
melt halte.  In  den  übrigen  Aktenstücken  ist  Vieles  zu  linden,  was  von  der 
Terminologie  der  athenischen  Gerichtssprache  in  sehr  auffallender  Weise  ab- 
gebt, wie  ArjfjL  Meidta  xpi'oiv  XeXofX^  £$o6Xijc,  wie  xupia  toü  vofioo  vom 
Tennin  des  Erscheinens  bei  einem  Diaeteten,  KaxT/foptou  omctj  für  Xöoaj- 
yoptac  d.  Ferner  &'xv)  Ipr^  xara  Meiöwu  e^vs-co  und  £>iaftat  diat- 
tjjttjV  ZTpaxiova  von  einem  öffenllich  bestellten  Schiedsrichter;  xepfiarot 
ein  verächtlicher  Ausdruck  von  versuchter  Bestechung  gebraucht,  im  Mund 

der  ZnnaAn  snhr  iihol  nurrphrarli  t    nls  wollten  sie  damit  andentan    ki'a  wu  — 

ren  für  mehr  Geld  tu  beben  gewesen  (§.  107).  Zu  §.  168  wird  Ni- 
keratos  als  Acherdusier  statt  als  Kydautide  aufgeführt  und  Pampailus  bleibt 
gar  ohne  Demosnamen.  Zu  $.  82  ist  im  Zeugniss  viel  weniger  ge- 
tagt, als  die  vorausgehenden  Worte  des  Demosthenes  erwarten  lassen. 

In  den  Zeugnissen  zur  Rede  gegen  Lakritos  wird  die  Gegen- 
wert der  Leute  bestätigt,  welche  bei  dem  Absehluss  der  0UT7pa<pfj  zu- 
gegen waren  (§.  14);  ohne  alle  Note,  da  es  nur  einer  He  Cognition  der 
Ufiterschriflea  bedurfte;  auch  die  Existenz  des  Vertrags  brauchte  nicht 
keiengt  w  werden,  da  Lakritos  sie  nichi  bezweifelte,  nur  den  darin  fest- 
gestellten Verbindlichkeitea  au  entschlüpfen  suchte  (vrgl.  p.  83).  Wa- 
rum aber  sagt  ein  Zeuge  in  §.  14,  der  Vertrag  sei  noch  in  seinen  Hän- 
den, musste  hier  vor  Gericht  nicht  das  Original  vorgelegt  werden?  Thra- 
symedes  ferner  und  Melanopus  haben  das  Darleihen  an  die  Phaseliten  ver- 
mittelt, gewiss  waren  sie  dann  auch  als  Zeugen  bei  der  Auszahlung  zu- 
gegen; warum  fehlen  ihre  Namen?  (§.  14.)  Ein  offenbarer  Fehlgriff  in 
§•  34  ist  die  alleinige  Nennung  des  Apollodoros,  da  den  Betrug  viel- 
mehr dessen  Bruder  Artemon  versucht  hatte,  und  jetzt  nach  dessen  Tod 
Lakritos,  nicht  Apollodoros  der  Angeklagte  ist,  also  der,  in  dessen  Vor- 
teil es  zunächst  lag,  die  Intrigue  fortzusetzen,  lieber diess  weicht  auch 
dar»  die  Darstellung  der  Zeugnisse  von  der  Demosthenischen  ab,  dass 
hier  bewiesen  wird  ($.  32),  nicht  die  Phaseliten,  sondern  Antipater  von 
Kition  habe  Schaden  gelitten,  welcher  ihnen  auf  das  Schiff  Geld  geliehen 
hatte,  und  als  es  beschädigt  wurde,  seien  nur  80  Fässer  Koischen  Wei- 


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672       Wettermann :  Ueber  die  Urkunden  in  den  Attischen  Rednern. 

nes  darin  gewesen,  wogegen  nun  Hippias  angibt,  die  Brüder  hätten  Wolle 
nnd  Ziegenfelle  geladen  gehabt.  Der  Name  des  Sprechers,  Androkles  aas 
Spbettos  kann  recht  wohl  erdichtet  seyn,  da  in  der  Rede  selbst  er  nir- 
gends vorkommt;  das  argumentum  wäre  demnach  später  verfassl  als  die 
Urkunden  eingeschoben  wurden. 

Starke  Mißgriffe  begehen  auch  die  Zeugen  zur  Rede  gegen  Ma- 
kartatos.  Der  in  $.  31  meint,  Phylomache  babe  ihren  Prozess  nach 
dem  Ausspruch  des  Diaeteten  gewonnen,  während  dieser  vielmehr  vor 
einem  heliastischen  Gerichtshof  geführt  war. 

Viel  schlimmer  ist  der  Irrthum,  den  die  {laptopta  $.  42  zur  Schau 
trägt:  ihr  zufolge  sind  Philagros  „Pbanostrate,  die  Tochter  von  Stratiosu 
Kollistratos ,  Euktemon  und  Charidemos  Geschwisterkinder  der  väterlichen 
Linie  gewesen.  Nun  gibt  aber  bei  Isaeus  de  Hagniae  hereditate  §.  8 
Theopompos  an,  dass  er  und  sein  Bruder  Stratokies  nebst  Stratios  II  und 
Eubulides  II  bei  der  Erbschaft  ihres  Vetters  Hagnias  II  gleiche  Ansprüche 
hätten,  denn  sie  seyen  alle  Vettern  ix  ftatpaäeXcpuJV.  Wenn  diess,  so 
musste,  da  die  Vater  von  Eubulides  II,  und  dem  genannten  BrUderpaar 
(Theopompos,  Stratokies)  feststehen,  d.  b.  Philagros  und  Charidemos, 
auch  der  Vater  des  Stratios  II  in  dem  Nachweis  der  Anspruchsfähigkeit 
vorkommen;  dieser  und  nicht  seine  Mutter  musste  dem  Gescblecbte  des 
Buselus  angehören,  wenn  er  den  kinderlos  verstorbenen  Hagnias  II  mit- 
beerben wollte.  Das  war  aber  eben  Phanostratos  (wie  Dem.  adv.  Ma- 
cart. §.  22  Aug.  i  und  r  wirklich  haben),  welchen  von  dem  Fehler 
der  übrigen  Handschriften  verleitet  der  Verf.  vorliegenden  Zeugnisses  zur 
Frau  machte,  also  eine  lächerliche  Unkunde  über  die  Personen  der  Ver- 
wandtschaft zeigte.  Dass  Stralios  II  einen  Bruder  des  Charidemos,  und 
Vetter  von  Philagros,  Kallistratos  und  Polemon  zum  Vater  gehabt,  erhellt 
auch  aus  §.10  der  oben  citirten  Rede  des  Isaeus,  wo  Theopompos  nach 
dem  Tod  des  Bruders  Stratokies  und  Veiters  Stratios  II  erklärt:  XstlTO- 
•  jjuä  Iva*  fjtovo;  tou  rcpoc  rcaxpo;  twv  ftvs^toO  toxTc:  d.  h.  ich  bin  das 
einzige  noch  lebende  Nachgeschwisterkind  väterlicher  Seits. 

Ungeschickt  ist  ausserdem,  dass  die  angebliche  Pbanostrate  die  zu 
der  dritten  Linie,  der  des  Stratios  I  gehören  sollte,  zwischen  Philagros 
and  Kallistratos,  den  Söhnen  von  Eubulides  I  (zweite  Linie)  gesebobeo 
und  so  von  ihrem  Bruder  Charidemos  getrennt  wird.  Dasselbe  Zeugniss 
nennt  noch  den  Euktemon  als  Halbbruder  des  Philagros  und  Kallistratos. 
Von  einer  zweiten  Ehe  jedoch  des  Eubulides  I  sucht  man  vergeblich  bei 
Isaeus  und  Demosthenes  nach  einer  Notiz;  auch  die  zweite  Ehe  des  Phi- 
lagros mit  Telesippe  ist  in  den  Reden  nicht  berührt 

(Schlus*  foty.) 


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Hr.  43.  HEIDELBERGER  1851. 

JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR. 


West  ermannt  Ueber  die  Urkunden  in  den  Attischen 

Rednern. 


(Schluss.) 

I 

Um  so  mehr  erregt  es  den  Verdacht  der  Fiktion,  wenn  beide  zweite 
Bhen  in  der  Familie  von  Eubalides  vorkommen.  Die  sonstigen  Personen, 
wie  Oenantbe,  Archilochos,  Archimachos  scheinen  nicht  besser  beglaubigt 
zu  seyn  als  die  Weiblichkeit  des  Pbanostratos.  Was  in  den  Zeugnissen 
§.  35—37  behauptet  wird,  Polemon  habe  nie  einen  Bruder  gehabt,  ist 
wenigstens  unzweckmässig  und  vag  ausgedrückt,  statt  zu  sagen,  Hagnias  I, 
Vater  von  Polemon,  habe  sich  nicht  zum  zweitenmal  verheirathet.  Der 
Redner  hatte  überdies*  (§.  39)  nur  bezeugen  lassen,  Phylomache  sey 
die  leibliche  Schwester  des  Polemon  gewesen :  wozu  also  der  seiner  Be- 
stimmung doch  nicht  genügend  entsprechende  Zusatz? 

Unter  den  Zeugnissen,  die  beiden  Reden  gegen  Stephanos  bei- 
gegeben sind,  hat  besonders  das,  worin  Dinias  bestätigt,  er  sey  Schwie- 
gervater des  Apollodoros  und  wisse  nichts  davon,  dass  dieser  den  Phor- 
min  von  allen  Anschuldigungen,  die  er  vormals  wider  ihn  erhoben,  frei- 
gesprochen habe,  starken  Verdacht  gegen  sich:  erstens  war  es  unnöthig 
zu  bezeugen,  dass  Apollodoros  eine  Tochter  von  Dinias  geheirathet  hatte, 
sodann  zwecklos,  dass  Dinias  von  einem  ihm  nicht  bekannt  gewordenen 
Vergleich  des  Schwiegersohnes  mit  Phormion  sprach,  statt  zu  bestätigen, 
was  Apollodoros  wünschte,  Stephanos  habe  die  Existeni  von  Pasions  Te- 
stament bezeugt,  welches  von  jenem  gar  nicht  abgefasst  worden  war. 

» 

In  dem  Zengniss  der  zweiten  Rede  gegen  Stephanos  zu  §.20  sagen  die 
Sclavinnen  aus,  dass  Phormion  die  Gattin  Pasions  und  Mutter  des  Apollo- 
doros verführt  habe,  vielmehr  wollte  letzterer  nur  erwiesen  haben,  die 
Heirath  sey  während  er  als  Trierarch  abwesend  war,  vollzogen  worden, 
indem  man  seine  Entfernung  zu  dem  benutzte,  wofür  er  anwesend  seine 
Einwilligong  nicht  erlheilt  hätte. 

Die  Belege  zur  Rede  gegen  die  Neaera  lassen  es  ebenfalls  an 
Verstössen,  die  zum  Tbeil  selbst  komisch  sind,  nicht  fehlen.  Der  Art  die 
Angabe  (§.  34)  der  Zeugen,  welche  trotzdem  dass  sie  achliefen,  wohl 
merkten,  was  mit  jener  Dame  unterdessen  vorging-,  oder  der  Contrakt 
zweier  Liebhaber  der  Neaera  (§.  46)  XP^at  exarepov  Aeaipa  xa;  Iba* 
XLIV.  Jahrg.  5.  Doppelheft.  43 


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Westermann:  Commentatione*  criticae. 


TH&paz  toü  pjvoc,  wobei  der  eine  noth wendig  zu  köre  kam.   In  der 
Urkunde  zu  §.  54  ist  die  Folge  der  Thstsachen  geradezu  arogekehrt: 
PhrsBtors  -tf>a<m  gegen  Slephanos  wird  der  öixij  otxou  dieses  vorausge- 
schickt, da  sie  doch  nur  auf  diese  folgen  konnte  und  dann  jenen  nöthigte, 
seine  äucrj  fallen  zu  lassen.    Diese  Erzäbluogsweise  verrath  eine  gänz- 
liche Unkunde  der  in  der  Rede  nichts  weniger  als  unklar  dargestellten 
Verhältnisse.    In  der  Regel  wussten  diese  Leute  gar  nicht,  um  was  es 
sich  handle:  so  musste  das  Zeugniss  zu  der  Erzählung  der  Genneten  ($.61) 
hervorheben ,  dass  Phrastor  den  ihm  angetragenen  Eid  verweigert  und 
hiermit  notgedrungen  die  Nichtebenbürtigkeit  seines  von  der  Pbano  ge- 
borenen Sohnes  zugestanden  habe;  eben  dieser  Hauptpunkt  ist  übergan- 
gen.   Die  Abfassung  ist  sehr  unbeholfen  in  den  Worten:  fiapropoaxv 
elvat  mxi  autoi*  xm  Oprfotopa  töv  Akfukia  xeov  tewt^ojv  o?  xaXoSv- 
xat  Bpoxitai.  —  Ein  unnützes  Attestat  enthält  §.  74,  wenn  es  galt, 
die  gevia  der  Neaera  zu  beweisen,  auch  ein  totales  Missverstandniss  der 
Wabren  Situation  in  der  Angabe,  Stepbanos  habe  seine  Stieftochter  dem 
Euaenetos  oft  zugeführt ;  jener  musste  sich  ja,  am  den  Schein  der  Leber- 
raschung  späterhin  annehmen  zu  können,  stellen  ab  Wisse  er  nichts  von 
der  zwischen  Euaenetos  and  Phano  bestehenden  Vertraulichkeit.  Auch 
das  Zeugniss  des  Theognetos  war  überflüssig,  wenn  es  nichts  weiter  aus- 
sagte, als  die  Verstossung  der  Pbano,  wo  man  von  ihm  die  Verhandlun- 
gen des  Areopag  zu  vernehmen  erwartete.    Mehr  formeller  Fehler  ist  es, 
dasi  §.  28  in  der  Bezeichnung  der  Personen  die  Zeugenaussage  weniger 
vollständig  ist  ils  in  $.  26  der  Text,  dass  in  $.  82  nur  Phrynon  als 
Bruder  des  Detnochares  genannt  ist,  nicht  der  Vater  Demon  und  der  De- 
mosname  (Paeania)  fehlt;  dass,  man  sieht  nicht  warum,  §.  47  Zeugniss 
und  Vergleich  getrennt  sind.  Sehr  mangelhaft  ist  §.  28  abgefasst,  §.  25 
ans  aer  vornergeneuaen  tsrzamung  nur  entlehnt,  aoer  ein  uemosname  nmer- 
drückt.  Unter  aller  Kritik  endlich  sind  die  Zeugnisse  bei  Aeschines  adv.  Tim. 

2.  Von  dem  Inhalt  der  Commentationes  wollen  wir  vorzüglich  die 
Bemerkungen  Ober  Dem.  adv.  Eubulidem  ausbeben,  da  die  Kritik  hier  zu- 
gleich auch  auf  die  in  dieser  Rede  behandalten  civilrechtlichen  Verhalt- 
nisse  eingeht.  Eubulides  hatte  seine  Demoten  behufs  der  Prüfung  ihrer 
Civitat  (ßwfäymi)  nach  Athen  kommen  lassen,  wo  er  sich  als  derzei- 
tiges Mitglied  der  Bnle  aufhielt.  Nalimns  war  nur  35  Stadien  von  der 
Hauptstadt  entfernt,  daher  Eubulides  diese  Einrichtung,  seine  Geschäfte  ab 
Buleutes  mit  denen  des  Demarchen  in  verbinden,  treffen  konnte.  Dass 

AI»       wo«    freilich    ha*WMf«ll   »«.J«.  wi  »klink     TVamamk     wnn  U,limn. 

or,  was  ireiiicn  Dezv\eiieii  woraen  ist,  wimucn  l/emarcu  Ton  naumos 
war,  beweisen  die  von  ihm  vorgenommenen  Verrichtungen,  die  keinem 


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Wesiermann:  Commonlatioucs  criticae.  075 

andern  zukamen.  In  dieser  Eigenschaft  glaubte  er  eine  Gelegenheit  zu 
haben,  seine  Malice  gegen  Euxitbeus,  den  Sprecher  in  dieser  Rede,  aus- 
zulassen; er  bearbeitete  mehrere  Demoten  zu  dem  Zweck,  welche  bei  der 
Diapsephisis  kein  Bedenken  trugen,  ihn  als  givoc  abzuvotiren.  Glückli- 
cherweise war  das  nur  die  erste  Instanz,  Euxitheus  konnte  noch  an  die 
Heiiaea  appelliren  nnd  hier  werden  seine  Argumente  wohl  jeden  Zweifel 
aa  seiner  Ebenbürtigkeit  niedergeschlagen  haben,  da  er  eine  zahlreiche 
Verwandtschaft  als  Zeugen  aufzubieten  im  Stande  war. 

Darunter  gehört  sein  Vetter  gleiches  Namens  und  Sohn  des  Oheims 
tob  mütterlicher  Seite;  er  wird  von  ihm  §.  39  als  opou^Tpios  bezeich- 
net. Aber  das  hiesse  ja  so  viel  als  frater  uterinus.  Die  Graecität  kennt 
keine  doppelte  Bedeutung  von  aöcÄcpo;,  wie  das  lateinische  frater.  Ti- 
mokrates  war  der  leibliche  Bruder  der  Nikarete,  der  Mutter  unseres 
EojQlneos,  mithin  ist  dieser  kein  6|xo/xr}rpioc  mehr  mit  seinem  Vetter.  ~v 
W.  schlägt  daher  vor  ojAOjnjrptou  otov  zu  lesen,  dem  Sinn  nach  voll- 
kommen richtig,  leichter  aber  wäre  noch  xov  $k  xa£  ojAGfi^rptou. 

In  der  Rekapitulation,  §.  67,  kömmt  Euxitheos  auf  seinen  Stammbaum 
zurück.  Vier  Vettern  soll  sein  Vater  Thukritos  gehabt  haben.  Doch  aas 
§.  20  ergeben  sich  nur  drei :  Thukritides  und  Charisiades  die  Söhne  von 
Charisios  und  Nikiades  der  Sohn  des  Lysanias,  aus  §.41  aber  gebt  her- 
vor, dass  Thukritos  nicht  mehr  als  zwei  Oheime  (also  eben  Charisios 
aud  Lysanias}  hatte.  Also  wird  die  Aenderung  in  §.  67  Tpet;  ävetj/toi 
für  Tgrwpa;  unumgänglich  nölnig  seyn,  wie  W.  p.  16  darthut.  Als 
Zeagen  treten  auch  die  Männer  der  Cousinen  von  Thukritui  auf,  die  Sehwe- 
stern  der  genannten  Vettern,  die  bezeichnet  werden  als  oi  %fc  avs^iac 
Xaßdvxec  auxü>v.  Dieser  Genitiv  plur.  scheint  in  den  Singular  verwan- 
delt werden  zu  mUssen,  bei  Vömel  steht  wenigstens  autoT, 

Indem  der  Sprecher  sich  weiter  zu  der  mutterlichen  Verwandtschaft 
wendet,  führt  er  in  erster  Linie  den  Demostratos,  Sohn  des  afeXtpö;  opo- 
itatptoc  seiner  Mutter,  des  Amytheon  auf,  dann  die  Söhne  ihres  schon 
citirten  Neffen  Euxitheos,  endlich  den  Enkel  ihrer  (ungenannten)  Tante 
mütterlicher  Seits,  Apollodoros.  Andere  stehen  ferner,  die  hier  übergan- 
gen werden  können.  Wie  stimmt  nun  zu  diesen  ans  §g.  37— 39  gezoge- 
nen sichern  Angaben  die  Auftaklung  $.  68  npunov  jaev  ä&tytSou  £uo 
uuk,  elxa  toü  Wpou  adeX<piSoö  öuo  mot  afä  avs^iot  cnVrijc?  Vettern 
hatte  N'ikurete  keine  nach  dem  Tod  des  Olympichus,  des  Sohnes  jener 
anonymen  Muhme,  von  dem  «inen  ßruderssohn  allerdings  zwei  Grossnef- 
fen, von  dem  andern  aber,  dem  Demoslratus,  wird  eine  Nachkommenschaft 
überhaupt  nicht  angeführt.   Daher  Dindorf  und  die  aditores  Tnricenses 

43* 


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676  Keller:   Semestrium  ad  M.  Tullium  Ciceronem  libri  sex. 

den  Satz  eha  L  a.  duo  utol  ganz  weglassen  auf  die  Autorität  des  -  hin. 
Aber  dann  bleiben  immer  noch  die  Vettern,  deren  Nichtexistens  ausge- 
macht ist,  und  fehlt  dagegen  der  Neffe  Demostratos  und  der  Sobn  des 
Vetters  Apollodoros.  Diesem  doppelten  Uebelstand  hilft  W.  ab  durch  die 
evidente  Verbesserung  rcpÄxov  ph  äteX^ifoo;,  elxa  toö  fripou 
9'$0'j  c6o  uiol,  eiT  a\Z'l'.rJ.dvj;.  Man  sieht,  wie  leicht  sich  die  duo  ulot 
in  die  obere  Reihe  verirrten,  und  aus  äve<J/ia6V>öc  ein  äve<J*ol  aGrrjc  wer- 
den konnte. 

Die  übrigen  Emendationen  dieser  Pars  altera  wollen  wir  wenigstens 
einfach  angeben:  Plut.  Arist.  1.  6  fiiv  u>c  25.  ä&xuxc  teouivijv  (nach 
Par.  1676,  2955),  26.  toüc  <pöpou;  Ixorrrs  Dem.  c.  7.  uiroaoXou^actt 
vertheidigt.  Dem.  Mid.  §.  8  u-rcep  xotvou  too  itp<rfliaTOC.  $.9  6  vöfioc  vor 
w;  t6  rcp.  gestrichen.  $.67  oaapavxa.  (Ref.  dachte  an  (•>;  u.Tj££  &apat) 
$.  98  ^  wo,  $.  112  oux  arceurot.  $.  129  tt  o5v;  ou.  adv.  Bub.  $.  3 
a  vojuCü)  etvat  öwaia,  rcepl  toutojv  owt&v  icpörcov  ipö*>.  $.18  wird 
Voemels  IIopuo  nach  K)iav$pty  bezweifelt.   $.  19  emfei&tt. 


Semestrium  ad  M.  Tullium  Ciceronem  libri  sex.  Scripsit  Frid.  Lud. 
Keller  antecessor  Berolinensis.  Vol.  I.  Turici,  impensis  Orellii, 
Fuesslini  et  tociorum.    MDCCCXL1I  —  MDCCCU.  8.  XIV,  699. 

» 

Für  das  Verständniss  derjenigen  unter  Ciceros  Reden,  welche  sich 
auf  das  ins  civile  beziehen,  ist  wohl  kaum  ein  lehrreicheres  Werk  jemals 
verfasst  worden,  als  diese  Semestria,  deren  dritter  Theil  jetzt,  nach  lan- 
ger Unterbrechung,  vorliegt.  Die  beiden  frühem  betrafen  die  Quinctiaoa 
und  Caeciniana,  dieser  enthält  die  Tulliana.  Wenn  aber  dort  anf  den  einen 
Haupttheil  de  jure  caussae  Quinctianae  —  Caecinianae  ein  zweiter  de  va- 
rietate  lectionis  in  or.  pro  Quinctio  —  Caecina  folgte,  hat  der  Verfasser 
hier  vorgezogen,  die  Rede,  welche  bekanntlich  nur  fragmentarisch  in  dem 
Turiner  und  Mailänder  Palimpsest  enthalten  ist,  nach  eigener  Revision  ab- 

Die  vorausgehenden  Abhandlungen  waren  bisher  Gegenstand  sorg- 
fältiger Prüfung  für  mehrere  Kenner  des  römischen  Rechtes,  welche  sich 
darüber  mit  rühmender  Anerkennung  ausgesprochen  haben.  Wir  Philo- 
logen verhielten  uns  als  Lernende,  nnr  Empfangende,  meistens  stiU  und 
suchten  nur  die  dargebotenen  Aufschlüsse  möglichst  zu  benutzen  und  aus- 
zubeuten. Doch  eine  in  vieler  Beziehung  achtungswerthe  Leistung,  welche 
durch  das  Stadium  der  Semestria  im  Wesentlichen  bedingt  ist,  macht  eint 


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Keller:   Semestrium  ad  M.  Tullium  Ciceronem  libri  sex. 


677 


Ausnahme:  wir  meinen  Jordans  Ausgabe  der  Rede  pro  Caecina,  zu  wel- 
cher kürzlich  ein  Nachtrag  erschienen  isl,  betitelt:  commentatio  de  codice 
Tcgernseensi  oralionis  Tullianae  pro  Caecina,  scripsit  Dr.  C.  A.  Jordan, 
gymnasii  regii  Halberstadiensis  professor.  Lipsiae,  MDCCCXLVIII,  prostat 
libraria  C.  F.  Koehleri  (Ad.  Winter.)    8.  23. 

Um  das  oratorische  Verdienst  der  genannten  Reden  würdigen  zu 
können,  ist  ein  gründliches  Eingehen  auf  den  eigentlichen  Stand  der  causae 
durchaus  nöthig,  dazn  bedarf  aber  der  nichtjuristisebe  Leser  Ciceros  einer 
so  instruktiven,  die  obsebwebenden  Rechtsfragen  Schritt  vor  Schritt  be- 
handelnden Erläuterung,  wie  sie  Keller  gegeben  hat.  Die  bisherigen  In- 
terpreten verneinen  häufig  ein  blindes  Vertrauen  in  die  vom  Redner  vor- 
gebrachten Argumente  und  setzten  sich  damit  selbst  an  die  Stelle  der 
Richter,  welche  er  zum  Vortbeil  seiner  dienten  gewinnen  wollte.  Wie 
man  aber  in  den  gefährlichsten  Krankheiten  zu  den  besten  Aerzten  seine 
Zuflucht  nimmt,  so  wurde  auch  Cicero  oft  gedrängt,  der  häkeligsten  Pro- 
zesse sich  anzunehmen,  und  seine  eigene  Praxis  widerlegt  das,  was  er  in 
der  Cluentiana  behauptet :  hoc  prope  iniquissime  comparatum  est,  quod  in 
morbis  corporis,  ut  quisque  est  difficillimus,  ita  medicus  nobilissimus  atque 
optimus  quaeritur,  in  periculis  capitis,  ut  quaeque  causa  difflcillima  est, 
ita  deterrimus  obscurissimusque  patronus  adbibetur  (§.  57).  Da  galt  es 
denn,  durch  künstliche  Mittel,  bald  feingesponnenen  Paralogismen  (vergl. 
pro  Quint.  §.  84 ff.  und  dazu  Keller  p.  185 ff.),  bald  rührende  loci 
commuoes,  bald  witzige  Angriffe  auf  die  Gegner  und  ihre  Zeugen  (pro 
Caec.  §.  27)  die  Schwächen  der  eigenen  Sache  zu  decken.  Wer  der- 
gleichen Ubersieht,  kann  von  dem  artificium  oratoris  weder  selbst  einen 
Begriff  haben,  noch  ihn  Andern  geben. 

Keller  hat' die  von  Cicero  geflissentlich  übergangenen  oder  in  ein 
falsches  Licht  gestellten  Behauptungen  der  Gegenpartei  ausführlich  erör- 
tert und  was  Hortensius,  Piso,  Quinctius  (wahrscheinlich)  vorgebracht  ha- 
ben, reproducirt.  Am  ausführlichsten  ist  dies  im  über  III  geschehen,  wo 
wir  eine  fast  vollständige  Verteidigung  des  Fabius  finden  (630—651). 
Hierin  ist  zusammen gefasst,  was  die  vorausgehenden  §§.  des  ersten  Ca- 
pitels  (de  jure  caussae  Tullianae)  ausführlich  und  gelehrt  besprechen.  Io 
den  vier  ersten  §§.  wird  über  den  Ursprung  des  edictum  Luculli,  seine 
eigentliche  formula  und  die  später  im  Lauf  der  Zeiten  nöthig  geworde- 
nen Abänderungen  gehandelt:  Das  p.  602  gezogene  Resultat  ist,  dass 
die  ursprüngliche  formula  actionis  so  lautete :  recuperatores  sunto.  quantae 
pecuniae  paret  dolo  malo  familiae  Numerii  Negidii  vi  hominibus  armatis 
coactisve  damnum  factum  esse  Aulo  Agerio  duntaxat  sestertium  tot  mil- 


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Keller;  Semestrium  ad  M.  Tullium  Ciceronem  libfi  sex. 


tium,  tantee  peeuniae  quadruplum  recuperatores  Numerium  Negidwm  Auto 
Agerio  condemnanto,  si  oon  paret,  absolvunto  —  späterhin  des  Zusatz 
bona vc  rapta  nach  factam  esse  erhielt,  dagegen  die  ErwSbnnng  der  fa- 
milia  (dieser  wesentliche  Bestandteil  des  Edikts)  wegfiel,  dessgleichen 
die  Worte  vi  und  armatis.  Der  §.  5  betrifft  das  argumentum  oratorö, 
§.  6  gibt  die  defensio  in  partes  locosque  digesta. 

Indem  wir  nun  das  caput  II :  de  varietate  lectiouis  in  oratione  pro 
H.  Tulüo  cum  contextu  castigato  näher  in  Betracht  riehen,  werden  wir 
vielfältige  Gelegenheit  haben,  auf  den  Inhalt  von  Cap.  I  zurückzukommen. 

Der  Eingang  war  in  §.  2  von  Peyron,  dann  von  Beier  unglücklich  ge- 
nug ergänzt;  der  Gegensets  von  Gegenwart  und  Vergangenheit,  der  hier 
darin  besteht,  das«  jetzt  nach  dem  Gestfindniss  des  Fabius  seine  (Cicero*) 
Aufgabe  schwerer  geworden,  die  der  Recuperatoreu  dagegen  leichter, 
während  früher  es  umgekehrt  gewesen  sey.  als  er  glaubte,  blos  das  Fak- 
tum erweisen  zu  müssen,  erheischt  durchaus  eine  bestimmte  Bezeichnung 
der  Personen,  etwa  so:  ego  enim  omnia  [in  testibus  cum  ponerem,  fa- 
cile  contra  infitiantem  diclurus  eram,  vos  in  ipsa  infiliatione  adveraarii  ati- 
quid  scrupuli  in venturi  eratis :  nuno  contra  vobis]  quid  est  facilius,  quam  de 
eo,  qui  confitetur  iudicare  etc.  Den  Gedanken  dieses  Supplements  entneh- 
men wir  der  Note  zu  p.  66. 

Die  der  narratio  vorausgehende  Erörterung  §.  8  — 12  zielt  darauf 
hin,  die  Thal  der  Fabianer  als  ganz  unberechtigt  und  keiner  Vertheidi- 
gung  fähig  hinzustellen;  die  blosse  Kenntniss  des  Faktums  soll  fir  die 
Richter  schon  hinreichen,  die  familia  Fabii  zu  verurtheileu ;  hatte  ja  auch 
der  Stifter  des  iudicium ,  M.  Lucullus  absiehlKch  sich  nicht  an  die  lex 
Aquilia  gehalten,  indem  er  den  Zusatz  injuria  weghess,  weil  die  Ausübung 
des  Faustrechts,  wie  sie  seit  der  Bürgerkriege  eingerissen  war,  durch 
keine  Ausrede  geschützt  werden  solRe.  Hier  berücksichtigt  Cicero  nicht, 
dass  die  in  Anwendung  gebrachte  vis  durch  eine  ähnliche  Ueberschreitnng 
des  Klägers  hervorgerufen  seyn  konnte,  und  dann  nur  das  Recht  der 
Nothwehr  ausgeübt  wurde:  gewiss  schloss  er  nicht  ans  UeberzeuguiKr, 
sondern  im  Interesse  seines  Clienten  jede  exceptio  aus.  Eine  ähnliche 
exceptio  galt  aber  bei  der  derecrio  vi  armatis  bominibus,  welche  Cicero 
selbst  ad  Div.  VII,  14,  2  anfuhrt:  quod  tu  prior  vi  hominibus  armatis 
non  veneris.*)  Die  Worte  dolo  malo  hatten  ohne  Zweifel  die  Bestim- 
mung, einer  Ausrede  Raum  zu  lassen,  die  etwa  vorgebracht  werden  konnte. 

'■•)  Von  der  Richtigkeit  der  handschriftlichen  Lesart  et  tu  soles  ad  x'm 
faciundam  adhiberi,  welche  Keller  behauptet,  indem  er  die  ganze  Stelle  so  para- 
phrasirt  (p.  336):  parum  tibi  prodest  apud  Caesarem  iuris  tua  prudenlia,  nam 


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Keller:  Semestrium  ad  M.  Talliara  Ciceronem  libri  aex.  $79 

Das  eigentliche  Objekt  des  Prozesses  von  Tullios  mit  Fabius  war 
eia  Feld  von  100  Morgen,  die  centuria  Populiana,  auf  deren  Besitz  beide 
Anspruch  machten;  Cicero  behauptet,  sie  habe  vom  Vater  her  dem  Tul- 
lios gehört  Als  Fabius  sein  viel  zu  theuer  erkauftes  Landgut  wieder 
los  werden  and  dem  Acerronius,  welcher  an  dem  Kauf  bereits  Theil  ge- 
nommen, den  ganzen  Besitz  übertragen  wollte,  hatte  er  diesem  eine  ge- 
naue Angabe  des  ümfangs  zu  machen  (fines  demonstrarej ,  dabei  muss- 
ten  die  Gräozstreitigkeiten  zur  Entscheidung  kommen.  Tullius  selbst  scheint 
über  seine  Ansprüche  auf  jene  centuria,  ehe  Fabius  sein  Grundstück  zum 
Yerkauf  ausschrieb,  im  Unklaren  gewesen  zu  seyn;  jetzt,  wo  die  Sache 
auf  dem  Spiel  stand,  besetzte  er  sie  mit  seinen  Sclaven  um  den  Schein 
des  Besitzes  hervorzubringen  uud  den  Fabius  zu  hindern,  dass  er  sie  dem 
Kaufer  als  vaeuum  bezeichnete.  Dies  bestimmte  den  Fabius  ihn  in  Ge- 
sellschaft des  Acerronius  zn  besuchen  und  zu  einer  deduetio  aufzufordern. 
Tullius  ging  darauf  ein,  aber  Fabius,  so  erzählt  Cicero,  habe  nun,  statt 
die  Entscheidung  des  Gerichts  ruhig  abzuwarten,  die  auf  der  centuria  er- 
richtete casa  durch  seine  Sclaven  angreifen  lassen,  wobei  mehrere  des 
Tullius,  die  sich  widersetzten,  umgekommen  seyen.  Aus  dieser  Erzählung 
ergibt  sich  so  viel,  dass  Acerronius  die  Lust  zum  Ankauf  nicht  verloren 
hatte,  also  auch  die  Ergänzung,  welche  Beier  vorschlug,  nicht  richtig  seyn 
kann  in  §.  18:  Acerronius,  quomodo  potuit,  se  de  tota  re  [excusavit, 
quam  primum  potuit,  Fabio  autem  statim  renuntiavit,  maluit  enim  rei  quam 
eiistimationis  facere  iacturam  alque  ex  socielole]  cum  nomine  eiusmodi 
seminstulatus  ellugit,  obwohl  ihr  noch  Huschke  (Anal.  p.  126J  in  der 
Hauptsache  beipflichtete.  Hatte  nämlich  Acerronius  den  Handel  aufgege- 
ben, wozu  diente  es,  mit  Fabius  noch  länger  und  zwar  grade  in  der- 
selben Angelegenheit  zu  verkehren?  Was  in  der  Lücke  stand,  und  die 
Beziehung  des  semiustulalus  eflugit  geht  also  nicht  auf  Acerronius,  son- 
dern hier  wird  die  Erzählung  von  dem  Brand  der  Hütte  auf  dem  Gut 
des  Fabius,  aus  welchem  sich  Jemand  mit  Noth  und  nicht  ohne  Verletzung 
rettete,  und  dem  Verschwinden  eines  Sclaven  des  Tullius  ihre  Stelle  ge- 
habt haben,  da  späterbin  in  §.  54  Cicero  bemerkt,  er  habe  die  Unrich- 
tigkeit solcher  Anklagen  erwiesen:  ostendi  falsa  esse.    Vorher  kann  dies 

ferro  non  iure  illic  res  geritur,  nc  tu  quidem  a  bellando  habes  vacationem,  ne- 
que  in  ista  vi  facienda  tibi  periculosa  erit  illa  interdicti,  quod  est  de  vi  armata, 
exceptio.  Quod  tu  p.  t.  h.  a.  n.  v.  quippe  tardior  es  ad  pugnandutn,  ncque  upi- 
nor,  armis  quemquam  petis,  nisi  propter  summ  am  defendendi  tui  necessitaleni 
kann  Ref.  sich  nicht  überzeugen,  und  glaubt,  dass  die  Emendation  von  Schütz, 
at  tu  non  soles  allein  dem  Gedanken  Ciceros  entspreche. 


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680  Keller:   Semestrium  ad  M.  Tallium  Ciceronem  libri  lex. 

in  der  narratio  nicht  berührt  worden  seyn,  nach  §.  22  war  auch  kein 
Platz  dafür,  also  geschah  das  hier,  wie  zuerst  Keller  scharfsinnig  nach- 
weist. In  zehn  Zeilen  Hess  sich  das  nicht  abthun;  mithin  ist  hier,  was 
man  vordem  nicht  ahnte,  wenigstens  ein  ganzes  Blatt  verloren  gegangen. 

Nach  der  narralio  folgte,  wie  gewöhnlich  die  partitio,  deren  In- 
halt und  Form  uns  nicht  durch  die  Blätter  in  Turin  und  Mailand,  son- 
dern durch  die  drei  Rhetoren  Yictorinus,  Julius  Victor  und  Martianus  Ca- 
pella  erhalten  sind  und  zwar  so,  dass  nicht  aus  einem  allein  die  mut- 
massliche Gestaltung,  wie  sie  bereits  Husehke  angegeben  hat,  zu  entneh- 
men ist,  sondern  jeder  dazu  seinen  Antheil  liefert,  besonders  aber  der 
letztgenannte.  Ihre  Excerpte  zusammengefasst  liefern  folgenden  Text,  der 
vom  Beier-Orellischen  sich  wesentlich  unterscheidet:  damnum  passum  esse 
M.  Tulliam  couvenit  mihi  cum  ad  versa  rio:  vici  uuam  rem.  vi  hominibus 
armatis  rem  esse  gestern  non  infitiantur:  vici  aiteram.  a  familia  P.  Fabi 
commissam  negare  non  audent:  vici  lertiam.  an  dolo  malo  factum  sit,  am- 
bigitur:  de  hoc  iudicium  est.  Beier,  dem  Orelli  gefolgt  ist,  irrte  auch 
gar  sehr  darin,  dass  er  diese  divisio  mitten  in  die  refutatio  schob  (_§.  36), 
da  sie  in  die  Lücke  nach  §.  22  gehört. 

Cicero  deutet  das  dolo  malo  darauf,  dass  eine  familia  nicht  not- 
wendig selbst  bei  gewaltsamem  Angriff  auf  fremdes  Eigenthum  thlltig  seyn 
müsse,  sondern  auch  andere  Leute  dazu  veranlassen  könne  und  auch  in 
diesem  Fall  zu  bestrafen  sey.  Es  ist  sehr  die  Frsge,  ob  Lucullos  dies 
bezweckte.  Indess  gründet  Cicero  darauf  seine  weitere  Behauptung,  der 
Zusatz  dolo  malo  komme  nur  dem  actor  zu  gut,  welcher  unter  den  an- 
gegebenen Umstünden  sonst  kein  Mittel  habe,  das  ihm  widerfahrene  Un- 
recht zu  verfolgen:  nemo  enim  potest  haec  iudicare,  qua  in  re  familia 
non  interfuisset ,  in  ea  re  ipsam  familiam  vi  armatis  hominibus  damnum 
dedissc.  (Es  unterliegt  wohl  keinem  Zweifel,  dass  hier  posset  corrigirt 
werden  muss.)  Als  bekräftigendes  Beispiel  wird  das  Interdikt  zugezogen, 
in  welchem  die  gewaltsame  deiectio,  wenn  sie  mit  Vorwissen  des  Herrn 
geschieht,  bezeichnet  wird  durch  die  Wendung  unde  de  dolo  malo  tno 
M.  Tulli  M.  Claudius  aut  familia  aut  procurator  eius  vi  detrusus  est.  In 
der  daran  sich  knüpfenden  Interpretation  ist  der  Text  nicht  ganz  klar, 
auch  die  Interpunktion  zu  berichtigen.  Wir  glauben,  Ciceros  Worte  ge- 
währen erst  den  bezweckten  Sinn,  wenn  man  schreibt:  si,  cum  ita  in- 
terdictum  sil  et  sponsio  facta,  ego  me  ad  iudicem  sie  defendam,  u  i  vi 
me  deiecisse  confitear,  dolo  malo  negem,  ecquis  me  audiat?  non  opinor 
qnidem,  quia  si  vi  deieci  M.  Claudium,  dolo  malo  deieci,  in  vi  enim  do- 
lus malus  inest,  a  t  Claudio  utrumvis  satis  est  planum  facere,  vel  se  a  me 


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Keller:  Semestriura  ad  M.  Tullium  Ciceronem  libri  sex.  681 

ipso  vi  deiectnm  esse,  vel  me  consilium  inisse,  ut  vi  deiceretur.  Hier  bat 
ol  vi  schon  Pcyroo  vorgeschlagen,  was  Keller  als  unnöthig  ablehnt;  wie 
derselbe  aber  sicut  ita  interdictum  est  durch  Caec.  §.  80  is  qnomodo  so 
restitoisse  dixit  sichern  zu  können  glaubt,  ist  uns  nicht  deutlich  gewor- 
den. Die  getroffene  Aendernng  belegen  wir  mit  Cic.  de  or.  II,  305: 
quid?  si,  cum  pro  altero  dicas,  litem  tuam  facias  aut  laesus  efferare  ira- 
cundia,  causam  relinquas,  nilne  noceas? 

Quinctius  hatte  die  Auslegung  des  Cicero  bestritten  und  behauptet, 
dass  nicht  eine  familia  in  corpore  beschuldigt  werden  könne,  andere  Leute 
zur  ris  instigirt  zu  haben.    Cicero  entgegnet  §.  35,  dass  durch  diesen 
Satz  das  edictum  selbst  annullirt  werde:  nam  si  veuit  id  in  iudicium  de 
familia,  quod  omnino  familia  nulla  potest  committere:  nullum  est  iudicium, 
absolvantur  otnnes  de  simili  causa  necesse  est.    Mit  Recht  äussert  Keller 
Zweifel  an  der  Zulässigkeit  des  Aasdrucks  de  simili  causa,  wenn  er  mit 
absolvantur  in  Verbindung  gebracht  werden  soll ;  denn  die  von  Huschke  u.  A. 
angeführten  Beispiele  desselben  passen  nicht  auf  vorliegende  Stelle.  — 
Wenn  es  aber  so  viel  heissen  soll,  wie  ob  similem  causam,  so  ist  das 
similis  schlecht  gewählt,  Cicero  musste  sagen  ob  eam  oder  eandem  cau- 
sam.   Ref.  ist  der  Ansicht,  dass  vor  necesse  est  ausgefallen  sey  reae 
(sc.  familiae).    Darauf  fahrt  Cicero  fort:  hoc  solum,  bona  mehercule  si 
hoc  solum  esset,  tarnen  vos,  tales  vir!,  nolle  deberetis  maximam  rem, 
coniunetam  cum  summa  republica  fortunisque  privatorum  severissimum  in- 
dicium  maximaque  ratione  per  vos  videri  esse  dissolutum.  Huschke  reihte 
fide  ein  nach  mehercule,  was  Keller  befolgt.     Wir  möchten  Beiers  res 
vorziehet!  und  interpungiren:  hoc  solum?  bona  mehercule  res,  si  hoc  so- 
lum esset!  tarnen  etc.    Den  Gedankeu  des  Redners,  der  hier  ebenfalls 
unvollständig  erhalten  ist,  hat  Priscian  soweit  gerettet,  dass  der  Zusam- 
menhang wenigstens  nachgewiesen  werden  kann:  Cicero  erklärte,  wie  in 
der  Caeciniana  §.  76  von  der  Entscheidung  der  Recuperatoren  in  diesem 
Frozen  hänge  die  fernere  Sicherheit  aller  rechtlichen  Verhältnisse  ab: 
hoc  iudicium  sie  exspectatnr,  ut  non  unae  rei  statui,  sed  omnibus  consti- 
tui  putetar.  Dem  Gebrauch  des  bei  Cicero  sehr  seltenen  Genitivs  unae  ver- 
danken wir  die  Erhaltung  dieser  Worte. 

Ferner  behauptet  Cicero  (§.  38  sqq.)  der  Zusatz  ioiuria  bei  damnum 
in  der  lex  Aquilia  fehle  darum  in  dem  edictum  Luculli,  nm  das  gewalt- 
same Verfahren  an  und  für  sich  bestrafen  zu  können  und  jeder  Ausrede 
zu  begegnen.  Dort  sey  der  Zusatz  gegründet,  denn  man  könne  auch 
iure  das  damnum  dare,  nach  dem  Edikt  aber  werde  die  Anwendung  der 
Gewalt  eben  darum  als  absolut  strafbar  betrachtet,  weil  man  sich  des 


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682  Keller:   Semestriura  ad  M.  Tullium  Ciceroncm  libri  sex. 

Rechts  nicht  habe  bedienen  wollen.  In  ähnlicher  Weise  fielen  bei  der 
vis  armata  die  Worte  cum  ille  possideret,  quod  oec  vi  nec  clara  nec  precano 
possideret  weg,  vrgl.  pro  Caec.  $.  93.  Hierauf  konnte  Quinctius  erwie- 
dern,  dass  der  Praetor  und  die  Tribuneu  nicht  ihm  zu  Lieb  das  iniuria 
in  die  formula  actionis  einschoben,  erschwere  wohl  seine  Verteidigung, 
beweise  aber  noch  nichts  gegen  ihn;  jene  wollten  nur  nichts  Ueberllüs- 
siges  thun,  denn  auch  so  war  dem  Quinctius  keineswegs,  wie  Cicero 
meinte,  jedes  Mittel,  den  Fabius  zu  rechtfertigen,  entzogen.  In  der  Be- 
rufung auf  das  interdictum  ist  eine  kleine  Correctur  nachzutragen,  §.  45 : 
multa  danlur  ei,  qoi  vi  alternm  detrusisse  dicitur,  quorum  se  nnum  quod- 
libet  probari  iudici  potuerit,  etiamsi  coofessus  erit,  se  vi  deiecisse,  vincat 
necesse  est  —  nämlich  die  syntaktische  Verbindung  verlangt  hier  das  Aetiv 
probflfo*  L in ^ c k c Ii r t  h&t  L^cicr  43  j^crsundcri  qqs  j^crsiiQdcrß  ^coidcLi^ 
wozu  Keller  bemerkt:  illud  solnm  addo,  per  codicis  vestigia  periade  Ii- 
cere  I  legere  atque  E. 

Gegen  das  Argument,  dass  die  Notwehr,  wenn  sie  auch  Todtschlag 
zur  Folge  habe,  gesetzlich  nicht  unerlaubt  sey,  wie  die  XII  tabulao  und 
die  lex  sacrata,  quae  iubeat  inpune  occidi  eum,  qui  tribunum  pl  pulsa- 
verit  bewiesen,  wird  von  Cicero  entgegnet,  dass  diese  Gesetze  auf  den 
vorliegenden  Fall  keine  Anwendung  erlitten  (_§.  48),  dann,  dass  man  eher 
umgekehrt  daraus  eine  strenge  Ansicht  der  Vorfahren  zu  erkennen  ver- 
möge: at  primum  istae  ipsae  leges,  quas  recitas,  ut  mit t am  cetera,  signi- 
ficant,  quam  noluerint  maiores  nostri,  nisi  cum  pernecesse  esset,  hominem 
occidi,  primum  ista  lex  sacrata  est,  quam  rogarunt  armati,  ut  inermes  sine 
periculo  possent  esse.  Die  Wiederholung  von  primum  und  desselben  Pro- 
nomens kann  unmöglich  richtig  seyn;  Huschke's  prior  enim  isla  gewährt 
nur  halbe  Abhülfe.  Nicht  mit  voller  Zuversicht  schlägt  Ref.  tribunicia  lex 
sacrata  est  vor;  was  den  Sinn  haben  würde:  die  lex,  welche  die  Tri- 
bunen betrifft,  ist  eine  sacrata  und  dieser  ihrer  besondere  Eigentümlich- 
keit wegen  gar  nicht  beizuziehen. 

Die  Tulliana  hat  mit  der  Caeciniana  dem  Stoff  wie  der  Behandlung 
nach  grosse  Aebnlichkeit ,  sie  sind  wahre  gemellae;  hier  wie  dort  wird 
aus  dem  Gebrauch  der  Gewalt  an  sich  schon  die  Verurteilung  der  An- 
geklagten als  noth wendige  Folge  abgeleitet;  das  Prooemium  drückt  in 
beiden  Reden  die  Verlegenheit  des  Sachwalters  aus,  eine  eingestandene 
That  noch  weiter  besprechen  zu  können;  in  beiden  werden  den  Recupe- 
ratoren  die  schlimmen  Consequenzen  vorgehalten,  die  ein  für  den  Wider- 
sacher günstiges  Urtheil  auf  das  Fortbesteben  aller  gesetzlichen  Ordnung 
haben  werde;  in  beiden  endlich  wird  die  sehr  bedenkliche  Grundlage  der 


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I 

Keller:    Scmestriuni  ad  M.  Tullium  Cicero  nein  libri  sex.  683 


Verteidigung,  nämlich  Caecina's  Ansprüche  aof  den  fundus  Fulcinianus 
nd  Tullius  Besitz  der  centoria  Populiana  als  ausgemachte  Sache  hinge- 
stellt, als  Dicht  zu  bezweifelnde  Praemissc. 

Zu  einer  nähern  Betrachtung  der  Caeciniana  veranlasste  uns  sowohl 
die  Zusammenstellung  derselben  mit  der  Tulliana  in  Keller' s  Werk  als 
die  schon  genannte  Schrift  Jordan'*,  welche  die  Kenntniss  der  kriti- 
schen Hilfsmittel  durch  die  Mittbeilung  der  Varianten  des  cod.  Tegernsee- 
easis  erweitert.  Bekanntlich  ist  dieser,  nachdem  ihn  Harles  fttr  Garatoni  im 
Jahr  1789  verglichen  hatte,  verschwunden,  die  Collation  von  Harles  hat 
aber  Theodor  Mommsen  in  Ravenna  entdeckt,  abgeschrieben  und  Herrn 
Dir.  Halm  nebst  einer  Vergleichung  der  letzten  §§.  100—104  mit  dem 
cod.  Vat.  1525  überlassen.    Diese  schätzbaren  Beiträge  theilto  Letzterer 
dem  Verf.  der  commentatio  mit,  welcher  darin  die  besten  codd.,  welche 
von  der  Rede  exisliren,  Erf.  Teg.  Vat.  1525,  Pal.  2.  mit  den  Fragmen- 
ten des  Turinischen  Palimpsestes  zusammenhält  und  unter  sich  vergleicht, 
dann  alle  Lesarten  verzeichnet  und  gelegentlich  die  schwierigsten  Stellen 
ausführlicher  bespricht.    Auch  einige  beachtenswerthe  Conjekturen  von 
Garatoni  kommen  vor.    Wir  dürfen  daher  die  Commentatio  als  eine  in- 
teressante Beilage  zur  Ausgabe  des  Verfassers  betrachten,  dessen  Sorg- 
falt in  der  Sammlung  den  kritischen  und  exegetischen  Apparats  eben  so  sehr 
anzuerkennen  als  sein  zu  ängstliches  Festhalten  an  der  handschriftlichen 
Ueberlieferung  manchem  Widerspruch  hervorzurufen  geeignet  ist.  Die  Kritik 
der  Ciceronischen  Reden  würde  keine  grossen  Fortschritte  machen,  wollte 
man  6treng  an  dem  bestehenden  Text  festhalten  und  lieber  aus  den  zahlrei- 
chen Corrupteleo,  mit  welchen  die  meist  jungen  Handschriften  behaftet  sind, 
gezwungene  Interpretationen  und  zweifelhafte  Observationen  abstrahiren 
als  den  Ideengang  Ciceros  verfolgen  und  dann  nach  Analogie  besser  er- 
haltener Stellen  die  ursprungliche  Form  der  verdorbenen  zu  ergründen 
suchen.  Die  Vaticanischen,  Ambrosianischen  und  Turiner  Palimpseste  an  Güte 
und  Alter  allen  andern  Handschriften  Ciceronischer  Reden  so  weit  Ober- 
legen, verlangen  doch  alle  Augenblicke  Nachhilfe  durch  Einreihung  fehlen- 
der Wörter  oder  andere  Correctureo,  warum  will  man  Bedenken  tragen, 
ein  gleiches  Verfahren  bei  der  Vulgata  der  übrigen  Reden  anzuwenden, 
welche  freilich  in  sehr  vielen  codd.  überliefert  und  durch  zahlreiche  Ab- 
drücke gleichsam  fixirt  ist? 

Einen  solchen  Fall  glauben  wir  gleich  aus  dem  Eingang  der  Cae- 
ciniana anführen  zu  können.  Hier  wird  der  Unterschied  von  Gewalt  und 
Recht  in  verschiedenen  Wendungen  eingeschärft.  Aebutius,  behauptet 
Cicero  (§.  2),  war  unverschämt  in  Anwendung  der  vis-,  er  ist  es  jetzt 


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684  Keller:   Scmestrium  ad  M.  Tallium  Ciceronera  libri  sex, 

noch  und  wagt  vor  Gericht  zu  erscheinen,  weil  er  meint,  selbst  durch 
das  Geständniss  seiner  Unverschämtheit  durchdringen  au  können:  nisi  forte 
hoc  rationis  habuir,  quoniam  si  facta  vis  esset  moribus,  superior  in  pos- 
sessione  relinenda  non  fuisset,  quia  contra  ius  moremque  facta  sit,  A.  Cae- 
cinam  cum  amicis  mein  perterritum  profugisse,  nunc  quoque  in  iudicio  si 
causa  more  institutoque  omnium  defendatur,  nos  inferiores  in  agendo  non 
fuluros;  sin  a  consuetudine  recedatur,  se,  quo  impudentius  egerit,  hoc 
superiorem  discessarum.  Offenbar  ist  hier  eine  Vergieichung  angestellt: 
wie  Aebutius,  wenn  bei  der  deductio  das  gehörige  Verfahren  beobachtet 
worden  wäre,  die  Oberhand  nicht  behalten  hätte,  so  wUrde  er  auch  jetzt, 
wenn  man  die  Sache  nach  altem  Brauch  und  Herkommen  Yertheidigte, 
unterliegen  müssen-,  der  mit  quia  beginnende  Sata  ist  dann  Parenthese, 
der  mit  sin  enthält  die  aus  der  Vereleichumz  für  Aebulius  sich  ergebende 
Maassregtl.  Dieser  ParaUelismns  ist  in  allen  gedruckten  Texten  doppelt 
verdunkelt,  in  einigen  codd.  aber  nur  an  der  einen  Stelle.  Nämlich  quo- 
niam kann  unserer  Annahme  zufolge  kein  Correlat  an  nunc  quoque  bil- 
den, dieses  aber  muss  durch  eine  correlative  Partikel  eingeleitet  werden. 
Statt  quoniam,  was  in  keiner  Handschrift  ausdrücklich  gesetzt  zu  seyn 
scheint,  haben  diese  auom.  auo  oder  cum.  wofür  sich  Keller  entschieden 
hat,  doch  würde  das  sehr  xweideutig  seyn:  die  richtige  Leaart  ist  quo- 
modo  in  pk  und  ^  (einem  Pariser  und  Oxforder  cod.J,  ihm  wird  ein  vor 
nunc  ausgefallenes  sie  oder  ita  entsprochen  haben,  der  Zwischensatz  aber 

In  der  Erzählung  §.  10—23  ist  ein  Hauptpunkt,  die  Schenkung 
des  fondus  Fulcinianus,  welche  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  Cucsennia 
ihrem  Cicisbeo  Aebutius  machte,  jedoch  mit  dem  Vorbehalt  den  ususfruc- 
tus  des  ihm  Uberlassenen  Grundstückes  für  sich  zu  behalten,  von  Cicero 
sehr  schlau  in  Schatten  gestellt:  erst  sollen  die  Freunde  ihr  zum  Ankauf 
dieses  Gutes  geratben  haben  (§.  15),  dann  wird  dem  Aebutius  vorge- 
worfen, er  habe  das  Hausbuch  der  Caesennia,  worin  der  Kauf  eingetra- 
gen seyn  musste,  unterschlagen,  was  Cicero  denselben  gar  in  der  Form 
eines  naiven  Geständnisses  vorbringen  Usst  (coius  rei  putat  iste  rationem 
reddi  non  posse,  quod  ipse  tabulas  avertcrit),  dann  soll  Aebutius  damit 
angefangen  haben,  dem  Caecina  sein  Erbrecht  überhaupt  zu  bestreiten, 
und  erst  als  dieser  kühne  Angriff  misslang,  auf  den  Gedanken  verfallen 
seyn,  seine  Ansprüche  auf  den  einzelen  fundus  zu  beschränken.  Da 
aber  nicht  denkbar  ist,  dass  ihm,  so  lange  seine  Freundin  mit  Caecina 
verheirathet  war,  oder  gar  nach  ihrem  Tod  eine  Gelegenheit  sich  darbot, 
die  tabulae  zu  beseitigen,  wird  man  eher  annehmen  dürfen,  Caesennia 


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Keller:   Semestriura  ad  M.  Tullium  Ciccronem  libri  sex.  685 

habe  ihm  wirklich  durch  Uebergehen  des  Postens  in  ihrem  Hausbuch  und 
indem  sie  ihm  vom  Banquier  quiltiren  Hess,  statt  ihr  selbst  den  Empfang 
der  Kaufsumme  zu  bescheinigen,  ebenso  durch  die  Quittung  des  auctor 
fundi,  Caesennius,  den  Besitz  verliehen.  Indem  sie  von  nun  an  bloss  usu- 
fructuaria  war,  konnte  Caecina  den  fundus  nicht  von  ihr  erben,  hatte 
also  auch  keine  rechtlichen  Ansprüche  darauf,  und  wurde  von  Aebutius 
nach  vorausgegangener  Warnung  auf  eine  nicht  ungesetzliche  Weise  vom 
Eintritt  in  das  Grundstück  abgehalten.  Aebutius  hatte  vorher  bei  der 
Erklärung  (denuntiat),  das  Gut  sey  sein  Eigenthum,  keineswegs  die  Ab« 
sieht  gehabt,  als  petitor  aufzutreten,  sondern  nur  die,  seine  Habe  gegen 
Caecina  zu  sichern,  er  lehnte  in  Bezug  auf  diesen  Besitz  das  arbitrium 
familiae  erciscundae  ab.  Nun  hätte  Caecina  eine  actio  in  rem  gegen  ihn 
anhingig  machen  müssen,  wodurch  der  Prozess  über  die  Erbschaft  im 
Ganzen  verschoben  worden  wlre;  statt  dessen  zog  er  vor,  von  Aebutius 
zn  verlangen,  dass  er  ihn  deducire;  Hess  sich  dieser  darauf  ein,  so  konnte 
Caecina  als  actor  die  gerichtliche  Vorladung  beliebig  verschieben ,  denn : 
actor  deducitur,  quicum  agitur  deducit  —  es  war  dann  nicht  mehr  des 
Aebutius  Sache  das  Gericht  einzuleiten,  daher  besann  dieser  sich  eines 
bessern  und  meldete  Caecina,  dass  er  die  verabredete  deduetio  nicht  vor- 
nehmen werde.  Aber  Caecina  wollte  jetzt  mittelst  eines  interdictum  den 
Besitz  erzwingen. 

Diess  ist  der  wesentliche  Inhalt  der  narratio,  deren  richtige  and 
lebendige  Auffassung  auch  in  der  neuesten  Ausgabe,  der  von  Jordan,  theils 
durch  unrichtige  Interpunotion ,  theils  durch  stehengebliebene  Corruptelen 
erschwert  wird.  Jenes  z.  B.  in  §.  15,  wo  nach  u t  fun dum  sibi  emat 
ein  Gedankenstrich  andeuten  müsste,  dass  der  Satz  durch  die  Frage  cui 
tan  dem?  unterbrochen  werde,  ferner  nach  attenditis  kein  Absatz  folgen 
durfte,  dann  in  einem  durch  keine  stärkere  awrjii)  zerrissenen  Zusammen- 
hang die  asyndeta  so  fortlaufen  mussten:  Aebutio  negotium  datur  adest 
ad  tabulam  licetur  Aebutius  deterrentur  emptores  multi  partim  gratia  Cae- 
senniae  partim  etiam  pretio,  fuudus  addicitur  Aebutio  pecuniam  argentario 
promittit  Aebutius:  quo  testimonio  nunc  vir  optimus  nlitur  sibi  emptum 
esse,  quasi  vero  aut  nos  ei  negemus  addictum  aut  tum  quisquam  fuerit 
qui  dubitaret,  quin  emeretur  Caesenniae,  cum  id  plerique  scirent,  omnes 
fere  audissent,  hi  coniectura  assequi  possent,  cum  pecunia  Caesennia  ex 
illa  hereditate  deberetur,  eam  porro  in  praediis  collocari  maxime  expe- 
diret,  essent  autem  praedia  quae  mulieri  maxime  convenirent  etc.  Nicht 
bloss  am  die  richtigere  Anagnose  anzugeben,  hat  Ref.  den  ganzen  passus 
abgeschrieben,  sondern  auch  um  ein  Bedenken  zu  erheben.  Das  doppelte 


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686  Keller:    Semestrium  ad  M.  Tullium  Ciccronem  libri  sex. 

cum  Dämlich  ist  anstössig,  da  man  versucht  ist,  es  heidemale  mit  dobi- 
taret  so  verbinden,  was  für  das  erste  ([cum  id)  nicht  angeht,  denn  das* 
die  Hoisten  davon  wussten,  ist  kein  Grund  dafür,  dass  Niemand  daran 
zweifelte.  Man  schreibe  quod  statt  cum  id,  so  wird  dieser  Anstoss  weg- 
fallen. Ausserdem  sind  ohne  Zweifel  Uommseu  und  Spengel  gegen  Jor- 
dan im  Recht,  wenn  jener  nach  omnes  fere  supplirt  si  qui  forte  non 
audisset,  dieser  et  si  quis  non  audisset,  und  darauf  hi  (in  den  codd.  bis} 
durch  is  ersetzt.  Letzteres  wird  beizubehalten  seyn,  höchstens  mit  der 
kleinen  Modification,  dass  et  wegbleibt.  Hier  ist  Jordan  (p.  10)  io  der 
Vorstellung,  dass  Cicero  die  membratim  fortschreitende  Rede  nicht  durch 
eine  solche  Parenthese  schwächen  und  hemmen  dürfe,  befangen,  er  bringt 
einer  eingebildeten  rhetorischen  Regel  die  logische  Richtigkeit  des  Ge- 
dankens zum  Opfer,  denn  die  Notwendigkeit,  jene  Muthraassung  zu  fas- 
sen, war  eben  durch  das  Nichtgehörlhaben  hier  allein  bedingt  und  dies? 
musste  ausdrücklich  bezeichnet  werden. 

Weiterbin  bat  Keller  io  §.  19  die  Correctur  von  Schütz  cum  iste 
sextutam  suam  nimium  exaggeraret  (vulgo:  cum  ipse  etc.)  durch  Argu- 
mente, die  aus  dem  Prosessgang  selbst  geschöpft  sind,  über  jeden  Zwei- 
fel erhoben.  Das  cpostulavit'  bezieht  sich  gewiss  nur  auf  Caecina,  sein 
Gegner  würde,  wenn  er  ihn  zur  Erbschaftstheiluug  aufgefordert  hätte, 
seine  Ansprüche  anerkannt  haben;  wohl  aber  musste  Caecina,  um  keine 
Ungewiesheit  Uber  sein  gutes  Recht  zu  zeigen,  das  arbitrium  verlangen. 
Wenn  nun  nach  postulavit  die  vulgata  so  fortfährt:  atque  illis  paucis  die- 
bus,  posteaquam  videt  nihil  se  ab  A.  Caecina  posse  litium  terrore  abra- 
dere,  homini  Romae  in  foro  deountiat,  fundum  illum  —  suam  esse,  aeqne 
sibi  emisse  ist  freilich  nicht  mit  Schutz  und  Orelli  iste  paucis  (istis  ist 
Druckfehler  bei  Letzterem)  zu  schreiben,  aber  auch  die  Fortsetzung  mit 
atque,  wo  mit  dem  nächsten  Verbum  (videt)  nicht  dieselbe  Person  be- 
zeichnet ist,  kann  nicht  richtig  seyn,  Cicero  musste  den  Erfolg  der  po- 
stulatio  ausdrücken  und  das  that  er  wohl  durch  itaque  (für  atque),  wo- 
bei illis  paucis  diebus  unangetastet  bleibt  (vergl.  hieiu  Schmidt  in  Rich- 
ters krit.  Jahrb.  XVI,  707  IT.).  Eine  besondere  Angabe  des  durch  den 
Inhalt  genügend  angedeuteten  Subjekts  ist  dann  unnothig. 

Cicero  glaubt  durch  das  Ge&ländniss  des  Gegners,  der  kein  Hehl 
daraus  machte,  dass  gegen  Caecina  Gewalt  angewandt  worden  aey  und 
dafür  sogar  Zeugen  beibrachte,  viel  zu  gewinnen,  oder  er  nimmt  wenig- 
stens  den  Schein  an,  als  sey  er  dieser  Meinung  und  beurtheilt  in  diesem 
Sinn  die  Aussagen  der  Zeugen.  Unter  ihnen  befand  sich  auch  der  aus 
der  Rede  pro  Cluentio  bekannte  Senator  Fidiculanius  Falcula,  welcher  hier 


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Keller:   Semeslrium  ad  M.  Tulliam  Ciceronem  libri  sex. 


687 


eben  so  schlimm  wegkömmt,  als  er  dort  glimpflich  behandelt  wird.41)  Dieser 
soll  anfangs  in  Abrede  gestellt  haben,  dass  Aebntins  mit  Hilfe  bewaffne- 
ter dem  Caecina  den  Eintritt  verwehrte,  was  Cicero  zu  der  Aeusserang 
Teranlasst :  visu*  est  mihi  prrmo  veterator  intelligere  praeclare,  quid  causa 
(der  Erf.  n.  a.  haben  causae)  optaret  et  taotummodo  errare,  quod  omnes 
testes  infirmaret,  qui  ante  eum  dixissent.  Befremdlich  ist  hier  der  Aus- 
druck quid  causa  optaret,  welcher  dnreh  die  Lesart  causae,  welche  Jor- 
dan befolgt,  nicht  besser  sondern  noch  verkehrter  wird,  sey  es  nun,  dass 
man  übersetze  „was  er  für  die  Sachlage  zu  wünschen  habe",  oder  auch 
„was  er  für  eine  Sachlage  zu  wünschen  habe."  Der  Zeuge  musste  wis- 
sen, nicht  was  er  tu  wünschen,  sondern  was  er  auszusagen  habe,  um 
die  Sache  seiner  Partei  nicht  zu  compromittiren ,  also  quid  causa  postu- 
laret,  vergl.  pro  Quint  §.14  und  besonders  pro  Tnllio  §.  5:  tametsi 
postulat  causa,  tarnen  nisi  plane  cogit,  ingratiis  ad  maledicendum  non  so- 
leo  deseeodere,  ausserdem  pro  Sulla  $.31. 

Da  es  sehr  zweifelhaft  schien,  ob  Caecina  mittelst  eines  interdictum 
zu  dem  fraglichen  Besitz  gelangen  werde,  gaben  ihm  Einige  den  Rath, 
ein  anderes  Verfahren  einzuschlagen  (§.  8  muta  actionem  aal  noli  mihi 
instare  ut  iudicem),  die  Gegner  aber  meinten,  sehr  ironisch,  er  möge 
iniuriarum  den  Aeburius  belangen.  Darauf  entgegnete  Cicero:  quid  (id) 
ad  causam  possessionis?  quid  ad  restttuendum  eum,  quem  oportet  restitui? 
quid  denique  ad  ins  civile?  aut  (so  die  codd.)  ad  actoris  notionem  et 
animadversionem  ages  iniuriarum?  plos  tibi  ego  largiar.  non  solum  ege- 


•)  In  der  Claentiana  $.  103  f.  wird  er  als  unbescholtener  Richter  darge- 
stellt, welcher  von  zwei  Anklagen  losgesprochen  worden  sey,  der  einen,  dass 
er  nicht  lange  genug  an  dem  Gericht  T  heil  genommen  hätte,  um  mit  gutem  Ge- 
wissen gegen  Oppianicus  zu  stimmen,  und  der,  dass  er  sich  babe  bestechen  las- 
sen. Von  der  ersten  Lossprechung  bemerkt  Cicero:  non  numero  haue  absolti- 
tionem:  nihilominus  enim  potest,  ut  illam  non  commiserit,  tarnen  ob  rem  iudi- 
candam  **  captam  nusqoam  Staicnus  cadem  lege  dizit:  proprium  crimen  illud 
quaeslionis  eius  non  fuit.  Nach  iudicandam  ist  sichreres  ausgefallen  und  dadurch 
zugleich  das  Nächstfolgende  unverstiadlich  geworden.  Was  aber  hier  der  Red- 
ner gesagt  habe,  dürfte  sich  wobl  aus  der  Nennung  des  Staienus  und  aus  dem 
Satz  proprium  crimen  ergeben,  und  der  Sinn  der  verlornen  Worte  etwa  dieser 
gewesen  seyn :  pecuniam  aeeepisse,  ut  Staienus,  qui  maiestatis  est  damnatus  cum 
iudex  pecuniam  aeeepisset,  darauf  konnte  folgen:  causam  tarnen  nusquam  ea 
quidem  lege  dixit,  proprium  enim  etc.  Die  Summe,  welche  von  Cluentius  dieser 
FaJcula  erhalten  haben  solle,  ist  von  Keller  in  der  Note  zu  §.  28  entdeckt  wor- 
den, es  waren  1300,  vergl.  p.  458. 


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688  Keller:   Semealrium  ad  M.  Tu)  Ii  um  Ciccronem  UM  sex. 

ris  verum  eliam  condemnaris  licet,  numqaid  magis  possidebis?  Ueber 
diese  Worte,  welche  Keller  für  einen  locus  vexatissimus  et  aliqua  ex 
parte  omnino  desperatus  erklärt,  hat  sieb  eine  wahre  Floth  voo  Ver- 
muthungen ergosseo,  welche  alle  einzeln  aozufübren  und  zu  behandele 
hier  nicht  möglich  ist.  Gegen  die  Correcturen  von  Hotomannus,  Guiliel- 
mus,  Graevius,  Orelli,  Klotz,  Savigny  ist  einzuwenden,  dass  sie  das  offen- 
bar corrupte  actoris  beibehalten ;  gegen  die  von  Lambiaus,  Garatoni  (von 
Jordan  mitgetheilt  p.  12)  und  Beck,  dass  sie  es  ausstossen  statt  zu  emen- 
diren-,  das  auctoris  von  Heyse  aber,  praetoris  von  Faber,  potius  von  Bein 
verfehlt  den  Sinn  der  Stelle.  Eher  trifft  Mommsens  facinoris  zu,  nur 
durfte  es  nicht  in  diese  Verbindung:  quid  denique  ad  ius  civile,  ut  ad 
facinoris  notionem  atque  animadversionem  agas  iniuriarum  gebracht  wer- 
den. Auch  der  von  Garatoni  nur  handschriftlich  gemachte  Vorschlag  quid 
denique?  ad  ius  civile  an  ad  notionem  atque  animadversionem  ages  iniu- 
riarum enthält  etwas  Gelungenes,  aber  in  unrichtiger  Anwendung:  das  an 
statt  aut  oder  wie  man  vulgo  liest,  at.  Jordan  urlheilt  darüber  (comment 
de  cod.  Tegernseensi  p.  12)  „ingoniosa  est  haec  Garatonii  co  nie  dura 
et  perquam  commendabilis;  quamquam  mirum  est,  quomodo  v.  actoris  in 
textum  irrepserit.u  Aus  diesem  Grund  sowohl,  als  weil  die  Interpunctioo 
dem  Gedanken  Cicero*  total  widerstrebt,  ist  die  Correctur  Garatonfs  nichts 

civile  zusammenhängen,  wie  die  vorhergehenden  Fragesätze  lehren,  dann 
beginnt  mit  an  eine  neue  Frage.  Und  actoris?  Dies  ist  durch  Buch- 
staben Versetzung  verderbt  aus  alrocis,  darnach  aber  rei  ausgefallen,  was 
um  so  leichter  geschehen  konnte,  als  rei  neben  actoris  keinen  Sinn  gab. 
Wir  lesen  also  jetzt :  quid  id  ad  causam  possessionis  ?  quid  ad  restilnen- 
dum  eum,  quem  oportet  restitui?  quid  denique  ad  ius  civile?  an  ad  alro- 
cis rei  notionem  et  animadversionem  ages  iniuriarum?  Gleich  darauf  §.  36 
folgt:  qui  dies  totos  aut  vim  fieri  vetat  aut  restitui  factam  iubet  —  io 
atrocissima  re  quid  faciat  non  habebit? 

(Schluss  folgt.) 


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Nr.  44.  HEIDELBERGER  1851. 

JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR. 


f 
t 


Kellert  Semegtrlum  ad  1HL  Tiilllum  Cieeroneni 

llbrft  «ex« 

(SchlOM.) 

Um  die  Miislichkeit  der  voo  ihm  vertheidigten  Sache  iu  verhüllen, 
macht  Cicero  in  dieser  Rede  fleissigen  Gebrauch  von  den  loci  commune», 
welche  die  Aufmerksamkeit  der  Richter  von  der  eigentlichen  Frage  (iudi- 
cata) abzulenken  bestimmt  sind.   So  wird  §.  65  die  gewiss  nur  bedingt 
ausgesprochene  Behauptung  Pisos  iurisconsultorum  auetoritati  obtemperari 
non  oportere  (wahrscheinlich  in  Bezug  auf  den  weder  nachteiligen  noch 
erspriesslichen  Rath  des  Aquilius,  Caecina  möge  immerhin  die  deduetio 
verlangen}  Gegenstand  einer  langen  Diatribe;  Cicero  kann  sein  Befrem- 
den nicht  unterdrücken,  wie  Piso,  der  angeblich  nur  verbo  literaque  sei- 
nen Clienlen  verthaidigt,  so  etwas  aufstellen  möge;  das  sey  vielmehr  die 
Sprache  derer,  welche  im  Vertrauen  auf  die  Billigkeit  ihrer  Sache  gegen 
den  Buchstaben  des  Gesetzes  stritten :  quod  —  admodum  mirabar,  abs  te 
qnamobrem  diceretur:  nam  ceteri  tum  ad  istam  hortationem  decurrnnt,  quum 
se  in  causa  pntaat  habere  aequum  et  bonum.  si  contra  verbis  et  Uteri« 
et  (ut  dici  solet)  summo  iure  contenditur,  solent  eiusmodi  iniquitati  boni 
et  aequi  nomen  dignitatemque  opponere,  tum  illud,  quod  dicitur  4sive 
nive'  inident  etc.  So  wie  sich  der  Redner  über  seinen  Gegner  verwun- 
dert, könnte  man  hier  darüber  sich  wundern,  dass  Jordan,  nachdem  selbst 
der  cod.  Tegernseensis  die  richtige  Lesart,  CUr  welche  sich  Lambinus  und 
Garatoni  erklärten,  oratio  (für  hortatio)  darbietet,  dennoch  zurückweist, 
ohne  einen  andern  Grund  dafür  zn  haben,  als  den:  plus  tribuendum 
auetoritati  codicis  Erf.  qui  emendate,  quam  Tegernseensis,  qui  negli- 
genter  scriptus  est\    Hortatio  als  Abmahnung  an  die  Recuperatoren  ge- 
fasst,   wäre  immer  noch  fehlerhaft  genug  angebracht  statt  dehortatio. 
Doch  liegt  ein  solcher  Zweck  hier  ganz  fern;  für  oratio  würden  sich 
viele  Parallelstellen  beibringen  lassen,  es  genüge  an  pro  Toll.  §.  55 
su  erinnern:  haec  est  illorum  iu  causa  perdita  eztrema  non  oratio  ne- 
que  defensio,  sed  coniectora  et  quasi  divinatio.    Ein  noch  ärgeres  Ver- 
derbnis* der  angeführten  Worte  scheint  bisher  gar  nicht  bemerkt  wor- 
den za  seyn,  dass  nämlich  quum  se  in  causa  —  contenditur,  nicht,  wie 
in  allen  Texten  durch  volle  Interpunction  zerrissen  werden  darf,  indem 
mit  n  ein  neuer  Satz  anhebt;  dieser  ist  vielmehr  dem  mit  quum  begin- 
XLIV.  Jahrg.  5.  Doppelheft.  44 


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690  Kdler:    Seracstrium  ad  II.  Tnllium  Ciceronem  libri  «ex. 

nenden  untergeordnet;  darauf  lässt  Cicero  die  Figur  der  repetitio  ein- 
treten, von  welcher  im  Text  das  erste  Glied  mangelhaft  ist;  gewiss  schrieb 
er  tum  solent  eiusmodi  iniquitati  —  oppooere,  worauf  nicht  durch  ein 
Punktum,  sondern  ein  blosses  Komma  getrennt  folgen  muss:  tum  illad  etc. 
Das  erste  tum  konnte  sehr  leicht  nach  conteoditur  ausgelassen  werden. 

Von  diesem  locus  communis  über  die  Gutacbteu  der  Juristen  kömmt 
Cicero  auf  den  zweiten,  der  das  ins  civile  selbst  betrifft  §.  70—77.  Die 
Wobltbat,  welche  in  seinem  Besitz  jedem  Mitglied  des  Staats  verlieben 
ist,  kann  nur  durch  ungerechte  und  willkürliche  Entscheidungen  der  Ge- 
richte geschmälert  oder  gar  aufgehoben  werden.  Mit  Anwendung  auf 
den  vorliegenden  Fall  erklärt  der  Redner,  es  habe  weniger  auf  sich, 
wenn  Caecina  nicht  restituirt  werde,  aber  die  allgemeine  Sicherheit,  die 
Sache  der  Römischen  Nation,  aller  Besitz  steht  auf  dem  Spiel,  wenn  — 
vestra  auctoritate  hoc  constituetur:  q  nie  um  tu  posthac  de  possessione  con- 
tendes,  eum  si  ingressum  modo  deieceris,  in  praedium  restituas  oportebtt, 
sin  autem  ingredienti  cum  armata  multitudine  obvius  fueris  et  ita  veoientem 
repuleris  fugaris  averteris,  non  restitues.  —  Nun  folgt  die  famöse  Stelle, 
woran  sich  nacheinander  Naugerius,  Lambiuus,  Ernesti,  Schütz,  Klotz  ver- 
ficht haben,  ohne  gewahr  zu  werden,  daas  die  Gegensätze  von  int  und 
lubido,  jenes  auf  Billigkeit,  diese  auf  wörtliche  Interpretation  gestützt  bei 
aller  Verderbnis*  der  Periode  durchblicken  und  daher  für  die  Emendatioo 
Leitsterne  seyn  müssen.  Das  hat  erst  Madvig  erkannt,  wenn  er  in  der 
Vorrede  zu  Cic.  de  Fiuib.  p.  XL VIII  besserte:  iuris  baee  vox  est,  esse 
vim  non  in  caede  solum,  sed  etiam  in  animo,  lebidinis,  nisi  cruor  adpa- 
reat,  vim  non  esse  factam;  iuris,  deiectum  esse,  qui  prohibitus  sit,  labi- 
dinis,  nisi  ex  eo  looo,  ubi  vestigium  inpresserit,  deici  neminem  posse; 
iuris  retineri  sententiam  et  aequitate  piurumum  valere  oporiere,  lubidieis, 
verbo  ac  littera  ius  omne  torqueri.  vos  statuite,  recuperatores,  ntra  uti- 
lior  esse  videatur.  Der  Einwand  Jordans  im  Commeitar  p.  260,  lubido 
komme  io  Ciceros  Auseinandersetzung  hier  nicht  weiter  vor,  und  gefalle 
nicht  allzu  sehr  als  Antithese  von  ius,  mag  auf  sich  beruhen  bleiben;  wa- 
rum soll  Cicero  Alles  zweimal  sagen?  Ueberdiess  ist  lubidinis  ja  keine 
Conjectur  und  könnte  zum  L'eberfluss  aus  vielen  Stellen,  wie  Verr.  II, 
1,  120  belegt  werden.  Gegründet  aber  ist  der  Tadel,  dass  nach  Madvig  s 
Emendation  der  Gedanke  zu  abgerissen  darstehe;  allerdings  verknüpft  er 
lieb  nicht  gehörig  mit  dem  unmittelbar  Vorhergehenden.  Betrachtet  man 
ci©ü  I d c c ii ^ ti ii ^  dos  I^o ü ii c r*s  1  o  tl  t> m  ^ 3 d z g q  locus  com m u d j s y  so  S4  cfa 

als  passender  Schluss  desselben  nur  die  Aufforderung  an  die  Rekuperato- 
ren, durch  ihr  Urlheil  die  Festigkeit  des  Rechts,  was  e?  mit  den  Worten 


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Keller:    Semcstrium  ad  M.  Tullium  Ciceronem  libri  sex.  691 

§.  76  populi  Romani  causa  civilatia  ins  bona  fortunae  possessiones  um- 
schreibt, nicht  wertblos  zu  machen.    Auf  diese  Spur  fuhrt  der  Scbluss 
des  Satzes,  wie  ihn  die  Handschriften  geben:  vos  statuite  recuperotores 
el  (^ne'  hat  pe,  vb)  viliores  esse  videantur,  die  wahre  Gestalt  der  Ci- 
cerouiscben  coaclusio  verfehlten  also  die  Aenderungen  utri  aeqoiores  esse 
videantur,  utrun  utilius  esse  videalnr,  utra  (vox)  utilior  esse  videatur, 
utra  utilior  res  esse  videatur  —  denn  an  dem  viliores  müssen  wir  feit- 
iiiiioi),  uorigeos  uie  uurcu  nomoeoieieuia  an  uanuerc  t/orrupieien  versium— 
melte  Periode  etwa  in  folgen  du  r  Weise  mit  Benutzung  von  Madvig's  und 
SpeogeFs  (Phil.  II,  2,  p.  296)  Conjectaren  herzustellen  versuchen,  sin 
iuris  baec  vox  est,  esse  vim  non  in  caede  solum,  sed  etiam  in  animo, 
lubidiois,  nisi  cruor  adpareat,  vim  non  esse  factam;  si  iuris,  ...  neminem 
posse;  si  iuris,  rem  et  senteotiam  et  aeqoitatem  plurumum  vaiere  opor- 
tere,  lubidinis,  vcrbo  ac  litera  ius  omne  lorqueri,  vos  statuite  ita,  recu- 
peratores,  res  illae  ut  ne  viliores  esse  videantur.    Jene  Dinge  sind 
eben  alle  Vortheile  des  ius  civile.    Die  eine  Einwendung  Jordan's  gegen 
SpengePs  rem  et  sententiam ,  dadurch  werde  die  concinnitas  membrorutn 
g^tört,  setzt  voraus,  dass  Cicero  mit  Isokratischer  Düftelei  verfahren  sey 
und  bloss  comparia  gebildet  habe,  gegen  welche  Meinung  eine  Menge  von 
Stellen  citirt  werden  könnten,  wenn  es  dessen  bedürfte.  Was  die  stabile 
Verbindung  res  et  sententia  betrifft,  die  Spengel  aus  der  Rede  selbst  mit 
$.  79,  81f  86  belegt,  darf  man  wobt  behaupten,  dass  eine  scharfe  üü- 
terscbeidoag  dieser  Ausdrücke  gar  nicht  nothig  oder  auch  nur  möglich 
ist,  zunächst  gebt  res  auf  die  wahre  Sachlage,  die  sententia  hält  sich  an 
diese  ohne  Wortklauberei  und  darin  gerade  besteht  auch  die  aequitas. 
Was  daher  Jordan  bemerkt,  Tullius  non  id  agit,  ut  rem  opponat  verbo, 
«ed  ut  sententiam  s.  eorum,  qui  iura  decentissime  descripserint,  iurisque 
aequitatem  opponat  eorum  caluroniae  atque  iniquitati,  qui  verbo  ac  litten 
ius  omne  detorqucre  stndent,  ist  nur  gesagt,  um  zn  widersprechen. 

In  §.  95  ist  der  Einwand  at  euiro  Sulla  legem  tuiit  nicht  wegen 
sciocs  p  1  u t z 1 1 cii c n  l^iotrct^Mis  t)t)fi  o/nülicli^  wig  Schosidt  ^liiut)tc^  obßr  doch 
die  Beziehung  von  legem  unklar,  wenn  nicht  eine  vorhergeroaebte  EuU 
gegaung  der  lex  schon  gedachte  oder  auf  ihr  Besteben  hindeutete.  Da- 
her wir  Schmidt  ( I.  p.  708)  in  der  Annahme  einer  Lücke  hier  doch 
beipflichten  müssen,  indem  Jordans  Argumente  für  die  Integrität  des  §, 
CftfiL  Prelefg,  in  der  Ausgebe  p,  69)  uns  nicht  befriedigen.  Dagegen 
üadet  dieser  selbst  sogleich  im  nächsten  §  eine  Lücke,  wo  aller  Wahr- 
scheinlichkeit nach  keia  Buchstabe  verloren  gegangen  ist.  Dia  Frage  ist 
kier,  ob  Caecina  die  civitas  einbüßen  konnte,  was  Cic  verneint,  und  da- 

44*  • 


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692 


Rosmann  u.  Ed«:    Geschiebte  von  Breisach. 


bei  behauptet,  sie  könne  überhaupt  nur  mit  der  libertas  jemanden  entzo- 
gen werden,  aber  selbst  die  ganze  Römische  Nation  dUrfe  letztere  nicht 
nach  Willkür  aufheben :  sed  quaero  abs  te,  putesne,  si  populns  iosserit  me 
tuum  aut  item  te  meum  servum  esse,  id  iussum  ratam  alqae  finnum  fu- 
turum? perspicis  hoc  nihil  esse  et  eateris  quae  inter.  Da>s  fateris  ge- 
lesen werden  müsse,  kann  man  kann  bezweifeln;  aber  Orelli's  quid  igi- 
tur?  passt  allerdings  nicht  zu  dem  Nächstfolgenden.  Das  schon  §.  35 
angewandte  Mittel  der  metathesis  literarum  scheint  auch  hier  anwendbar: 
quaerenti  für  quae  inter,  mit  Beziehung  auf  quaero  abs  te. 

In  Betreff  der  coloniae  Lalinae,  deren  Verhaltnisse  $.  98  und  be- 
sonders 102  zur  Sprache  kommen,  dürfen  wir  jetzt  auf  Zumpfs  Commen- 
tationes  epigraphicae,  p.  233  sqq.  verw eisen,  der  die  Ansicht,  dass  da- 
mit die  12  Colonieen  des  filtern  Drusus  gemeint  Seyen,  trefflich  begrün- 
det hat.  Kayaer. 


Geschichte  der  Stadt  (Alt)  Breisach  von  P.  Rosmann  und  Fau- 
st in  Ens  mit  einem  Vorwort  von  Dr.  Weiss.  Nebst  zwei  Stahl- 
stichen und  zwei  Lithographien.  Freiburg  im  Breisgau.  In  Com- 
missi™ der  Wagnerischen  Buchhandlung.  i85t.  XVI  u.  482  S.  in  8. 

Diese  Beschreibung  der  Schicksale  einer  uralten,  in  der  ganzen  Ge- 
schichte Deutschlands  oft  genannten  Stadt  und  ehemaligen  Festung  am 
Rheine  sah  Referent  gleichsam  unter  seinen  Augen  entstehen.  Sie  wurde 
nämlich  von  dem  jubilirten  Prof.  von  Troppau,  Herrn  F.  Ens,  während 
seines  Aufenthalts  zu  Konstanz,  dem  Wohnsitz  des  Ref.,  wo  er  dessen 
Bibliothek  fleissig  benutzte,  ausgearbeitet.  Den  Beruf  zu  dergleichen  Arbei- 
ten hatte  der  Verf.  früher  durch  sein  Werk:  Das  Oppland  oder  der 
Troppauerkreis  nach  seinen  geschichtlichen,  bürgerlichen  und  örtlichen 
Eigentümlichkeiten  (Wien,  bei  Gerold  1836.  IV  Bde.)  in  einer  Weise 
beurkundet,  die  vielseitige  Anerkennung  fand.  Zum  Versuch  einer  Ge- 
schichte von  Altbreisach  fühlte  er  sich  durch  Vaterlandsliebe  angezogen. 
Ist  doch  sein  Geburtsort  Rothweil  am  Kaiserstuhl  nur  ein  paar  Stunden 
von  dieser  Stadt  entfernt.  Auch  machte  er  seine  ersten  Studien  zu  Frei- 
burg und  brachte  seine  erste  Lebensperiode  im  Breisgau  zu.  Diese  per- 
sönlichen Verhältnisse  hat  sein  Jugendfreund,  der  um  die  Gemeinde  viel- 
verdiente Herr  Stadtpfarrer  Rosmann  zu  Altbreisach,  mit  ihm  gemein. 
Auch  war  dieser  im  Stande,  ihm  zur  vorliegenden  Geschichte  manches  Ma- 
terial beizuschaffen.  Sodann  hat  er  sich  theilnebmend  für  die  schöne 
Ausstattung  des  Buches  verwendet.    Desswegen  ist  sein  Name  auf  dem 


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Rosmann  u.  Eni:   Geschichte  von  Breisach. 


693 


Titelblatt  dem  des  Herrn  Prof.  Ens  beigesellt.    Dr.  Weiss  zu  Freiburg, 
der  für  den  correkteo  Druck  des  Werkes  sorgte,  hat  durch  ein  lehrrei- 
ches, kräftiges  Vorwort  das  Verdienst  des  historischen  Versuchs,  so  wie 
die  Schwierigkeiten  bei  dessen  Abfassung  beleuchtet.    Die  grösste  lag 
darin,  dass  die  meisten  urkundlichen  Nachrichten  und  Ueberlieferungen  ab- 
handen gekommen  oder  zerstört  worden  sind.  Indessen  ist  es  doch  selbst 
der  Einleitung  gelungen,  mittelst  treuer  und  scharfsinniger  Zusammenstel- 
lung der  zerstreuten  Berichte  und  Andeutungen  ein  Bild  von  dem  viel- 
bewegten Leben  zu  entwerfen,  das  zuerst  die  keltischen,  hernach  die 
suevischen,  dann  die  alemannischen  Stämme  in  bestündigen  Kämpfen,  an- 
fangs unter  sich,  seit  Caesars  Zeiten  aber  mit  den  Römern  zur  Verfech- 
tung ihrer  Freiheit  in  den  Gegenden  fahrten,  denen  das  auf  einem  Fels- 
hügel am  Rhein  gelegene  Breisach  zum  schützenden  Hort  und  Anhaltspunkt 
diente.    An  dieses  Bild  schliesst  sich  im  ersten  Abschnitte  die  Schil- 
derung von  Breisach  und  seinen  Geschicken  an,  das  in  der  vorrömischen 
und  römischen  Zeit  am  linken  Rheinufer  lag,  dann  von  ihm  als  Insel  um- 
schlungen wurde,  später  aber  am  rechten  Ufer  emporragte.    Von  der 
Zeit  jedoch,  wo  die  Macht  der  Römer  sich  Uber  die  Alpen  zurückge- 
drängt sab,  und  Breisgau  und  Eisass  Bestandteile  des  fränkischen  Reichs 
wurden,  verliert  sich  ihre  Geschichte  in  einem  Kreis  dichterischer  Sagen. 
Davon  theilt  der  zweite  Abschnitt  das  Merkwürdigste  mit.   Dieser  Sa- 
genkreis erstreckt  sich  bis  in  die  Zeiten  KarPs  d.  g.  Doch  bei  den  ver- 
hängnissvollen Schicksalen  Ludwig's  des  Frommen  sehen  wir  Brei- 
sach wieder  mehr  auf  geschichtlichem  Boden.    Der  Versuch  seiner  Aus- 
söhnung mit  den  ehrgeizigen  Söhnen  unter  Gregorys  IV.  Vermittelung 
geschah  auf  der  Ebene  am  Siegwaldsberge  bei  Colmar.    Diese  bekam 
wegen  des  treulosen  Trugs,  womit  hier  der  friedfertige  Kaiser  bintergan- 
gen  wurde,  den  Namen:  das  Lügen  fei  d.  Unter  den  Wenigen,  die  ihm 
treu  verblieben,  war  Gebhard,  Graf  vom  Lahngau  und  Breisach  (S.  63). 
Später  weilte  Ludwig  der  deutsche  längere  Zeit  in  Breisach  und 
den  andern  Städten  am  Rhein,  ihre  Wohlfahrt  zu  heben  bedacht  Ihr 
Aufblühen  ward  aber  jetzt  durch  neue  Kriege  und  die  aus  Asien  einbre- 
chenden Schwärme  von  Heuschrecken  gestört,  die  die  Luft  verfinsterten 
und  alles  Grün  der  Fluren  aufzehrten,  worauf  Seuchen  und  Hungersnoth 
folgten  (S.  66).    Dem  schläfrigen  Karl  d.  Dicken  blieb,  als  ersieh 
fast  von  Allen  verlassen  sab,  Alemannien^  mit  Breisach  getreu  (S.  67).  — 
Der  vierte  Abschnitt  beschreibt  Breisachs  Belagerung  durch  K.  Otto  L 
und  seine   Schicksale  unter  den  sächsischen  Kaisern;  der  fünfte  aber 
die  unter  den  fränkischen.    Unter  Konrad  II.  verfiel  Schwabens  Herzog 


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694 


Ernst  II.  wegen  seiner  Mitbewerbung  um  Burgund  in  die  Reichsacbt.  Als 
jedoch  der  Kaiser  zum  Kriegszug  gegen  die  vorstürmenden  üogarn  sich 
anschickte,  bot  er  dem  Geächteten  Herstellung  in  sein  Herzogthum,  doch 
nur  unter  der  Bedingung,  dass  er  jetzt  den  Grafen  Werner  von  Kyburg, 
der  als  treuester  Freund  für  ihn  mit  Aufopferung  von  Gut  und  Blut  ge- 
kämpft hatte,  als  Reichsfeind  verfolge.  Ernst  kehrte  aber  voll  Abscheu 
für  die  Zumuthung  solchen  Treubruchs  dem  Kaiser  den  Rücken,  und  floh 
zu  seinem  Freunde,  fest  entschlossen,  jedes  Schicksal  mit  ihm  zu  theilen. 
Beide  fielen  wie  Löwen  fechtend  vor  ihrer  festen  Burg  Falkenstein  (bei 
Baistall?).  Ein  Volkslied  verherrlichte  ihre  Freundschaftstreue  (S.  90 f.). 
Auch  dem  Kaiser  Heinrich  IV.  erwiesen  sich  in  seiner  Bedrüngniss  im 
grossen  Kampfe  mit  Gregor  VII.  Adel,  Städte  und  Landvolk  in  AtemBn- 
nien  treu  und  ergeben,  trotz  den  vielen  Drangsalen,  die  dadurch  Uber  sie 
kamen  (  8.  105  f.).  Schon  legen  Heinrich 's  mächtige  Gegner  im  Grabe 
und  die  Nolh  der  Christen  im  Morgenland  durch  den  Fanatismus  der  11a- 
homedaner  rief  die  Völker  des  Abendlands  auf,  sich  zum  Kreuzzug  ge- 
gen die  Schinder  des  b.  Grabes  zu  vereinigen,  da  kehrte  Heinrich  sieg- 
reich aus  Italien  nach  Deutschland,  wo  er  zu  Mainz  die  dnreh  I  i  teigeist 
lange  getrennten  Fürsten  in  Mintracht  um  sich  versammelt  sab.  Auch 
Bertbold  II.  von  Zubringen,  bisher  sein  Feind,  beugte  sich  dort  vor 
ihm.  Seinen  Ansprüchen  auf  das  Herzogthum  Schwaben  zu  Gunsten  Fried- 
rich"* von  Hohenstaufen  entsagend,  empfing  er  dafür  die  Stadt  Zürich  und 
das  Thurgau,  jetzt  von  Schwaben  getrennt,  nebst  der  Landgrafschaft 
Breisgau  als  Reichsleben  mit  dem  Herzogstilei.  Auch  erbaute  er  um  diese 
Zeit  (1090)  auf  einem  Vorberge  des  Scbwarzwaldes  über  dem  Dorfe 
Zubringen  die  Burg  dieses  Namens.  Ein  Hauptsitz  der  Zlhringer  ward 
aber  von  nun  an  Breisach  (S.  116).  Diess  war  auch  die  Zeit  der  meisten 
Kiosterstiflungen  im  Breisgau  (8.  117).  Breisach  erhielt  ein  Fraienstift 
(Marien- Au)  und  all  Stift  am  Münster  mit  14  Cborhenrn  (S.  121).  Fried- 
rich von  Hohenstaufen,  von  K.  Heinrich  V.,  als  er  nach  Italien  sog,  zum 
Reichsverweser  bestellt,  that  viel  für  die  bessere  Befestigung  Breisacbs,  so  wie 
anderer  Städte  am  Rhein  (8.  123).  Nach  des  kinderlosen  Heinrichs  MM 
wurde  jedoch  (mit  Uebergehung  Friedrich  s,  seines  Neffen  und  Erben)  auf  Be- 
trieb des  Brzbischofs  Adalbert  von  Mainz  Lothar  (II.)  v.  Sachsen  zum  Kaiser 
erwählt.  Aber  nach  Lothars  Tod  fiel  die  Wahl  auf  Konrad  v.  Hohen- 
staufen, und  als  dieser  bald  nach  seinem  unglücklichen  Kreuzzug  gestoibea 
war,  folgte  ihm  auf  den  Kaisertbron  sein  Neffe  Friedrich  der  Rothbart. 
Dieser  bestätigte  im  Landgrafthnm  Breisgau  den  Herzog  Berthold  IV. 
von  Zähringen,  der  ihm  1151  auf  seinem  Zug  Uber  die  Alpen  folgte,  wo 


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Rosinann  11.  Ens:    Geschichte  von  Brebach.  695 

er  die  stoben  Mailänder  demüthigte  und  die  Kaiserkrone  empfing  fS.  130) 
Nach  seiner  Rückkunft  heiratete  der  Kaiser  die  Erbin  vou  Burgund,  Ber- 
thold  von  Zubringen,  der  dadurch  seiner  Anwartschaft  auf  dieses  Land 
verlustig  ging,  bekam  zwar  dafür  eine  Entschädigung,  die  ihn  jedoch  nicht 
»frieden  stellte  (S.  1  3  1  I.  |.    Um  diese  Zeit  wurde  Breisach,  bis  dahin 
zum  Kirchsprengel  von  Basel  gehörig,  wegen  veränderten  Lauf  des  Rheins 
als  Bestandtheil  des  Breisgaus  vom  Kaiser  dem  Sprengel  von  Konstanz 
zugewiesen  (S.  133).  Als  himmlische  Bescherung  feierte  Breisach  im  J.  1162 
die  unversehene  Erwerbung  der  Reliquien  der  heil.  Märtyrer  Gervasius 
und  Prot asius.   Der  Brzb.  Reinald  von  Köln,  von  Italien  heimkehrend, 
wohin  er  den  Kaiser  auf  seinem  Kriegszug  begleite!  hatte,  im  Begriff 
diese  Reliquien  nebst  denen  der  heil,  drei  Könige  als  Siegstropbäen  nnf 
dem  Rheine  nach  Köln  zu  bringen,  hielt  zu  Breisach  an,  und  bewilligte 
hier  der  Bürgerschaft  auf  dringendes  Bitten  für  ihr  Münster  die  Gebeine 
des  einen  der  beiden  Märtyrer,  und  weil  nun  (so  lautet  die  Sage)  das 
Schiff  trotz  aller  Anstrengung  der  Ruderer,  nicht  weiter  gefördert  wer- 
den konnte,  so  iiess  sich  der  Erzbischof  durch  die  Vorstellung,  dass  die 
im  Tod  ungetrennten  Brüder  sich  auch  jetzt  nicht  trennen  wollten,  be- 
wegen, beide  Leiber  in  Breisach  zurückzulassen.    Dieses  Ereigniss  ward 
den  Breisachern  Veranlassung  zu  einem  jährlichen  Dankfest  (S.  136  f.). 
Noch  mehrmal  nahmen  sie  im  Gefolge  Berthold's  IV.  an  den  italien.  Kriegs- 
zügen des  Kaisers  Friedrich  Theil.    Berthold  V.  aber  förderte  ihr  Ge- 
meinwesen und  ihre  Gewerbsamkeit.  Dadurch  stieg  das  Ansehen  der  Stadt 
so  sehr,  dass  das  Stift  St.  Trudpert  ihr  die  Schirm voglei  gegen  die  es 
bedrängenden  Herren  v.  Staufen  übertrug,  welche  Schirm  voglei  später 
an  die  Grafen  v.  Habsburg  überging  (S.  143).  In  dem  Kampfe  zwischen 
Friedrich  IL  von  Hohenstaufen  und  Otto  IV.  von  Wittelsbach  gerieth 
Breisach  sehr  ins  Gedräng.  Otto  suchte  in  seinen  Mauern  Schutz  bei  Ber- 
thold  von  Zäbringen  und  Hermann  von  Baden.    Aber  der  wilde  Ueber- 
muth  seiner  Schaaren  erregte  den  Grimm  des  Volk's  in  Stadt  und  Laud, 
und  als  dieses  den  Anzug  des  Kaisers  Friedrich  vom  Bodensee  her  ver- 
nahm, stand  es  auf.    Otto  entfloh  nach  Sachsen.    Friedrich  wurde  mit 
Jubel  in  Breisach  empfangen  (S.  150)  und  zog  von  da  zur  Krönung  nach 
Aachen.    Nicht  lange  hernach  erlosch  mit  dem  Tod  Berlhold's  V.  von 
Zähringen  sein  Geschlecht,  dessen  Verdienste  um  BreisacU's  Wohlstand 

S.  151  156  umständlich  dargestellt  sind.    Kaisers  Friedrich'*  II.  ältesten 

Sohn  Hainrieb,  vom  Vater  während  seines  Zugs  nach  Jerusalem  mit  der 
Reichsverwesung  betraut,  beschlich  die  Gierde  nach  Unabhängigkeit.  Um 
für  diese  schnöde  Absiebt  die  Fürsten  zu  gewinnen,  schrieb  er  einen  Reichstag 


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Rosmann  u.  Ens:    Geschichte  von  Breisach. 


nach  Brebach  aus.  Doch  der  Kaiser  kehrte  jetzt  1235  nach  Deutschland 
zurück.  Vergebens  sachte  Heinrich  sich  der  Treae  von  Breisach ,  Basel  und 
Colmar  zu  versichern.  Er  musste  sich  unterwerfen  (S.  157).  Doch  kaum 
hatte  der  Kaiser  auf  dem  Reichstag  zu  Mainz  den  Landfrieden  befestigt, 
so  fiberstieg  er  schon  wieder  die  Alpen,  und  halte  nun  14  Jahre  lang 
einen  schweren  Kampf  mit  den  lombardischen  Städten,  den  mit  Gregor  IX. 
und  Innocenz  IV.  eng  Verbündeten,  zu  bestehen.  Inzwischen  wuchs  Brei- 
sach's  Gedeihen,  bis  es  den  Päbsten  gelang,  die  Wahl  von  Gegenkaisen! 
zu  bewirken.  Jetzt  trat  Breisach  mit  anderen  oberrheinischen  Städten  in 
einen  Bund  zu  Gunsten  der  Hohenstaufen,  und  1250  von  König  Wilhelm 
von  Holland  aufgefordert,  ihn  ab  ihren  Herrn  anzuerkennen,  antworteten 
die  Breisacher:  ihre  feste  Burg  sei  der  Basler-Kirche  Eigenthum;  sollten 
mitbin  je  die  mit  ihnen  verbündeten  Städte  vom  Haos  Hohenstaufen  ab- 
fallen, so  würden  sie  der  Baslerkirche  allein  treu  und  gehorsam  sein 
(S.  159).  Auch  bewahrten  sie,  als  Friedrich  II.  in  Italien  gestorben 
war,  ihre  Treue  seinem  Sohn  Kourad,  und  nach  dessen  Tod  huldigten  sie 
dem  Bbchof  von  Basel,  welcher  Stadt  und  Schloss  neu  befestigen  liess 
(S.  160).  Breisach  nahm  hernach,  als  die  norddeutschen  Städte  sich 
zu  Wilhelm  von  Holland,  die  südlichen  zu  Konradin  von  Schwaben  hiel- 
ten, Theil  an  dem  von  Watbold  zu  Mainz  gestifteten  rheinischenBund, 
der  den  Landfrieden  schützte.  Selbst  König  Wilhelm  musste  diesen  Bund 
guthebsen.  Als  aber  Wilhelm  von  den  Friesen  erschlagen  worden,  ver- 
fiel Deutschland  wegen  der  zwiespältigen  Wahl  von  Richard  von  Korn- 
wall, der  nur  selten,  und  Alphons  von  Castilien,  der  nie  daselbst  erschien, 
in  völlige  Anarchie,  wo  Jeder  sich  was  er  konnte,  besonders  vou  den 
hohenstauiiscben  Besitztümern,  zuzueignen  suchte  (S.  162).  —  Rudolph 
von  Habsburg  trat  als  Schirmer  von  Konradins  von  Schwaben  Erbgnt 
auf,  bis  dieser  1268  auf  dem  Blutgerüst  zu  Neapel  fiel;  er  gerieth  aber 
mit  dem  Bischof  von  Basel  in  Fehde,  was  der  Stadt  Brebach  eine  Be- 
lagerung und  Verwüstungen  zuzog  (S.  163).  Diess  veranlasste  Brei? ach, 
sich  dem  König  Richard  zu  unterwerfen,  dessen  Schutz  nun  der  Stadt 
und  dem  Bischof  von  Basel  zu  Tbeil  wurde.  Doch  erneuerten  sich  noch 
spater  die  Fehden  zwischen  Rudolph  und  dem  Bischof  von  Basel  auf  Brei- 
sachs Kosten  (S.  167).  Für  diese  Stadt  ging  wie  für  ganz  Deutschland 
ein  neuer  Glücksstern  erst  durch  die  Wahl  Rudolphs  von  Habsburg  zum 
deutschen  Kaiser  auf.  Als  Friedensstifter  zog  er  über  Breisach  und  die 
andern  Rheinstädte  nach  Aachen,  und  auch  auf  dem  Rückweg  kam  er 
nach  Breisach,  wo  er  die  ungesetzlichen  Zölle  aufhob,  und  der  Stadt  Schulz 
ihrer  Rechte  und  Freiheiten  zusagte  (S.  1 70).  Sein  vertrauter  Rathgeber,  der 


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Rosmann  n.  En«:   Geschichte  von  Breisach. 


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neue  Bischof  von  Basel  Heinrich  v.  Isny  (ein  Minorit),  trat  alle  seine  Gerecht- 
same in  Breisach  an  Kaiser  und  Reich  ab.  Dadurch  wurde  Breisach  zur  freien 
Reichsstadt,  und  Rudolph  gab  ihr  1276  eine  Verfassung  (S.  172f.) 
Seine  Thatigkeit  gegen  jede  Störung  des  Landfriedens  führte  ihn  1280 
wieder  nach  Breisach ,  wo  er  jetzt  zu  diesem  Besuch  ein  Schiedsgericht 
bestellte,  desaen  Aussprüchen  er  durch  Waffengewalt  Geltung  verschanze 
(S.  176—182).  Schon  früher  stand  Meistersänger  Walther  der  Sohale 
zu  Breiaach  vor,  und  1270  erhielt  die  Stadt  für  den  höhern  Unterricht 
der  Knaben  ein  Augustinerktoiter,  das  der  Kaiser  vielfältig  unterstützte 
(S.  184 f.).  —  Adolph  von  Nassau,  nach  Rudolph^  Tod  gewühlt, 
kam  1292  nach  Breisach  und  empfing  die  Huldigung  von  Breisgau  und 
Elsass.    Durch  seine  Zumutbung  an  Rudolphe  Sohn  Albrecht,  dem  Her- 
zogthum Oesterreich  zu  entsagen,  zog  er  sich  aber  einen  Krieg  auf  den 
Hals,  in  welchem  Albrecht  mit  seinen  Verbündeten  obsiegte,  Adolph  aber 
den  Tod  fand.    Kaiser  Alb  recht  I.  bestellte  nun  in  Breisach  ein  Frie- 
densgericht und  befreite  den  Handel  von  willkürlich  ihm  aufgelegten  Zöl- 
len (S.  194).   Im  Jahr  1302  entstand  dort  ein  Miooritenkloster  (S.  195). 
Als  nach  AI  brecht 's  Heuchelmord  die  einen  Friedrich  den  Schönen 
von  Oesterreich,  die  andern  Ludwig  von  Baiero  wühlten,  hielten  zwar 
die  meisten  Städte  zu  letzterra ;  doch  bald  wandten  sich  mit  Breisacb  die 
oberrheinischen  zu  Friedrich  (S.  199).    Beide  kamen  nach  Breitach  und 
kämpften  hier  und  im  ßreisgau  um  die  Oberhand,  für  Friedrich  vorzüg- 
lich der  Graf  von  Freiburg,  für  Ludwig  ßurkard  von  Osenberg ,  von 
dessen  längst  mächtigem  Geschlecht  der  Verf.  (S.  200—207)  ausführ- 
lich beriehtet.  —  Durch  den  entscheidenden  Sieg  bei  Mühldorf  1322,  wo 
Friedrich  gefangen  wnrde ,  erhielt  Ludwig  den  Alleinbesitz  der  Reichs- 
krone.   Dess  ungeachtet  belegte  Johanu  XXII.  ihn  und  Alle,  die  ihm 
anhingen,  mit  dem  Interdict.  Die  Minor iten  zu  Breisach  kehrten  sich  nicht 
an  dasselbe,  wofür  die  Bürgerschaft  ihnen  Dank  zollte,  wahrend  die 
Dominikaner  zu  Konstanz  wegen  strenger  Befolgung  des  Interdicts  aus  der 
Stadt  vertrieben  wurden  (S.  209).  —  Nach  der  Kaiaerwahl  KarTa  IV. 
machte  Breisach  einen  Versuch,  unabhängig  von  Oesterreich  wieder  die 
reiebsstädtische  Freiheit  zu  erlangen.    Der  Kaiser  bestand  aber  darauf, 
das*  die  Stadt  davon  abstehe.    Als  sie  nun  Albrecht  dem  Weisen  gehul- 
digt, besuchte  sie  Karl  IV.  1353,  ihr  sein  Wohlwollen  bezeugend  (S.  211). 
Im  Jahr  1348  blieb  sie  weder  vom  Erdbeben,  noch  vom  schwarzen  Tode 
verschont;  sie  scheint  sich  aber  an  der  Judenverfolgung,  die  1349  in 
vielen   Städten   losbrach,  nicht  betheiligt  zu  haben  (S.  212).    Als  der 
Graf  von  Freiburg,  dem  der  Kaiser  das  Landgrafentbum  über  das  Breisgaa 


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6%S  Rosmann  u.  Eni:    Geschichte  von  BreUach. 

rerliehen  hatte,  Willkür  übte,  schlössen  Freiburg,  Breisach,  Neuenburg  und 
Basel  dagegen  einen  Bund.  Eine  gewaltige  Fehde  entbrannte  darob,  die 
damit  endigte,  dass  der  völlige  Besitz  von  Freiburg  an  Oesterreich  kam 
(8.  216).  Von  nun  ao  musaten  die  Breisacher  oft  au  den  Kriegslagen 
Oesterreichs  gegen  die  Schweizer  Tbeil  nehmen.  So  zu  Sempach,  wo 
Herzog  Leopold  flel.  Umständlich  erzählt  hier  der  Yerf.  S.  222  die  Hel- 
dentreue des  Bannerträgers  Martin  Mallerer  von  Freiburg,  der  in  der 
Volkasage  lebt.  -  In  welches  Ungemach  Leopolds  Nachfolger  Fried- 
rich von  Tirol  durch  den  Schutz,  den  er  gegen  das  Coocil  von  Con- 
staaz  dem  ruchlosen  Pabst  Johann  XXIII.  verlieh,  ihn  und  seine  Länder 
brachte,  wird  S.  130  u.  f.  genau  berichtet.  In  Breiaach  trafen  die  Ab- 
gesandten des  Concils  den  mit  List  im  Eiuverstäudniss  mit  Friedrich  eut- 
flohenen  Pabvt     dem  nach   Unterwerfung  seinei  mit   des   Reicht  und  Her 

§■     U  W  II      m\  %M  9-rr%t  ^  HWVM        **/  U  w     I  V    VI  I  U  IS  £      0VIUVP      Uli  •        \S  VO        II  v  IV.  U9      \ZUwj  Uvl 

Kirche  Baun  belegten  Beschützers  nichts  übrig  blieb,  ab  nach  Consta» 
zurückzukehren  und  sich  dem  Ausspruch  des  Concils  zu  fügen.  Friedrich 
erhielt  nach  seiner  Aussöhnung  mit  Kaiser  Sigismund  seine  Erblande 
am  Rhein  zurück.  Auch  Breisach  mit  den  andern  Städten  huldigten  ihm. 
Weil  aber  nun  der  zur  Zeit  von  Friedrichs  Aechtung  bestellte  Statthalter 
Markgraf  Bernhard  von  Baden  von  den  Rhein-  und  Landzölleu,  die  er 
Wöhrend  seiner  Verwaltung  dem  Land  aufgenötbigt  hatte,  nicht  ablassen, 
und  das,  was  er  den  Städten  im  Breisgau  und  Elsass  widerrechtlich  entzogen, 
nicht  zurückgeben  wollte,  so  schlössen  diese  Städte  einen  Landfriedens- 
bund zur  Handhabung  ihres  guten  Rechts.  Daraus  entspann  sich  1424  eine 
hartnäckige  Fehde.  Nur  mit  Mühe  brachten  des  Kaisers  Macbtboten  einen 
Frieden  zu  Stand,  in  Folge  dessen  der  Markgraf  von  seinem  Unrecht  ab- 
stehen musste  (S.  236  f.).  —  Als  König  Karl  VU.  von  Frankreich  dem 
Kaiser  Friedrich  IV.  den  Dauphin  mit  der  wilden  Heerschaar  der  Ar- 
mairnaken  zur  Hülfe  geschickt,  diese  Soldknechte  aber  nach  der  Schlacht 
bei  St.  Jakob  vor  den  Thoren  von  Basel  weit  umher  Raub,  Mord,  Brand 
und  viehische  Lust  übten,  erhob  sich  gegen  sie  die  Landwehr  des  Scbwarz- 
wsldes  in  Verbindung  mit  dem  Städteband  von  Freiburg,  Breiaach  und 
Neuenburg,  dem  sich  andere  Bünde,  namentlich  der  Georgenschild,  anschlös- 
sen. Breisach  wurde  der  Sammelplatz  eines  wohlgerüsteten  Heeres  und 
der  Dauphin  kehrte  nach  Frankreich  zurück.  Doch  nur  noch  heftiger  ent- 
brannte jetzt  der  Krieg  zwischen  dem  Oesterreich  anhängenden  Adel  und 
den  Schweizern,  bis  die  Breisacher  Richtung  1449  Frieden  gebot 
(S.  243).  —  Schweres  Uobeil  brachte  zehn  Jahre  später  über  Brei- 
sach  und  ganz  Vorderüslerreich  und  EJsass  ihre  Verpfändung  an  K a  r  1  deo 
Kühnen  von  Burgund.    Denn  trotz  seines  Versprechens  der  Achtung 


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u.  Ein:   Geschichte  von  Breisach. 


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der  alten  Rechte  und  Freiheiten  übte  Karl  eine  stets  sich  verschlimmernde 
UraoDische  Willkührherrschaft.    Dazu  ersah  er  sich  zum  Werkzeug  den 
Bitter  Peter  von  Ilagenbach,  dessen  Uebermutb,  Geldgier  und  Grau- 
samkeit jede  Rücksicht  verschmähten.    Seinen  Sitz  nahm  er  als  Landvogt 
in  Breisach.    Nachdem  alle  Verwendungen  der  tief  bedrängten  Stadt  um 
Abhülfe  und  um  Auslösung  der  burgundischen  Pfandschaft  vereitelt  waren, 
und  sie  nnr  eine  Steigerung  des  Drucks  und  der  Misshandlung  hervorge- 
bracht hatten,  ermauote  sich  endlich  die  Bürgschaft  zum  bewaffneten  Auf- 
stand.   Hagenbach  wurde  festgenommen  und  ein  förmliches  Gericht  zu 
dessen  Aburtheilung  bestellt.    Die  Sitzungen  waren  öffentlich.    Der  Be- 
klagte und  seine  Anwälte  boten  alle  Kunstgriffe  auf,  um  ihn  dem  Rechts- 
spruch zu  entziehen.    Doch  verurtheilte  ihn  dieser  zur  Hinrichtung  mit 
dem  Schwerte.    Der  ganze  Verlauf  der  Tirannei  dieses  Ruchlosen  und 
ibres  Ausgangs  ist  S.  248 — 277  vortrefflich  geschildert.    Doch  erst  der 
Untergang  Karls  des  Kühnen  in  dem  Kriege,  den  er  zur  Unterjochung 
der  Schweizer  unternahm,  sicherte  die  österreichischen  Rheinlende  gegen 
die  Fortsetzung  seiner  auf  die  Pfandschart  begründeten  Gewaltherrschaft 
(S.278).  Mit  Maximilians  I.  Regierungsantritt  schien  aber  das  Mor- 
genroth einer  bessern  Zeit  auch  für  Breisach  aufzugehen.     Er  besuchte 
diese  Stadt  1495  (S.  281).    Auch  die  geistige  Bildung  nahm  damals 
in  ihr  einen  höhere  Schwung,  theils  durch  eigene  Lehrer,  theils  durch 
den  Einfluss  berühmter  Lehrer  der  Nachbarschaft  (z.  B.  TaulerV,  Geiler^ 
von  Kaisersberg  zu  Strassburg,  Wimpfeling's  zu  Schlettstadt  (S.  282  f.). 
Das»  Münster  wurde  erweitert,  verschönert  und  mit  neuen  Altiiren  ge- 
schmückt: der  hölzerne  Sarg  der  Gebeine  von  Gervasius  und  Protasins 
mit  einem  kunstreicheren  von  Silber  vertauscht.  Maximilian,  der  jetzt  oft- 
mals in  der  Stadt  weilte,  bezeugte  ihr  viele  Theilnahme  (S.  286—288). 
Koch  kurz  vor  seinem  Tod  vermachte  er  dem  dortigen  Spital  20,000 
Gulden  (S.  291).   Auch  hielten  die  Breisacner  mit  unverbrüchlicher  Treue 
an  Maximilian,  als  die  Leiter  des  Bundschuhs  zu  L e h e n  (1 513),  die 
Freiheit  der  Bauerscbaft  bezielend,  in  der  Stadt  einen  festen  Haltpunkt  zn 
gewinnen  suchten  (S.  200).    Nach  seinem  Hintritt  kamen  Oeslerreichs 
deutsche  Besitzungen  an  Karls  V.  Bruder  Ferdinand.   Dieser  hielt  1524 
zu  Breisach  einen  Landtag,  um  die  Gefahren  abzuwenden,  womit  ihm  die 
Neigung  Vieler  zu  Luthers  Reform  die*  öffentliche  Ruhe  zu  bedrohen  schien, 
da  er  darin  nur  einen  Vorwaud  für  Bestreitungen  nach  politischer  Frei- 
heit erblickte.    Waldshut  und  Kenzingeu  wurden  von  diesem  Landtag  und 
dem  spfitern  zu  Säckingen  zur  Bntfernung  ihrer  Reformprediger  Balthasar 
Uibmaier  und  Jakob  Other  aufgefordert-,  doeb  vergebens.    Zugleich  ver- 


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700  Rosmann  o.  Eds:    Geschichte  von  Breisach. 

banden  sich  die  Bauern  zu  einer  allgemeinen  christlichen  Verbrüderung, 
deren  Forderungen  in  zwölf  Artikel  gefasst  wurden.  Zu  Kiecblingabergen 
brach  der  Sturm  los,  und  nach  Verwüstung  der  Klöster  wälzte  sich  ein 
Heer  von  20,000  Bauern  vor  Freiburg,  grub  der  Stadt  die  Quellen  ab 
und  bemächtigte  sich  des  Blockhauses  auf  dem  Schlossberg.  Als  nun  die 
Beschiessung  der  Stadt  begann,  bewog  eine  Meuterei  unter  den  Bürgern 
den  Stadtrath  und  Adel,  mit  den  Bauern  zu  unterhandeln  und  in  ihre  Bru- 
derschaft mit  Vorbehalt  der  Pflichten  gegen  das  Erzhaus  zu  schwören 
(S.  299).  Auch  Breisach,  nachdem  es  von  der  Regierung  zu  Ensisheim 
umsonst  Mannschaft  begehrt  hatte,  um  Freiburg  zu  entsetzen,  sah  sich  be- 
droht, indem  die  Bauern  Einverständnisse  im  Frauenstift  Marienau  geknüpft 
halten,  um  durch  ein  Pförlchen  seiner  Kirche  in  der  Stadtmauer  zur  Nacht- 
zeit in  die  Stadt  zu  dringen.  Doch  wurde  der  Anschlag  noch  rechtzei- 
tig entdeckt  (S.  301).  Inzwischen  änderte  die  Niederlage  der  Bauern 
durch  den  Herzog  von  Lothringen  bei  Elsass-Zabern  die  Lage  der  Dinge. 
Die  Masse  der  Aufstander  zog  von  Freiburg  vor  Breisach.  Neue  Nieder- 
lagen und  die  Kunde,  der  schwäbische  Bund  sei  im  Anzug,  und  Erzher- 
zog Ferdinand  selbst  mit  grosser  Macht  zur  Dämpfung  des  Aufruhrs  ent- 
schlossen, machten  die  Bauernscbaaren  geneigt,  den  Vermittlungsanträgen 
des  Markgrafen  Philipp  von  Baden  Gehör  zu  geben,  der  von  Ferdinand 
zum  Unterhandeln  Vollmacht  hatte.  Zu  Offenburg  kam  ein  Vergleich  zu 
Stande,  der  der  Bauernschaft  viele  Erleichterungen  zusagte,  über  die  Rä- 
delsführer aber  Tod  oder  Landesverweisung  verhängte  (S.  303).  In  Brei- 
sach wurde  Luther'*  Reformgeist,  wie  er  sich  nur  zeigte,  sogleich  erstickt. 
Der  Stadtpfarrer  Konrad  Haas  musste  fliehen,*  das  Frauenstift  Marienau, 
wo  sich  Einige  zur  Neuerung  hinneigten,  wurde  aufgehoben  (S.  304  f.). 
Dagegen  gab  jetzt  die  Andacht  der  Bürgerschaft  im  Münster  durch  Werke 
bildender  Kunst  sich  kund.  Eine  grossartige  Schnitzarbeit  in  Holz,  die 
Krönung  Mariae  im  Himmel  darstellend,  versierte  den  Hochaltar.  Dieses 
Meisterstück,  hier  S.  309  u.  f.,  ausführlich  nach  einer  Schrift  von  Prof. 
Grieshaber  zu  Rastatt  geschildert,  wird  dem  Hans  Liefrink  zuge- 
schrieben. Durch  einen  andern  Meister  (Jäger)  wurde  eine  sehr  schöne 
Kanzel  gefertigt.  Schon  früher  hatte  ein  unbekannter  Künstler  die  Em- 
porkirche zwischen  dem  Chor  und  Langhaus  in  Stein  gehauen,  woran  die 
Heiligenbilder,  die  durchbrochenen  Thürmchen  und  andere  schöne  Zier- 
rathen Bewunderung  erregen.  Gleiches  Lob  verdient  das  in  Stein  ge- 
hauene Sakramentshäuscben  (s.  313).  Für  Arme  und  Krankhafte  stiftete 
die  Bürgerschaft  ein  Gutleuthaus  (S.  314).  Uebernaupt  war  Breisacbs 
Zustand  ein  blühender.    Viele  vom  Adel  halten  hier  Häuser.    Auch  sie 


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Rosmann  u.  Ens:    Geschichte  von  Breisach. 


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musslen  gleich  andern  den  Brückenzoll  entrichten.   Durch  Stadtämter  fan- 
den sich  Manche  geehrt.    So  der  berühmte  Feldherr  Lazarus  von 
Schweodi  als  Burgvogt  (S.  317).    Kaiser  Ferdinand  I.  wurde  1562 
von  den  Breisarhern  festlich  empfangen  (S.  319).    Ihm  folgte  in  der 
Regierung  Vorderösterreichs  sein  zweiter  Sohn,  der  sich  mit  der  schonen 
Philippine  Weiser  von  Augsburg  vermählte.    Cr  hielt  1567  einen  Landtag 
in  Freiburg  und  besuchte  Breisach,  durch  Leutseligkeit  und  milde  Fürsorge 
für  Waisen  beliebt.    Nur  solche  Uebel,  deren  Abwendung  nicht  in  der 
Macht  des  Landesfürsten  und  seines  Bruders  Kaiser  Maximilians  II.  lag, 
empfand  damals  die  Stadt.    Dahin  gehörte  die  1564  ausgebrochene  Pest, 
die  über  ein  Jahr  anhielt  und  1580  wiederkehrte  (S.  321).    Dem  kin- 
derlosen Ferdinand  folgte  1595  Kaiser  Rudolph  IL,  dessen  Statthalter 
Michael  von  Ampringen  1599  die  Huldigung  von  Breisach  empfing  (S.  323). 
Im  Jahr  1607  wurde  hier  aus  milden  Beitragen  der  Bürger  den  Kapuzi- 
nern ein  Kloster  erbaut  (S.  324).  —  Schweres  und  langes  Unheil  er- 
wuchs der  Stadt  aus  dem  dreissigjähr igen  Kriege,  der  1618  Deutsch- 
land spaltete  und  verheerte,  und  nur  dem  Ausland  Vortheil  brachte.  — 
Für  Breistch  war  er  ganz  besonders  verhangnissvoll.    Die  erste  Gefahr 
drohte  ihm  der  Zug  des  Grafen  von  Mansfeld,  der  aber  durch  Tilly'a 
Sieg  bei  Wimpfen,  wo  nur  der  Heldenmnth  von  400  Pforzheimern  die  Flucht 
des  Markgrafen  Georg  Friedrich  von  Baden  sicherte  (8.  328),  abgewendet 
wird.    Von  nun  an  blieb  Breisach  durch  die  Vorsorgen  des  Erzherzoge 
Leopold  gegen  feindliche  Einfälle  mehrere  Jahre  geborgen  (S.  329).  In 
Anfange  des  Jahres  1630  nahm  aber  der  Krieg  für  die  bis  dahin  sieg- 
reiche Liga  dadurch  eine  nacblheilige  Wendung,  dass  Gustav  Adolf 
von  Schweden  sich  an  die  Spitze  der  protestantischen  Union  stellte. 
Zu  Ende  1631  führte  die  Festnehmung  eines  geheimen  französischen  Un- 
terhändlers, die  in  Breisach  geschab,  zur  Entdeckung,  dass  Max  von  Baiern 
mit  Frankreich  einen  Neutral itäts vertrag  geschlossen  habe,  und  ein  ähnli- 
cher mit  Schweden  im  Werk  sei  (S.  331).    Des  Erzherzogs  Leopold 
Wittwe  Clandia,  die  nach  des  Gemahls  un versehenem  Hintritt  die  Ver- 
waltung der  österreichischen  Vorlande  übernahm,   entwickelte  jetzt  zn 
ihrem  Schutz  die  grösste  Tbätigkeit.    Wall  enstein  wurde  zwar  am 
16.  Nov.  1632  bei  Lützen  ven  Gustav  Adolph  besiegt.    Aber  der  Sieger 
fand  hier  den  Tod.    Der  Krieg  behielt  jedoch  seinen  Fortgang.  Bern- 
hard von  Weimar  bekam  den  Oberbefehl  des  protestantischen  Heeres, 
das  gegen  den  Rhein  vordrang.    Der  Rheingraf  Otto  Ludwig  umzin- 
gelte Breisach.    Mit  wechselndem  Glück  wurde  nun  in  Breisgau  und  El- 
sas? gefachten,  bis  endlich  die  kaiserlichen  Heere  unter  den  Herzog  von 


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702  Rosmann  u.  Eni:   Geschichte  von  Breiinch. 

Feria  and  Altringer,  deren  Vereinigung  der  Schwede  Horn  ver- 
geblich zu  hindern  gesucht,  über  den  Schwarzwild  zu  Breisachs  Katsatz 
heranzöge».  Der  Rheingraf  zog  sich  nach  dem  Elsass  zurück,  wohin  ihm 
die  Kaiserlichen  folgten  (S.  342).  Mit  Beginn  des  Jahres  1634  worden 
die  Lander  am  Oberrheim  der  Tummelplatz  eines  verderblichen  kleinen 
Kriegt.  Es  war  für  sie  eine  jammervolle  Zeit.  Rauben,  Brennen  und 
Morden  war  das  tägliche  Geschäft  der  Soldaten,  woran  sich  auch  die 
Bauern  im  Drang  der  Noth  betheiligten.  Die  am  7.  Sept.  dieses  Jahres 
bei  Nördlingen  erfolgte  Niederlage  des  Heeres  unter  Horn  und  Bernhard 
von  Weimar  Hess  die  Auflosung  der  Union  und  die  Beendigung  des 
Krieges  hoftun.  Da  fachte  ihn  aber  Prankreichs  arglistige  Politik  neuer- 
dings an,  indem  sie  der  protestantischen  Partei  grosse  Hülfe  an  Geld  und 
Mannschaft  versprach  und  dem  Herzog  Bernhard  von  Weimar  ein  POr- 
stcntbum  am  Oberrhein  in  Aussicht  stellte  (S.  344).  Breisach  wurde 
jetzt  unversehens  der  Mittelpunkt  des  Kriegstbeaters.  Bernhard  von  Wei- 
mar machte  sich  die  Eroberung  dieser  wichtigen  Festung  um  so  eifriger 
zur  Aufgabe,  als  er  entschlossen  war,  sie  nicht  für  Frankreich,  sondern 
für  sieh  als  Grundstein  eines  ans  dem  Sundgau,  Elsass  und  Breisgau  za 
bildenden  Herzogtums  au  erobern  (S.  349.  354).  Breisacbs  Verteidi- 
gung war  aber  dem  tüchtigen  Feldzeugmeister  Joseph  Heinrich  v.  Rei- 
nach anvertraut,  und  vorzüglich  unterstützte  ihn  der  nnternehmende  Feld- 
herr Johann  v.  Werth.  Die  vielen  hitzigen  Gefechte  vor  und  wah- 
rend der  Belagerung,  sowie  diese  selbst  werden  von  S.  345—390  um- 

^liinrllirh  hpsrhriahfMi      Dir*  HunirersnoLh  in  Her  Stadt    stioir  in  f«  Hnr  h<%l> 

Ueber  2000  Menschen  erlagen  ihr.  Die  Häute  geschlachteter  und  gefal- 
lener Thiere  wurden  xur  Speise  zubereitet.  Hunde,  Katzen,  Batten  and 
Mause  waren  seltene  Leckerbissen  für  die  Vermutlichen!.  Von  des  Hun- 
gers Qual  getrieben,  gruben  mauche  die  Leichname  aus  den  Gräbern  oder 
kratzten  Kalk  von  den  Wänden,  um  sich  zu  nähren.  Vergebens  wurden 
die  Kirchhöfe  mit  Wachen  besetzt.  Kinder  wurden  geraubt,  geschlachtet 
und  verzehrt.  Lange  nachher  zeigte  man  eine  Stelle,  wo  man  eine  Fran 
mit  ihren  Kindern  um  die  Leiche  des  Mannes  fand,  die  sich  von  ihr 
nährten  (S.  377  f.).  Hingegen  wird  in  einer  Anmerkung  zn  S.  378, 
die  Angabe  in  Schiller'*  Gesch.  des  dreissigj.  Krieges,  dass  der  Com- 
mondant  v.  Reinuch  und  seine  Glttin  aus  Habsucht  schändlichen  Handel 
mit  dem  Getraide  getrieben  und  dadurch  die  Noth  verursacht  hatten,  für 
einen  Heinachs  edeln  Charakter  widerstreitenden  Irrthun»  erklärt.  Die 
Besatzung  eruieii  uen  eiirenvoiisien  Aozug.  uer  Maai  wurae  ewenerueu 
des  Eigentums,  freie  Religionsübung  and  die  Erhaltung  der  Kirchen  und 


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Rosmann  u.  Ens:    Geschichte  von  Breisach.  703 

Klöster  zugesagt.  Als  der  Tag,  wo  der  Eroberer  seinen  Einzug  hielt, 
ist  S.  386  der  16.  Des.  1638  angegeben.  Dieses  Datum  scheint  un-2 
richtig,  da  die  Kapitulation  Dach  S.  383  erst  am  17.  Des.  unterzeichnet 
wurde.  —  Richelieu  lockte  seinem  vertrauten  Unterhändler,  dem  Ka- 
puziner Joseph  noch  in  seiner  Sterbslunde  ein  freudiges  Lächeln  durch 
den  Znruf  ab:  „Muth,  Huth,  Pater t  Breisach  ist  unser";  während  Bern» 
hard  von  Weimar  Minsen  mit  dem  bretsacber  nnd  weimarischen  Wappen 
prügen  liest  (S.  387).  Der  Herzog  ernannte  seinen  Vertrauten,  General 
Er  lach  snm  Statthalter.  Von  ihm  später  als  Unterhändler  nach  Paria 
geschickt,  liess  sich  derselbe  von  Richelieu  um  einen  Jahrgehalt  von 
12,000  Franken  das  Versprechen  abkaufen,  Breisach  für  Frankreichs  Dienst 
zn  bewahren  und  wenn  dem  Herzog  etwas  Menschliches  begegnen  würde, 
lieber  zu  sterben  als  sein  Wort  zu  brechen  (S.  388  f).  Bernhard  fuhr 
aber  fort,  dem  franzosischen  Hof  zum  Trotz,  sich  als  Landesherr  zu  be- 
nehmen- er  bestellte  überall  Beamte  zum  Schutz  des  Eigentbums,  ver- 
besserte Hreisachs  bürgerliche  und  militärische  Einrichtungen  und  errich- 
tete daselbst  ein  Kammer-  und  Regierungscollegium  (S.  390).  Ihn  raffte 
aber  bereits  am  8.  Juli  1639  ein  heftiges  Fieber  weg.  Seine  Leiche, 
im  Münster  zu  Breisach  beigesetzt,  blieb  dort  bis  1655,  wo  seine  Brüder 
sie  nach  Weimar  abholen  Hessen  (S.  393).  Er  hatte  in  seinem  Testa- 
ment Breisacb  nebst  den  dazu  gehörigen,  von  ihm  eroberten  Ländern  die- 
sen Brüdern  zugedacht,  und  die  Ernennung  Erlacb/s,  dessen  Verabredung 
mit  Richelieu  er  nicht  abnte,  zum  Statthalter  erneuert  (S.  399).  Allein 
die  französische  Regierung  anerkannte  Bernhardts  Recht,  Uber  die  in  Frank* 
reich«  Dienst  (?)  gemachten  Eroberungen  zu  verfügen,  nicht.  Brlach  wurdi 
zwar  von  ihr  im  Amte  belassen ,  aber  d'Oisonville  ihm  an  die  Seite  ge- 
stellt, die  Verwaltung  im  Namen  des  Königs  angeordnet  nnd  das  sftmmt- 
liche  deutsche  wie  französische  Heer  für  ihn  beeidigt  (S.  401. 403).  So 
kam  Breisach,  Deutschlands  stärkste  Schulzwehr  am  Rhein,  mit  dem  Breis- 
gau unter  französische  Hoheit.  (Als  Hanptquelle  benutete  der  Verfasser 
Hose's  Leben  Bernhards  von  Weimar.)  Vom  Sept.  1641  bis  24.  Marz 
1642  aass  der  ritterliche  Johann  von  Werth  in  Breisach  gefangen, 
wurde  nun  aber  gegen  den  Schweden  Horn  ausgewechselt  (S.  412). 
Jetzt  wieder  im  Reichsheer  angestellt,  vertrieb  er  1643  die  Franzosen 
aus  Schwaben  und  im  folgenden  Jahr  wurde  das  Breisgau  abermals  Schau- 
platz des  Kriegs.  Freiburg  musste  sich  an  M  e  r  c  y  ergeben.  Doch  we- 
nige Tage  hernach  vereiuigte  sich  der  Herzog  von  Enghien  mit  Turenne, 
und  nun  erfolgte  vor  Freiburgs  Thoren  eine  mörderische  Schlacht.  Dsa 
kaiserlich-baierische  Heer  betrat  den  Rückzug,  welchen  Jobann  v.  Werth 


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704  Rosmann  u.  Ens:   Geschichte  von  Breisach. 

deckte,  indem  er  bei  St.  Peter  den  Feind  zurückschlug  (S.  417}.  Die- 
ses war  das  letzte  Kriegscreigniss ,  das  vor  dem  Westphälischeu  Friedet 
(1648)  Breisach  näher  berührte.  Die  Ruhe,  Ordnung  und  Wohlfahrt 
der  Stadt  wurden  von  jetzt  an  nur  durch  die  WiUkübrherrscbaft  der  bei- 
den sich  feindlich  widerstrebenden  Befehlshaber  Erlach  und  d'Oisonrüle 
gestört.  Merkwürdig  ist,  daas  die  Mutter  des  unmündigen  Ludwigs  XIV. 
•Is  Regentin  sich  jeder  Beeinträchtigung  der  Katholiken,  welche  sich  Er- 
lach herausnahm,  beharrlich  widersetzte  (S.  419).  Der  Friedenschluss 
von  Münster  überliess  nebst  dem  Sundgau  und  Elsass  auch  die  Festung 
Breisach  mit  einigen  Dörfern  auf  dem  rechten  Rheinufer  an  Frankreich, 
dessen  stolzer  Hohn  Uber  Deutschlands  Schmach  sich  an  dem  vom  Mar- 
schall Vauban  vor  der  Rheinbrücke  von  Breisach  erbauteu  Thor  prahle- 
risch aussprach.  Hier  waren  die  Flüsse  Rhein  und  Donau,  von  dem  mit 
dem  französischen  Wappenschild  gezierten  Kriegsgott  gefesselt  dargestellt 
mit  der  Unterschrift:  Limes  er  am  Gallis,  nunc  pons  et  janua  fio;  si  per- 
gunt  Galli,  nullibi  limes  erit  (S.  426).  —  Auch  der  pyrenäisebe  Frie- 
densschluss  1659,  und  der  von  Aachen  1668,  änderten  nichts  an  Brei- 
snchs  Schicksal.  Als  1672  eine  mächtige  Verbundung  gegen  Ludwig  s  XIV. 
Ehrgeiz  sich  bildete,  schöpfte  Breisach  neue  Hoffnung,  wieder  deutsch  zu 
werden.  Der  Küoig  kam  1673  selbst  dahin  mit  prächtigem  Hofstaat 
(S.  428).  Der  Krieg  brach  aber  aus.  Dem  Turenne  stand  Montecncnli 
entgegen.  Der  erstere  fiel  am  27.  Juli  bei  Sasbacb,  bald  darauf  Vauban 
bei  Altenheim.  Crequi  gelang  es  jedoch,  im  Nov.  1677  Freiborg  ein- 
zunehmen. Der  Friede  von  Nimwegen  1679  bebess  Breisach  abermals  im 
vorigen  Stand.  Nur  wurde  jetzt  hier  ein  oberster  Gerichtshof  für  die 
Deutschen  errichtet,  die  bisher  an  den  zu  Metz  appelliren  mussten  (S.  431). 
Zugleich  wurden  aber  in  Breisach,  Metz  und  Besancon  Kammern  gebil- 
det, um  alle  Gerechtsame,  die  noch  in  deutscher  Reicbsverfsssuog  aich 
gründeten .  den  Friedensschlüssen  zum  Hohn,  zu  unterdrücken.  Strasburg 
wurde  mit  Gewalt  in  Besitz  genommen.  Ein  neuer  Krieg  war  die  Folge 
solcher  Willkühr,  und  der  Friede  von  Ryswik,  der  ihn  beendigte,  be- 
stimmte den  Rhein  als  Frankreichs  Gränze,  wodurch  Strasburg  ihm  zufiel, 
aber  nebst  Freiburg  und  Kehl  auch  Breisach  wieder  an  Oesterreich  kam. 
Doch  verliessen  die  Franzosen  die  letztere  Stadt  nicht,  bevor  die  ihr  ge- 
genüber von  Vauban  erbaute  Festung  Neu-Breisach  vollendet  war  (S.  433). 

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Mr.  45.  HEIDELBERGER  1851. 

JAHRBÜGHER  DER  LITERATUR. 


Kohiiiuihi  lind  £nsi   Geschichte  von  BrelSACh. 

«  •  *  ■ 

•  —  -  - 

(Scilla»».)  ., 

Im  spanischen  Erbfolgekrieg  fiel  Alt-Breisach,  weil  schlecht  verthei- 
digt,  abermals  in  die  Gewalt  der  Franzosen.  Bin  Versuch  der  Kaiserli- 
chen, der  Stadt  wieder  habhaft  zu  werden,  misslang.  Erst  der  Friede  von 
Rastatt  stellte  Alt-Breisach  Oesterreich  zurück  (S.  435— 438).  Kaiser 
Karl  VI.  Hess  die  durch  die  Franzosen  vor  ihrem  Abzüge  zerstörteo 
Festungswerke  herstellen,  und  auch  den  Eckartsberg  mit  einem  neuen  ver- 
seben. Dies  kam  Alt-Breisacb  in  dem  1733  wieder  abgebrochenen 
Kriege  wohl  zu  Statten  (S.  439).  Aber  kaum  hatte  die  Stadt  Maria 
Theresia  gehuldigt,  so  sah  sich  diese  durch  den  im  versehenen,  zwi- 
schen Preusaen  und  Frankreich  verabredeten  Ueberfall  vermüssigt,  Brei- 
sachs Festungswerke  schleifen  zu  lassen,  damit  sie  nicht  den  Franzosen  in 
die  Hände  fielen  (S.  440  f.).  Im  Jahr  1751  erfreute  die  Kaiserin  die 
Stadt  mit  der  Stiftung  eines  Frauenklosters  für  Erziehung  weiblicher  Ju- 
gend (S.  442).  Die  französische  Hevolutiou  brachte  ihr  aber  Verderben. 
Die  Schreckensregierung  befahl  1793  Breisachs  Zerstörung.  Am  15.  Sept. 
bei  einbrechender  Dämmerung  begann  von  Neu -Breisach  und  Fortmortier 
aus  eine  furchtbare  Bombardirung  der  Stadt  und  dauerte  vier  Tage  und 
fünf  Nächte.  Ref.  war,  damals  zu  Feldkirch  im  Breisgau  weilend,  Augen- 
zeuge dieses  tragischen  Schauspiels.  Vom  dasigen  Landschloss  sah  man 
jede  Bombe  und  jeden  Pechkrauz  aufsteigen  und  jeden  Brand  aufleuchten, 
»fr  dem  sie  Alt-Breisacb  entzündeten.  Besonders  schauerlich  war  dieser 
Anblick  bei  Nacht.  Die  ersten  Gebäude,  die  in  Flammen  gerietben,  waren 
das  Franciskanerkloster  mit  dessen  Kirche,  wo  auch  das  von  Ludwig  XIV 
ihr  geschenkte  Altarbild  von  Rubens  verbrannte,  und  das  Zuchthaus.  — 
Schnell  folgte  nnn  ein  Brand  auf  den  andern,  bis  die  ganze  Stadt  Eine 
Brandstätte  war,  davon  dunkle  Rauchsaulen  längs  den  Berghttgeln  des 
Kaiserstuhls  sich  bis  Freiburg  hinzogen.  Die  meisten  Breisacher  hatten 
sich,  als  die  Beschiessung  sie  überraschle  (e.«  war  ein  Sonntag),  nichts 
Arges  ahnend,  zum  Abendmahl  niedergesetzt.  Wohl  hatte  sich  am  Tag 
zuvor  eio  dumpfes  Gerücht  verbreitet,  dass  die  Neufranken  sich  zu  einem 
Einfall  ins  Breisgau  anschickten.  Aber  die  Verwandlung  einer  ganz  of- 
XL1V.  Juhrg.  5.  Doppelheft.  45 


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706  Rosmann  u.  Ens:    Geschichte  von  Brebach. 

fenen  Stadt  wie  Breisacb  in  einen  Schutthaufen  war  ein  Unternehmen, 
dessen  Beweggrund  ein  Rathsei  blieb.  Io  der  Verwirrung  des  Schreckens 
suchte  Jeder  nur  durch  eilige  Flucht  sein  Leben  zu  retten.  Wenige  Häu- 
ser blieben  verschont.  Von  den  Kirchen  widerstand  einzig  das  Münster 
der  Gcwatt  des  Geschützes.  Doch  fiel  auch  hier  eine  Bombe  durch  ein 
Fenster,  wobei  die  Orgel  zerschmolz  und  die  Seitenaltära  verbrannten.  — 
Nachdem  die  zerstreuten  Einwohner  sich  wieder  gesammelt,  und,  durch 
milde  Beitrage  unterstützt,  sich  auf  den  Trümmern  neu  angesiedelt  hatten, 
wurde  die  Stadt  17*6  von  den  Franzosen  besetzt  nnd  mit  Schanzen  um- 
geben. Die  Einwohner  durften  nicht  über  diese  hinausgehen,  um  ihre 
Feldfrüchte  einzuernten.  Die  benachbarten  Gemeinde«  bewaffneten  sich, 
besorgten  die  Ernte  für  die  Breisacher  und  brachten  sie  in  sichere  Ver- 
wahrung. Auch  griffen  sie  den  Feind  in  seinen  Verschanzungen  an  und 
ineben  ihn  über  den  Rheio.  Nun  wurde  aber  Breisach  aus  Fortmortier 
beschossen,  bis  das  bewaffnete  Landvolk  sich  wieder  zurückzog  (S.  447  f.). 
Nach  der  Auflösung  des  Congresses  vou  Rastatt  1799  besetzten  die  Fran- 
zosen AUbreisach  neuerdings.  Sie  verschanzten  sich  und  suchten  den 
Rhein  um  oje  Stadt  zu  leiten  und  sie  so  zur  Insel  zu  machen.  Da  sie 
tat» lieb  die  benachbarten  Dörfer  brandschatzten  nnd  plünderten,  errichtete 
das  Landvolk  auch  seinerseits  Verschanzunffen.  und  scblu?  die  feindlichen 
lehfirfälle,  mit  den  Waffen  zurück.  Wachtposten  wurden  aufgestellt,  d.e 
ßeweguogcu  des  Feindes  von  dem  Kircblhurm  von  Roth  weil  aus  beobach- 
tet und;  durch  Trommelschlag  und  Slurmgeläut  die  Bewaffneten  zusammen- 
berufen.  Diese  SelbslvtrUieidigung  wahrte  beinah  ein,  halbes  Jahr  (S.  449.). 
purc|,  dep  frieden  von  Ll^nevilU  (9.  Febr.  18Q1)  werde  der  Thal- 
weg  des  H  he  ins  zur  Gränze  bestimmt,  und  die  Abtretung  des  Breisgani 
an  den  Herzog  von  Modena  bestätigt.  Aber  schon  im  Jahr  1805  brach 
der  Kr^eg  wieder  aus,  und  durch  den  Pressnurger  Frieden  vom  25  Dez. 
wurde  das  Breisgau  mit  Breisach  Baden  einverleibt  (S.  452).  —  Spa> 
tere  Ereignisse  sind  in  dem  Buche  nur  mit  spärlichen  Worten  angedeutet. 
Dahin  gehört  vorzüglich  die  Herstellung  einer  fliegenden  Brücke  Uber  den 
Rhem.  Bei  diesem  Anlass  wären  auch  einige  Nachrichten  von  den  Bau- 
ten zur  Abwehr  der  Rheinflutben  vom  rechten  tl£er,  von  dem  Fischfang 
nnd  d^ttj  Hendel^veijbÄltüisseu  Breisacbs  erwünscht  gewesen.  Der  Vera« 
uigung  cjes  Zehnts  innerhalb  der  Slsdlgemarkung  mit  dem  PfnrranM,  wo-> 
durch  «ein  Einkommen  bedeutend  verbessert  wurde,  wird  gar  nicht  ge- 
dacht, obwohl  sie  zum  Vortheil  der  Stadt  gereichte.  — t  Per  Anhang 
enthalt  nebst  einigen  Gedichten  des  Heisters  Walter  von  Breuach,  en 


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Kaltenborn:    Geschichte  des  Natur-  and  Völkerrecht*  90f 

paar  noch  ungedruckte  Urkunden  von  1050  and  lt74  und  ein  Ver- 
leiebniss  von  andern  im  Stadtarchiv  noch  vorhandenen. 

Im  Ganzen  gebührt  diesem  ersten  Vermach  einer  umständlichen  Dar- 
stellung der  Schicksale  einer  Stadt,  die  durch  ihre  Lage  Jahrhunderte 
lang  für  Deutschland  von  der  gröseten  Wichtigkeit  war,  das  Lob  einer 
fleissigen  und  wohlgelungenen  Arbeit.  Wirklich  ist  Herr  Prof.  Ens  mit  einer 
ähnlichen  Geschichte-  der  Stadt  Bregenz,  die  er  jetzt  bewohnt,  beschäf- 
tigt. Höge  ihm  auch  dafür  reichliche  Unterstützung  mit  urkundlichen  Nach- 
richten zu  ThQil  werden! 

Constanz.  J.  II.  v.  *I  egaeiiberfc,  -m 


Die  Vorläufer  des  Hugo  Groiius  auf  dem  Gebiete  des  Jus  nalutae  ei 
gentium  sotrie  der  Politik  im  Reformationszeitalter.  Von  Carl 
ton  Kaltenborn,  Doctor  und  Docent  der  Rechte  zu  Halle. 
Abtheilung  f.  Literarhistorische  Forschungen.  S.  250.  Abtheilung  lt. 
Krttische  Ausgabe  der  Autoren,  S. 

Auch  unter  dem  Titel: 

Zur  Geschichte  des  Natur-  und  Völkerrechts  sowie  der  Politik.  Von 
Carl  ton  Kaltenborn.  Erster  Band:  Das  Reformations- 
Zeitalter  cor  Hugo  Grotius.    Leipzig.    Gustat)  Mayer.  1S48. 

Das  vorstehende  Werk,  das  schon  vor  einigen  Jahren  erschien, 
verdient  noch  immer  eine  ausführliche  Besprechung,  da  es  für  die  Literar- 
geschiohte  des  Natur-  und  Völkerrechts  vor  Grotius  bahnbrechend  ist. 
Während  man  sich  bisher  über  diesen  Zeitraum  meist  mit  einigen ,  tiööb 
dazu  mehr  negativen  Allgemeinheiten  hinweghalf,  wird  nun  hier  der  Ver- 
such gemacht,  das  positive  Material,  das  in  einem  Haufen  unbequemer, 
dieker  alter  Schweinsleder  schlummerte,  in  zugänglicher  Form  darzustel- 
len.   Von  der  Mühseligkeit  des  Unternehmens  können  sich  nur  die  eine 
Vorstellung  machen,  die  jene  Literatur  kennen,  und  das  dürften  eben  nicht 
gar  Viele  sein.    Diese  aber  werden  dem  Verf.,  obschon  lächelnd,  doch 
gerne  die  Stossseufzer  verzeihen ,  in  die  er  mehrfach  fiber  die  bösen 
alten  Drueke  mit  ihren  beillosen  Abkürzungen  und  die  „entsetzliche"  Weit- 
schweifigkeit der  Schriftsteller  ausbricht.    Sie  werden  nur  fragen:  Was 
»I  durch  diese  Mühwaltung  zu  Tage  gefördert,  ist  das  Material  inWrbaW 
der  bestimmten  Grenzen  genau  and  erschöpfend  gegeben,  ist  dasselbe  auch 
gehöfi*  wartetet  und  in*  Licht  gesetzt? 

45* 


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708  Kaltenborn:   Geschieht«  de«  Katar«  und  Völkerrecht!. 

Uebenehen  wir  zuerst  den  Inhalt.  Das  Werk  zerfüllt  in  zwei  Ab- 
theilungen: die  erste  enthält  die  literarhistorischen  Forschungen.  Kap.  1 
(8.  3—28)  gibt  eine  kritische  Lei. ersieht  der  bisherigen  Bearbeitungen 
der  naturrechtlichen  Literorgeschichte  und  setzt  Bedeutuog,  Aufgabe  und 
Umfang  unserer  Schrift  auseinander.  Kap.  2  bringt  auf  50  S.  die  Grund- 
lage der  ganten  Literargescbichte  des  Naturrechts.  Kap.  3  bandelt  von 
dem  Einfluss  der  Reformation  auf  die  Entwicklung  der  Wissenschaften 
des  Natur-  und  Völkerrechts  und  der  Politik.  Kap.  4  bespricht  die  bis- 
herige Berücksichtigung  der  Vorläufer  des  Grotius.  Kap.  5  schildert 
die  letzteren  im  Allgemeinen  und  handelt  dann  die  Politiker  des  Refor- 
mationszeitalters in  sechs  Reihen  auf  15  Seiten,  freilich  in  äusserit 
dürftiger  Weise  ab.  Kap.  6  bietet  dann  eine  ziemlich  ausführliche 
f f>7  Seilen "i  Darstellung  der  bedeutendsten  katholischen  Vorläufer  des  Gro- 
tius auf  dem  Gebiete  des  Jus  naturae  et  gentium.  Es  sind  die  folgenden 
ausgewählt:  Vasquez,  Connan,  Covarruvias,  Suarez,  Lud.  Moline,  Lessius, 
Pom.  Solo,  Bolognetus.  Auf  diese  folgt  eine  kurze  Musterung  der  vor- 
grotianischen  Schriftsteller  Uber  Kriegsrecht  und  Yolkerv ertrage ,  wo  je- 
doch nur  Ayala  eine  nähere  Erörterung  zu  Theil  wird,  die  Uebrigen  bloss 
mit  ihrem  Namen  uud  Werken  verzeichnet  sind.  Kap.  7  ist  den  prote- 
stantischen Autoren  des  jus  naturae  et  gentium  gewidmet,  von  denen  Lu- 
ther, Uelanchthoo,  Stephani,  Meissner,  Albericus  Geutilis,  Oldendorp,  Hem- 
ming  und  Winkler  einzeln  characterisirt  werden. 

Iiier  schliesst  die  erste  Abtbeilung  des  Buchs.  Die  zweite  entfallt 
einen  Abdruck  der  selten  gewordeoeu  Werke  von  Oldendorp,  Hemmiog 
und  Winkler,  mit  Hin  weglassung  der  Citate,  Controversen  und  Ausfuh- 
rungen, die  dem  Herrn  Herausgeber  überflüssig  erschienen.  Von  den  in 
Gänsen  148  S.  dieser  (besonders  paginirten)  Abtbeilung  kommen  nur  44 
auf  die  zwei  erstgenannten  Schriftsteller,  die  übrigen  auf  Winkler. 

Indem  wir  nun  auf  die  wichtigeren  Abschnitte  der  ersten  Abtbei- 
lung näher  eingehen,  wenden  wir  una  zuerst  su  Kap.  2.  Der  Herr  Verf. 
meint,  ein  kurzer  Abriss  der  ganzen  Literargescbichte  des  Naturrechts 
werde  als  Eiuleituug  zu  deu  Vorläufern  des  Grotius  angemessen,  wenn 
nicht  notbweodijr  erscheinen  ('S  27\  Diess  zuffeffeben.  zeiut  sich  doch 
in  der  Art  der  Ausführung  ein  Missverbaltniss,  das  schon  äusserten  her- 
vortritt, indem  hier  dem  Alterthum  und  Mittelalter  nur  etwa  20,  Grotius 
und  der  späteren  Literatur  des  Naturrechts  aber  30  Seiten  eingeräumt 
sind.  Für  das  Verständnis;  der  Vorläufer  des  Grotius  ist  die  Dar- 
stellung des  Alterthums  und  Mittelalters  von  er  st  er  Wichtigkeit,  nur  für 


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die  Würdigung  jener  Schriftsteller  im  Zusammenhang  der  gan- 
zen Botwickelung  ist  die  Bekanntschaft  mit  der  spateren  Lebre  nothig. 
Hier  würde  aber  eine  sehr  allgemein  gehaltene  Skizze  völlig  genügt  ha- 
ben.   Der  Verfasser  lässt  sieb  noch  zu  sehr  auf  einzelne  verhältnisstnäs- 
sit;  untergeordnete  Schriftsteller  ein  und  hebt  dagegen  die  Hauptzüge  der 
Entwicklung  nicht  scharf  genug  hervor.    Indess  würde  man  ihm  über- 
haupt die  ganze  Nachweisung  das  Zusammenhangs  der  „Vorläufer"  mit 
dem  späteren  Naturrecht  gern  erlassen,  wenn  er  dafür  nur  die  Grundla- 
gen, die  jene  Vorläufer  von  ihren  Vorlaufern  überkommen  haben,  gründ- 
licher dargestellt  hätte.    Die  Vorläufer  des  Grotius  auf  dem  Gebiet  des 
jus  naturae  et  gentium  stehen  nämlich  nicht  so  selbständig  and  isolirt 
da,  als  dass  sich  nicht  ihre  Ansichten  nach  Porm  und  Inhalt  grossentheils 
auf  gewisse  gemeinsame  Quellen  zurückführen  liessen.    Von  deo  prote- 
stantischen Vorläufern  gilt  diess  tbeilweise  in  geringerem  Grade,  indess 
selbst  noch  von  Grotius  in  höherem  als  man  gewöhnlich  glaubt.  Jene 
Quellen  sind  besonders  Aristoteles,  das  christliche  Dogma,  das  Corpus  juris 
civilis  et  canonici.    Indess  kommen  deo  Vorläufern  diese  Elemente  nicht 
mehr  rein,  sondern  in  der  Appretur  zu,  die  sie  einerseits  durch  die 
Scholastiker,  anderseits  durch  die  Civilisten  und  Canonisten  erholten  haben. 
Je  nachdem  die  Vorläufer  nuo  Theologen  oder  Juristen  sind ,  halten  sie 
sieh  mehr  an  die  scholastische  oder  an  die  juristische  Tradition.  Ohne 
Keootniss  dieser  Traditionen  und  weiterhin  der  Elemente,  aus  denen  sie 
hervorgegangen,  ist  kein  rechtes  Verstfindniss  der  Vorläufer  möglich,  und 
es  ist  desshalb  ein  wesentlicher  Mangel  dieses  Buchs,  dass  der  Verfasser 
so  wenig  auf  das  eingeht,  was  die  Vorläufer  von  dem  Mittelalter  über- 
nommen.   Unserer  Meinung  nach  mussten  mindestens  die  hieher  gehöri- 
gen aristotelischen  Grundbegriffe  gehörig  erläutert  werden,  ohne  welche 
die  Scholastiker  und  folgeweise  die  Späteren,  ja  zum  Theil  Grotius,  un- 
verständlich bleiben.    Ohne  z.  B.  deo  Unterschied  des  opuoet  und  vöfjuo 
tfxaiov  bei  Aristoteles  richtig  gefasst  zu  haben,  nämlich  ols  Biotheilong 
der  gerechten  Dinge  (Handlungen,  Einrichtungen  u.  s.  w.),  nicht 
der  Normen,  des  Rechts  im  objectiven  Sinn,  bleibt  es  ganz  un- 
klar, warum  der  heil.  Thomas  und  später  noch  Lessius  und  Suarez  u.  A. 
sagen,  jus  sei  gleich  justum,  i.  e.  opus  jus  tum,  und  noch  Grotius 
als  erste  Bedeutung  von  jus  anfuhrt:  „nihil  aliud  signifieat,  quam  (id) 
quodjoatumest.tt    Dann  war  mindestens  die  Lehre  des  b.  Thomas, 
als  Haeptreprfisentanten  der  Scholastiker,  grüodlich  daranstellen.  Ferner 
bedurfte  es  einer  Darlegung  der  Begriffe  und  Ansichten,  welebe  Civilisten 


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7tO  ,  Kaltenborn:   Geschichte  des  Ketor-  und  Volkerrechts. 

und  Canonislen  auf  den  Stellen  des  jus  civile  und  canonicum  über  das 
jus  natura*  and  gentium  entwickelt  hatten,  wobei  auch  geteilt  werdet 
musste,  wie  die  Interpretation  zu  solchen  Resultaten  hatte  führen  köneen. 
Yiele  Begriffe  des  jus  natura«  et  gentium  vor  Grotius  verdanken  ja  deo 
Civilisten  und  Canonislen  ihren  Ursprung,  z.  B.  der  des  jus  gentium  se- 
cundaria, von  dem  Ompteda  meint,  er  trete  zuerst  bei  Va?quez  auf,  der 
sieb  aber  schon  200  Jahre  früher  bei  ßartolus  findet  und  sieh  noch  bis 
nach  Grotius  gehalten  hat.  Der  Verfasser  erwähnt  nun  «war  den  Aristo- 
teles, aber  er  thut  ihn  in  einer  Note  von  12  Zeilen  ab,  wovon  ich  das 

Wesentliche  hersetze:   „Das  Haupt  verdienst  des  A.  — — scheint 

in  seiner  bestimmten  Unterscheidung  von  einem  natürlichen  und  einem 

positiven  Gesetz  zu  bestehen.  Uebrigene  setzt  er  die 

Gerechtigkeit  in  einen  habitus  anirei,  quo  ad  res  jestas  garendes  bovines 
efficiuntur  idoaci.  Er  unterscheidet  zwischen  justitia  universalis,  eis  dem 
Inbegriff  aller  Tugenden  (!!),  und  juülitia  particularis,  welche 
sieh  mehr  auf  das  eigentliche  Recht  bezieben  lisst  (!), 

und  wiederum  zerfallt  in  commoiativa  und  distributiv«.44  Alles  buchst 

unbestimmt,  ungenau  und  ungenügend. 

Dem  b.  Thomas  bat  der  Verfasser  allerdings  eine  Betrachtung  roo 
3  Seiten  gewidmet.  Aber  wie  durchaus  uubefi  iedtgend,  ja  zum  Theil  un- 
richtig ist  das,  was  er  Uber  diesen  Mann  sagt,  von  dem  er  doch  aner- 
kennt (S.  45),  das«  «die  nachfolgende  Literatur  bis  aa  den  Anfang  des 
Jahrhunderts  heran  wenigstens  in  einer  gewissen  Richtung  sich  im 
Wesentlichen  auf  seinen  Ansichten  auferbaut. ':  Allgemeine  negative  Sätze, 
wie,  dass Thomas  Recht  und  Moral  nicht  scheide,  dass  sich  bei  ihm  keine 
„fundamentale  Anerkennung  des  Rechts  der  Persönlichkeit44  finde,  konnten 
hier  nicht  genügen.  Vom  Verfasser  war  man  eine  Darlegung  der  posi- 
tiven Conatroctioo  des  ethischen  Gebiets  bei  Thomas  zu  erwarten  berech- 
tigt Da  er  nun  sich  einer  solchen  Darstellung  entzogen,  musste  er  die 
Antwort  auf  die  einfachsten  Fragen  schuldig  bleiben,  z.  B.  auf  die  nahe- 
liegende, warum  denn  Thomas  von  den  leg  es  in  der  Prim.  See.  und 
dann  noch  einmal  in  der  See.  See.  der  Summa  TbeoL,  und  zwar  bei 
Gelegenheit  der  juatitia,  vom  jus  bandele.  Freilich  hat  das  Verhaltma 
des  Thomas  seine  Schwierigkeiten;  allein  man  sollte  alebt  diese  durch 
Redensarten,  wie  die  folg eu den :  „die  weitere  Paraphrase  ist  wahrhaft 
scholastisch,  spitzfindig  und  ohne  Werth,  die  Erklärung  ist  sehr  undeut- 
lich, die  Unterscheidung  ist  spitzfindig44  (S.  43—45)  —  beseitige«.  Mit 
solchen  Wendungen  aber  glaubt  der  Verfasser  sieh  zu  rechtfertigen,  wenn 


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Kaltenborn:    Geschichte  des  Natur-  und  Volkerrechts.  711 

er  von  einer  eingehenden  Erläuterung  der  Begriffe  lex  aeterna,  naturalis 
und  humane,  namentlich  der  verschiedenen  Arien  der  lex  naturalis,  die 
Thomas  unterscheide!,  sodann  der  Gegensätze  jus  naturale  und  positivum, 
jus  naturale  und  gentium  und  des  Verhältnisses  dieser  Arten  des  jus  zu 
jenen  leges  Umgang  nimmt.  Freilich  würde  er  auf  diesem  Wege  schliess- 
lich oft  Unklarheiten  und  Widersprüchen  begegnet  sein.  Wer  jedoch  die 
Unklarheiten  und  Widersprüche  relativ  bedeutender  Schriftsteller  zu  ver* 
folgen  für  überflüssig  hielte,  müsste  darauf  verzichten,  sich  mit  der  Ge- 
schichte irgend  einer  Wissenschaft  zu  befassen.  Um  aber  die  Darstellung 
der  Lehre  des  Thomas,  so  weit  eine  solche  nicht  abgelehnt  ist,  zu 
cbarakterisiren,  wird  die  Hervorhebung  einea  Beispiels  genügen.    S.  43 

hm  tarnt     mo        Tknman    nnln.rnl.ni  »uiLiik«!    I.«     rw,  rw.        _  Miimt  ..Ii.    mtmiA  Lnailtna 

ücrssi  es,  inomas  umersciieiac  zwiscnen  lex  aeterno,  naturalis  unu  numano. 
S.  44  wird  so  fortgefahren:  „Uebrigens  unterscheidet  er  sioh  i0  der  See, 
See.  für  die  Einlheilung  in  jus  naturale  et  positivum."  Diese  lisst  sich 
nicht  wohl  anders  als  so  verstehen,  dass  diese  Einlheilung  bei  Thomas 
eine  Eintheiluug  des  objectiven  Rechts  und  das  jus  mit  der  lex  gleich- 
bedeutend, alto  z.B.  jene  lex  naturalis  gleich  dem  letztgenannten  jus 
naturale  sei.  Wirklich  meint  diess  auch  der  Verfasser.  Er  scheint 
nämlich  ganz  übersehen  zu  haben,  dass  das  jns,  von  dem  in  der  See.  See. 
gebandelt  wird ,  durchaus  vorschieden  ist  von  der  lex  ,  die  in  der  Prim. 
See.  besprochen  und  mitunter  auch  jus  genannt  wird,  dort  aber  keines- 
wegs objectives  Recht,  sondern  res  justa,  opus  juitum  bedeutet*  Der 
Unterschied  von  jener  lex  und  diesen)  jus  ist  so  gross,  data  z.  B.  Stahl 
(Gesch.  d.  Rechtsphil.,  S.  55},  der  dem  Verfasser  doch  eine  Autorität 
ist,  sagt,  zwischen  beiden  bestehe  auch  nicht  der  entfernteste  Zu« 
sammenhang,  was  uns  freilich  wieder  zu  weit  gegangen  seheint.  Also 
einer  der  eigentümlichsten  Beg rille  des  Thomas,  der,  wie  schon  auge- 
deutet, auch  spater  noch  immer  eine  Rolle  spielt,  ist  de*  Verfasser  völ- 
lig entgangen. 

Dasjenige  endlich,  was  die  Erklärer  des  römischen  und  canoniseben 
Rechts  zur  vorgrotianischen  Theorie  des  Natur-  und  Völkerrechts  beige- 
steuert, wird  gänzlich  unerwähnt  gelassen. 

Gehen  wir  nun  an  die  Betrachtung  des  Kap.  6,  das  die  katholi- 
schen Vorläufer  nmfasst.    Die  Art  der  Behandlung  lusst  sich  nicht  besser 

bezeichnen  als  mit  des  Verfassers  eignen  Worten  S.  188:  „-*-  — ;  

&  ist  mir  troU  mancher  Versuche  nicht  möglich  gewesen,  die  Meinungen 
jedes  einzelnen  Autors  zu  einem  bestimmten  systematischen  Ganzen  zn- 
sammenzuschliessen.   Der  Grund  des  Misslingens  dürfte  auch  nicht  (sowohl) 


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712  Kaltenborn:    Geschichte  des 

io  meiner  Ungeschicktheit,  alt  einiig  und  allein  darin  zu  lochen  sein,  dass 
keiner  von  allen  diesen  Schriftstellern  ein  eigentliches  System  bat,  son- 
dern jeder  nur  aphoristische  Sätze  aufstellt,  die  häufig  miteinander  nicht 
recht  im  Einklang,  ja  oft  im  Widerspruch  stehen  und  wenigstens  niemals 
so  vollständig  ouf  die  Details  angewendet  sind,  um  daraus  ein  abgerun- 
detes Ganzes  coustruiren  zu  können.  Wollte  ich  demnach  den  eigentüm- 
lichen Geist  jedes  Autors  wirklich  geben,  so  durfte  ich  gar  nicht  streng 
Systematiken  .  Ich  musste  mich  demnach,  um  der  histori- 
schen Wahrheit  zu  genügen,  damit  begnügen,  die  einzelnen  Behauptungen 
möglichst  nach  einer  übersichtlichen  Ordnung  vorzutragen.  Endlich 
ist  es  auch  unmöglich  gewesen,  die  Theorien  der  einzelnen  Autoren  un- 
ier einander  in  eine  systematische  Verbindung  und  Entwickelung  zu  setzen, 
so  dass  die  einzelnen  etwa  Stufen,  Modißcationen  einer  organischen  Ent- 
faltung bilden  möchten.  Denn  jeder  Autor  steht  isolirt  da,  sucht  die 
mittelalterlichen  Ansichten  nach  seiner  Individualität,  darum  rein 
zufällig  und  willkürlich  zu  benutzen  und  zu  verarbeiten,  einmal  mit  cita- 
tenmässiger  Benutzung,  keiner  wahrhaften  Durchdringung  und 
seiner  Zeitgenossen,  und  sodanu  mit 
neuen  Ideen  der  Reformation,  die  aber  sehr  schwach  i&t.u  In  diesem 
letzten  Satze  tritt  der  Fehler  der  Behandlung  recht  hervor.  Der  Verfas- 
ser erkennt  also  an,  dass  alle  diese  Autoren  etwas  Gemeinsames 
an  den  „mittelalterlichen  Ansichten"  haben,  die  sie  „benutzen 
und  verarbeiten."  Hieraus  folgt  aber,  dass  diese  mittelalterlichen 
Ansichten,  d.  h.  eben  jene  juristischen  und  scholastischen  Traditionen,  wie 
wir  sie  genannt  haben,  gründlich  darzustellen  waren,  wonach  dann  bei 
den  einzelnen  Schriftstellern  wesentlich  nur  die  weitere  Entwickelung  oder, 
am  mit  dem  Verfasser  zn  reden,  Verarbeitung  jener  Ansichten  zu' 
folgen  blieb.  Auf  diese  Weise  hatte  der  Verfasser  einen  Faden 
nen,  der  das  Ganze  zusammenhielt  und  der  es  zugleich  möglich  machte, 
dal,  was  Grotius  und  die  Späteren  von  den  Vorläufern  übernommen  ha- 
ben, recht  zu  verstehen  und  zu  würdigen.  Dadurch,  dass  der  Verfasser 
diesen  Weg  nicht  eingeschlagen,  ist  das  ganze  Kapitel  ohne  Einheit  und 
ihang;  wir  haben  anstatt  einer  Darstellung  der  Theorie  des  jus 
le  et  gentium  im  Reformationszeitalter  nicht  viel  mehr  als  eine  Samm- 
lung von  allerdings  meist  übersichtlich  zusammengestellten  Excerpten  aus 
einzelnen  Werken  jener  Zeit.    Ferner  führt  diese  Methode  zu  unnützen 

.Schriftstellern  Gemeinsamen  und  zu  IM« 
als  diese  verdienen.  Wi 


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Kaltenborn:   Geschichte  de«  Natur-  and  Völkerrecht«.  71S 

i.  B.  Thomas  auf  9  S,  dürftig  behandelt  wurde,  sind  dem  Soto,  dar 
gerade  in  den  vom  Verfasser  zusammengereibten  Stellen  kaum  etwas 
Anderes  als  eino  Paraphrase  des  Thomas  gibt,  1 1  S.  eingeräumt.  Da« 
Schlimmste  aber  ist,  dass  nun  doch  die  Excerpte  nicht  einmal  genügen, 
um  ßich  ein  vollständiges,  einigermassen  zusammenhängendes  Bild  der  An- 
sichten der  einzelnen  Schriftsteller  auch  nur  zusammenzusetzen.  Manche  ha- 
ben gar  nicht  ex  professo  über  jus  naturae  et  gentium  geschrieben.  Ihre 
xerstreuten  Aeusserungen  darüber  konnten  also  nur  durch  die  allgemeine 
mittelalterliche  Tradition,  die  der  Verfasser  so  gut  wie  nicht  dargestellt, 
ihre  rechte  Ergänzung  finden.  Bei  allen  aber  konnte  die  Einsicht  in  die 
innere  Verknüpfung  ihrer  Ansichten  nur  dadurch  vermittelt  werden,  dass 
der  Verfasser  die  Grundbegriffe  und  deren  Verhflltniss  zu  einander  streng 
verfolgte.  Br  meint  nun  zwar,  diese  Schriftsteller  hätten  kein  System, 
sie  stellten  nur  aphoristische  Sätze  auf,  und  um  also  den  eigentümlichen 
Geist  eines  jeden  wirklich  zu  geben,  habe  er  nicht  streng  systematiairen 
dürfen.  Allein  wenn  er  überhaupt  einen  Geist  jener  Autoren  anerkennt, 
so  moss  er  auch  einen  Zusammenhang  jener  ongeblich  bloss  aphoristischen 
Satze  zugestehen,  mag  er  diess  nun  System  nennen  oder  nicht,  und  um 
jenen  Zusammenhang  aufzuweisen,  musste  er  mindestens  die  Grundbegriffe 
gehörig  erläutern.  Aber  nirgends  in  dem  ganzen  Buche  findet  sich 
eine  genügende  Erörterung  der  Begriffe:  lex  aeterna,  naturalis,  human« 
—  jus  naturale,  positivum,  humanuni,  divinum,  gentium,  civil«,  ihrer  ver- 
schiedenen Unterabtheilungen,  ihrer  Beziehungen  zu  einander,  ferner  der 
Begriffe :  justitia  universalis  und  parlicularis,  commutativa  und  distributive 
Oft  genug  werden  alle  diese  Begriffe  erwähnt  und  zum  Tbeil  die  Wort« 
der  Schriftsteller  darüber  citirt,  aber  nicht  ein  einziges  Mal  werden  sie 
in  ihrer  ganzen  Bedeutung  und  in  ihrer  Wechselbeziehung  wirklich  er- 
läutert. So  haben  wir  denu  hier  in  der  Tbat  nur  eine  geordnete  Zu- 
sammenstellung von  nicht  einmal  recht  verständlichen  Aphorismen,  die  Einem 
unter  den  Händen  zerbröckeln. 

Aber  auch  die  Ordnung  der  Aphorismen  aus  einem  Schriftsteller 
ist  mitunter  sehr  unordentlich.  Es  folgen  z.  B.  S.  126  die  Excerpte  aus 
Vasquez  so  auf  einander:  „Nach  Naturrecht  bestehe  eigentliche  Güter- 
gemeinschaft :  gegen  das  Meum  und  Timm  spricht  er  sich  vielfaltig  aus. 
Man  müsse  in  jedem  Gesetz  auf  den  Geist,  nicht  auf  die  Worte  sehen. 
Das  dominium  mündi  verwirft  er  aus  Gründen  der  Vernunft  etc.tt 

Ferner  ist  die  Ordnung  der  Schriftsteller  eine  unangemessene.  Wenn 
sie  der  Verfasser  in  der  Reihe:  Vasquez,  Connan,  Covarrovias,  Suarez, 


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*! 4  Kaltenborn    Geicbicble  des  Katar-  auf]  Völkerrechte. 

Molina,  Lessius,  Solo,  Bolognetus  bringt,  80  ist  diess  entschieden  gegei 
die  Chronologie,  und  folglich,  da  der  Verfasser  keine  Scheidung  »od 
Groppirong  nach  bestimmten  Kategorien  oder  Richtungen  vornimmt,  nicht 
lu  rechtfertigen.  Soto  ist  der  früheste  unter  den  Genannten,  und  wird 
fast  von  allen  übrigen ,  namentlich  schon  von  Covarruvias ,  beoutzt ,  auf 
den  wiederum  Vasquez  Rücksicht  nimmt.  Suarez  citirt  schon  den  Bo- 
logoetus.  Wenn  der  Verfasser  S.  158  sagt,  er  habe  absichtlich  den 
Soto  erst  uacb  Lensins  uud  Moliua  gestellt,  weil  er,  obscboo  früher,  von 
grösserer  Bedeutung  sei,  so  ist  diess  eben  die  verkehrte  Welt-* 
numljcb  auf  diesem  Gebiet,  denn  iu  anderen  Füllen  ist  es  ganz  in  der 
Ordnung,  dass  man  das  Bedeutendste  zuletzt  bringe,  z.  B.  wenn  man 
Jemanden  eiue  Raritätensammlung  zeigt.  Soto's  Bedeutung  besteht  übri- 
gens darin,  dass  er  den  Thomas  am  ausführlichsten  commentirt ;  an  diesen 
schliessi  er  sieb  unmittelbar  an  und  musste  schon  desshalb  an  die  Spitae 
gestellt  werden. 

Nicht  minder  zeigen  sich  in  unserem  Kapitel,  wenn  wir  es  noch 
als  blosse  Alaterialiensammlung  betrachten,  manche  Unrichtigkeiten  ond 

Ein  häufig  sehr  störender  Mangel  ist  es,  dass  der  Verfasser  meist 
die  Angabe,  oder  wenigstens  die  genauere  Angabe  der  Beweisstellen  aus 
den  Schriftstellern  versäumt.  Ganze  Kapitel,  ja  ganze  Bücher  in  Bausch 
und  Bogen  zu  citiren  oder  nur  die  Seitensabi  der  gerade  vom  Verfasser 
benutzten  Ausgabe,  anzuführeo,  ist  hart  gegen  den  Leser. 

Voo  den  Illustres  Controversiae  des  Vasquez  kennt  der  Verfasser 
(s.  125)  nur  8  Bücher,  indess  gibt  es  noch  einen  zweiten  Tbeil,  „Se- 
cunda  Pars  tres  posteriores  libros  continens."  Mach  Ompteda  S.  166 
scheint  es  sogar  noch  3  weitere  Bücher  zu  geben,  die  mir  indess  nicht 
XII  Gösiclit  gekommen  siodL 

Ueber  denselben  Vasquez  beisst  es  ebendaselbst:  „Von  dem  jus 
Dat.  sagt  er:  Nil  aliud  esse  quam  rectum  ratiooem  ab  ipsa  nativitate  et 
origine  humano  generi  innatam.  Das  jus  nat.  heisst  auch  jus  gent.  pri- 
maevnm.«  Allein  diess  ist  ungenau.  V.  unterscheidet  (z.  B.  Pars  I.  c 
41.  n.  29.  30)  jus  nst.  prout  omnibus  animslibus  competit  von  dem  jus 
*ut.  prout  eompetit  solis  hominibus,  das  er  auch  jus  gent.  primaevum  nennt 

Ferner  berichtet  der  Verfasser  S.  126,  nach  V.  sei  dss  jus  gent. 
ursprünglich  jus  civil e  bei  einem  bestimmten  Volk,  pflanze  sich  von  da 
fort  zu  andern  Völkern  und  werde  so  jus  gent.  Hiernach  wäre 
also  das  jns  gent.  als  solches  jünger  als  das  jus  oivile. 


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Kaltenborn:    Gerichte  de«  Natur-  und  Völkerrecht*.  715 

So  spricht  sich  Allerdings  V.  an  mehreren  Stellen,  z.  B.  e>  41.  c.  89. 
b.  23 IT.  c.  54.  n.  2  —  6.  aus.  Aber  an  ander«  Stellen,  l  B.  c.  10. 
o.  22.,  wo  er  die  von  den  Civilisten  ausgebildete  Theorie  der  Iria  tem- 
pore juris  vorträgt,  weist  er  das  jus  gent.  dem  aweiten,  das 
jus  civile  dem  dritten  tempus  an.  Diese  ganze  Theorie  der  tria 
lempora  hat  freilich  der  Verfasser  überall  nicht  berücksichtigt  und  den 
Widerspruch,  in  dem  sich  V.  befindet,  gar  nicht  beachtet. 

Von  Covarruvias  beisat  es  S.  132  a.  E.:  „Auch  wird  dem  Natar* 
recht  eine  grosse  Kraft  eingerüumt  und  behauptet:  idquod  contra  ratio- 
Den  naturalem  statutum  est,  non  polest  tirmum  esse  nee  validdm,  etiamsi 
s  principe  aupremo  statuattlr.    Indessen  wird  es  hiermit  nieht  so  genau 
genommen.    Er  Gndet  z.  fi.  die  Theilung  dea  Eigenllmms,  die  Sklaverei 
iu  gewissen  Füllen  völlig  in  der  Ordnung."    Wer  es  aber  hier  nicht  ge- 
nau  genommen  bat,  das  ist  der  Verfasser.     Er  stellt  die  Sache  so  der, 
ils  ob  sich  CoV.  geradezu  selbst  widerspräche.  Allein  er  hat  gsnz  über- 
sehen, dass  Cov.  das  jus  nat.  „positivus"  i.  e.  qnod  positive  jubet 
aal  vetat,  unterscheidet  von  dem  jus  nat.  „negativ  um",  rjuod  nec  jubet 
nee  vetat  aliquid.    Das  erste  ist  ihm  unabänderlich,  nicht  so  das  zweite. 
Zu  diesem  jus  nat.  negativum  rechnet  er  nun  die  primaeva  rerum  com- 
aiunio  und  hominutn  überlas.   Er  meint  oümlich,  sie  seien  etwas  im  „sta- 
tt» natura e-  sich  von  selbst  Ergebendes  und  diesem  angemessen,  ohne 
voa  dem  jus  nat.  unbedingt  geboten  zu  sein.     Sie  können  also  auch 
aufgehoben,  getheilles  Eigenthum  und  Sklaverei  eingeführt  werdet.  Pttr 
4*e  Unterscheidung  des  jus  nat.  positivum  und  negativum  beruft  sich  Cov. 
(ad  reg.  Peccatom.  Par.  11.  n.  2.3.)  auf  Thomas  Prim.  See  q.  94.  a.  5, 
wo  dieser  sagt,  in  einem  z weifachen  Sinn  werde  Etwas  zum  jns  nat.  ge- 
rechnet „uno  modo,  quin  ad  hoc  inclinat  natura,  sicut  non  esse  inju- 
ria« alteri  faciendam:  alio  modo,  quia  natura  non  inducit  contra- 
rinn  —  —  et  hoc  modo  communis  omnium  possessio  et  om- 
ni um  uon  libertas  dicitur  esse  de  jure  naturali:  quia  sc.  disliuetio 
possessorium  et  servil us  non  sunt  indnetae  a  natura,  sed  per  homi- 
nuru  rationem.1-    Diese  ganze  wichtige  Unterscheidung  wird,  so  v»?  ieh 
mich  entsinne,  vom  Verf.  in  seinem  ganzen  Buche  nicht  ein  einzigeamal 
er  läutert.     Möge  er  aus  diesem  Beispiel  entnehmen,  wie  erspriesslicb  eine 
gründliche  Behandlung  des  Thomas  gewesen  sein  würde.    Noch  Grohns 
schreibt  an  seinem  Bruder  Wilhelm  (Grot.  Epist.  Amst.  1687  Append.  u.4): 
-Sunt  quaedat»,  qtme  dicuntur  juris  naturalis  conoeasiv«,  non  pria- 
ceptive,  b.  e.  quia  manendo  in  tnrminis  naturalibna  res  ita 


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716  Kaltenborn :    Gebuchte  des  Natur-  und  Völkerrecht*. 

fe  habeat,  et  haec  mulari  omnino  possunt,  quia  lex  nulla 
obstat,  ut  rerum  communio,  übertat  singulorum  Domi- 
num, sed  haec  juris  nomine  improprie  appellantur." 

Der  Abschnitt  Uber  Biolina  ist  besonders  mangelhaft.  Ueberall  wird 
das  der  Erläuterung  Bedürftige  ohne  solche  woblgemuth  hingestellt,  uad 
die  Darstellung  ist  so  verwirrt  und  falsch,  dass  man  vermuthen  tnuss,  der 
Herr  Verf.  habe  Mol.  nur  sehr  flüchtig  gelesen.  S.  145  beschreibt  er 
die  justitia  im  Sinn  des  »1.  als  die  ganze,  die  Centraltngend ,  sofern  alle 
Tugenden  eine  Beziehung  zum  Commune  bonum,  ad  rempublicam  haben. 
Er  vergisst  von  vorneherein  zu  sagen,  dass  M.  nach  Aristoteles  die  just 
universalis  und  particularis  unterscheide  und  Jenes  nur  von  der  universa- 
lis gemeint  sei.  Weiter  wird  bemerkt:  ..demnach  erscheint  hier  schon 
das  normale  Verhalten  zum  Gemeinwesen  als  Gerechtigkeit  uad  die 
Norm  dafür  als  Hecht."  Allein  das  ist  ja  schon  von  Arbtot.  Eth.  Nie 
V.  cap.  1  und  Thomas  See.  See.  9.  58  a.  5.  7.  ausgesprochen.  Hier  zeigt 
sich  nochmals,  wie  nützlich  ein  tieferes  Eingehen  auf  diese  gewesen  wäre. 
Der  Verf.  fährt  fort:  „  Doch  nimmt  er  allerdings  noch  eine  andere  Ge- 
rechtigkeit an,  welche  nicht  jene  Beziehung  habe  und  bloss  individuell 
sei  (justitia  monastica  Im  Gegensatz  der  politica).  Das  Object 
dieser  andern  justitia,  die  (nach  Arist.)  iegolis  heisst,  sei  das  justum,  das 
nicht  gleich  mit  aequum,  sed  legitimum,  quod  lege  geboten  sei.- 
Weiter  heisst  es :  „Zuletzt  sagt  or,  in  diesem  Werke  wolle  er  von  der  ju- 
stitia als  Cardinaltugend,  justitia  particularis,  sprechen,  deren  Gegenstand 
das  justum  -  aequum  mit  dem  Gegensatz  des  iniquum.  Doch  behauptet  er 
spüter,  er  wolle  das  jus  im  weiteren  Sinn  abhandeln."  —  Wer  soll  nun 
so  etwas  verstehen?  Wie  verhalten  sich  denn  nun  die  just,  monastica 
und  particularis?  Was  ist  denn  die  politica  und  das  justum  -  aequum f 
Das  Alles  fleht  den  Verf.  nicht  an.  Er  sagt  ruhig  S.  146  a.  A.:  „man 
sieht  hieraus,  dass  dem  Hol.  das  juristische  Gebiet  in  seiner  Grenze  nicht 
klar  ist."  Ueberdiess  beruht  Alles,  was  der  Verf.  von  der  just,  mona- 
stica, politica  und  legalis  sagt,  auf  entschieden  irriger  Auffassung  der  kei- 
neswegs unklaren  Auseinandersetzungen  Molina's  (de  Just,  et  Jure  Tr.  L 
disp.  1.  2.  8.  12).  H.  will  sich  durchaus  dem  Arist.  und  Thomas  an- 
ichliessen.  Er  unterscheidet  also  auch  just,  universalis,  die  er,  wie  Jene, 
legalis  nennt  (vrgl.  das  vom  Verf.  selbst  S.  45  Uber  Th.  Gesagte),  von 
der  Cardinaltugend,  justitia  particularis.  Von  einer  just,  mooastica  und 
politica  sagt  M.  kein  Wort.  Er  sagt  nur  (disp.  1  n.  1),  um  den  Unter- 
scfiicd  der  iiDivörsälis  und  ji9i  ticulsris  l\lor  t*w  rriRclicn  •     3t.  tuni  otJlusooö^* 


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Kaltenborn:   Geschichte  des  Natur-  und  Völkerrechts.  717 

que  virlutis  posse  duobus  modis  spectari:  uoo  ut  quivis,  quatenus  parti- 
calaris  quaedam  persona  est,  per  prudentiam  monasticam  eo  ope- 

retur  consone  ad  rectam  rationem  altero  ut  qui  cum  elicit,  bene 

eo  se  habest  ad  suum  tot  um  bonumque  commune,  per  prudentiamque 
politicam  ab  eo  elicit ur ,  quatenus  pars  est  reipublicae."  Daraus  ent- 
nimmt nun  der  Verf.  eine  angebliche  just,  monastica  und,  was  noch 
schlimmer  ist,  identifleirt  sie  mit  der  just,  leg«  Iis,  deren  Identität  mit 
der  universalis  doch  ganz  klar  aus  seinem  Citat  S.  146  hervorgeht:  just 
legalis,  quae  commune  bonum  reipublicae  respicit,  ut  quam  optime  se  ha- 
best, operaque  omnium  aliarum  virtutum  in  eum  finem  refert. 

S.  147  wird  wieder  Molina  gelobt,  weil  er  schon  fühle,  dass 
das  Verhältnis*  zwischen  Ellern  und  Kindern,  Scleveu  und  Herren,  sowie 
unter  Ehegatten  kein  blos  juridisches  sei,  was  ganz  in  derselben  Weis« 
schon  Thomas  (See.  See.  q.  57  n.  4)  nach  Aristoteles  ausgeführt  hat. 

Suarez  erkennt  der  Verf.  als  den  für  das  jus  gentium  bedeutend- 
sten Schriftsteller  vor  Grotius  au.  Aber  das  Werk,  welches  „ vor- 
zugsweise hierher  gehört44,  de  Legibus  ac  Deo  legisiatore,  ist 
Herrn  v.  K.,  wie  er  selbst  gesteht,  nicht  zu  Gesicht  gekommen  1  —  Er 
druckt  nur  ein  Citat  aus  Ompteda  ab  und  muss  sich  auf  dessen  irrige 
Versicherung  verlassen,  dieser  Passus  enthalte  das  einzige  Wichtige  (für 
das  Völkerrecht)  in  dem  ganzen  Buche.  So  blieben  denn  natürlich  dem 
Verf.  die  wichtigen  näheren  Modalitäten  der  allgemeinen  Auffassung  des 
Völkerrechts  bei  S.  unbekannt,  unter  Anderm  namentlich  der  Umstand, 
dass  S.  die  Wirkungen  der  völkerrechtlichen  Institute,  die  schon  nach 
jus.  nat.  begründet  wären,  aus  dem  jus  gentium  ins  jus.  nat.  verweist 
und  dagegen  das  Völkerrecht  durch  imaginäre  Rechtssatze  bereiohtrt. 
Vrgl.  Lib.  IL  c.  19.  u.  7.  8.  So  gründet  er  z.  B.  auf  das  Völkerrecht 
nicht  die  Verbindlichkeit  geschlossener  internationaler  Ver- 
trage, die  nach  ihm  schon  aus  jus  nat.  folgt,  sondern  die  angebliche  Pflicht, 
solche  Verträge  einzugehen,  nicht  die  Unverletzlichkeit  ange- 
nommener Gesandten,  sondern  die  Noth wendigkeit,  solche  zu- 
zulassen. Diese  näheren  Bestimmungen  wären  voo  um  so  grösserem  Inte- 
resse gewesen,  als  sich  die  Wirkungeu  solcher  Anschauung  noch  bei 
Grotius  zeigen. 

Eine  Unrichtigkeit  findet  sich  in  der  Darstellung  des  Bolognetus. 
Der  Verf.  sagt  S.  180,  nachdem  er  die  Worte  desselben  über  die  Ein- 
teilung des  Rechts  in  naturale  einerseits  und  bumanum  s.  gentium  ande- 
rerseits angeführt,  für  das  „erstere  ■  passe  nach  BoL  auch  der  Name 


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718 


Kaltenborn:    Geschichte  des  Natur-  and  Völkerrechts. 


jus  primaevum,  sowie  für  das  ..letztere"  (also  jus  humanuni  s.  gen- 
tium) der  Name  jus  secundarium,  und  dieses,  aber  auch  nur  dieses,  zer- 
falle in  commune  und  proprium.  Aliein  bei  Bol.  c.  23.  n.  5  siebt  gen 
klar,  dass  sowohl  das  jus  primaevum  als  das  secaedtriom  Tb  eile  des 
jus  humanuni  s.  gentium  seien,  und  das  secundarium  wird  dann  wieder 
in  commune  und  proprium  gesondert. 

Den  protestantischen  Autoren  des  jas  natvrae  et  gentium  widmet 
der  Verf.  nach  Hiarichsens  Vorgang  eine  besondere  Zuneigung,  die  in- 
dess  nicht  stark  genug  war,  am  ihn  zu  bestimmen,  das  Cap.  7,  welches 
jene  umfasst,  befriedigender  eis  den-  vorhergehenden  Abschnitt  aufzu- 
arbeiten.   Immer  isi  hier  noch  zu  viel  Excerpt  and  blosse  Inhaltsan- 
gabe, eo  wenig  freie  zusammenhängen  Hu  Darstellung  mit  Hervorhebung 
und  Erläuterung  das  principiell  Bedeutenden.    Da  der  Verf.  die  katholi- 
schen Vorläufer  nicht  gründlich  genug  behandelt  hat,  so  erklärt  es  sieh 
leicht,  dass  er  die  protestantischen,  bei  dem  unleugbaren  Portschritt  in 
der  Darstellung,  den  sie  zeigen,  zu  überschätzen  geneigt  ist.    Viele  der 
Ansichten,  die  er  ihnen  als  neu  zum  Verdienst  rechnet,  finden  sieb  schon, 
bald  mehr  bald  minder  entwickelt,  bei  den  alteren  katholischen  Schrift- 
stellern.   Aach  zeigt  Cap.  7  wieder  im  Einzelnen  beträchtliche  Unrich- 
tigkeiten.   Was  S.  240  über  die  Bedeutung  von  jas  naturae,  gentium 
und  civile  bei  Winkler  gesagt  wird,  kann  Belege  für  die  meisten  dieser 
Behauptungen  liefern.    Dort  bebst  es :  „  Winkler  faest  das  Recht  prioci- 
paeU  auf,  einmal  als  jus  naturae  prius,  etwa  das  Naturatandsreeht  im  gol- 
denen Zeitalter  ungetrlbter  Menschlichkeit,  abstraotes  Naturrecht,  mit  dem 
Princip  der  Liebe;  ferner  jus  naturae  posterius  s.  jus  gentium,  des  Na- 
turrecht unter  den  Bedingungen  getrübter  Menschlichkeit,  mit  dem  Prin- 
cip der  prndentia,  doch  als  raUonis  lex  zu  fassen,  indem  man  sich  die 
Menschen,  wie  sie  wirklich  sind,  denkt,  als  zwar  noch  nicht  in  einer 
staatlichen,  doch  in  anderer  (privaten)  Gemeinschaft  miteinander  lebend; 
endlich  jus  civile  s.  positivem,  worunter  mau  aber  nicht  particulares, 
poaitives  Ii  echt  eines  bestimmten  Staates,  sondern  vielmehr, 
im  Allgemeinen  wenigstens,  überhaupt  das  Recht,  unter  der 
Bedingung  der  Existenz  des  Staates,  also  das  natürliche  öffent- 
liche Recht,  sowie  die  Modificatiouen  des  Privatrechts  durch  das  Staats- 
recht zu  verstehen  bat,  M  dass  also  das  sogenannte  jus  naturae  posterius 
seu  jus  gentium  und  das  jus  civile  etwa  das   nachher  sogenannte  ange- 
wandte, hypothetische  Naturrecbt  der  Naturrechtslehrer  dee  18. 
JäIij* liu uci^f in  (Jeu  or&tt^Q     d fö ti ^ t2 o  bilci&f»       Diü  ß6$ctir0it)UD^  des  JUS 


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Kaltenborn:   Geschichte  des  Natur-  und  Völkerrecht!.  719 

Dilorae  und  posterius  seu  gentium  ist  nicht  gerade  unrichtig,  aber  man 
gewinnt  dadurch  keine  deutliche  Vorstellung,  was  denn  ouo  eigentlich  Wesen 
und  Umfang  des  jus  naturae  und  gentium  sei.  Hier  war  unbedingt  eine  nähere 
Erläuterung  oöthig.  Das  über  das  jus  civile  s.  positivem  Gesagte  ist  ganz  irrig. 
Ei  widerspricht  nicht  nur  durchaus  den  Ansichten,  die  Winkler  S.  130 IT. 
(IL  Abtheilung}  vorträgt,  sondern  es  ist  auch  an  sich  auffällig  genug. 
So  viel  lieht  doch  unter  allen  Umstanden  fest,  das«  das  jus  positivom  den 
Gegensatz  des  naturale  bildet.    Wie  bann  nun  je  ein  jus  civile  s.  po- 
s  i  r  i  v  u  m  —  untunlichen,  öffentlichen  Recht  sein?    Richtig  ist  es  fer- 
ner zwar,  dass  das  jus  civile  bei  Winkler  das  Recht  unter  der  Bedin- 
gung der  Existenz  des  Staats  ist,  aber  wie  kann  der  Verf.  hieraus  fol- 
gern: alao  ist  es  das  natürliche  öffentliche  Recht?    Setzt  nicht  das 
jas  civile  der  Römer  auch  die  Existenz  der  civitas  voraus,  und  beisst  ei 
etwa  desswegen  nur  oder  vorzugsweise  öffentliches  Recht? 
Und  was  aollen  denn  dem  Leser  solche  diplomatische  Ausdrucke  wie: 
das  jus  civile  ist  „im  Allgemeinen  wenigstens  überhaupt  das 
Recht  u.  s.  w.?u    Dass  übrigens  das  jus  civile  bei  W.  wirklich  par- 
ticulares  positives  Recht  eines  bestimmten  Staats  bedeutet,  geht 
doch  klar  aus  Stellen  WM  die  folgenden  hervor:  „Non  vocatur  pofiti- 
vom  omne  quod  quoque  modo  ab  hominibns  mventum  est,  aed  quod 
publice  compositum  et  promnlgatum  fuit,  qnodque,  cum  in 
uostra  republica  approbatur,  induit  nomen  juris  civilis"  (S.  96}; 
„Civile  est  quod  civitas  posuitetsibi  proprium  fecit"  (S.  121.  Abtblg.  IL). 
U*l  die  Beschränkung  des  jus  civile  aaf  das  öffentliche  Recht  wird  schon 
dadurch  widerlegt,  dass  es  bei  Winkler  &.  Hl  beisst:  „Tom  natnrali- 
bus  quam  jnris  gentium  pcäeceptia  admiscentur  civiles 
Observation«*»,  defeneionum,  solennitatum  vel  execotiooum  modi,  cum  in 
uvitate  publice  proponuntur.     Civilium  vero  ea  natura  est,  ut 
sioe  nqturalibus  tanquam  accidens  sine  substantia  sobsi- 
>tere  non  possiot."    Wenn  die  civilia  siue  natoralibns  sobsistere  non 
possunt,  d.  b.  wenn  sie  eben  nnr  die  Determination  der  natoralia  sind, 
so  können  die  civilia  sich  nicht  auf  das  öffentliche  Recht  beschränken,  der 
Verf.  musste  denn  behaupten,  dass  dies  mit  den  naturalis  der  Fall  sei. 
Aus  dem  Gesagten  ergibt  aioh  von  selbst,  wie  falsch  es  ist,  zu  sagen,  das 
jus  gentium  und  civile  des  W.  entsprachen  zusammen  dem  sog.  hypothe- 
tischen NaturrechL 

In  der  Note  S.  241  sagt  sodann  der  Verf.:  „Schon  in  der  Unter- 
scheidung von  jus  naturale  prius  und  posterius  möchte  ich  einen  Versuch 


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720  Kaltenborn:    Geschichte  des  Natur-  und  Völkerrechts. 

zur  Scheidung  von  Moral  fprius)  und  Recht  finden ;  freilich  fasst  Wink- 
ler das  Verbältuiss  noch  sehr  befangen  auf."  Wenn  Herr  v.  K.  in  der 
Dislinction  von  jus  naturae  prius  und  posterius  einen  Versuch  zur  Son- 
derung von  Moral  und  Recht  erblickt,  so  lasst  sich  io  gewisser  Hinsicht 
Nichts  dagegen  einwenden f  wohl  aber  dagegen,  dass  er,  wie  die  Note 
offenbar  andeutet,  diese  Unterscheidung  und  diesen  Versuch  erst  von 
Winkler  datiren  will.  Io  ersterer  ist  der  Saehe  nach  nichts  Neues  ent- 
halten. Mao  vergl.  z.  B.  Covarr.  ad  reg.  Peccat.  Par.  11.  n.  2.  3.  5. 
Vasq.  Coetrov.  Pars  I.  c.  10.  n.  22.  c.  41.  o.  40.  Bologn.  c.  10.  n.  1. 
n.  10  ff.  c.  13  und  c.  23.  n.  2. 

Die  zweite  Abtheilung  unseres  Werks  enthält,  wie  schon  erwähnt, 
einen  gekürzten  Abdruck  der  Werke  von  Oldendorp,  Hemming  und  Wink- 
ler. Derselbe  rechtfertigt  sich  selbst,  iusofern  er  die  Bedeutung  dieser 
Schrill* i eller  zeigt,  welche  nicht  nur  die  Resultate  der  vorgrotianischeo 
katholischen  Literatur  meist  klarer  und  methodischer  darlegen,  sondern 
auch  theilweise  Neues  zu  Tage  fördern.  Dass  jeue  Werke  selten  seien, 
kann  Ref.  bestätigen.    Er  bat  sie  nie  zu  Gesicht  bekommen.    Freilich  ist 

liebes  Ding.  Der  Verf.  will  zwar  nur  das  ganz  Unwesentliche  wegge- 
lassen haben.  Allein  wer  verlässt  sich  in  solchen  Dingen  gern  auf  frem- 
des Urtheil?  ladess  scheint  allerdings  in  diesem  Fall,  nach  dem 
Gegebenen  zu  scbliessen,  das  Weggelassene  von  geringer  Bedeutung. 

Sollten  wir  unsere  Ansicht  Uber  das  vorliegende  Werk  zusammen- 
fassen, so  ist  es  folgende.  Anerkennenswert!»  ist  an  sich  das  Unterneh- 
men des  Verfassers.  Ihm  gebührt  gewissermassen  der  Ruhm  des  Ent- 
decken von  unbekanntem  Land;  er  bat  auf  eine  Lücke  in  der  Wissen- 
schaft hingedeutet,  wenn  auch  jene  durch  ihn  selbst  noch  lange  nicht  aus- 
gefüllt ist.  Rein  materiell,  als  Ueberlieferung  fremder  Ansichten  betrach- 
tet, lasst  das  Buch  öfters  Richtigkeit,  Genauigkeit  und  Vollständigkeit  ver- 
missen. Sodann  aber  ist  das  Material  viel  zu  wenig  verarbeitet  und 
durchdrungeo,  es  fehlt  Eiubeit  und  Zusammenbang  der  Darstellung,  ja  es 
fehlt  die  notwendige  Erläuterung  der  vorkommenden  Grundbegriff ,  so 
dass  in  letzter  Instanz  dieses  Buch  weder  dem  Zweck  genügt,  die  vorgro- 
tiaaische  Literatur  gehörig  verstehen,  noch  dazu  ausreicht,  ihren  EinBuss 
auf  die  spätere  Entwicklung  gebührend  würdigen  zu  lernen. 

Jena. 

E.  ir.  Mockniftr. 


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I 

Hr.  46.  HEIDELBERGER  1851. 


JAHRBÜCHER  DIR  LITERATUR 


Die  beiden  Schlösser  zu  Baden,  Ehemals  und  Jetzt.  Eine  Erinne- 
rungsgabe Seiner  Königlichen  Hoheit  des  Grossherzogs  Leopold 
ton  Baden.  Für  die  Freunde  deutscher  Kunst-  und  Kulturge- 
schichte. Karlsruhe,  Druck  der  W.  Hasper  sehen  Hofbuchdruckerei 
1851.  212S.ingr.8.  (Mit  dem  Motto:  Patrum  ingressus  vesUgia.) 

Wenn  in  den  Worten  des  Titelt  schon  gewissermassen  Zweck  und 
Absicht  des  Werkes  selbst  ausgesprochen  ist  —  denn,  wie  das  Vorwort 
wahr  und  treffend  bemerkt,  die  Gesinnung,  welche  die  väterlichen  Haileo 
wieder  hergestellt  und  geschmückt  hat,  wünscht,  dass  auch  Andere  sich 
daran  erfreuen  —  so  wird  es  auch  von  unterer  Seite  keiner  weiteren 
Erörterung  Uber  diesen  Punkt  bei  der  Anzeige  eines  Werkes  bedürfen, 
in  dem  wir  nicht  blos  eine  von  hoher  Hand  gespendete  Gabe  der  Erin- 
nerung, sondern  auch  tugleich  einen  eben  so  gründlichen  wie  erschöpfen- 
den Beitrag  zur  Förderung  vaterländischer  Geschichtskunde,   die  unter 
dem  Fürsten,  dem  wir  auch  diese  Gabe  verdanken,  zu  neuem  Leben  er- 
blüht ist,  zu  erkennen  glauben.    Der  Verfasser  des  Werkes,  der  Grossh. 
Oberst  G.  H.  Krieg  von  Hochfelde n,  ist  den  Freunden  vaterländi- 
scher Forschung  bereits  durch  eine  Reihe  von  gediegenen  Arbeiten  be- 
kannt, die  für  diesen  Zweig  der  Forschung  Bahn  gebrochen,  auch  die 
verdiente  Anerkennung  stets  gefunden  haben,  da  hier  mit  dem  gründ- 
lichsten Quellenstudium  die  Erforschung  der  alten  Baudenkmale  selbst,  ge- 
stützt auf  eine,  in  der  Regel  seltene,  den  gelehrten  Altertumsforschern 
meist  fehlende  Kenntniss  der  architektonischen  Verhältnisse,  sich  vereint 
findet,  in  einer  Weise,  die  zu  überraschenden  Ergebnissen  geführt,  manche 
neue  Aufschlüsse  gebracht  und  selbst  manche  Lücke  der  schriftlichen  Tra- 
dition ausgefüllt  bat.    Und  so  fordert  uns  auch  diese  neue  Leistung  zu 
neuem  Danke  auf  eben  so  sehr  gegen  den  Fürsten,  von  dem  das  Ganze 
ausgegangen,  wie  gegen  den  Mann,  der  von  ihm  zur  Ausführung  ersehen 
ward,  und  diese  auch  in  einer  so  würdigeu,  dem  Sinne  des  hohen  Für- 
sten entsprechenden  Weise  durchgeführt  hat;  denn  die  Geschichte  der  An- 
lagen zu  Baden,  die  uns  dieses  Werk  vorzuführen  bestimmt  ist,  greift 
tief  in  die  Geschiebte  unseres  Fürstenhauses  ein  und  ist  vielfach  und  innig 
damit  verbunden.    Darum  mag  es  uns  hier  vergönnt  seyn,  aus  dem  rei- 
chen und  anziehenden  Inhalt  des  Gebotenen  Einiges  wenigstens  mitzutei- 
len, um  auch  Andern  einen  Begriff  Dessen  zu  geben,  was  Uber  einen 
XLIV.  Jahrg.  5.  Doppelheft.  46 


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m  :  l  Die  beiden  Schlösser  in  Baden. 

meist  dankein,  bisher  wenig  erörterten,  und  doch  wesentlichen  Theil  un- 
serer vaterländischen  Geschichte  ein  sorgfaltiges  Stadium  der  schriftlichen, 
bisher  kaum  benutzten  oder  gekannten  Quellen  im  Bunde  mit  einer  gründ- 
lichen Kunde  der  alten  Baukunst  zu  Tage  gefördert  hat.  Diess  zeigt  .«ich 
gleich  bei  dem  ersten  Abschnitte,  welcher  das  sogenannte  alte  Schloss 
—  wer  von  den  Tausenden,  die  alljährlich  die  herrliche  Stätte  besuchen, 
kennt  es  nicht  unter  diesem  Namen  —  oder,  wie  es  wohl  bezeichnender 
genannt  werden  dürfte,  die  Burg  Hohenbaden,  zu  seinem  Gegenstände 
bat.  lieber  die  historischen  Verhältnisse  dieser  Burg  schwebte  bisher  ein 
Dunkel,  das  darum  auch  alle  die,  auf  die  Gründung  und  erste  Anlage  wie 
auf  den  weitern  Ausbau,  die  Einrichtung,  Verwendung  u.  drgL  bezügli- 
chen Fragen  nicht  minder  betroffen  hat.  Es  ist  dem  Verfasser  gelungen, 
dieses  Dunkel  im  Wesentlichen  zu  lüften ,  obne  dabei  zu  Vermuthungen 
seine  Zuflucht  zu  nehmen,  die  zu  ihror  Annahme  erst  noch  weiterer  Prü- 
fung bedürfen.  Bestimmte  Nachrichten  Uber  die  erste  Anlage  der  Burg 
sind  nicht  vorbanden:  aus  zwei  voo  Baden  dalirten  Urkunden  der  Mark- 
grafen aus  den  Jahren  1260  und  1265  wird  man  auf  ein  Vorhandensein 
derselben  allerdings  einen  Schluss  machen  dürfen.  Diesen  Hangel  schrift- 
licher Quellen  ersetzen  die  noch  vorhandenen  Trümmer  der  Burg,  die 
auch  in  ihrem  gegenwärtigen  Zustande  dem,  der  mit  der  Geschichte  mit- 
te Li  Ii  etlicher  Baukunst,  zumal  der  fortificatorisebon,  in  ihren  verschiedenen 
Stadien,  naber  bekannt  ist,  Manches  bieten,  was  über  die  Zeit  der  Anlage 
und  der  Ausführung,  wie  der  Bestimmung  der  einzelnen,  zu  verschiede- 
ner Zeit  ausgeführten  Theile  Aufschlug  zu  bieten  vermag.  Auf  diesem 
Wege  ist  der  Verfasser,  der,  wie  Wenige,  mit  diesem  Zweige  aiterthüm- 
lieber  Forschung  innig  vertraut  ist,  bald  zn  der  Ansicht  gelangt,  dass 
die  höchsten  und  offenbar  ältesten  Punkte  der  ganzen  Anlage,  der  auf 
der  obersten  der  beiden  Felseustaffeln  befindliche  viereckige  Thurm  (Berch- 
fried)  sammt  dessen  kleinen  östlichen  Vorhof,  der  untere  Theil  der  öst- 
lichen Terassenmouer ,  so  wie  der  auf  der  zweiten ,  unteren  Staffel  an- 
gelegte, zum  Wobneu  eingerichtete  Bau,  das  Belvedere  genannt,  römi- 
schen Ursprungs  sind,  und  uns  auf  das  Ende  des  dritten  Jahrhun- 
derts, also  in  dio  spätere  Zeit  der  Bümerherrschaft  zurückweisen.  Auf 
diesen,  bei  dem  Zurückweichen  der  Börner  wahrscheinlich  zerstörte«  Bau 
ward  dann  am  Ende  des  eilften,  oder,  was  noch  wahrscheinlicher  er- 
scheinen dürfte,  zu  Anfang  des  zwölften  Jahrhunderts  —  etwn  am 
1102,  anter  Markgraf  Hermann  II  —  der  neue  Bau  begründet,  so  dass 
wir  die  .erste,  noch  beschränktere  Anlage  des  Schlosses  Hohenbaden  wohl 
in  diese  Zeiten  verlegen  können.    Wenn  demnach  diesem  Theile  der  An- 


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Die  beiden  Schlösser  zu  Baden.  723 

läge,  so  weit  er  noch  vorhanden  ist,  die  Benennung:  des  Hernisn  Aschen 
Baues  mit  Recht  zufallen  mag,  so  wird  die  nächste  Erweiterung  durch 
die  Anlage  des  sogenannten  Rittersaales  wohl  mit  Recht  als  Bernhar- 
dini scher  Bau  bezeichnet  werden  können,  indem  das  daran  befindliche 
Wappenschild  uns  auf  Markgraf  Bernhard  I,  ulso  auf  das  Ende  des  vier* 
zehnten  Jahrhunderts,  zurückfuhrt.  Eben  so  weist  das  auf  dem  an  der 
Südseite  des  Hofes  errichteten  Bau  Uber  der  Pforte  befindliche  Wappen 
auf  die  Zeiten  Jacob's  I,  und  zwar  nach  dem  Anfall  der  sponheimseben 
Erbschaft  im  Jahr  1437.  Dieser  Markgraf  war  es,  der  eine  kleinere  Barg 
mehr  in  der  Nähe  der  Stadt  zu  einem  bequemeren  Wohnsitze  sich  an- 
legte; durch  Markgraf  Christoph  ward  dieselbe  erweitert,  und  seit  1479 
znm  fürstlichen  Sitze  bestimmt,  während  Hohenraden ,  als  Wittwensit* 
für  die  Fürstinnen  des  Hauses,  fortwährend,  ungeachtet  des  prachtvoll  im- 
mer weiter  ausgebauten  neuen  Schlosses,  in  bewohnbarem  Zustande  blieb, 
bis  es  am  IB.  August  des  Jahres  1689  durch  die  Franzosen  zerstört 
ward.  Wir  beschränken  uns  auf  diese  weuigen  vom  Verfasser  auf  dem 
bemerkten  Wege  ermittelten  Angaben,  und  müssen  es  insern  Lesern  über- 
lassen, die  übrigen  Theile  der  gründlichen  Erörterung,  die  uns  die  suc- 
cessive  Entstehung  des  Ganzen  nach  seinen  einzelnen  Tbeilen  bis  zn  der 
Vollendung-  vorführt,  in  der  es  noch  in  einer  als  Vignette  hinter  dem 
fünften  Abschnitt  S.  158  eingedruckten  Abbildung  aus  dem  Jahre  1546 
erscheint,  in  dem  Werke  selbst  nachzulesen,  dessen  zweiter  Abschnitt  mit 
der  Anlege  des  neuen  Schlosses  sich  beschäftigt.  Auch  hier  ist  es  dem 
Verfasser  gelungen,  neue,  vorher  kaum  geahnete  Aufschlüsse  zu  gewin- 
nen. Denn  er  bat  nachgewiesen,  dass  der  lang  hingestreckte  Hügel,  auf 
welchem  jetzt  dieses  Srhloss  stehet,  ebenfolls  von  den  Kömern  schon  ge- 
kannt und  benetzt  worden  ist;  römisches  Mauerwerk  bildet  die  Grundlage, 
und  zeigt  sich  noch  jetzt  an  der  Südseite,  unmittelbar  über  dem  Punkte, 
wo  die  warmen  Quellen  hervorsprudeln  und  auch  noch  in  neuester  Zeit 
römische  Bäder  entdeckt  worden  sind.  So  mag  wohl  der  Hügel,  durch 
Terassirung  zn  einer  ebenen  Fluche  gebildet,  und  durch  starke  Mauern  ge- 
schützt, in  seiner  ursprünglichen  Anlage  und  Bestimmung  das  Castrum 
der  Ci  vi  ins  Aquensis  gebildet  haben,  das  bei  dein  Andränge  der 
deutschen  Stämme  und  dem  darauf  erfolgten  Zurückweichen  der  Römer 
der  Zerstörung  unterlag,  alsbald  aber  wieder  in  einen  wehrhaften  Bau 
umgeschaflen  ward,  da  im  Jahr  1330  von  einer  durch  den  Bischof  zu 
Strassburg  erfolglos  unternommenen  Belagerung  der  Stadt  Baden  in  Kö- 
nigshofen^ elsassischer  Chronik  die  Rede  ist.  Mit  Recht  bemerkt  der 
Verf.,  dass,  wenn  dieses  die  ganze  Stadt  beherrschende  Plateau  unbefe- 

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Die  beiden  Schlösser  tu  Baden. 


stigt  gewesen  wäre,  dann  auch  der  Angriff  nicbl  erfolglos  hätte  bleiben 
können.  Auch  liegt  es  wohl  in  der  Natur  der  Sache,  dass  an  einem, 
auch  nach  dem  Abzug  der  Römer  fortwährend,  selbst  von  den  deutschen 
Kaisern  besuchten  Orte  die  Trümmer  eines  römischen  Castclls  nicht  un- 
benutzt geblieben,  sondern  zur  Anlage  neuer  Wohustätten  u.  s.  w.  be- 
nutzt worden  sind.  Um  so  weniger  wird  es  dann  befremden,  wenn  der 
Markgraf  Jakob  sich  bestimmt  fühlte,  hier,  in  der  Nähe  der  Stadt,  an 
einem  allerdings  bequemeren  und  wohnlicheren  Punkte  ein  ScWosa  sich 
anzulegen.  Allerdings  gilt  er  gewöhnlich  für  den  Erbauer  des  Schlosses, 
das  in  seinem  Testament  von  1453  zum  erstenmal  in  der  Geschichte  auf- 
taucht. Er  mag,  wie  der  Verf.  S.  32  ganz  richtig  angibt,  die  vielleicht 
sehr  unwobnlicbe  Befestigungsanlage  (vielleicht  nur  einen  Thurm)  zu  einer, 
wenn  auch  kleinen,  doch  bewohnbaren  Burg  umgeschaffen  und  mit  Un- 
terkunfUraumen  verseben  haben.  Auch  weist  der  Verf.  noch  weiter  aus 
der  Beschaffenheit  der  ersten  Anlage  selbst  nach  ,  dass  diese  erste  An- 
lage, die  Keller  und  die  darüber  befindlichen  Wobngebäude  am  Schlüsse 
des  14.  und  in  der  ersten  Hälfte  des  15.  Jahrbunderls  erbaut  worden 
sind.  Hit  aller  Genauigkeit  werden  die  noch  vorhandenen  und  nachweis- 
baren Bestandtheile  der  Burg  des  Markgrafen  Jakob,  die  wahrscheinlich 
schon  seit  1447  von  dem  Markgrafen  Karl  1,  dem  Sohne  Jakob 's ,  be- 
wohnt ward,  durebgangen.  Die  nächste  Erweiterung  der  Anlage  fällt 
unter  den  Nachfolger  dieses  nach  der  Mitte  des  15.  Jahrhunderts  (1475) 
gestorbenen  Fürsten,  den  Markgraf  Christoph,  welcher  1479  hier 
seinen  Wohnsitz  aufschlug.  Mit  gleicher  Genauigkeit  werden  diese  Er- 
weiterungen im  Einzeluen  angegeben  und  Zweck  und  Bestimmung  der- 
selben nachgewiesen;  wir  bemerken  darunter  insbesondere  den  runden 
Thurm,  welcher  auf  der  südöstlichen  Ecke  des  Wohnhauses  angebauet 
ward,  dann  die  noch  aufrecht  stehende  Hingmauer  sammt  den  dazu  ge- 
hörigen Anschlüssen,  das  Gebäude  für  die  Hofdienerschart,  die  Vorburg, 
in  welcher  die  Wohnungen  des  Amtskellers  (die  jetzige  Domänenverwal- 
tung) u.  s.  w.  sich  befanden.  Mit  gutem  Grund  wird  bemerkt,  wie  mit 
diesem  Markgrafen  Christoph  es  eigentlich  erst  beginnt  in  der  Localge- 
sebichte  der  Stadt  und  des  Schlosses  heller  zu  werden;  Markgraf  Chri- 
stoph und  Grossberzog  Karl  Friedrich  erscheinen  als  diejenigen  früheren 
Regenten  unseres  fürstlichen  Hauses,  welche  am  meisten  in  der  dankbaren 
Erinnerung  des  Volkes  leben.  Was  der  erstere,  dessen  wohlgelungenes 
Bild  den  Titel  dieses  Werkes  schmückt,  für  die  Stadt  Baden  getban,  wird 
näher  ausgeführt;  zwei  recht  merkwürdige,  von  ihm  im  Jahr  1488  er- 
lassene, bisher  nicht  bekannte  Verordnungen  über  die  Freibäder  zu  Ba- 


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Die  beiden  Schlösser  zu  Baden 


den  werden  in  der  ersten  Beilage  vollständig  und  wortgetreu  mitgeteilt. 
Aach  der  Markgraf  Philipp  I  liess  sich  es  angelegen  seyn,  Einzelnes  wei- 
ter auszuführen  und  auszuschmücken ;  Alles,  was  von  ihm  herrührt,  zeugt, 
wie  der  Verf.  ausdrücklich  bemerkt,  von  sehr  ausgebildetem  Geschmack 
und  vorgeschrittener  Technick.    Wir  bemerken  darunter  auch  die  Anlage 
eines  für  das  Archiv  bestimmten  Thurmes.     Aber  unter  seinem  Sohne 
Philipp  n  (1569  —  1 588)  ward  dos  Schloss  von  Grund  aus  umgebaut 
und  aus  der  einfachen  Wohnung  der  Markgrafen,  was  sie  doch  seit  Ja- 
kob gewesen  war,  in  einen  Palltst-  und  Prachtbau,  nach  den  damals  ver- 
breiteten, aus  Italien  nach  Deutschland  gebrachten  Ansichten,  umgeschaf- 
fen.  Graf  Otto  von  Schwarzenberg  leitete  den  Bau,  dessen  Ausführung 
durch  einen  Werkmeister  und  Steinmetzen  Caspar  Weinhardt  erfolgte, 
der  schon  vorher  ähnliche  Bauten  zu  Regensburg  und  München  geleitet 
bitte.    Seine  Aufgabe  war  es  allerdings,  das  einfache  Wohnbaus  des 
forstlichen  Hauses  durch  einen  den  Anforderungen  jener  Zeit  entsprechen- 
den Pallast  zu  ersetzen,  dabei  jedoch  die  bestehenden  Banlichkeiten  zu 
benatzen  und  in  zweckmassiger  Weise  für  den  neuen  Prachtbau  zu  ver- 
wenden, dann  aber  auch  das  Ganze  so  einzurichten,  dass  es,  im  Falle  un- 
erwarteter Angriffe  oder  Befebdung  oder  Aufstande,  für  Eigenthum  wie 
Person  den  nöthigen  Schutz  und  die  gehörige  Sicherheit  gewähre,  ohne 
darum  ausdrücklich  als  Feste  zu  gelten.    In  diesem  Sinne  ward  der  neue 
Bio  ausgeführt,  von  welchem  der  dritte  Abschnitt:  der  Schloss  pal- 
last,  eine  äusserst  genaue,  auch  in  die  architektonischen  einzelnheiten 
eingebende,  die  Abweichungen  von  der  älteren  Bauweise  näher  bezeichnende 
Beschreibung  liefert,  die  insbesondere  auch  über  den  Prachtsaal  und  des- 
sen allegorische  Bilder  sich  erstreckt,  und  damit  die  vollständigste  De- 
Isilschildernog  des  Ganzen  liefert,  das  uns  die  diesem  Abschnitt  vorange- 
druckte Vignette  in  einem  getreuen  Abbild  vor  die  Augen  führt.    Mit  dem 
nächsten  Abschnitt,  dem  vierten,  wendet  sich  die  Darstellung  den  un- 
terirdischen Räumen  zu,  die  noch  heute  vielfach  besucht,  durch 
die  eigentlich  auch  erst  in  neuerer  Zeit  Uber  ihre  Bestimmung  verbreiteten 
Gerüchte  ein  gewisses  Aufsehen  erregt  und  dadurch  eine  Bedeutung  ge- 
wonnen haben,  die  eine  nähere  Prüfung  und  Untersuchung  der  Sache  al- 
lerdings wünschen  liess,  um  dadurch  zu  einem  bestimmten  Ergebniss  zd 
gelangen.    Desshalb  unternimmt  der  Verf.  zuerst  eine  ganz  genaue  Be- 
schreibung dieser  Souterrains,  die  selbst  durch  einige  eingefügte  Holz- 
schnitte verdeutlicht  ist,  und  zeigt  uns  dann  in  einer  so  klaren  und  über- 
zeugenden Weise ,  dass  hier  an  nichts  weiter  zu  denken  ist.  als  an  eine 
Lokalität,  die  nur  als  Versteck  dieuen  sollte,  um  in  Zeiten  der  Gefahr 


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Die  beiden  Schlüter  zu  Baden. 


werthe  Gegenstande  (nicht  einmal  Personen)  in  sichern  Verwahr  zu  brin- 
gen und  vor  der  Plünderung  oder  Zerstörung  zu  icbülieo.  Bei  der  Zer- 
störung des  Schlosses  durch  die  Franzosen  (1689)  wurden  diese  Trüm- 
mer wahrscheinlich  verschüttet;  sie  scheinen  damals  nicht  für  den  Zweck, 
der  ihre  Anlage  hervorgerufen  ,  benutz,! ,  ja  vielleicht  kaum  gekannt  ge- 
wesen zu  seyn;  erst  später  bei  der  Aufroumung  des  Schuttes,  in  Folge 
der  Wiederberstellung  des  Schlosses,  entdeckte  man  diese  Raumo,  denen 
die  Phantasie  jener  Zeit  bald  diese,  bald  iene  mehr  oder  minder  schauer- 
voUe  Bestimmung  verlieh,  um  in  ihnen  bald  Folterkammern,  bald  Vehm- 
gerichte,  bald  Gefängnisse  oder  auch  geheime,  unterirdische  Zufluchtsstät- 
ten u.  drgl.  zu  erkennen.  Von  Allem  dem  kann  aber  auch  nicht  ent- 
fernt jetzt  mehr  die  Rede  seyn ,  und  ist  es  gewiss  als  ein  wahres  Ver- 
dienst des  Verf.  anzusehen,  dass  er  durch  seine  gründliche  Erörterung 
dieses  Gegenstandes,  die  auf  der  sorgfältigsten  Untersuchung  des  Ganzen, 
wie  des  Einzelnen  beruht,  alle  diese  Sagen  für  immer  abgewiesen  bat. 
Wenn  die  neuere  Zeit,  die  zu  wenig  vielleicht  bei  ibreu  grossen  Pracht- 
bauten auf  die  Anlage  derartiger  Riiumo  Rucksiebt  genommen  hat,  eine 
solche  natürliche  Bestimmung  mehrfach  und  laogere  Zeit  verkannt  hat,  so 
wird  diess  jetzt  nicht  mehr  der  Fall  seyn  können,  nachdem  schon  aus 
architektonischen  Gründen  diese  wahre  Bestimmung  nachgewiesen  ist  und 
sogar  die  allerneueste  Zeit  uns  gezeigt  hat ,  wie  nützlich  und  erspriess- 
lich  derartige  Räume,  welche  die  Vorsicht  unserer  Vorfahren  nie  ausser 
Acht  gelassen  hat,  selbst  in  Zeiten,  wie  die  unsrigen,  noch  immer  seyn 
können  und  zwar  bei  gröfseren  wie  selbst  bei  kleineren  Bauten. 

Auch  dieses  herrliche  Scbloss,  dessen  innere  Einrichtung  uns  bis  ia 
alles  Detail  der  Bericht  eines  Augenzeugen,  des  Pater  Gamaas  aus  dem 
Jahre  1667  schildert,  den  wir  in  der  zweiten  Beilage  S.  166  aus  der 
im  Carlsruher  Archiv  befindlichen  Handschrift  abgedruckt  Gnden ,  unterlag 
im  Jahre  1689  der  Zerstörungswut  der  Franzoseo,  die  Baden,  die  Stadt 
und  ihre  Umgehungen,  auf  gleiche  Weise  betraf,  wie  die  übrigen  nshen 
Orte  der  Markgrafschaft ;  auch  darüber  wird  uns  in  der  fünften  Beilage 
S.  186  ff.  der  Bericht  des  damals  in  Baden  weilenden,  und  den  Tag  vor 
der  Katastrophe,  bei  der  für  seine  Person  eingetretenen  Gefahr,  flüchti- 
gen Pater  Hippolyt  mitgetheilt.  Wir  sehen  daraus,  dass  die  französischen 
Mordbrenner  hier  nicht  anders  verfuhren,  wie  in  der  Pfalz  um  jene  Zeit, 
und  dass  die  Bauden  des  aller  christlichsten  Körrigs  unter  Anführung  des 
Monsieur  de  Duras  in  Baden  und  seinen  Umgebungen  eben  so  heuern, 
wie  die  Schasren  des  Meine  zu  Heidelberg  und  dessen  näheren  und  fer- 
neren Umgebungen.  , 


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Die  beiden  Schlüter  zu  Badeu. 


727 


Es  war  gewiss  am  besten,  diese  Trauerscene  uns  in  dem  Berichte 
eines  Zeitgenossen  und  Augenzeugen  iniUulheilen ,  um  auf  diese  Weise 
die  Lücke  auszufüllen,  die  dann  den  Weg  zu  dem  fünften  Abschnitt 
bahnt,  welcher  die  Wiederherstellung  des  Schlusses  befassf.    Ein  lieber- 
blick  der  Hauptereignisse,  welche  das  Schtoss  betroffen  hüben,  in  chro- 
nologischer Folge,  leitet  diescu  Abschnitt  ein  und  lässt  uus  die  ganze 
Geschichte  desselben  mit  Bequemlichkeit  überschauen;  mit  denv  Jahre  1607. 
beginnt  die  Wiederherstellung  unter  dem  Markgrafen  Ludwig,  Wilhelm  und 
dessen  Gemahlin  Sybilla  Augusts,  einer  geborenen  Herzogin  von  Sachsen- 
Lauenburg;  im  Jahre  1714  am  9.  Oktober  schlicsseu  Prinz  Eugen  und 
der  französische  Marschall  Villars  hier  den  Frieden  zwischen  dem  deutschen 
Reiche  und  Frankreich;  im  Jahre  1796  musste  das  Schloss  sogar  als  Spi- 
tal dienen  und  später  stand  es  völlig  leer,    üeu  ersten  Aulsss  zu  einer 
neuen  Benutzung  des  Schlosses,  das  wohl  die  Aussicht  hatte,  mit  der 
Zeit  eine  Huine  zu  werden,  gab  eine  Badekur  der  verwittweten  Königin 
von  Preussen  im  Jahre  1804;  der  Grossherzog  Karl  Friedrich  bot  der- 
selben das  Schloss  zur  Wohnung  an  und  liess  zu  diesem  Zwecke  eineo 
Theü  desselben  wieder  herrichten ;  im  folgenden  Jahre  zog  Karl  Friedrich 
selbst  wieder  in  die  verlassenen  Kiiume  seiner  Vorfahren  ein;  hier  weilto 
er  auch  iu  den  Tagen  des  Sommers  der  nächsten  Jahre :  ein  Umstand,  der 
nicht  wenig  dazu  beitrug,  dem  nun  wieder  aufblühenden  Kurort  die  wahr- 
haft Europäische  Bedeutung  zu  geben,  die  er  jetzt  in  jeder  Beziehung 
gewonnen  hat.    Penn  auch  noch  dem  Tode  Karl  Friedrichs  war  das 
Schloss  der  regelmassige  Sommeraufeuthalt  unseres  fürstlichen  Hauses  ge- 
worden, seit  dem  Tode  des  Grossherzogs  Karl  im  Jahre  1S18  aber 
wurde  es    die  Sommerresidenz   der   verwittweten    Grus&herzogin  Ste- 
phanie, die  es  im  Jahre  1812  an  den  Grossherzog  Leopold  überliesi. 
Mit  ihm  beginnt  eine  neue  Epoche,  die  der  Wiederherstellung  des  Gan- 
zen in  einer  eben  so  geschmackvollen  und  sinnigen,  als  der  Würde  des 
erlauchten  Fürstenhauses  angemessenen  Weise.   Sie  begann  unter  der  Lei- 
tung des  Baurath  Fischer  schon  im  Jahre  1813  und  ward  ibl7  vollen- 
det, konnte  sich  aber,  der  Natur  der  Verhältnisse  nach,  nicht  sowohl  auf 
die  Aussenseite  des  Baues,  als  vielmehr  auf  das  Innere,  auf  die  inne- 
ren Räume  des  Schlosses  und  deren  Einrichtung  erstrecken. 

Was  aber  in  dieser  Beziehung  geleistet  worden,  wi e  die  Aufgabe, 
Bequemlichkeit  und  Wohnlichkeit  mit  der  Würde  und  dem  Ansehen  lürst- 
licber  Repräsentation  in  eben  so  sinniger  als  geschmackvolle*  Weise  zu 
vereinigen,  gelöst  worden  ist,  davon  wird  sich  Jeder  bald  überzeugen» 
der  diese  herrlichen  Räume,  von  denen  uus  hier  eine  so  genaue  Be- 


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Die  beiden  Schlösser  zu  Baden. 


Schreibung  vorgelegt  wird,  durchwandert  bat.  Sie  verweilt  nicht  blon 
bei  den  Einzelnheiten  der  Einrichtung  selbst  und  der  genauen  Angabe 
aller  architektonischen  und  ornamentalen  Verhältnisse,  welche  das  beson- 
dere Interesse  des  Künstlers  ansprechen,  sondern  sie  entwickelt  eben  so 
sebr  auch  alle  die  historischen  Beziehungen,  zu  welchen  der  vielfach  in 
Innern,  jedoch  ohne  alle  Ueberladung  angebrachte  Schmuck,  die  sinnreich 
gewählten  Verzierungen,  die  herrlichen  Glasmalereien  alter  und  neuer 
Zeit  (die  letzteren  aus  der  Werkstätte  des  Dr.  Stanz  in  Bern),  dann 
insbesondere  die  bildlichen  Darstellungen  der  Regenten  des  badischen 
Hanses,  welche,  meist  in  Lebensgrösse ,  nnd  zum  Tbeil  sogar  aus  älte- 
rer Zeit,  passend  vertheilt,  diese  Räume  schmücken  und  uns  in  ihrer 
Reihenfolge  die  ganze  Geschichte  des  Regeutenhauses  gewissermassen  dar- 
stellen, endlich  selbst  die  eben  so  sinnig  und  geschmackvoll  angebrachten 
Wappenscbilde,  einen  reichen  Stoff  bieten;  wir  treten  an  der  Hand  eines 
solchen  Führers  in  die  schön  verzierte  Vorballe  ein,  in  welcher  gleich 
bei  dem  Eingange  die  Hauptabschnitte  des  Scblossbaues  uns  durch  drei 
Rundfelder  angezeigt  werden,  welche  die  Wappen  der  Fürsten,  von  wel- 
chen der  Bau  ausgegangen,  mit  lateinischer  Umschrift  enthalten ;  die  neue 
gänzliche  Wiederherstellung  und  prachtvolle  Einrichtung  wird  einfach  durch 
das  Wappen  des  Grossberzogs  Leopold  mit  der  Umschrift  Reuovavit  Leo- 
poldus  magnus  dux  anno  1847  angedeutet!  und  aus  dieser  Vorballe  wan- 
dern wir  dann  in  die  innern  Gemächer,  die  Gastzimmer,  den  grossen 
Speisesaal,  die  geschmackvoll  angelegten  Wohnzimmer  u.  s.  w.,  die  uns 
eben  so  sebr  Zengniss  ablegen  von  dem  hohen  Sinn  und  Geschmack,  der 
die  ganze  Anlage  leitete,  wie  von  der  Kunst,  die  Alles  in  einer  dieses 
hohen  Sinnes  würdigen  Weise  auszuführen  und  darzustellen  gewnsst  bat 
Auch  dem  Verfasser  dieses  Werkes,  der  uns  diess  Alles,  was  wir  kaum 
ahnen  konnten,  in  einer  so  anziehenden  und  lehrreichen  Weise  schildert, 
gebührt  auch  von  dieser  Seite  alle  die  Anerkennung,  die  ein  an  grünl- 
licher,  historischer  Erörterung,  wie  »n  neuen  Ergebnissen  so  reicher  Bei- 
trag der  vaterländischen  Geschichte  ohnehin,  wie  schon  oben  bemerkt 
worden,  anzusprechen  ein  Recht  hat.  Die  sechs  dem  Werke  beigefügten 
Beilagen,  welche  den  sechsten  Abschnitt  bilden,  sind  zum  Theil  schon  in 
unserem  Berichte  erwähnt  worden;  wir  haben  hier  nur  noch  der  dritten 
zu  gedenken,  welche  die  Correspondenz  des  oben  schon  genannten  Stein- 
metzen und  Werkmeisters  Weinbardt,  welcher  den  Bau  des  neuen  Schlos- 
ses ausführte,  mit  dem  Stadtratbe  zu  Strassburg,  aus  den  dortigen  Pro- 
tokoüen  von  1582  enthält,  so  wie  der  vierten,  welche  einen  Abdruck 
von  Johann  Faulhaber's  (seltenem)  Tractat  über  die  Benutiung  alter  Keller 


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Esquerra  del  Bayo:  Elementos  de  Laborco  de  Minas.  729 

in  Verstecken  bringt  uod  zu  dem  im  vierten  Abschnitt  bebandelten  Ge- 
genstände gehört.  Die  sechste  Beilage  gibt  ein  Verzeichnis»  der  Bilder, 
welche  im  grossen  Bildersaale  des  neuen  Schlosses  aufgestellt  sind.  So 
enthält  die  Schrift  in  der  Thal  Alles,  was  man  von  einer  solchen  Gabe 
der  Erinnerung  erwarten  konnte.  Noch  aber  haben  wir  der  artistischen 
Beigaben,  sowie  der  vorzüglichen  typographischen  Ausführung  zu  geden- 
ken ;  jene  bestehen  nicht  bloss  in  einer  Reihe  von  herrlich  ausgeführten 
Vignetten,  welche  dem  Werke  an  verschiedenen  Orten  eingedruckt  sind 
und  einzelne  Theile  der  beiden  Schlösser,  mit  besonderer  Bezugnahme  auf 
den  Text  und  die  Beschreibung  derselben,  sondern  auch  in  grösseren  Bei- 
gaben:  es  gehört  dahin  vor  Allem  das  meisterhaft  gestochene  Bild  des 
Markgrafen  Christoph  von  Baden  und  Höchberg,  welches  den  Titel  schmückt, 
sowie  die  nach  einer  Zeichnung  des  Jahres  1581  gefertigte  Abbildung  des 
neuen  Schlosses  und  der  Stadt  Baden  in  grösserem  Umfang;  endlich  auch  die 
verschiedenen  Pläne  und  Umrisse  des  alten  und  neuen  Schlosses,  welche 
uns  die  einseinen  Bestandtheile  u.  s.  w.  aufs  genaueste  verfolgen  lassen. 
Eine  eigene  Erklärung  zu  den  beiden  Haupttafeln  III.  u.  IV.  ist  S.  209  ff. 
gegeben.  Freunde  der  Wappenkunde  werden  wir  wohl  aufmerksam  machen 
dürfen  auf  die  merkwürdige  Gestaltung  des  hadischen  Schiides  und  Hel- 
mes, welcher  auf  der  äusseren  Decke  des  Buches  angebracht  ist:  er  ist 
die  getreue  Abbildung  einer  Skulptur  aus  dem  Anfange  des  sechsten  Jahr- 
hunderts, welche  oberhalb  der  aus  dem  Garteo  in  das  Schloss  führenden 
Thüre  eingemauert  ist.  Chr.  BAhr, 


•»  •  ,         •,  •  •»  *  , 

Elementos  de  Laboreo  de  Minas  precedidos  de  algunas  fiociones  sobre 

Geologia  con  aplicacion  al  mejor  Conocimiento  de  los  Terrenos 

que  pueden  ser  Objeio  de  las  Inrestigaciones  mineras.    Por  el  Sr. 

Von  Joaquin  Etquerra  del  Bayo,  Inspecior  general  de 

Minas,  Vocal  de  la  junta  superior  facuüatka  del  Ramo,  Miembro 

de  la  Academia  Real  de  Ciencias  de  Madrid,  genlil  hombre  de 

Cdmara  de  S.  M.  con  ejercicio  cet.  Segunda  Edicion  nolablemente 

a  menlada.    584  pag.  in  8.    Madrid;  imprenta  de  la  Viuda  de 

Don  Antonio   Yenes.    i85i.    (Ein  sechszehn  Tafeln  enthaltender 

Atlas  begleitet  das  Werk.) 

Vor  zwanzig  Jahren  sendete  die  spanische  Regierung  drei  ihrer 
jungen  Bergwerks-Ingenieure,  unter  diesen  den  Verfasser  des  Werks,  das 
wir  besprechen  wollen,  nach  Freiberg,  um  sich  daselbst  in  den  verschie- 
denen Zweigen  ihres  Wissens  weiter  auszubilden.    Von  der  berühmten 


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730  Ezquerra  del  Bayo:   Elementes  de  Laboreo  de  Minas. 

Schule  für  Berg-  und  Hudenleute  begaben  sieb  die  Spanier  nach  Heidel- 
berg; hier  wünschten  sie  mit  Geognosie  und  Geologie  vertrauter  zu  wer- 
den, namentlich  mit  der  plutonischen  Lehre. 

Ezquerra  del  Bayo  bat  eine  schöne  Laufbahn  gemacht,  indem 
er  gegenwärtig  mit  an  der  Spitze  des  Bergwesens  in  Spanien  steht.  Dass 
unser  vormaliger  akademischer  Mitbürger  sich  auch  mit  dem  theoretischen 
Tneile  seiner  Wissenschaft  fortdauernd  beschäftigte,  dass  derselbe  keines- 
wegs nur  ein  „ Bergmann  vom  Leder"  geworden,  davon  zeugen  die  vor- 
liegenden „Grundzüge  «er  Bergbaukunde."  Bzquerra  del  Bayo  blieb 
nicht  unbekannt  mit  der  neuesten  ausländischen  Literatur  seines  Faches, 
namentlich  mit  der  deutschen ;  davon  liefert  dessen  Werk  zahlreiche  Beweise. 

Nach  einer  ollgemeinen  Einleitung,  den  Werth  des  Bergbau-Betriebs 
».  s.  w.  abhandelnd  (S.  7  —  38) ,  wendet  sich  unser  Verf.  zu  geologi- 
schen Betrachtungen  (S.  39—132).  Er  spricht  über  abnorme  und  nor- 
male Fels -Gebilde,  über  Gänge,  Lager  und  Stockwerke  u.  s.  w.  Den 
bekannten  Stockwerken  von  Geyer  und  Altenberg,  im  Erzgebirge  Sachsens, 
wird  die  gleichnamige  Erz-  und  Lagerstätte  von  Bio-tinto  in  der  Provinz 
Huelva,  entgegengestellt.  Ebenso  vergleicht  Bzquerra  del  Bayo  ge- 
wisse Erz-Vorkommnisse  in  England,  im  Norden  von  Europa,  in  Frankreich 
nnd  Asien  mit  jenen  in  Asturien,  in  Caslilla  la  Vieja,  Orbö,  in  der  Sierra 
Morena  o.  s.  w.  Die  Gegenwart  des  Goldes  in  Sibirien,  Brasilien,  Caü- 
foroien  und  Spanien  kommt  zur  Sprache.  (Neben  allen  andern  Schätzen, 
die  man  uns  aus  Süd  -  Australien  verkündete,  soll  neuerdings  auch  Gold 
daselbst  gefuuden  worden  seyn;  wie  es  scheint,  ist  dem  Verf.  so  wenig 
als  uns  gelungen,  etwas  Näheres  zu  ermittein.)  Endlich  ist  die  Bede  von 
den  so  sehr  ergiebigen  Vorkommnissen  kohlensauren  Bleies  zu  Cartagena. 
(Der  Berichterstatter  verdankt  seinem  gelehrten  Freund  ein  prachtvolles 
Exemplar  aus  der  Grube  Helampago :  Nadeiförmige  Krystalle  von  rein  weis- 
sem kohlensauren  Blei,  begleitet  mit  schön  zitronengelbem,  dünnen  Ueber- 
zuge  von  arseniksaurem  Blei.) 

Von  besonderem  Interesse  sind  die  Nachrichten  über  die  Bleiglanz- 
Ablageruug  im  Gebirge  las  Alpujnrras  (S.  i  1 5  IT.).  Blocke  des  reichen 
Erzes  vou  ansehnlicher  Grosse  finden  sieb  in  210  —  300  Fuss  Teufe  im 
Bergkalk  (mountain  limestone)  und  eine  zweite  ähnliche  Thatsache  wurde 
90  —  150  Fuss  weiter  abwärts  nachgewiesen.  Unter  dem  Kalk  erschei- 
nen Schichten  von  altem  rotben  Sandstein  und  von  Schiefer. 

Auf  der  ersten  Tafel  findet  man  die,  für  Bergleute  besonders  wich- 
tigen, Verhältnisse  der  Erz  -  Lagerstätten  bildlich  dargestellt:  Verrücknn- 
geo,  Biegungeu  u.a.  w.  von  Plötzen,  merkwürdige  Gang- Beziehungen  u. s. w. 


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Ezquerra  del  Bayo:   Elementos  de  Laboreo  de  Minas. 


73! 


die  vortrefflich  ausgeführten  Lilhographieen,  auf  dieser,  wie  auf  sü  mm  Hi- 
eben Tafeln,  ohne  Ausnahme,  nach  Zeichnungen  des  Verfassers,  dessen, 
uns  längst  bekanntes,  schönes  Talent  sich  auch  hier  wieder  in  recht  glän- 
zender Weise  bewährte:  eine  Deutlichkeit,  die  nichts  zu  wünschen  lässt, 
bei  möglichst  kleinem  Uassstab. 

Die  Haupt -Abtheilung  des  Werkes,  von  den  verschiedenen  Berg- 
mann!-Arbeiten  handelnd,  zerfallt  in  drei  Abschnitte  (S.  133-546). 
Ohne  in  Einselnheiteu  eingehen  zu  können  und  za  wolle«,  gestatten  wir 
uns  nor  Andeutungen.  •  .  '« 

Arbeit  auf  dem  Gestein  und  dazu  diensames  Geiiihe,  Vorrichtungen 
und  Anstalten:  d.  h.  die  notwendigen  Geralhschoften  wie  Schlägel  und 
Eisen,  Bohren  und  Schiessen,  Feuerselzen. 

'Gruben- Ausbau:  Sicherung  der  Gebäude  gegen  Gebirgs-Druck  durch 
Zimmerung  und  Mauerung.  Ungemein  interessant,  ja  wohl  einzig  in  sei- 
ner Art,  ist  ein  achthundert  Fuss  (ein  spanischer  Fuss  ~  einem  leipziger 
Fuss)  unter  Tag,  mit  Backsteinen  in  den  Gruben  von  Almaden  ausge- 
führter Bogen,  dessen  Sehne  achtundseebzig  Fuss  misst  (S.  251  und  auf 
Tafel  V  des  Atlasses  vorzüglich  schön  dargestellt).  Die  berühmte  Queck- 
silber-Logerstütte  {  S.  306)  besieht  aus  drei  Gängen  von  sechshundert 
Fuss  Langen-Erstreckung.  Jeder  derselben  bat  einundzwanzig  Fuss  mitt- 
lere Massigkeit,  die  Stärke  wächst  bis  zu  neununddreissig  Fuss.  In  einer 
Teufe  von  1050  Fu>*  hat  man  gegenwärtig  den  nichtigsten  jener  Güngo 
mit  dem  Grubenbau  erreicht.  Zwei  der  befragten  Gange,  San  Francisco 
und  San  Nicolas,  treten  einander  hin  und  wieder  sehr  nahe ,  so  dass  sin 
sich  beinahe  berühren,  nur  drei  bis  vier  Fuss  weit  geschieden  durch«  ein 
Zwischenmittel  von  thonigem  Schiefer.  Die  sehr  gebreche  Beschaffenheit 
des  letztere  Gesteines  machte,  «m  ,der  Sicherung  willen,  die  Aufführung 
gemauerter  Bögen  notwendig,  und  namentlich  jene  des  ebeti  erwübntea 
so  sehr  bemerkenswertheu ;  er  umfasst  zwei  Zinuober  -  Gänge.  Das  Ge- 
biet, in  welchem  die  Queck>ilber-Erze  zu  Almadeu  ibren  Sitz  haben,  ge- 
hört zur  oberen  silurischen  Formalion.  Es  besteht  aus  mehreren  Lagen 
kohleoführenden  thonigen  Schiefers,  wechselnd  mit  Schichten  eines  sehr 
harten  uud  dichten  quarzigen  Sandsteines.  Kalk-  und  Grauwacke-Logen, 
reich  an  fossilen  Holen ,  finden  sich  etwas  weiter  gegen  Norden  im 
Hangenden  der  Erz-Lagerstätte. 

Abbaue,  Veranstaltungen  zur  unmittelbaren  Erz-Gewinnung :  Spros- 
sen- und  Förstenbae,  Stockwerksbau,  Pfeilerba*  u.  s.  w. 

Vorkehrenden  zum  Befabreu  von  Gruben  dienend.  Um  altere  Berg- 
leuleu  namentlich  liefe  Strecken  —  in  manchen  Gebirgen  gibt  es  deren 


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732  Jährbücher  des  Vereins  von  Alterthumsfreunden. 

2000  Fuss  und  mehr  unter  Tag  —  noch  zugänglich  zu  machen,  um 
ihnen  übermässige  Kraft- Anstrengung  zu  ersparen,  wurden  bekanntlich  in 
neuester  Zeit  die  Kunstgestänge  —  Vorrichtungen,  um  die  Kraft  von  Um- 
triebs  -  Maschinen  fortzupflanzen  —  zu  „Fahrten"  benutzt.  Vermittelst  der 
„  Fahrkünste  a  kann  man  sich  ohne  besondere  Wagniss  in  die  Tiefe  und 
wieder  hinauf  schaffen.  Am  Kunst-Gestänge  werden  „ Tretbretter"  befe- 
stigt, und  die  Maschine  ersetzt  nun,  wenn  Bergleute  sich  an  einer  Stange 
auf  die  andere  begeben,  die  fortbewegende  Kraft  Ueberaus  schön  und 
deutlich  stellen  Fig.  152-  und  153'  auf  Tafel  X  diese  Vorrichtung  dar. 
Beleuchtung  der  Gruben. 

Förderung  von  „Bergen",  von  tauben  Gesteinen  und  von  Erzen. 
Bergmännische  Orientirung  uud  Markscheider-Arbeiten. 
Die  würdige  Ausstattung  des  Werkes  gereicht  der  Madrider  Presse 
zur  grossen  Ehre.  Leonhard. 


Jahrbücher  des  Vereins  ton  Alterihumsfreunden  im  Rheinland.  XV.  mit 
5  lithog.  Tafeln.    Bonn,  1850.  8. 

• 

Unter  den  Publikationen,  welche  die  historischen  oder  Alterthums- 
vereine Deutschtands  ediren,  zeichnen  sich  die  Jahrbücher  des  Bonner 
Vereins  am  rühmlichsten  aus  ;  denn  während  die  Hefte  anderer  Gesellschaf- 
ten gewöhnlich  nur  Lokalsacheo  enthalten ,  geben  diese  meistens  allgemein 
interessante  Abhandlungen ;  daher  mag  es  vergönnt  sein,  in  diesen  Blättern 
Ober  das  neueste  Heft  einige  Worte  vorzubringen.  Wir  werden  jedoch 
nicht  alle  Aufsätze,  welche  dasselbe  enthält,  hier  besprechen ,  sondern 
nur  diejenigen,  welche  entweder  Allgemeines  enthalten,  oder  für  die 
Rheinische  Geschichte  von  besonderer  Wichtigkeit  sind,  etwas  genauer 
betrachten.  Einen  grossen  Tbeil  der  Tbätigkeit  der  Vereine  am  Rhein  und 
Donau  und  der  zunächst  liegenden  Gegenden  nimmt  die  alte  römische  Ge- 
schichte in  Anspruch,  und  hier  ist  wohl  der  Ort,  öffentlich  einen  Wunsch 
auszusprechen,  den  wohl  Mancher  schon  bei  sich  gehegt,  und  dessen  Reali- 
airung  im  Allgemeinen  und  Speziellen  von  grossem  Gewinn  sein  würde. 
Die  antiquarischen  Vereine  in  den  ehemaligen  römischen  Provinzen  be- 
fassen sich ,  wie  es  sich  von  selbst  versteht ,  nicht  bloss  mit  den  Denk- 
mälern aus  jener  ältesten  Zeit,  sondern  das  Germanische,  das  Mittelalter, 
die  neue  Zeit  nimmt  sie  auch  nicht  wenig  in  Anspruch;  daher  enthalten 
ihre  Hefte  gewöhnlich  bunt  durcheinander  bald  eine  Abhandlung  aber 
römische  Inschriften,  bald  eine  Untersuchung  über  eine  alte  Burg,  oder 
den  Stammbaum  eines  längst  nicht  mehr  existirenden  Geschlechtes  und 


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Jührhitrhpr  Amt  Wrrina  von  AlUrthntiufreundeii  733 

Aeboüches  mehr,  so  dass  das  Aufsueben  dei  Zusammengehörigen  nicht 
nur  erschwert  ist,  sondern  auch  manches  Wichtige  unter  Unbedeutendem 
Dicht  selten  vergessen  wird.    Wenn  die  Vereine  übereinkämen,  Alles, 
was  sich  auf  die  römische  Zeit  bezieht,  zu  einem  gemeinsamen  Werke 
alljährlich  —  und  an  Stoff  hieiu  fehlt  es  gewiss  nicht  —  zu  vereinigen; 
welche  Mühe  würde  dann  den  Forschern  gespart,  wie  leicht  die  üeber- 
sicht  des  neu  gewonnenen  Materials,  wie  schnell  befördert  die  Geschichte 
der  römischen  Provinzen  1    Eine  gleiche  Vereinigung  könnte  wegen  der 
germanischen  Denkmaler,  wegen  des  Mittelalters  u.  s.  w.  stattfinden ,  wie- 
wohl namentlich  beim  letzteren  es  minder  notbwendig  wäre,  weil  es  hier 
des  Lokalen  so  Vieles  gibt,  dass  ein  Znsammenstellen  mit  Anderweitigem 
viel  ferner  liegt    Die  Mitglieder  der  einzelnen  Vereine  müssteu  natür- 
lich von  dem  allgemeinen  Werke  über  die  römische  Zeit  Abdrücke  der 
Aufsitze  erhalten,  welche  ihre  eigene  Gegend  besprechen.    Wir  haben 
früher  gemeint  und  gehofft,  dass  der  Verein  in  Bonn,  der  sich  einen  weiten 
Umkreis  steckte,  eine  solche  ausschliessliche  Richtung  für  die  römischen  Denk- 
mäler wenigstens  im  Rheinlande  annehmen  würde;  allein  manche  Gegenden 
des  Rheines  sind  selten  oder  gar  nicht  vertreten,  und  da  anderwärts  gleiche 
Vereine  bestehen,  so  ist  eine  Verbindung  in  der  oben  genannten  Weise 
no Inwendig,  indem  sonst  die  einzelnen  Vereine  ibre  Hefte  gern  zuerst 
mit  den  neu  entdeckten  Denkmälern  schmücken  wollen.    Seitdem  aber 
der  Bonner  Verein  auch  das  Mittelalterliche  in  seinen  Kreis  mit  aufge- 
nommen hat,  ist  jene  Hoffnung  geschwunden;  wir  würden  wünschen, 
da  er  jährlich  zwei  Hefte  edirt,  dass  er  die  Arbeiten  scheide  und  das  eine 
Heft  nur  der  römischen  Zeit  widme;  und  wenn  dann  die  Vereine  am 
Rhein  und  der  Donau  zu  jener  Verbindung  geneigt  sind,  woran  wir  nicht 
iweifeln,  indem  sie  nur  ihr  eigenes  Interesse  dadurch  fördern  würden, 
so  könnte  leicht  das  Bonner  Heft  als  Organ  für  alle  römischen  Auffin- 
dungen dienen.    Diese  Idee,  welche  eigentlich  nicht  von  mir  herrührt, 
sondern  von  Herrn  Professor  Gerbard  in  Berlin  mir  mitgetheilt  wurde, 
habe  ich  um  so  lieber  in  diesen  Blättern  zuerst  niedergelegt,  da  eigent- 
lich keine  andere  Zeitschrift  am  Rhein  existirt,  welche  allgemeinen  wis- 
senschaftlichen Besprechungen  offen  steht.    Indem  wir  nun  obigen  Vor- 
schlag allen  Vereinen  am  Rhein  und  der  obern  Donau  zur  Beherzigung 
und  weitern  Fortentwicklung  anempfehlen,  und  namentlich  wünschen,  dass 
der  Verein  in  Bonn,  oder  wenn  dieser  verzögert,  der  älteste  Alterthums- 
verein in  Deutschland,  der  in  Wiesbaden,  die  Initiative  zu  einer  derartigen 
Vereinigung  treffe ,  wenden  wir  uns  zu  dem  zu  besprechenden  Jahrbucbe, 
and  bemerken  im  Voraus,  dass  es  zu  unserer  Freude,  wie  es  sich  auch 


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734  Jahrbücher  des  Verein«  von  Alterthumsfrcunden. 


manchmal  in  froheren  Jahrgängen  traf,  römische  Denkmäler  aocb  aus  ent- 
fernteren Rheingegenden  seiner  Betrachtung  unterbreitet .  somit  also  aoeh 
jene  Orte,  wo  andere  Vereine  bestehen,  mit  richtigem  Takt  euch  in  seinen 
Kreis  hereinzieht.  Wir  werden  zunächst  die  Aufsätze  über  die  römische 
Periode  einer  kurzen  Anzeige  unterwerfen.  Die  erste  Abhandlung  „  Deutz, 
eine  Römerfeste,  Castrum  Divitennum"  von  Deycks  in  Münster  ist  ein 
fchöner  Beitrag  zur  Lokalgeschichte  des  Unlerrhcins.  Ehe  der  Verfasser 
an  sein  Thema  kommt,  gibt  er  auf  1t  Seiten  eine  Uebersicht  der  ältesten 
Geschichte  des  Rheinlandes  bis  zu  Constantin,  welcher  eine  Brücke  Ober 
den  Rhein  bei  Cöln  gebant  haben  soll,  wodurch  die  Frage  entsteht,  ob 
Cöln  gegenüber  eine  Römerfestc  bestand.  Wiewohl  wir  bekennen,  dass 
wir  diese  Uebersicht  mit  Vergnügen  und  nicht  ohne  Belehrung  lasen,  so 
sehen  wir  doch  die  Notwendigkeit  eines  so  langen  Einganges  nicht 
ein,  es  ist  eben  leider?  die  Gewohnheit  der  Rheinischen  Geschichtacbrei* 
her,  dass  sie  bei  der  Geschiebte  jeder  Stadt  mit  dem  Ei  der  Leda,  d.  h. 
mit  Cäsar  und  Ariovist  anfangen.  Was  nun  die  Untersuchung  Ober  Deutz 
selbst  betrifft,  so  kann  zwar  aus  den  alten  Schriftstellern  ein  Kastell  da- 
selbst nicht  bewiesen  werden,  wie  diess  Überhaupt  bei  vielen  Orten  nicht 
nur  in  Germanien,  sondern  auch  anderwärts  der  Fall  ist;  allein  einmal 
zeigen  Inschriften,  die  dort  gefunden  wurden,  deutlich,  daas  der  Ort  von 
den  Römern  bewohnt  war,  und  dai.n  geben  Urkunden  aus  dem  Anfange 
des  11.  Jahrhunderts  von  einem  Kastelle  daselbst  Meldung,  dessen  Er- 
bauung damals  dem  Kaiser  Constantin  zugeschrieben  wurde.  Was  nun 
die  vier  Inschriften  betrifft,  die  der  Verfasser  anführt,  und  welche,  so  viel 
wir  wissen,  nicht  mehr  vorhanden  sind,  was  anzumerken  vergessen  wor- 
den —  indem  es  immer  für  den  Altertumsforscher  von  Wichtigst  ist 
zn  erfahren,  ob  ein  zu  besprechende!  Denkmal  noch  irgend  wo  sich  fin- 
det —  so  folgert  der  Verfasser  namentlich  aus  der  ersten  Inschrift 
(Grut.  MCX,  10)  viel  zu  viel;  zwar  zweifelt  er  selbst,  ob  aus  ...NSVS 
ffortensius  könne  gelesen  werden,  in  welchem  Zweifel  wir  ihn  bestürken 

möchten,  allein  wenn  er  EX.  DEC         S.  MOESICAE  mit  ex  decreto  le- 

gionis  Moesicae  erklärt  und  sich  dabei  auf  Tac.  Hist.  II,  85  u.  III  2  be- 
ruft, so  werden  hier  zwar  die  Moesicae  legiones  (III,  VII  Cl.  G.  u.  VIII) 
erwähnt,  allein  eine  legio  Moesica  namentlich  auch  ohne  Zahl,  kann  nicht 
wohl  angenommen  werden,  so  dass  die  Inschrift  in  jene  frühe  Zeit  nicht 
fallen  wird.  Die  folgende  Inschrift  gehört  ins  Jahr  223,  und  um  diese 
Zeit  möchten  wir  so  ziemlich  alle  setzen.  In  der  vierten  Inschrift  ist 
ERIA  TTIVS  IVCVNDI  vielleicht  richtiger  mit  Jucnndi  lllius,  wie  auch 
Steiner  hat,  als  Jucundinius,  wie  der  Verf.  will,  zu  erklären.  Warum 


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Jahrbücher  des  Vereint  von  Alterthu  ras  freunden.  735 

eine  fünfte  Inschrift  (Steiner  900),  welche  bei  Deutz  1776  gefunden 
wurde,  nicht  auch  aufgeführt,  sondern  nur  gelegentlich  S.  20  erwähnt 
ist,  »eben  wir  nicht  ein.  Wenn  ober  der  Verf.  in  dieser  SATVRNNIVS 
mit  SATVRNIMIVS  oder  SATVRNINVS  geben  will,  so  ist  letzteres  Wort 
nicht  anzunehmen,  wenn  auch  Osann  in  der  Altertbumszeitung  1841  S.  991 
es  schon  vorgesehlagen  bat;  ei  wird  nur  das  erstem  SATVRNrNIVS  als 
nom.  geatile  richtig  sein,'  indem  bekanntlich  N  u.  I  gar  oft  so  verbunden 
sind.  dass  I  nur  einem  tufmerksatien  Beobachter  nicht  entgeht;  die  Lesart 
SATVRNNIVS  widerspricht  jeder  Analogie,  SATVRNINVS  passt  als  cog- 
nomen  nicht.  Oass  eine  andere  Inschrift  von  zweifelhaftem  Fundorte 
(Lewob,  C.  Mos.  I,  N.  37  nicht  p.  17  wie  der  Verf.  bat  —  vgl. 
Steiuinger,  Gesch.  der  Trev.  I,  S:  70,  welcher  wie  Aldenbrück 
als  Fundort  annimmt)  nur  berührt  ist,  wollen  wir  nicht  tadeln;  dagegen 
wundern  wir  uns,  dass  dem  fleissigen  Sammler  eine  Inschrift  entgangen  ist, 
die  in  Deutz  gefunden  wurde;  freilich  steht  sie  weder  bei  Httpsch  noch 
bei  Steiner,  wenn  sie  gleich  schon  vor  mehr  als  200  Jahren  aufgefno- 
den  wurde;  sie  ßndet  sich  in  Wiltb,  Luciiiburg.  sig.  181,  und  Mull 

HEGVLA ...  j 

NINVS.  EX.  N 

ION.  TRA.L.A 

r.  SVB  CVRA 

G.  f.  M.  ANON. 

d.  b.  vielleicht:  Regulanius  Saturninus,  ex  notione  Tramm?  ....  sub  cura 
...  magistcr  annonae?  (gewöhnlich  ist  praef.  aunonae.)  Wenn  aber  diese 
Inschriften  das  Dasein  eines  römischen  Ortes  beweisen,  so  ist  doch  der 
Name  desselben  unbekannt,  indem  auf  Inschriften  der  Name  des  Ortes  ge- 
wöhnlich nicht  vorkommt  (vgl.  Zeitschrift  des  Mainzer  Vereins  S.  214), 
erst  in  des  h.  Heribert  Urkunde  vom  J.  1003  kommt  der  Name  eastel- 
lum  Divilensium  vor,  und  eine  Inschrift,  welche  Ruperlus,  Abt  des  Bene- 
diktiner Klosters  in  Deutz  um  1130,  als  um  diese  Zeit  gefunden,  aufge- 
zeichnet hat,  schreibt  die  Erbauung  des  Kastells  dem  Kaiser  Constantiu 
zu.  Wiewohl  nun  der  Verfasser  ausführlich  und  gründlich  zeigt,  dass 
diese  Inschrift  weder  in  der  Fassung,  wie  sie  Rupertus  gibt,  noch  mit 
den  wenigen  Varianten,  die  im  16.  Jahrhundert  Surius  ungewiss  woher 
vornringt,  Seht  römisch  sei,  also  auch  wenigstens  nicht  in  ihrer  Vollstän- 
digkeit jener  Zeit,  der  sie  zugeschrieben  wird,  angehören  kann,  so  zeigt 
sie  doch,  dass  Constantin  der  Gründer  des  Kastells  ist,  und  aus  den  In- 
schriften, die  aus  früherer  Zeit  dort  gefunden  wurden,  folgt  nicht,  wie 
der  Verfasser  S.  28  meint,  dass  dies  Kastell  früher  erbaut  sei,  sondern 


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736  Jahrbücher  des  Vereins  von  Alterthumsfreunden 


nur,  dass  Köln  gegenüber  sich  Römer  niedergelassen  hatten.  Zuletzt  unter- 
sucht noch  der  Verfasser,  woher  der  Name  Diviteosii  kommen  möge.  So 
hebst  nämlich  nicht  nur  ein  Truppencorps,  gewöhnlich  in  Verbindung  mit 
Tuogricani,  sondern  die  leg.  II  Italien  und  ein  Numerus  DELM.  fuhren 
auch  diesen  Beinamen;  nachdem  nun  der  Verfasser  die  bisherigen  Ablei- 
tungen wie  von  dives,  die  noch  neulich  Böcking  festhielt,  von  Divitum  in 
Sicilieo  mit  Recht  zurückgewiesen,  auch  die  von  Di  vi«»  (Oijon)  als  un- 
statthaft erklärt,  ist  er  nicht  abgeneigt,  das  Wort  von  diut,  taut  d.  i. 
Volk,  der  uralten  Benennung  der  Germanen,  herzuleiten.  Wir  haben  nun 
gegen  diese  Herleitung  gerade  Nichte  einzuwenden,  indem  sie  von  den 
bisher  vorgebrachten  als  die  annehmbarste  erscheint ;  wir  möchten  aber  ihr 
nicht  von  „einem  deutschen  Stamme  in  der  Nlbe  der  lungern,  vielleicht 
Nachkommen  der  allen  Ubier«,  wie  der  Verf.  S.  34,  herleiten  noch  auch 
annehmen,  „dass  solche  Hilfstruppen  von  Constantin  oder  Valeotinian  in 
die  Festung  Köln  gegenüber  gelegt"  und  daher  den  Namen  caslellum  Di- 
vitensium  entstanden  sei,  sondern  wir  möchten  vielmehr  annehmen,  dass 
Germanen  und  Deutsche  jenseits  des  Rheines  schon  früher,  als  mao  ge- 
wöhnlich annimmt  —  wiewohl  schon  aus  Auguslus  Zeiten  Beispiele  vor- 
liegen —  von  den  Römern  seien  iu  Dienst  genommen  worden;  ebenso 
mag  das  Kastell  Köln  gegenüber  das  „deutsche"  gebeissen  haben.  Uebri- 
geni  bat  der  Verfasser,  der  dem  Namen  Divitensis  überall  nachgespürt 
bat,  eine  Inschrift  übersehen,  die  ebenfalls  hierher  gehört.  Im  Mainzer 
Uuseum  steht  nämlich  auf  einem  1829  aufgefundenen  Grabsteine  Numerus 
exploratorura  D1VITIESIVM  ANTOMNIANORVM,  welches  Wort  sogar  der 
ursprünglichen  Form  diut  noch  mehr  zu  entsprechen  scheint;  zugleich 

geht  aus  dieser  Inschrift  hervor,  dass  schon  unter  den  Anloninen  solche 

t 

Deutsche  in  römischem  Dienste  slanden,  wie  wir  schon  oben  aonahmen. 
Bereits  hat  Lindenschmit  (das  germ.  Todtenlager  von  Selzen  S.  40)  un- 
ter dem  letzteren  Worte  Deutsche,  wenn  schon  mit  Beziehung  auf  Deutz, 
verstanden.  Die  Entscheidung  aber,  ob  das  Wort  deutsch,  welches  so- 
mit eine  bisher  vermisste  Autorität  hei  den  Römern  erhielte,  bei  diesen 
also  geformt  werden  konnte,  kann  dann  erst  herbeigeführt  werden,  wenn 
die  unzweifelhaft  ächten  deutschen  Namen,  wie  sie  nun  auf  Inschriften 
des  Rheines  uud  der  Donau  vorzüglich  erscheinen ,  zusammeugestellt  und 
mit  einander  verglichen  sind,  was  leider!  bisher  noch  nicht  geschehen 
ist.  Ebenso  wünschen  wir,  dass  alle  Städte  am  Rhein  einen  so  fleissigeo 
Aufspürer  und  Erklärer  ihrer  Ältesten  Denkmäler  finden  mögen,  wie  Deutz 
an  dem  gelehrten  Verfasser. 

(Sckluu  folgQ 


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Nr.  47.  .  HEIDELBERGER  185L 

JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR. 


k 


Jahrbücher  den  Verein«  von  Altertlmnmfreuiideii. 

,     ;    .  .         (Schluss.)  .       •..  . 

Die  übrigen  Aofsätze,  welche  weiter  die  römische  Zeit  betreffen, 
köuuen  wir  Übrigens  nicht  so  ausführlich  betrachten,  wie  den  aber  Deutz, 
wiewohl  wir  recht  gern  es  i  hüten,  auch  es  uns  an  Stoff  dazu  eicht 
fehlt;  allein  wir  würden  die  Grenzen,  die  eine  Recensioo  vorschreibt, 
weil  überschreiten.   Gleich  „die  Zusammenstellung  der  so  Rotteuburg  am 
Neckar  aufgefundenen  römischen  Inschriftenu  von  Domdekan  von  Jau- 
man,  dem  bekannten  Verfasser  der  „Col.  Sumlocenne"  kann  zu  nuneben 
Erörterungen,  Zusltzen  und  Bedenken  Gelegenheit  geben;  allein  wir  wol- 
len bor  einige  Bemerkungen,  von  denen  die  erste  die  Redaktion  trifft, 
uns  erlauben.    Wenn  wir  nicht  irreu,  sollen  die  in  den  15  Jahrbüchern 
fortlaufenden  Zahlen  an  der  Seite  vieler  Inschriften  anzeigen,  dass  sie 
zuerst  hier  edirt  sind.    Nun  führen  diese  Inschriften  aus  Rottenburg  ins- 
gesamt»! solche  Zahlen,  während  doch  bei  weitem  die  meisten  schon  in 
oben  erwähnter  Schrift  des  Verfassers,  viele  anderwärts  vorher  und  spä- 
ter, ja  nicht  weniger  bereits  in  den  früheren  Bonner  Jahrbüchern,  und 
zwar  damals,  wiewohl  zum  erstenmal  tbeilweise  edirt,  ohne  solche  Num- 
mern, bekannt  gemacht  sind.    Hierdurch  steigt  diese  Randnummer  auf 
einmal  von  190  bis  auf  408,  wahrend  wir  überzeugt  sind,  dass  nur  etwa 
100  Inschriften  zum  erstenmal  in  diesen  15  Bänden  edirt  sind.  Was  nun 
die  Zusammenstellung  der  Rotten  burger  Inschriften  betriflt,  so  zeugt  diese 
von  vielem  Fleisse  und  nicht  gewöhnlicher  Genauigkeit.    Schon  die  Ria* 
tbeilong  ist  ein  Beweis  davon;  die  Inschriften  sind  nämlich  geordnet  in 
Bezug  auf  den  Namen  der  Stadt,  die  Dauer  derselben,  die  Religion,  das 
Kriegswesen,  die  bürgerliche  Verwaltung,  die  Gewerbe  und  Einwohner 
überhaupt ,  endlich  Töpferstempel;  ausserdem  ist  hierbei  durch  Unterau- 
theiluogen  angegeben,  ob  auf  Steinmonumente,  Ziegeln  oder  Geschirren, 
bei  letztern  ob  mit  Griffeln  oder  Stempeln  die  Inschrift  aufgetragen  ist 
Während  wir  nun  wünschen,  dass  solche  genaue  Einteilung  auch  ander- 
wärts nachgeahmt  werde,  hallen  wir  sie  doch  bei  Rottenburg  fast  für  z« 
kleiolicb,  denn  von  den  250  Inschriften,  wovon  obeu  gegen  20  doppelt 
aufgeführt  und  gezählt  werden,  sind  %.  B.  nur  21  Steinmonumente,  wovon 
wiederum  einige  doppelt  gerechnet  sind,  und  ein  andermal  6  Stücke,  die 
XLIV.  Jahrg.  5.  Doppelheft.  47 


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*2*  !  Jahrbüch tr  des  Vereins  von  AI  terlh  ums  freunden.         '  . 

ab  fnsltnm  angehörend  angesehen  werden  —  wiewohl  am  den  dürftigen 

Zeichen  Wiehls  mit  Gewissheit  erhellt  —  eis  eben  so  riele  Monumente 
genommen  werden,  so  dass  von  diesen  21  Steinmonumenten  Uberhauot 
von  allen  250  Nummern  nur  7  (sieben)  Inschriften  sind,  wovon  drei  voll- 
standig  erhalten;  alle  Übrigen  sind  dürftige  Fragmente  auf  Steinen,  ein- 
geritzte Worte  oder  Stempel  von  Tüpfernamen  und  Aehnlicbes.  Wir  sa- 
gen nun  diess  nicht  aus  Geringschätzung  solcher  Ueberreste,  denn  wir 
wissen  nur  i  u  gut,  wie  wichtig  oft  ein  kleines  Fragment  sein  kann •,  allein 
wir  glaubten  diess  hervorheben  zu  müssen,  damit  Niemand  aus  dieser  gros- 
sen Zahl  Rottenburger  Inschriften  einen  bedeutenden  Gewinn  erwarte; 
namentlich  haben  sie  sehr  wenig  allgemeines  Interesse,  wenigstens  sind 
sie  nur  von  ganz  lokaler  Bedeutung.    Hierbei  aber  können  wir  euea 
Verdacht  nicht  unterdrücken.    Bs  kommen  nämlich  unter  diesen  Inschrif- 
ten gar  viele  vor,  welche  auf  Töpfen  eingeritzt  sind.    Nun  weiss  man, 
dass  am  ganzen  Rheine  and  überall  wo  Römer  wohnten,  dergleichen  ein- 
geritzte Inschriften  eine  grosse  Seltenheit  sind,  und  wo  sie  einmal  sich 
finden,  ist  es  gewöhnlich  Cursivsckrifl  und  sie  enthalten  unbedeutende 
Hamen  oder  Legionszeichen.    Dagegen  hier  in  Samlocenne  findet  man 
in  grosser  Anzahl  die  Namen  der  Präfekten  der  Kolonie,  des  Präses  der 
Stadt  mit  Jahreszahl  und  Nennung  der  Konsuln,  die  Anführer  der  Legio- 
nen n.  s.  w.  auf  Geschirren  vor  und  nach  dem  Brande  eingeritzt,  Dinge, 
die  sonst  suf  Töpfen  höchst  selten  erscheinen;  und  wahrend  man  Jahr- 
hunderte  in  Ungewissneit  wer,  wo  Mimiocenne  zu  sucnen  sei,  werden  jetzt, 
seit  Leichtier  und  Jaumann  unwiderleglich  Rottenburg  dafür  erklärten, 
Seherhen  in  grosser  Anzahl  zum  Theii  mit  dem  ganz  ausgeschriebenen 
Namen  der  Stadt  gezeigt,  da  doch  von  allen  andern  Orten  in  Germanica 
noch  kein  Name  sich  auf  einer  Scherbe  gefunden  hat,  Überhaupt  es  gar 
nicht  Sitte  War,  auf  Töpfen  den  Namen  des  Ortes  anzumerken.   Wir  stehen 
nun  allerdings  an,  einem  solchen  gelehrten  Alterthumskenner  gegenüber 
wie  der  Verfasser,  diese  grosse  Anzahl  von  Inschriften  für  unecht  sn  er- 
klären; allein  unser  Zweifel  wird  noch  dadurch  vermehrt,  dnss  meistens 
die  gewöhnlichen  «rossen  Buchstaben  der  Römer  eingeritzt  sind.  Wir 
wurden  noch  bei  einzelnen,  fast  bei  den  meisten  noch  besondere  Anstände 
vorbringen  können,  wenn  uns  die  Zeit  hier  erlaubte,  die  Inschriften  ins- 
besondere zu  betrachten.  Nur  eine  Frage  noch:  sind  all'  diese  AUerthü- 
mer  noch  vorbanden?  Sie  würden  ein  schönes  wenn  schon  kleines  Museum 
bilden.    Nirgends  ist  hierüber  ein  Wort  angemerkt. 

Ein  weiterer  Aufsatz  über  römische  Denkmäler  sind  Bemerkungen 

und  Zusitse  „zu  rheinliindischen  Inschriften"  von  J.  Becker  in  Hadamar 

^  I-  .  . 


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(a  85— 108);  «t  erstrecken  sich  über  niederrheinische,  Rottenburger 
und  Mainzer  Denkmäler,  and  liefern  nicht  nur  manche  scharfsinnige  Br- 
kiireagen  mehrerer  derselben,  sondern  stellen  euch  einige  allgemeine  Re- 
gale Cur  die  Lesung  und  Deutung  von  Inschriften  auf;  daher  bedauern 
wir,  dass  uns  der  Raum  verbietet,  ausführlich  hierüber  zu  berichten  j 
namentlich  wünschen  wir,  einige  Mainzer  Gegenstände  näher  besprechen 
so  können ;  denn  wnnn  wir  auch  im  Ganzen  dem  Yerfaaaer  wegen  feiner 
Erklärungen  nur  beistimmen  können ,  so  bleiben  uns  doch  noch  einige 
Bedenken;  namentlich  halten  wir  die  Akten  Uber  den  Namen  der  Can~ 
nenssates,  oder  Cannanesates  wie  der  Verfasser  schreibt,  noch  nickt  lUr 
abgeschlossen,  wie  wir  hoffentlich  bald  zu  neigen  Gelegenheit  finden  werden. 

Die  berühmte  antiquarische  Sammlung  der  Freu  Sib.  Mertens- 
Sohn  äff  bansen  in  Bonn  liefert  den  Stoff  zu  drei  Aufsätzen,  von  de- 
nen wir  den  letzteren  etwas  naher  betrachten  wollen;  hier  gibt  uns  die 
kunstsinnige  Frau  eine  „Ueb  er  sieht  über  ihre  neuesten  antiquarischen  Er- 
werbungen %  Uber  weiche  wir  um  so  mehr  glauben  ein  W  ort  hier  spre- 
chen zu  müssen,  als  diese  meisten  Funde  in  Mainz  erworben  wurden, 
tater  ihnnn  steht  oben  an  „ein  Gefass  von  gebranntem  Thon,  gefunden 
im  Dez.  1846  zu  Harzheim  bei  Mainz,  in  einem  Weinberg,  nebst  drei 
römischen  Ziegeb,  bezeichnet  LEG.  XXII  mit  dem  Delphin,  u.  mehrere  röm. 
Bronze-  und  Sil bermü uzen;  in  dem  mit  Erde  gefüllten  Gefässe  lag  eine 
klciae  Bronzefigur,  eckt  indischen  Ursprungs"  „in  der  PehJwi-Sebrifl  am 
Postament  lasen  die  Herren  Lassen  und  Bopp  den  Namen  des  indischen 
Königsgottes  Skanda-De?a.u  Das  Gefass  ist  ein  chinesisches  älterer  Fa- 
brik, gleicht  einer  schlanken  hohen  Blumenvase,  —  die  Reliefs  auf  dem- 
selben zeigen  eine  ebenso  sonderbare  als  rülhselhafte  Zusammenhäufunp 

-  mm      ■  — ■  ^—  •  •—  ^         mw^m  -mw  • "  am mf  ^r-mmw  ■—  mr  •  mmmmm>  mw     •mmmmw       mt  ^m  m  mmm  wmmmm^^^m^r      ™"  •—  m^*m  mm*  wmm  mw  mmmmmm  *m  »  —  ^^y^ 

von  Symbolen  der  verschiedenartigsten  nationalen  Mythen,  und  nun  wird 
erzählt,  „wie  eine  bnudais tische  Gestalt  «ach  Indien,  die  Tauben  nach 
Assyrien,  Mitbra  nach  Persien,  ein  Drache  nach  Pbönizien,  Thyrsusstäbe 
nach  Jonien,  eine  kubuhnliche  Maske  nach  Aegypten  hinweisen"  1  Und 
diese  Gefass  soll  mit  römischen  Legionsziegeln  nnd  röm.  Münzen  gefunden 
worden  seiu:  hoc  cnedat  Judaeus  Apelia!  Wir  nimmer!  In  unserer  Ge- 
gend sind  viele  hundert  römische  Gräber  und  Sc  hutthaufen  geöffnet  nnd 
beschrieben  worden;  solche  Dinge  fanden  sich  nie,  und  können  sich  nicht 
finden.  Im  Interesse  der  Wissenschaften  sagen  wir  hier  nur,  was  wir 
glauben ;  wiewohl  wir  mehr  sagen  könnten.  Als  wir  jene  Schüssel  hier 
ausgestellt  nahen,  verglichen  wir  sie  mit  manchen  Denk  um  lern  im  Mann- 
keimer  Antiquarium,  nnf  welchen  ebenfalls  aus  allen  möglichen  Mythologien 
und  Geschichten  Abbildungen  genommen  nnd  besonders  Orientalisches  in 

47* 


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Figoren  und  Schrift  beigemischt  ist;  diese  find  im  vorigen  Jahrhundert, 

uidu  weiss  iiitiii  nie,  ucquinri  »Urtica,  una  weruen  Tun  bciucui  aiki- 

thumskonner  für  antik  gehalten  werden.  Ad  dem  obeo  beschriebenen 
Fond  hat  auch  die  kenntnissreiche  Frau  Besitzerin  einen  Augenblick  ge- 
zweifelt, nur  aber  weil  mehrere  Silber  münzen  dabei  waren;  „da  aber 
die  Aussage  des  Finders  als  schriftliches ,  dnreb  den  Bürgermeister  von 
Main»  beglaubigtes  Dokument  nun  vorliegt44  —  welchen  Grund  1  wie  wenn 

An-      Diirnnrmai    Up      a|..,ai        »       |  ka/»l»llki  f»#o      nla      nur     A'ia      II  a  n  A  c»hrif » 

uer    Durgürnicjbicr    etwas    auucigs    ULgiauuigic    bis   nur  uie  nunuscunit, 

nicht  den  Inhalt  der  Schrift  —  so  wird  der  ganze  Fund  vor  die  Zeit 
der  30  Tyrannen  gesetzt,  „indem  nach  dem  Kaiser  Probas  die  Silber- 

geoe ,  aoss  nier  eine  mennaene  antiquarisme  lausenung  vorging,  wie 
tueb  bereits  Gerbard  in  Aren.  Anzeig.  1850,  p.  135  den  Fund  sehr  ge- 
lind als  einen  „seltsamen"'  bezeichnet  bat.  Auch  die  übrigen  Funde,  die 
aus  Maine  berichtet  werden,  sind  nicht  ganz  ohne  Verdacht,  von  den 

gen  zu  urth eilen,  einige  uns  unächt.  Aus  diesen  Andeutungen,  die  wir 
noch  viel  vermehren  könnten,  folgt  auch,  dass  wir  den  Fundstücken  in 
dem  germanisch  -  römischen  (?)  Grab  zu  Guntersblum  noch  nicht  vollen 
Glauben  aehenken.  Wir  nehmen  bei  Antiquaren  die  Alterlhümer  wie  sie 
sind,  ohne  sofort  leichtgläubig  jeder  Angabe  Uber  ihren  Fund  u.  s.  w. 
zu  trauen;  der  Kaufmann  preist  seine  Waaren  —  wie  sie  gelten.  Doch 
wir  müssen  abbrechen  und  führen  die  übrigen  Aufsätze  ohne  weitere  Be- 
merkungen an:  Overbeck  in  Bonn  bespricht  8  geschnittene  Steine, 
Gerhard  in  Berlin  12  Gemmenbilder  aus  der  obenerwähnten  Sammlung 

Zeit  bildet  die  Übersicht  der  Münzgeschichte  des  Rheinlandes  bis  zur 
Mitte  des  achten  Jahrhunderts  von  Senckler  in  Cöln;  Theodorich  als 
Vermittler  zwischen  Chlodowich  und  den  Alemannen. 

In  dem  Abschnitt  Literatur  bespricht  Ritter  in  Bonn  die  kleine 
Schrift  C.  L.  Grotefend's  über  den  Stifter  der  leg.  I.  Adj.  nnd  zeigt  ge- 
gen denselben,  „dass  sie  von  Nero  und  niebt  von  Galba  errichtet  sei." 
Grimms  Geschichte  der  deutschen  Sprache  (Leip.  1848)  findet  eine  aus- 
führliche Anzeige  durch  Simrock  in  Bonn. 

Die  Miscellen  enthalten  manche  wichtige  Bemerkung  und  einige  ge- 
lehrte Beiträge;  wir  beben  daraus  her:  das  acutum  Cimbricnm  Maria nntn 
von  J.  Becker  in  Hadamar  (mit  welchem  die  en  unseren  Thoren  be- 
findlichen monströsen  Köpfe  mit  hervorgereckter  Zunge  verglichen  wer- 


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Thöl:   Einleitung  in  das  deutsche  Privatrecnt.  741 

den);  die  Heidenmauer  zu  Kreuznach  und  Uber  Gussmauern  Überhaupt 
voi  Referendar  Eltester,  Ober  den  Gagot  als  Nachtrag  zu  einem 
froheren  Aufsätze  Noggeratlfs  von  Braun,  dann  mehrere  Bemerkungen 
ober  die  Hefte  anderer  Altertbumavereine  und  Aehnliches  mehr. 

Aus  der  Chronik  entnehmen  wir,  dass  die  unterbrochenen  monatli- 
chen Sitzungen  wieder  eingeführt  wurden,  was  für  den  Verein  nur  höchst 
sAUlicb  und  forderlich  sein  kann.  Dass  der  Verein,  der  sich  so  einen 
weiten  Umkreis  gesteckt  hat,  nur  203  ordentliche  Mitglieder  im  9.  Jahre 
seines  Bestehens  besitzt ,  erregt  billig  Bewunderung;  gerade  der  weite 
Umkreis  soheint  uus  demselben  in  dieser  Hinsicht  nicht  zum  Vortheile  zu 
gereichen;  der  Verein  sollte  lieh  vor  Allem  in  Bonn  uod  Cöln  heimisch 
machen,  und  statt  an  erstem  Orte  40,  an  letztern  kaum  20  Mitglieder 
xo  ziblen,  wttrde  er  bald  in  diesen  zwei  Städten  Uber  500  TheUnehmer 
rechnen  können,  und  diess  wUrde  auch  in  den  Provinzen  und  am  ganzen 
Rheine  einen  bedeutenden  Zuwachs  verschaffen.  FUnf  Tafeln  Abbildungen 
sind  dem  Hefte  beigegeben.  Uebrigens  reiht  sich,  wie  aus  Obigem  von 
selbst  folgt  —  wobei  wir  noch  bemerken,  dass  manche  der  nicht  be- 
sprochenen Aufsätze  an  wissenschaftlicher  Bedeutung  und  gründlicher  Ge- 
lehrsamkeit mehrere  der  betrachteten  Ubertreffen  —  dieses  Heft  den  früheren 
wärdig  an;  daher  wir  mit  dem  Wunsch  schliessen,  dass  es  dem  Verein 
vergönnt  sein  möge,  in  seinem  bisherigen  öffentlichen  Wirken  so  tbütig 
uod  unermüdlich  fortzufahren,  wie  wir  es  bisher  an  ihm  wie  an  wenigen 
andern  Vereinen  rühmen  können. 

Maina.  Klein. 

—  —  - 

Einleitung  in  das  deutsche  Pritatrecht  von  Dr.  Heinrich  Thöl9  Pro- 
fessor der  Rechte  zu  Göttingen.  Güttingen,  Verlag  der  Dieter  ich"  sehen 
Buchhandlung.  1851   Vitt  und  194  S.  8. 

Diese  Einleitung  in  das  deutsche  Privat  recht  ist  nicht,  wie  die 
Bichborn's,  ein  Lehrbuch  oder  eine  Darstellung  des  deutschen  Privat- 
rechts, sondern  eine  Einleitung  in  eine  Darstellung  des  deutschen 
Privatrechts.  Ihrem  Inhalte  nach  ist  sie  im  Wesentlichen  das,  was  man 
auch  als  allgemeinen  Theil  des  gemeinen  deutseben  Privatrechts 
findet,  z.  B.  in  Beseler's  System.  Sie  zerfällt  in  einen  historischen  und 
in  einen  dogmatischen  Theil.  Der  historische  Theil  enthält  die  äussern 
Merkmale  der  Quellen  und  Zeugnisse  des  Bcchts,  welche  sie  als  Thatsa- 
cben  individualisiren ;  die  s.  g.  äussere  Recbtsgeschichte.  Der  dogmatische 


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743  Thöl:    Einlei  ton;  in  das  deutsche  Privat  recht. 

Theil  enthält  aber  nicht  etwa  auf  den  lohalt  dieser  Quellen  and  Zeugnisse 
^rundete  Dogmen,  sondern  Dogmen  Ober  die  Bedeutung  and  den  Ge- 

L-.-.r    JKrfl«    fnhnllc*    unrl    »vvnr    nirht    hlncc  lilipr  ftpsfion   \vi«*Pnf  chnftlir hfln 

oruucn  lures  ibhbiis,  udq  in Br  uico*  viubb  uucr  uchcd  v»i»sBUPi/iiaiiin»utJi*^ 
sondern  auch,  anter  dem  Titel:  T Verhüllniss  verschiedener  Rechtssatze 
zu  einander14  (%.  67—85.  S.  163—190),  Über  deren  praktischen  Ge- 
brauch. Die  zuletzt  geoanote  Materie,  die  *  g.  Colliaion  der  Statuten 
Oder  das  S.  g.  internationale  Privatrecht,  wird  als  Bestand  Ifaeil  eines 
gemeinen  oder  universellen  Kredit  nie  angesehen  werden  können.  Deoa 
diese  Eigenschaft  kann  ihm  oor  beiwohnen  in  seiner  Beziehung  zu  den- 
jenigen particalairen  Rechten,  denen  es  als  Grandlage  dient.  Die  Frage,  in 
wie  weit  et  im  particalairen  Rechte  Geltung  habe,  oder  mit  andern  Worten, 
iowiefern  es  wiederum  Bestandteil  einet  particulairen  Rechts  tey,  gebort 
dem  particalairen  Rechte  an.  Ihre  Beantwortung  ist  Oberdiett  unabhängig 
davon,  inwiefern  die  zu  beurteilenden  Thalsachen  diesem  oder  jenem 
Rechtsgebiete  angehören,  weil  das  universelle  Recht  seine  Anwendung  nur 
alt  Bestand  theil  einet  particulairen  findet,  und  immer  mit  diesem  ein  und 
daatelbe  Rechtsgebiet  bildet  Ihrer  Natur  nach  gehört  aber  diese  Materie 
dem  anzuwendenden  Rechte  selber  an  und  scheint  sonach  such  in  einer 
Einleitung  keinen  Fiats  finden  zu  kOnnen ;  wenn  nicht  der  didaotisobe  Grand, 
dass  es  sonst  an  einem  Platte  für  sie  ganzlich  fehlen  würde,  ihr  hier 
•inen  Matz  vindicirt.  Allein  dieaer  Grund  kann  nur  dann  alt  ein  durch- 
greifender angesehen  werden,  wenn  die  Darstellung  des  deutschen  Pri- 
vatreebtt  zugleich  eine  Anleitung  für  die  Anwendung  des  particulairen 
Rechts  zu  geben  bestimmt  ist.  Dann  Uberschreitet  sie  aber  die  Grenzen  des 
gemeinen  Hechts,  und  wenn  nicht  im  Innern  derselben  wiederum  eine 
Scheidung  desselben  von  jener  Auleitung  stattfindet,  so  muss  diese  Mischung 
der  Darstellung  den  Charakter  einer  Darstellung  des  gemeinen  Hechts 
ganzlich  entziehen.  Der  Verfasser  will  die  Darstellung  det  deutschen 
Rechts  nun  nicht  auf  das  gemeine  Recht  beschranken,  sondern  das  „  prak- 
tische Bedürfnisse  über  ihren  Umfang  entscheiden  lassen,  und  auch  das 
particulaire  Recht,  sofern  es  Uberall  oder  an  vielen  Orten  in  Deutschland 
gilt,  und  sich  durch  diesen  Umfang  seiner  Geltung  als  ein  allgemei- 
nes Recht  charakterisirt,  in  sie  aufnehmen  (§.  86.  S.  191  —  193).  Der 
Verfasser  nennt  diesen  Theil  „die**  Rechtsstatistik;  und  zu  ihr  würde 
denn  aueu  die  Angabe  gezShlt  werden  müssen,  welche  Institute  des  rö- 
mischen Rechts  nicht  reeipirt  worden  sind;  eine  Angahe,  die  ebenfalls 
Theil  der  Darstellung  werden  soll  (S.  192).  Di«,  nirmlieh  die  ganw, 
Bechtsstatiitik  Deutschtands  wurde  indess  damit  nicht  gegeben  seyn  (und 
man  wird  schwerlich  an  jemanden  die  Anforderung  stellen  können,  eine 


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Thöl:   Einleitung  in  das  deutsche  Privtirecht.  741 

solche  ku  geben) ;  namentlich  wurde  zu  ihr  auch  noch  die  Angabe  ge- 
hören, in  wie  weit  denn  das  gemeine  Recht  in  jedem  einzelnen  particu- 
lairen  Rechte  zur  Anwendung  komme.  Sonach  wäre  es  die  Absicht  des 
Verfassers,  neben  dem  gemeinen  deutschen  Rechte  eine  deutsche  Recbts- 
kande  mitzuteilen,  deren  Umfaug  von  seiner  Ansicht  über  das  prakti- 
sche  ßedürfuiss  abhängig  bliebe,  welches  nach  Verschiedenheit  der  par- 
ticulsirea  Rechtskreise,  denen  die  Bedürftigen  angehören,  ein  sehr  ver- 
schiedenes seyn  kann.  Der  Verfasser  scheint  aber  dem  allgemeinen  Rechte 
einen  grössern  EinUuss  auf  die  Darsteliuug  gestalten  zu  wollen,  wen»  er 
für  dessen  Wichtigkeit  anführt:  dass  es  möglich  sey  „den  gesummten 
Stoff  des  geltenden  Rechts,  wenigstens  annäherungsweise,  in  feiner 
ganzen  Fülle  darzustellen,  wenu  man  ihn  classificire ,  also  die  überein- 
stimmenden Rechtssätze  verschiedener  Orte  zusammenstelle  und  erörtere." 
Darnach  wird  also  uicht  die  Gestattung  des  gemeinen  Rechts  Uber  das 
System  entscheiden,  sondern  die  des  allgemeinen  Rechts,  so  weit  es 
zum  Gegenstande  der  Darstellung  gemacht  wird.  So  stellt  sich  die  vor- 
liegende Einleitung  dar  als:  eine  Einleitung  in  die  Darstellung  einer  deut- 
schen Privatrechtskunde. 

Von  diesem  Standpunkte  aus  kann  nur  das  subjective  Ermessen  des 
Verfassers  darüber  entscheiden,  was  Gegenstand  der  Darstellung,  und  da- 
rüber, was  Inhalt  der  Einleitung  werden  soll  oder  sollte.  Und  wenn  man 
die  Einleitung  als  einen  s.  g.  allgemeinen  Theil  betrachtet,  so  lässt  sieb 
auch  von  diesem  Standpuukt  aus  darüber  nicht  weiter  rechten,  dass  die 
Cellision  der  Statuten  in  ihr  ihren  Platz  gefunden  hat. 

Die  Ausprägung  der  geschichtlich  herrschenden  Vorstellung;  näm- 
lich desjenigen  Elements,  welches  zwischen  der  ^geschichtlichen)  Thatsoche, 
die  das  s.  g.  objective  Recht  erzeugt,  und  der  förmlich  ausgebildeten  Vor- 
schrift, in  der  Mitte  liegt  j  dürfte  indess  in  einer  wissenschaftlichen  Dar- 
stellung des  deutschen  Rechts  den  ersten  Platz  verdienen,  während  die 
Mitlheilung  einer  blossen  Rechtskunde  sieh  eben  durch  das  Vermeiden  je- 
des Berühren*  dieses  Elements  charakterisirea  würde.  Bei  der  Arbeit 
des  Verfassers  scheint  keine  dieser  Alternativen  festgehalten.  Zur  nühern 
Erörterunir  dieses  Umstaudes  und  seines  Einflusses  werden  aus  ihr  nach- 
folgende  Momente  hervorgehoben. 

Das  Wesen  der  Rechts  verschieden  heil  findet  der  Verfasser  darin, 
dass  dieselben  (ihatsächlichen)  Verhältnisse  durch  Verschiedenheit  der 
Rechtssalze  verschiedene  Rechlsinstitute  werden  (§  28.  S.  78),  und  gibt 
einen  zweifachen  Begriff  des  Reehtsiastiluts,  £s  sey  einmal  ein  Tnat- 
bestan4,  welcher  ein  Recht  begründe,  und  in  einer  andern  Bedeutunf 


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744  Thöl:   Einleitung  in  das  deutsche  Privatrecht. 

wiederum  das  Abstractum  eines  Rechtsverhältnisses,  oder  das  Rechts- 
verhü I tniss  in  seiner  Möglichkeit  der  Verwirklichung  durch  einen  Rechts- 
satz. Die  letztere  Bedeutung  gibt  der  Verfasser  als  eine  engere,  von 
anderen  angenommene  an  (§.  41.  S.  44).  Sie  erscheint  aber  ab  eine 
gradezu  entgegengesetzte,  indem  jener  erste  Thatbestand  doch  als 
ein  Concretum  gedacht  werden  muss.  Uud  dann  entsteht  die  Frage,  in 
welchem  Sinne  der  Verfasser  den  Ausdruck  bei  der  Bestimmung  der  Ver- 
schiedenheit des  Rechts  genommen  wissen  will.  Wenn  ihm  thatsächliches 
Verhältnis»  und  Thatbestand  gleich  sind,  so  kann  nur  eine  Verschieden- 
heit des  Rechtsinstituts  in  der  zweiten  Bedeutung  gemeint  seyn,  welche 
der  Verfasser  auch  später  (§.  42.  S.  116)  im  Auge  zu  haben  scheint. 
—  Der  Thatbestand  wird  aber  vom  Verfasser  wiederum  nicht  überall  in 
gleicher  Bedeutung  genommen.  Bald  ist  er  ihm  ein  historisches  Moment, 
aus  dem  mit  Hilfe  der  Anwendung  eines  Rechtssatzes  auf  dasselbe  ein 
subjectives  Recht  erzeugt  wird  (§.  32.  S.  91.  §.  41.  S.  114),  bald  ein 
historisches  Moment,  aus  dem  ein  Rechtssatz  (§.  32.  S.  22),  also  ein 
öbjectrves  Recht  (oder  auch  eine  Billigkeitsregel?  §.  40.  S.  113),  her- 
vorgeht, und  welches  im  Gegensatze  des  Rechts  (einer  Einrichtung,  t.  B. 
der  Hypotheken)  als  (deren)  Wesen  bezeichnet  wird  (§.  32.  S.  92). 
Man  wird  dabei  an  eine  Aeusserung  bei  Gerber:  System  des  deutseben 
Privatrechtf,  Aufl.  2,  S.  154 — 156.  erinnert,  nach  welcher  im  alteo  deut- 
schen Rechtszustande  die  Rechte  nur  Thalsachen  gewesen,  welche  durch 
eine  formelle  rechtliche  Substanz,  die  Gewere,  geschützt  worden. 

Irgendwo  muss  hier  einmal  das  Thatsachliche  und  das  Rechtliche 
mit  einander  identificirt  seyn;  und  die  Ursache  dieser  Vermischung  dürfte 
eben  darin  zu  suchen  seyn,  dass  das  vorbin  hervorgehobene  Element,  die 
geschichtlich  herrschende  Vorstellung,  nicht  selbstständiger  Gegenstand  der 
Auffassung  geworden  ist.  Der  Verfasser  redet  selbst  von  einem  in  dem 
Volksleben  bestehenden  unermesslichen  Thatbestande,  welcher  dem  gesamm- 
ten  Rechte  entspreche  (%.  32.  S.  91).  Dieser  Thatbestand,  im  Gegen- 
satze der  ein  einzelnes  Rechtsverhältnis!  begründenden  Thatsache,  kann 
eine  Bedeutung  för  das  Recht  nur  insofern  haben,  als  er  objectives  Recht 
erzeugt.  Diese  Erzeugung  ist  nur  dadurch  möglich,  dass  er  eine  Vorstellung 
vom  Daseyn  eines  objectiven  Rechts  hervorruft.  Ein  solcher  Thatbestand  ist, 
%.  B.  auch  der  Act  der  gesetzgebenden  Gewalt,  welcher  einen  Recntssatz  aus- 
spricht. Andere  Thatbestände,  denen  nicht  die  Absicht  inwohnt,  Recht^atze 
herzustellen,  können  dahingegen  entweder  nur  solche  anerkennen,  oder  eine 
Rechts  Vorstellung  erzeugen,  d.  b.  eine  Vorstellung,  welche  unentwickelte 
fteebtssätze  in  sich  trägt.  Diese  Vorstellung  muss  sieb  aber  nolhwendig  an 


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Thölr   Einleitung  in  das  deutsche  Privotrecht.  74& 

irgend  einen  körperlichen  oder  ideellen  Stoff  knüpfen,  der  zu  ihrer  Verwirk- 
lichung dient,  wenn  sie  mehr  als  eine  blosse  Idee  und  von  rechtlicher  Bedeutung 
seyo  soll ;  weil  sie  nicht  von  einer  zum  Tragen  des  objectiven  Rechts  qualifi- 
cirten  Macht  getragen  wird,  wie  es  bei  dem  Producta  der  gesetzgebenden 
Gewalt  der  Fall  ist.  Sie  ist  dann  dam  abstracten  Hechtsinstitute  darin  gleich, 
dass  sie  eine  Rechtsstttse  in  sich  sc h liessende  Vorstellung  ist;  dem  Rechts- 
verhältnisse darin,  dass  sie  mit  einer  Substanz  bekleidet  ist.  Diese  Sub- 
stanz iit  aber  nicht,  wie  bei  dem  Rechtsverhältnisse,  einem  bestimmten 
Triger  angeeignet,  sondern  nur  der  Vorstellung  als  Mittel  ihrer 
rechtlichen  Verwirklichung  dienstbar.  Die  Vorstellung  ist  also  kein  Rechts- 
verhältnis», sondern  ein  blosser  Zustand,  d.  Ii.  eine  herrschende  Vorstel- 
lung. Und  sofern  dieser  Zustand  keiner  Sonderherrschaft  eines  Trägen 
unterwürfen  ist,  steht  er  jenem  abstracten  Rechtitinstitute  an  rechtlicher 
Bedeutung  völlig  gleich.  In  Unabhängigkeit  von  einer  solchen  Unterwür- 
figkeit gedacht,  ist  er  es  eben,  was  man  als  Wesen  bezeichnet.  Der 
Zustand  de«  Bestehens  der  Hypothekenrechts-Sätze,  das  ist  das  Hypothe- 
ken Wesen ;  und  der  Stoff  der  ihm  dienstbar  ist,  besteht  in  den  Kräften 
und  Mittein,  deu  Beamten,  Büchern  u.  s.  w.,  welche  zu  seiner  Verwirk- 
lichung dienen.  Wenn  man  nun  diese  Substanz  und  die  Thatsachen,  welche 
sin  zn  Mitteln  für  Jenen  Zweck  gestaltet  haben,  als  einen  Thatbeatand 
oder  als  Thalsuche  bezeichnet,  so  ist  dieses  thalsach liehe  Moment  eher 
einem  Akte  der  Gesetzgebung,  als  der  Begründung  eines  einzelnen  con- 
ereten  Rechtsverhältnisses  verwandt.  So  erklärt  es  sich  denn  freilich, 
wenn  der  Verfasser  ein  Rechtsinstilut  kennt,  welches  ein  Thatbeatand  ist, 
und  einen  Thatbestand,  welcher  Rechtssätze  erzeugt;  und  wenn  Gerber 
Thatsachen  kennt,  welche  Recht  sind.  Es  ist  das  immer  nichts  andere« 
alt  der  rechtliche  Zustand.  —  Die  Behandlung  desselben  als  blosser 
Tbatsacbe  scheint  auf  der  Ansicht  zu  beruhen,  dass  das  Daseyn  des  Rechts 
durch  die  Ausdrucksform  des  Rechtssatzes  bedingt  sey.  Diese  Ansicht 
tritt  bei  dem  Verfasser  insbesondere  hervor,  wenn  er  der  Sache,  oder 
den  Institute,  aus  deren  Natur  Rechtssütze  gefunden  werden,  die  Eigen- 
schaft eines  Rechtsinstitutes  abspricht  und  sie  für  einen  blossen  Thatbe- 
stand erklärt  (§.57.  S.  144).  —  Das  mag  der  Standpunkt  einer  Rechts- 
kunde seyn,  aber  es  ist  nicht  der  Standpunkt  der  Rechtswissenschaft. 

Der  Urheber  eines  intellectuellen  Producta  selber,  d.  h.  derjenige, 
welcher  eine  Vorstellung  nicht  bloss  vermittelst  einer  rein  verständigen 
Rpflpxinn  aeitaltet  und  die  Wirklichkeit  dieser  Gestaltung  begründet  f wie 
es  1.  B.  bei  der  Auffindung  einer  rationellen  Norm  nach  den  Gesetzen 
des  Denkens,  eines  Rechtsverhältnisses  nach  gegebenen  Normen  für  dit 


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746  Thöl:   Einleitung  in  das  deutsche  Privatrecht. 

Handlungsweise  der  Menschen,  der  Fall  ist),  sondern  der  die  Quelle  des 
sinnlichen  Elements  der  producirten  Vorstellung  geworden  ist,  steht  immer 
auf  dem  Standpunkte  eines  Organs  eines  seine  Thatigkeit  beherrschen- 
den Zustande«.  Sein  Produet  ist  Produet  einer  ihn  beherrschenden  Vor- 

eUllimo  Aim  eich  in  ihm  vnn  Her  nra/lnr  irlün  Vnr  c  I  oll  11  n  rr  iinH  vnn  ceinar 
StV(l*Ug|     V|W     iltll     III     IHH     TUM     HCl    |JI  UUUlll  Ivll     "  VI  3%Clllilj£     UHU     1VU  9CIUC1 

eignen  producirendeo  Tbiitigkeit  nicht  scheidet,  und  diese  mit  jenen  bei- 
den, so  wie  diese  untereinander ,  identiucirt  Sein  Produet  ist  Reproduct 
einer  herrschenden  Vorstellung .   oder  Fortentwickeln".?   eines  Zustande* 

Sehen  wir  nun  von  jener  rein  verständigen  Reflexion  ab,  stellen  wir  sie 
ku  den  ausser  der  Beachtung  stehenden  Ausnahmen,  so  ist  alles  Recht, 
welches  nicht  in  der  Form  der  Vorschrift,  nämlich  eines  Gebotes,  oder 
Verbotes,  oder  etwa  einer  Erlaubnis*,  ausgesprochen  ist,  ein  reprodueir- 
ter  Zustand.  Der  Urzustand  der  Dinge  mit  der  ihm  beigegebenen  mensch- 
lichen Kraft,  hat  sich  durch  die  Thatigkeit  der  letzteren  KU  geschichtli- 
chen Zuständen  gestaltet,  welche,  sofern  sie  die  Beziehungen  der  Menschen 
au  einander  bilden,  und  diesen  eine  Notwendigkeit  auferlegen,  in  den 
Vorstellungen  der  Menschen  vom  Rechte,  welche  sie  kund  geben,  sey  es 
durch  wörtliche  Aussprüche  oder  andere  Handlungen,  wiederum  reprodn- 
cirt  werden.  Diesem  Tbeile  des  Rechts  liegt  denn  auch  allerdings  jener 
unermessliche  Thatbestand,  die  Geschichte,  zum  Grunde,  aber  in  seiner  To- 
talität als  sich  fortentwickelnden  Zustand,  und  nicht  insofern,  als  er  eine 
specielle  Richtung  auf  die  Erzeugung  oder  Anwendung  einer  Vorschrift 
nimmt,  und  entweder  reiner  Willensact  oder  reiner  Verstandesact  wird.  In 
diesem  Sinne  jenen  Thatbestand  aufgefasst,  gebort  ihm  auch  die  Thatigkeit 
der  Schöllen  an,  welche  unabhängig  von  gegebener  Vorschrift  Recht  spra- 
chen. Und  wenn  man  das  durch  die,  einem  solchen  Tbatbestande  enge» 
hörende,  Thatigkeit  in  ihrer  Gesammtheit  entwickelte  Recht  als  Schöffen- 
recht  bezeichnen  will,  so  kann  man  freilich  mit  dem  Verfasser  für  die 
altere  und  mittlere  Zeit  das  gesammte  Recht  in  gesetzliches  (promolgirtes) 
und  Scköffeorecht  eintheilen  (§.  2.  3.  S.  6.  8).  Versteht  man  indess 
unter  Scuöffenreeht,  wie  billig,  nur  das  durch  die  Schöffen funetion  ge- 
bildete Recht    so  ist  diese  Eintkeilunir  nicht  z.n  rechtfertigen  Schöffen- 

■rlBUWW      ■>! uv*1*  ^      UFW      mmTW      "'VwV      UllltUVIlUII^       UIVUI      Ma\A      I  WVIIIIVI  iin^^pii  WIIVIIWU 

recht  in  ieaem  weitern  Sinne  ist  aber  in  der  Tbat  auch  alles  heutige 

»wuv      mmm     j  v«v"i  w* ,,M  "        mm^mmmmmv        mmm  m  w  v  ■       mmm      *»w«         *  mmmmw        **      v  •#        mm  mm 

gemeine  deutsche  Privatrecht,  mit  Ausnahme  der  spärlichen  Fragmente, 
welche  lieh  in  den  Reichsgesetzen  finden  lassen;  von  demjenigen  abge- 
sehen, was  zur  Zeit  des  projeclirten  neuen  deutschen  Reiches  in  der  Form 
eines  cemeineu  Gesetzes   aufgetreten  ist     Denn  wenn  auch     von  diesen 

%j  mm  mm  mm  mm  mw  m*  mm*      +r  ^  mmm>m0  mm        mmw    ■  mmm  mm  mm^m  mmmmm  mm        y  m^mm        \m  m 

A, usoflh e  n  3l)^e$efi c  o  ^  j oo es  Ree b t  vi u i  (J u rc Ii  d i c  o  rs  t  e  1 I u n ^  der  J u r \$ t  eo 
erkennbar  wird,  so  kann  diese  Darstellung  doch  nur  insofern  Recht  ent- 


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Thöl:   Einleitung  in  das  deutsche  Privatrecht. 


halten,  als  sie  in  der  That  die  Gestaltndg  jenes  unermesslichen  Thatbe- 
standes,  sofern  er  Deutschland  angehört  und  in  ihm  ein  gemeinsamer  ist, 
den  deutseben  Gesammtzustand,  und  nicht  etwa  nur  den  Zustand  des  Dar- 
stellers, reproducirt.  Soll  ihr  Inhalt  also  Beeht  seyn,  so  darf  der  Darstel- 
ler nicht  der  Urheber  der  in  ihm  enthaltenen  Vorstellungen  seyn. 
Darin  ändert  es  denn  auch  nichts,  dass  der  Zustand  des  Darstellers  der 
Zustand  eines  Juristen  ist.  Selbst  dann  ändert  dieser  Umstand  nichts, 
wenn  er  der  Ge>amm( zustand  aller  Juristen  ist,  da  dieser  Gesammtzu- 
stand  jenem  Gesammlzustande  der  Nation  gegenüber  nur  ein  Sonderzustand 
ist.  Wäre  aber  auch  der  Zustand  des  Darstellers  mit  dem  Gesammtzu- 
stande  der  deutschen  Nation  in  seiner  Gestaltung  identisch,  so  würde  sein 
Product  wiederum  nur  eine  Heproduction  des  Gesammtzustandes,  also  nicht 
sein  eignes  Product  seyn.  Sofern  also  die  Darstellung  des  Rechts  nicht 
des  Prodeet  der  Gesammtheit,  sondern  das  Product  der  Juristen  oder  der 
Wissenschaft  ist,  kann  dasjenige,  was  von  ihrem  Inhalte  in  der  That  Recht 
ist,  nicht  das  Product  dieser  Wissenschaft  seyn.  Der  Verfasser  sagt  in- 
des*, dass  die  Wissenschaft  Recht  erzeuge.  Bs  ist  gewiss  richtig,  wenn 
der  Verfasser  (§.  55.  8.  138)  bemerkt,  dass  das  wissenschaftliche  Recht» 
also  die  Rechtsdarstellung  des  Juristen,  einer  innern  Begründung 
bedürfe.  Diese  innere  Begründung-  muss  aber  bei  der  Darstellung  des 
gemeinen  deutschen  Rechts,  ron  den  genannten  geringen  Ausnahmen  ab- 
gesehen, notbweodig  die  Eigenschaft  derselben  ab  einer  Reproduction 
jenes  Gesammtzustandes  zum  Gegenstande  haben.  Nicht  weniger  rich- 
tig ist  es,  wenn  der  Verfasser  sagt,  dasS  die  Rechtssülze  durch  die  wis- 
senschaftliche Entwicklung  gefunden  und  nachgewiesen  werden 
(ebenda!.).  Was  gefunden  nnd  nachgewiesen  werden  soll,  das  muss  aber 
doch  schon  vorhanden  seyn;  und  was,  auch  wenn  es  schon  ist,  doch 
noch  einer  Begründung  bedarf  um  als  das  zu  gelten,  was  es  seyn  soll; 
das  kann  kein  selbstständiges  Erzeugniss,  sondern  nur  eine  Nachahmung 
ron  etwas  snderm  seyn,  mit  dem  es  sich  nicht  identificirt. 

So  weit  das  beutige  gemeine  deutsche  Privatrecht  nur  durch  ju- 
ristische Darstellung  erkannt  wird,  bedarf  es  zu  dessen  Anwendung  kei* 
ser  Normen  Uber  die  Auslegung  eines  Gesetzes -Text  es.  Zu  einer  wissen- 
schaftlichen Erforschung  der  Gestaltung  des  Znstaodes  genügen  aber  jene 
Normen  nicht.  Der  Verfasser  hat  die  Begriffe  der  verschiedenen  Arten  der 
Auslegung,  welche  die  Theorie  des  Pandektenrechts  kennt,  angegeben 
(§.  58.  &  144  IT),  ohne  dass  dabei  eine  strenge  Begrenzung  der  Critik 
des  Textes  und  der  Entwicklung  des  Rechts  gegenüber  gewahrt  erscheint 
Wenn  nämlich  der  Verfasser  die  berichtigende  Auslegung  als  diejenige 


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748  Thöl:    Einleitung  in  du  deutsche  Privatrecht. 

bezeichnet,  welche  das  „unwahre"  Wort  berichtigt  (§.  63.  S.  154), 
io  passt  diese  Bezeichnung  nur  anf  den  Fall,  wo  an  die  Stelle  eines  vom 
Gesetzgeber  nicht  gesprochenen  Wortes  das  von  ihm  gesprochene, 
an  die  Stelle  des  un achten  Wortes  das  ächte  gesetzt  wird;  gleichviel, 
ob  das  letztere  in  irgend  einem  Gesetzestexte  vorgefunden  wird  oder 
nicht.  Diese  Thatigkeit  entspricht  der  Bedeutnng  der  Auslegung  jeden- 
falls nicht.  Verschieden  davon  ist  der  Nachweis,  dass  der  vom  Gesetz- 
geber gebrauchte  ächte  Ausdruck  unrichtig  (S  a  v  i  g  n  y  Syst  d.  R.  R.  L 
S.  231)  sey,  der  ein  Mittel  sein  kann,  eine  von  den  Worten  des  Ge- 
setzes abweichende  Auslegung  zu  rechtfertigen.  Ferner  legt  der  Verfasser 
jeder  Auslegung  die  Kraft  bei,  einen  neuen  Recbtssatz  hervorzubringen 
(§.  58.  S.  144).  Denn  sagt  er:  wenn  der  durch  Auslegung  gefundene 
Rechtssatz  auch  vor  der  Auffindung  durch  die  Auslegung  in  dem  Worte 
des  Gesetzes  enthalten  war,  so  übersieht  man,  dass  die  wissenschaftliche 
Auslegung  erst  herausgestellt  hat,  dass  er  so  and  nicht  anders  darin  ent- 
halten war  (S.  144.  145).  Allein  mag  sie  es  auch  herausgestellt  haben, 
dass  er  überhaupt  darin  enthalten,  so  entsteht  dadurch  doch  immer  nur 

08 Ig 0 ü 6  f U ü d  C 8C \\  Is S 8 1 £    IS t    ^^^J 0    ^£ I C 1 C h C ID      I  l€*  1*   ETI  1 L    d  60)  ^    8 IIS 

welchem  er  gefunden  wird,  sagt  der  Verf.  selber  §.  62,  S.  153},  wenn 
sie  eben  nur  Auslegung,  nemiich  Darlegung  des  Inhalts  von  (vorhande- 
nen) Worten  ist,  wie  der  Verf.  selber  an  einer  andern  Stelle  (§.  59. 
S.  145)  sie  nennt.  Der  Verf.  sieht  demnach,  im  Widerspreche  mit  der 
eben  gedachten  Bedeutung  der  Auslegung,  theils  die  Kritik  in  das  Gebiet 
der  Auslegung,  theils  die  Wirkung  der  Auslegung  in  das  Gebiet  der 
Rechtsenlwickelung  hinüber.  —  Der  Verf.,  welcher  den  Recbtssals,  wel- 
cher die  Quelle  eines  andern  ist,  ab  das  Princip  bezeichnet  (§.  60.  S.  1 48), 
versteht  unter  Analogie  die  Findung  und  Anwendung  eines  Princips,  ohne 

(§.  64.  S.  154.  155).  Darnach  besteht  die  Analogie  in  dem  unmittel- 
baren Gebrauche  eines  Princips  als  Grundsatz.  Diese  Analogie  wäre  dann 
die  analoge  Anwendung.  Wenn  der  Verf.  aber  diese  analoge 
Anwendung  noch  wiederum  in  eine  Gesetzes  -  Analogie  und  in  eine 
Rechts* Analogie  (mit  KieruIfT,  Civilr.  S.  29— -32)  eintheiit,  je  nachdem 
zur  Auffindung  des  Princips  nur  Bin  Hechtssatz  benutzt  worden  oder  meh- 
rere, so  wird  diese  Einteilung  als  eine  müssige  betrachtet  werden  müssen. 
J  Bei  der  Beschränkung  der  Bedeutnng  des  Rechts  auf  den  förmlich 
ausgesprochenen  Hechissatz,  wird  es  insbesondere  an  einer  Rntscneidnngs- 
norm  fehlen,  wenn  es  sich  darum  bandelt,  inwiefern  das  Gesetz  einet 


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ThöJ:    Einleitung  in  das  deutsche  Privatrecht.  749 

Landet  in  Ansehung  eines  gewissen  Verhältnisses  etwas  bestimmen,  nem- 
iieb  seine  Vorschrift  auf  dasselbe  erstrecken  wollen.  Dieser  Wille  des 
Gesetzes  soll  indess  nach  dem  Verf.  ($.  72.  S.  170  ff.)  darüber  ent- 
scheiden, in  wie  weit  der  Richter  eines  Landes  dasselbe  antuwenden  hat, 
wenn  Trager  des  streitigen  Verhältnisses  oder  unmittelbar  dessen  Stoff, 
einem  andern  Lande  angehören.  Und  da,  wie  der  Verf.  bemerkt,  die 
Gesetze  über  die  örtlichen  Grenzen  ihrer  Herrschaft  sieb  meistentheis  nicht 
aussprechen,  so  wird  es  doch  oothwendig,  diese  Gränzen  ausserhalb  des 
gesetzlichen  Ausspruches  zu  suchen.  Der  Verf.  (S.  171)  zählt  freilich 
diese  Operation  zur  Auslegung  des  Gesetzes,  und  vermischt  so  mit  dieser 
die  Anwendung  des  Gesetzes.  Gesetzliche  Vorschriften  Uber  die  Aufhe- 
bung des  Conflicts  der  Gesetze,  regeln  indess  nicht,  wie  der  Verf.  will, 
die  Auslegung,  sondern  die  Anwendung.  Und  hängt  es  denn  nur  von 
dem  Willen  des  Gesetzes  ab,  wie  weit  seine  Herrschaft  sich  erstreckt? 
Der  Wille  des  Gesetzes  kann  dessen  Anwendung  doch  in  keinem  andern 
Kreise  vermitteln,  als  in  dem,  wo  der  Zustand  seiner  Herrschaft  verwirk* 
licht  ist!  Hat  das  Gesetz  den  ihm  unterworfenen  Richter  angewiesen, 
ohne  Rücksicht  auf  die  Unterwürflgkeit  der  Partbeien  oder  des  Stoffes 
anter  ein  anderes  Recht,  nach  seiner  Vorschrift  zu  entscheiden,  so  muss 
dieser  Richter  freilich  Folge  leisten.  Dann  ist  aber  für  ihn  Überall 
keine  Collision  vorbanden,  und  das  Gesetz  hat  die  Gollision  beseitigt,  and 
keine  Vorschrift  zur  Beseitigung  der  Collision  aufgestellt.  —  Ausserhalb 
des  Kreises  der  positiv  sanetionirten  Rechtskraft  der  Entscheidung  jenes 
Richters  hängt  aber  die  Anwendbarkeit  eines  Gesetzes  von  der  gesetzge- 
benden Macht  des  Urbebers  des  Gesetzes  über  den  in  Frage  stehenden 
Stoff  ab.  Die  Herrschaft  des  Inhalts  einer  Vorschrift  aemlich  kann  nur 
entweder  durch  absolute  Vernünftigkeit,  oder  durch  die  Unterwürfigkeit 
eines  Stoffes  unter  die  Herrschaft  ihres  Urhebers  eine  Verwirklichung  er- 
langen. Im  ersten  Falle  hat  er  sein  Daseyn  Uberall  eicht  erst  vom  Ge- 
setzgeber empfangen,  und  seine  Geltung  ist  eine  allgemeine,  so  dass  mit 
dem  Daseyn  eines  Conflicts  verschiedener  Gesetze,  anch  die  Verneinung 
der  Anwendbarkeil  einer  Vorschrift  von  absolut  vernünftigem  Inhalte  ge- 
geben ist.  Denn  gibt  man  den  Conflict  zu,  so  kann  das  Daseyn  einer 
solchen  Vorschrift  für  den  gegebenen  Fall  keine  Anerkennung  erlangt  ha- 
ben. Wo  dieser  Conflict  besteht,  da  kann  es  sich  demnach  nur  um  Vor- 
schriften anderer  Art  handeln.  Und  hier  kann  die  Anwendbarkeit  eines 
Gesetzes  nur  denjenigen  Stoff  ergreifen,  der  dem  Gesetzgeber  als  Mittel 
fttr  seine  Gesetzgebung  unterworfen  ist;  nemlich  als  Mittel,  um  ihn  wie» 
deram  zum  Mittel  für  andere  Zwecke  (hier  gleichviel,  ob  für  seine  eig- 


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750  Thöh   Einleitung  in  das  dentache  Privatrecht. 

oen  oder  für  die  der  ihm  unterworfenen  Gesommtheit,  für  Sonderzwecke 
oder  für  Gesammlzwecke)  iti  gestalten.  (Jod  diese  Unterwürfigkeit  ist 
allerdings  ein  Product  von  Thatsacben,  aber  eben  d esshalb  etwas  ände- 
ret alt  die  prodocireode  Tbatsache;  sie  ist  eine  ena  dieaer  hecvorge- 

Bedeutung  der  Handlungen  der  Menschen,  weiche  diesen  Stoff  zum  Ge- 
genstände haben.  Wenn  das  nicht  ein  rechtliches  Moment  ist,  so  gibt 
es  keines.  Es  zeigt  sich  demnach  auch  iu  diesem  Beispiele,  wie  die  Be- 
handlung des  Verr.  dem  Wesen  des  Hechts  eine  Figur  substituirt,  die  nur 
eine  Darstellung  von  einen  Reckte  ist. 

Auf  der  andern  Seite  scheint  der  Verf.  dem  Rechtssatte  wiederum 
nicht  die  nölhige  Absonderung  von  seinem  Ausspruche,  nemlieh  voo  dem 
Gesetze  zu  Theil  werden  in  lassen.  Er  fuhrt  an:  „man"  sage,  eaas 
jeder  Rechtssatz  gebietend  sey,  womit  man  sagen  wolle,  dass  jeder 
Rechtssalz  ein  Recht  gebe;  daa  sey  unrichtig,  und  man  bebe  dabei  des 
-Recht  auf  die  Anwendung  des  Recbttsatses  mit  dem  Rechte  aus  dem  In- 
halte des  Rechtsseties  verwechselt  (§.  33.  S  97).  BekannÜich  hat  man 
aber  die  Gesetze  in  verbietende  und  gebietende  getheiU  und  bisweilen 
des  Daseyn  des  erlaubenden  Gesetzes  in  Zweifel  gezogen,  indem  man  in 
dem  Gesetze  den  Charakter  des  Befehlens  fand,  das  man  als  ein  Gebie- 
ten bezeichnete,  und  als  die  nothwendige  Voraussetzung  jedes  Rechts  be- 
trachtete (vrgl.  Thibaut,  Syst.  d.  P.  R.  §.  24).  Damit  bat  man  aber 
nneh  nicht  behauptet,  dass  iedes  Gesetz  ein  Recht  ertheile    und  eben  so 

gebietend  sey.  Das  Gebot  der  Anwendung  des  Rechtssatzes  kann  doch 
immer  nur  in  dem  Gesetze  gefunden  werden,  welches  ihn  ausspricht.  In 
jener  vom  Verf.  getadelten  Eint  Heilung  der  Gesetze  liegt  vielmehr  nichts 
weiter,  nie  die  Feststellung  des  Weaens  der  gesetzgebenden  Tätigkeit, 
das  aich  auf  des  Gebieten  und  Verbieten,  oder  auf  das  Gebieten  des  Thuns 
und  des  Unterlassens  beschränkt.  Dienen  Charakter  verliert  sie  nueb  dann 
nicht,  wenn  ihre  Vorschrift  eine  bloss  bedingungsweise  ist,  nämlich  in  der 

-Art,  dasa  man  dieses  oder  jenes  tkuu,  z.  B.  Zeugen  zuziehen,  oder  unter- 
lassen müsse,  wenn  diese  oder  jene  rechtlichen  Folgen  eintreten  sollen.  Die 

'Vorschrift  des  Gesetzes,  sein  Inhalt  oder  der  Hechtssatz,  kann  indess  nicht 

-bloss  gebieten  and  verbieten,  sondern  auch  orgaoisiren,  d.  h.  Mittel  für  Zwecke 
gestalten.  Jeder  positive  Rechtssatz  setzt  eiue  solche  Gestaltung  voraus,  sey 
es  nun,  dass  sie  der  gesetzgebenden  Mach t  ihren  Ursprung  verdankt,  oder 

■von  dieser  ausdrücklich  oder  stillschweigend  anerkannt  worden  ist,  oder 
sich  ohne  deren  Tbatigkeit  durch  Gewöhnung  gebildet  hat;  sofern  er 


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Thc-I:    Einleitung  in  da«  deutsche  Privatrecht.  754 

nicht  etwa  bloss  in  Strafbestimmungen  besteht.  Denn  abgesehen  von  der 
Straf bestimmung  kann  ein  Hechtssntz,  der  unabhängig  von  einer  solchen 
Gestaltung  ist  oder  nicht  von  einer  solchen  begleitet  wird,  nur  eine  An- 
erkennung des  absolut  rationellen  Rechts,  des  s.  g.  Vernunftrechts,  ent- 
halten. Der  einfachste  Fall  eines  positiven  Gesetzes,  die  Sanctioairnnf 
von  Eigenthum  an  einem  beweglichen  Körper,  ist  ohne  Gestaltung  des 
Erwerbes  des  Körpers  geradezu  unmöglich.  Diese  Gestaltung  ist  eine 
Gestaltung  der  Gesammtheit  der  beweglichen  Körper  zu  einem  Stoffe  für 
Eigenthumsgegeustände.  In  gleicher  Weise  setit  die  Sancttooirung  des 
Grundeigentums  voraus,  dass  der  Erdboden  der  Zerlegung  in  einzelne 
Grundstücke  fähig  gemacht,  d.  b.  mit  rechtlichem  Effecte  fähig  gemacht 
ist.  Es  ergibt  sich  daraus  eine  doppelle  Punktion  der  (positiven)  Ge- 
setzgebung; eine  fundamentale  organisirende,  und  eine  fundirte  vorschrei- 
bende. Die  letzlere  ist  der  gesetzgebenden  Macht  ihrer  Natur  nach  ei- 
gen, und  sofern  sie  in  ihr  sieb  bewegt,  identiGciren  sich  auch  Gesetz  und 
Rechtssatz  ihrer  rechtlichen  Bedeutung  nach.  In  der  ersten  übt  sie  indess 
eine  Thätigkeit  aus,  deren  die  Gesammtheit  sich  nie  entäussert,  und  die,  sofern 
sie  nicht  mit  der  Schöpfung  von  Einrichtungen  verbunden  ist,  ihr  auch  grossen- 
iheils  Uberlassen  zu  bleiben  pflegt.  Das  fundamentale  Element  des  Rechtssatzet, 
den  sie  durch  diese  Thätigkeit,  ausdrücklich  oder  stillschweigend,  ins  Da- 
seyn  ruft  (z.  B.  dass  man  von  dem  Hypothekenbuchführer  die  foscription 
verlangen  kann)  trennt  sich  von  dem  Gesetze  selber  als  dessen  bereits 
durch  dasselbe,  so  weit  der  Ausdruck  des  Anwendens  hier  passt,  zur 
Anwendung  gebrachte  Organisation  (z.  B.  das  Daseyn  des  Hypotheken» 
weaens).  Bei  dem  Verf.  fällt,  wie  sich  aus  dem  Bisherigen  ergibt,  diese 
fundamentale  Thätigkeit  in  das  Gebiet  der  Thatsacben  oder  der  Erzeugung 
von  Thatsachen.  Ohne  ihr  Produkt  zum  Grunde  zu  legen,  wird  man  in- 
dess schwerlich  mit  dem  Verf.  ausser  den  gebietenden  und  verbietenden 
Rechtssätzen  noch  verneinende,  begriffsentwickelnde ,  berechtigende  und 
erlaubende  Rechtssützo  (§.  33.  S.  9?)  unterscheiden  können.  Zn  den 
Producten  dieser  Art  gehört  auch  der  durch  das  Daseyn  gestatteter  oder 
in  Vorstellungen  eingeschlossener,  noch  ungestalteter  Rechtssätze  begrün- 
dete Zustand,  ohne  den  die  Unterscheidung  des  Verf.  zwischen  strengem 
und  billigen,  zwischen  consequentem  und  incoosequenten  Rechte  (§.  38. 
39.  &  105  ff.)  ebenfalls  unmöglich  scheint.  Elementen,  die  solche  Un- 
terscheidungen ermöglichen,  durfte  doch  der  Charakter  des  Rechts  nicht 
abzusprechen  seyn.  Verweiset  man  sie  aus  dem  Gebiete  des  Rechts,  so 
schliesst  man  aus  dem  juridischen  Kreise  Alles  aus,  was  nicht  auf  der 
Gesetztafel  steht  oder  in  der  Schreibstube  sich  gestaltet.    Führt  man  das 


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Thöl :   Einleitung  in  dm  deuUche  Privatrecht. 


eigene  Hechl  einer  lebenden  Nution  darauf  zurück,  fo  ist  et,  in  der  Ge- 
stalt, die  es  dadurch  empfangt,  auch  nicht  um  ein  Hoar  besser  als  ein 
herübergenommenes  von  seiner  Lebensquelle  abgerissenes  und  damit  ab- 
getödtetes  Recht.  Hag  indess  auch  eine  solche  Behandlung  mit  der  Mode 
im  Einklänge  stehen  und  eine  Annäherung  an  die  Behandlungsweise  des 
römischen  Rechts  seyn,  welcher,  von  Einzelheiten  abgesehen,  die  Vor- 
wurfe gebühren,  welche  man  dem  römische«  Rechte  selber  gemacht  hat, 
so  wird  es  um  so  dringender,  darauf  aufmerksam  zu  machen,  wohin  sie  führt. 

Der  Verfasser  schliesst  die  Darstellung  seines  Thatbeslandes  indess 
keineswegs  von  seiner  Betrachtung  aus.  Er  nennt,  was  in  diese  Dar- 
stellung gehört,  bemerkt,  dass  sie  getrennt  von  der  Darstellung  des  Rechts 
oder  Bit  dieser  verbunden  gegeben  werden  könne,  und  dass  das  Tbat- 
sächlicke  „  Voraussetzung u  alles  Rechts  und  dessen  Keontoiss  daher  be- 
deutend sey  ($.  32.  S.  91  IT.),  dass  sie  durch  den  Juristen  oder  dessen 
Vermittlung  ergänzt  und  berichtigt  werden  müsse  (§.  32.  S.  953,  un<* 
dass  die  Darstellung  sieb  auf  dasjenige  beschranken  werde,  was  für  das 
gegenwärtige  Recht  erheblich  sey.  Allein  wenn  der  Verf.  sagt :  die  Dar- 
stellung „schildere"4  die  in  der  Wirklichkeit  bestehenden  Verhallnisse  und 
Rechtsverhaltnisse  (§.  32.  S.  92),  so  dürfte  es  kaum  möglich  seyu,  das 
darzustellen,  was  die  Bedeutung  dieser  Worte  in  sich  schliesst.  Betrachtet 
man  aber  die  Einzelheiten,  welche  der  Verf.  dahin  zahlt,  so  findet  man, 
dass  nur  eine  Schilderung  des  Zustaudes ,  welcher  aus  dem  Daseyn  der 
verschiedenen  Arten  jener  Verhältnisse  entspringt,  beabsichtigt  sein  wird. 
Dabei  werden  aber  solche  Gestaltongen,  die  von  diesem  Standpunkte  ans 
nur  als  Rechts  begriffe  hierher  gehören  können,  deren  concretes  Daseyn 
indess  wiederum  Voraussetzung  für  andere  coucrete  Rechte  ist,  nament- 
lich juristische  Personen,  Stande,  aber  auch  schlechthin  „  einzelne  Hen- 
•chentt  (ohne  dass  man  sieht,  ob  darunter  nur  deren  juristische  Eigen- 
schaften ,  oder  Iodividuen  welche  sie  tragen ,  verstanden  werden  sollen), 
in  diesen  Thatbestand  gestellt  In  gleicher  Weise  werden  Rechtsgeschäfte 
genannt.  Ei  wird  ferner  dabin  gezahlt  die  Art  und  Weise  der  Betrei- 
bung des  Gewerbeverkehrs,  und  diese  ab  die  juristische  Betreibung 
der  Gewerbe  bezeichnet.  Darunter  wird  verstanden  seyn,  der  Gewerbe- 
betrieb, welcher  durch  Rechtsgeschäfte  vermittelt  wird.  Die  rechtliche 
Bedeutung  dieser  Geschäfte  gehört  aber  doch  in  das  Recht.  Der  Betrieb 
selber  ist  nur  ein  Gebrauch  dieses  Rechts,  und  nur  eine  für  das  Recht 
gleichgültige  Veranlassung  zur  Anwendung  desselben.  Bedeutend  für  das 
Recht  sind  aber  die  Vorstellungen,  welche  über  die  Verhältnisse  der 
Gewerbtreibenden  zu  einander  und  deren  Gegenstände  durch  den  Ge- 
werbebetrieb herrschend  geworden  sind,  ohne  zu  Rechtssätzen  gestaltet 
«zu  seyn.  —  Diese  Seite  geht  aber  hier  ganz  verloren  ,  während  wie- 
derum durch  Rechtsgeschäfte  veranlasste  Streitigkeiten  hierher  gezogen 
werden,  die  doch  als  solche  nur  Veranlassungen  zur  Anwendung  des 
Rechts  sind.  Hi  u<  k<  .,!,«>«  i  i. 


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Nr.  48.  HEIDELBERGER  1851. 

JAHRBOGHER  DER  LITERATUR. 


Lehrbuch  der  Mechanik.  Von  Dr.  J.  F.  Broch.  Erste  Abt/ieilung. 
Mechanik  der  festen  Körper.  Berlin,  1849»  Veit  $  Comp.  Chri- 
stiania.    Feilberg  und  Landmark. 

Von  dem  so  eben  genannten  Lehrbuche  liegt  der  erste  Abschnitt 
der  ersten  Abtheilung  in  222  Seiten  (8.)  vor,  der  die  Gesetze  des 
Gleichgewichts  und  der  Bewegung  umfassl.  Es  ist  somit  noch 
lange  kein  Ganzes,  das  hiermit  angezeigt  wird,  auch  ist  der  vorliegenden 
ersten  Lieferung  keinerlei  Einleitung  beigefügt,  aus  der  etwa  der  Plan 
des  Ganzen  übersehen  Werden  könnte.  Dieselbe  wird  wahrscheinlich  den 
spSteren  Lieferungen  beiliegen.  Trotzdem  glaubt  Ref.  diesen  ersten  Ab- 
schnitt in  diesen  Blattern  anzeigen  zu  müssen,  da  er  die  allgemeinen  Ge- 
setze der  Bewegung  und  des  Gleichgewichts  umfassend  behandelt  und  in 
dieser  Weise  gcwissermassen  ein  für  sich  bestehendes  Ganze  bilden  könnte. 
Eine  nähere  Uebersicht  wird  diese  Ansicht  rechtfertigen. 

Der  vorliegende  erste  Abschnitt  umfasst  zehn  Kapitel.  Das  erste 
behandelt  die  Wirkungsweise  und  das  Mass  der  Krifte.  Nach 
der  Erklärung  des  Wortes  „Kraft",  ihrer  Richtung,  Darstellung  u.  s.  w., 
wird  die  Wirkungsweise  einer  Kraft  auf  einen  festen  Körper,  die  innere 
Fortpflanzung  derselben,  betrachtet,  wobei  denn  der  feste  Körper  aus 
„Molekülen"  zusammengesetzt  gedacht  wird.  Ref.  hat  dazu  nur  zu  bemerken, 
das*  der  letzte  Absatz  S.  2  wohl  besser  zu  Anfang  des  §.  2  seinen  Platz 
gefunden  hatte,  da  es  jedenfalls  logischer  gewesen  wäre,  die  Art,  wie 
man  sich  die  Zusammensetzung  eines  Körpers  denkt,  zu  Anfang  anzuge- 
ben, ehe  man  daraus  Folgerungen  zieht.  Die  Bewegung  eines  Körpers 
ist  gleichförmig  oder  veränderlich  („accelerireud"  oder  „retar- 
tirend").  Hinsichtlich  der  Verbindung,  die  zwischen  einer  Kraft  und  der 
tod  ihr  erzeugten  Bewegung  besteht,  so  stellt  dass  vorliegende  Werk 
vier,  als  durch  die  Erfahrung  gelehrte  Gesetze  auf,  nämlich: 

1)  Ein  Körper  kann  nicht  in  Bewegung  kommen,  auch  nicht  die 
fchon  vorhandene  Bewegung  andern,  weder  in  Richtung,  noch  in  Grösse, 
wenn  nicht  eine  oder  mehrere  Kräfte  auf  ihn  wirken.   (Gesetz  der  Trägheit.) 

23  Die  Geschwindigkeiten ,  welche  verschiedene ,  unveränderliche 
Kräfte  in  gleichen  Zeilräumen  demselben  Körper  mittheilen  können,  stehen 
in  demselben  Verhältnis  wie  die  Kräfte  selbst;  ebenso  verhält  sich  auch 
zu  einander  diejenige  Vermehrung  oder  Verminderung  der  Geschwindigkeit 
XLIV.  Jahrg.  5.  Doppclheft.  48 


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754  Broch:    Lehrbuch  der  Mechanik. 

eines  bewegten  Körpers,  welche  verschiedene,  in  der  Riebtang  der  Be- 
wegung wirkende  Kräfte  diesem  Körper  miUheilen. 

3)  Um  auf  derselben  Stelle  der  Erde  bei  verschiedenen  Körpern 
dieselbe  Veränderung  der  Geschwindigkeiten  hervorzubringen,  müssen  die 
Kräfte  der  Schwere  der  Körper  proportional  sein. 

4)  Wenn  eine  Kraft  auf  einen  Körper  wirkt,  welcher  schon  eine 
Bewegung  hat,  so  wird  die  neue  hierdurch  hervorgebrachte  Bewegung 
relativ  zur  ursprünglichen  dieselbe  sein,  als  wenn  der  Körper  ursprüng- 
lich in  Ruhe  gewesen  wäre. 

Diese  vier  Gesetze  umfassen  allerdings  die  ganze  Grundlage  der 
Mechanik;  doch  wäre  es  wohl  klarer  gewesen,  sie,  wenn  auch  ein  Be- 
weis nicht  zulässig  ist,  klarer  abzuleiten,  statt  sie  so  ziemlich  als  Axiome 
aufzustellen.  Vielleicht  geschieht  diess  in  der  noch  fehlenden  Einleitung, 
auf  die  übrigens  kein  Bezug  genommen  wird.  Namentlich  das  vierte  Ge- 
setz, aus  dem  das  Parallelogramm  der  Kräfte  fliesst,  hätte  eben 
dieser  Folgerung  wegen,  die  auch  nur  angegeben  ist,  umständlicher  er- 
örtert werden  dürfen.  Dass  die  „Trägheit"  der  beschleunigenden  Bewe- 
gung entgegen,  der  verzögernden  förderlich  ist,  ist  nicht  ganz  klar,  da 
sie  eben  nur  jeder  Aenderuug  entgegenwirkt,  also  eben  so  gut  auch  einer 
Verzögerung.  Gerade  diese  „Trägheit"  hat  manche  Unklarheit  verschul- 
det, und  es  dürfte  besser  sein,  ihren  Namen  ganz  wegzulassen,  sowie  denn 
auch  das  „  Trägheitsmoment u  mit  einer  Trägheit  wenig  zu  thun  hat  — 
Auch  die  „Masse"  ist  hier  eigentümlich  definirt.  Unter  ihr  versteht  näm- 
lich unser  Buch  diejenige  Kraft,  welche  in  der  Richtung  der  Bewegung 
wirkend  die  Geschwindigkeit  eines  Körpers  in  der  Zeiteinheit  nm  die 
Längeneinheit  vermehrt.  Dass  man  im  gewöhnlichen  Leben  unter  Masse 
ganz  etwas  Anderes  versteht,  ist  bekannt,  und  es  entsteht  so  leicht  Ver- 
wirrung der  Begriffe.  Ueberhaupt  dürfte  der  Begriff  der  Masse  füglich 
aus  der  Mechanik  wegbleiben  und  statt  dessen  der  des  Gewichts  einge- 
führt werden,  wie  diess  z.  B.  Coriolis  tbut.  Auch  bei  dem  kurzen 
Nachweis  des  Parallelogramms  der  Geschwindigkeiten,  der  hier  gegeben 
wurde,  ist  zwar  wohl  klar,  dass  der  Punkt  nach  D  kommt,  aber  nicht, 
warum  er  gerade  auf  der  Diagonale  sich  bewegt. 

Folgerungen  aus  dem  vierten  Grundgeselze  erschöpfen  den  Gegen- 
stand des  zweiten  Kapitels.  Das  Gesetz  des  Parallelogramms  der  Kräfte 
wird  in  analytische  Formeln  gefasst,  dessgleichen  das  der  Zerlegung  der 
Kräfte.  Eben  so  wird  dio  Zusammensetzung  beliebig  vieler  auf  einen 
Punkt  wirkenden  Kräfte  gelehrt  und  die  bekannte  allgemeine  Formel  da- 
für gegeben.    Endlich  gibt  das  Buch  die  Formel,  wornach  man  aus  den 


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Broch:    Lehrbuch  der  Mechanik.  755 

drei  (rechtwinklichen)  Seitenkräften  einer  Kraft  die  Seitenkraft  derselben 
nach  einer  willkürlichen  Linie  bestimmen  kann. 

Das  dritte  Kapitel  wendet  sich  nun  zur  Statik  und  umfasst  die 
Bedingungen  des  Gleichgewichts  eines  Systems  mit  einander  verbundener 
Punkte,  deren  Verbindung  durch  von  der  Zeit  unabhängige  Gleichungen 
zwwcnen  ihren  Koordinaten  ausgedruckt  werden  könne.  Zunächst  ist  klar, 
dass,  wenn  auf  ein  solches  System  Kräfte  wirken,  in  den  verschiedenen 
Tbeilen  Spannungen  oder  Drucke  entstehen,  vermöge  der  Verbindungen, 
die  zwischen  diesen  Punkten  entstehen.  Denkt  man  sich  diese  Drucke 
durch  Kräfte  erzeugt,  die  an  den  Punkten,  wo  jene  s taUbaben,  angebracht 
waren,  so  könnte  man  die  Verbindung  aufheben,  wenn  man  nur  statt 
ihrer  diese  Kräfte  der  Verbindungen  einführte. 

Man  habe  nun  zwischen  den  Koordiuaten  der  Punkte,  x,  y,  z;  xl9 
y,,  z,  n.  s.  f.,  die  eine  Gleichung  u  =  o,  so  findet  man,  dass,  wenn 
Gleichgewicht  statt  haben  soll,  die  Komponenlen  der  gegebenen  Kräfte 
längs  den  drei  Koordinatenaxen  sein  müssen:  im  Punkte  (xt ,  y, ,  zj: 
du        du        du    .    _   .     r  ^       du         du  da 

u.  s.  w.  —  Ganz  leicht  lisst  sich  die  angewandte  Betrachtung  erweitern 
und  man  findet  so,  dass,  wenn  die  Verbindungen  zwischen  n  Punkten  durch 
die  r  Gleichungen:  ^=0,  ^  =  0,  ur  =  o,  zwischen  ihren  Koor- 
dinaten ausgedrückt  wird,  für  den  Fall  des  Gleichgewichts,  die  Komponenten 
der  gegebenen  Kräfte  sein  müssen  (allgemein)  im  Punkte  (xB,  ya,  zm) : 

Xn-81  dx«+a  dxB+*-  +  8r  daB' 
du,  du2  ,  dnr 

z"=8' -£7  +  '»  !,:+••••+'' 

worin  a, ,  a3 ,  ar  willkürliche  Grössen  sind.    Eliminirt  man  zwischen 

diesen  3n  Gleichungen  (m=l,  2,...n)  die  r  willkürlichen  Konstanten 

a„  a2,  ar,  so  erhält  man  3n — r  Bedingungsgleichungen  des 

Gleichgewichts  zwischen  den  Komponenten  der  gegebenen  Kräfte.  Die 
im  Punkte  (xm,  y„„  zm)  normal  auf  die  Fläche  u,  =  0  wirkende  Kraft  ist 

die  in  demselben  Punkte,  normal  auf  die  Fläche  u3  =  o  wirkende: 

48* 


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75«  Broch:   Le>rb,*h  der  Mechanik. 

u.  s.  f.  (worin,  d.  h.  in  ttj=o,  ua  =  o,...,  jeweils  nur  x«,  y«,  %m  als 
veränderlich  angesehen  werden). 

Daraus  folgt  leicht,  dass,  wenn  dem  System  eine  mit  dieser  Ver- 
bindung übereinstimmende  Bewegung  er t heilt  wird,  die  Gleichung: 

Y   d*l     IV  dy«_l_7   dZU   \   ^  J_V    dy»    !   7    dZ3     I  —  n 

Xi^+Y»7t+Zi7t"+X2"dT+Y^ir+Z2^r  +  =° 

stattfinden  muss 

Unter  gewissen  (hier  angegebenen)  Bedingungen  wird  die  erste 

Seite  dieser  Gleichung  integrabel  und  die  Gleichung  nimmt  die  Form 
dl) 

-—— O  an,  wo  dann  U  die  KrK  ftef  unktion  heisst. 
dt 

Bezeichnet  man  durch  s,  ,  s2,...  die  durch  die  Punkte  beschriebe- 
nen Bahnen,  durch  Pt,  Pa,  ...  die  auf  dieselben  wirkenden  Kräfte;  heissen 

ds,  ds« 

die  Geschwindigkeiten—,  -^...welche  die  durch  oben  erwähnte  Glei- 
chungen verbundenen  Punkte  annehmen  können,  virtuelle  Geschwin- 
digkeiten, dessgleichen  die  nach  der  Tangente  der  Bahn  zerlegte  Kom- 
ponente der  Kraft,  die  Tension  derselben  (T,,  Ta, ....),  und  T, 

n.  s.  w.  die  virtuelle  Arbeit,  so  kann  obiger  Salt  auch  so  ausge- 
druckt werden:  „Die  virtuelle  Arbeit  der  bewegenden  Kräfte  ist  derje- 
nigen der  widerstehenden  gleich."  Diess  ist  der  Sets  der  virtn ei- 
len Geschwindigkeiten.  Aus  ihm  lassen  sich  leicht  die  froheren 
Gesetze  wieder  ableiten,  so  dass  er,  als  Princip  vorangestellt,  die  Mecha- 
nik umfassen  würde.    Eben  so  ist  der  Satz  nicht  nur  notbwendig, 

sondern  auch  hinreichend  für  das  Gleichgewicht.    Es  ist  hier  nur  zn 

ds 

bemerken ,  dass  die  Formel  —  und  ahnliche  für  die  Geschwindigkeit  a n- 

■ 

genommen  sind,  deren  Nachweis  also  hier  fehlt. 

Das  folgende  Kapitel  behandelt  nun  die  Anwendungen  der  im 
so  eben  Behandelten  gegebenen  allgemeinen  Formeln,  und  zwar  zunächst 
auf  das  Gleichgewicht  eines.  Punktes,  der  entweder  ganz  frei,  oder  ge- 
zwungen ist,  auf  einer  oder  zwei  Oberflächen  zu  bleiben.  Die  allgemei- 
nen Formeln  zeigen,  dass  in  letzterm  Falle  die  Resultante  der  wirkenden 
Kräfte  normal  auf  der  Oberflache  oder  der  krummen  Linie,  in  der  sich 
beide  schneiden,  stehen  muss.  Siud  alle  Punkte  des  gegebenen  Systems 
unveränderlich  mit  einander  verbunden,  d.  b.  bilden  sie  einen  festen 

Körper,  so  werden  die  Gleichungen  u,  =o,  u3  =  o,         0^  =  0  die 

sein,  welche  ausdrücken,  dass  alle  übrigen  Punkte  in  demselben  Abstand 
von  drei  unter  ihnen,  und  diese  wieder  in  demselben  Abstand  von 


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Broch:   Lthrbnch  der  Mechanik.  757 
ander  beharren.    Diess  gibt  3n  — 6  Gleichungen  von  der  Form  u,  = 

fr-xo3 + Cyi — y2)2+ C^i  — «2}a—  ci8=° t.  m 

Die  Elimination  der  Unbestimmten  a, ,  a2,....  führt  also  anf  3n-~ 
(3  n — 6}  nts  6  Gleichungen  des  Gleichgewichts ,  die  bekanntlieh  durch 
IX  =  o,  2Y  =  o,  2(Yz— Zy)  =  o,  2(Zx— Xz)=o,  Z(Xy— Yx):=o 
ausgedruckt  werden  kOnnen. 

Hat  der  feste  Körper  einen  unbeweglichen  Punkt,  so  wähle  man 
ihn  zum  Anfangspunkt  der  Koordinaten,  und  führe  wieder  obige  Bedin- 
gungen ein,  EU  denen  noch  die  drei  Bedingungsgleichungen  u,  aus  x,  aJ=  o, 
Uj^yj^ro,  03  =  1,1=0  kommen,  so  dass  jetzt  r  =  3n— 3,  und  man 
also  nur  3  Bediogungsgleichungen  des  Gleichgewichts  erholt,  die  drei  letz- 
ten der  vorigen  Gleichungen  nämlich.  Der  Druck  auf  den  festen  Punkt 
findet  sich  dann  leicht,  seine  Komponenten  sind:  ZX,  IV,  ZZ. 

Hat  das  System  zwei  feste  Punkte,  und  nehmen  wir  die  durch  die- 
gehende  Gerade  als  Axe  der  z  an,  so  erhält  man  3n — 1  Glei- 
der  Verbindungen  und  also  nur  eine  Bedingungsgleichung  dei 
Gleirhgewichts,  die  letzte  der  obigen  sechs.  Die  Drucke-,  senkrecht  auf 
die  z  Axe  haben  zu  Komponenten: 


_        >  s  2fZx- 

im 


Hieraus  ergeben  sich  dann  auch  leicht  die  Bedingungen,  dass  ein 
fetter  Körper,  der  sich  gegen  eine  oder  mehrere  Ebenen  stützt,  im  Gleich- 
gewicht sei.  « 

üebrigeus  ist  hier  zu  bemerken,  dass  der  Nachweis,  wie  diese 
Formeln  folgen,  insoferne  nicht  gegeben  ist,  als  nur  die  Gleichungen  ge- 
geben sind,  aus  denen  sie  dnrch  Elimination  folgen,  nicht  aber  diese  Eli- 
mination selbst,  die  allerdings  keine  mechanische,  sondern  bloss  analyti- 
sche Aufgabe  ist,  und  also  Weggelassen  werden  konnte,  wenn  gleich  ihre 
Einfügung  der  Deufticbkeit  genützt  haben  würde.    •  1         "  ^ 

Hat  man  ein  (biegsames)  Seilpolygon  von 1  n  Seiten,  ^so  be- 
atehen  nur  n  —  1  Verbindungsgleiohungen ,  insoferne  nämlich  die  Längen 
der  einzelnen  Stücke  unveränderlich  sind.  Sind  nun  die  gegebenen  Kräfte 
ao  den  Endpunkten  der  Stöcke  angebracht,  so  wird  Irtan  also  3n—(n—l) 
s=t2a+l  Bedingungsgleicbungen  des  Gleichgewichts'  erhalten,  die  denn 
noch  angegeben  sind.  Die  Spannungen  der  einzelnen  Seilstücke  er- 
geben  sich  daraus  leicht.  Die  Riohtungen  der  Verbiudungblinien ,  so  wie 
der  Widerstand  des  (befestigten)  Anfangspunktes  des  Polygons  ergeben 


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758  Broch:   Lehrbuch  der  Mechanik. 


sich  gleichfalls.  Ein  besonders  behandelter  Fall  ist  der,  da  alle  Kräfte 
parallel  sind,  der  dann  unmittelbar  zur  Ketten  Ii  nie  fahrt,  die  ausfuhr- 
lich bebandelt  ist. 

Eine  Tafel  lehrt  den  Werth  der  horizontalen  Spannung  aus  der 
Weite  und  der  Länge  der  Keltenlinie  kennen.  Die  Kettenbrücken 
bilden  eine  zweite  Anwendung  der  allgemeinen  Formeln.  In  §.  31  ist 
es  nicht  ganz  klar,  dass  z  und  z,  gegeben  sind,  doch  kann  man  sie  an- 
nehmen und  darnach  die  Länge  der  Kette  berechnen. 

Müssen  die  Verbindungspnnkte  des  Seilpolygons  auf  einer  gegebe- 
nen Flüche  bleiben,  so  treten  weitere  Bedingungen  hinzu  (§.  33)  nnd 
eben  so  wenn  eine  Kettenlinie  auf  einer  Fläche  bleiben  muss.  Ist  die 
Schnur  ohne  Schwere  und  kann  überall  der  Fläche  folgen,  so  ergeben 
diese  Formeln,  dass  die  Spannung  überall  dieselbe  ist,  und  der  normale 
Druck  der  Krümmung  der  Fläche  proportional. 

Das  fünfte  Kapitel  behandelt  nun  die  Reduktion  der  Kräfte. 
Sind  die  gegebenen  Kräfte  mit  einander  nicht  im  Gleichgewicht,  so  kann 
«dieses  hergestellt  werden  dadurch,  dass  man  im  Aligemeinen  zwei  Kräfte 
zu  den  gegebenen  hinzufügt,  welche  dann  (entgegengesetzt  genommen) 
die  Res ultir enden  der  gegebenen  Kräfte  heissen.  Man  bat  alsdann 
12  Unbekannte,  nämlich  die  sechs  Komponenten  der  zwei  Kräfte  und  die 
sechs  Koordinaten  ihrer  Angriffspunkte.  Unter  besondern  Umständen  kann 
auch  eine  neue  Kraft  hinreichen,  um  das  Gleichgewicht  herzustellen.  Io 
diesem  Falle  müssen  die  gegebenen  Kräfte  einer  Bedingung  unterworfen 
sein,  welche  in  der  Gleichung  2X.  2(Yz  —  Zy)  +  2Y.  Z(Zx  — Xz)+2Z. 
2(Xy —  Yx)  =  o  ausgesprochen  ist,  vorausgesetzt,  dass  nicht  ZX  =  o, 
ZY  =  o,  2Z  =  o  sei. 

Sind  die  gegebenen  Kräfte  alle  parallel,  so  ist  es  leicht,  die  Re- 
sultante zu  finden,  so  wie  ihre  Richtung,  die,  bei  ungeänderten  Kräften, 
immer  durch  einen  Punkt  gebt,  der  von  der  Richtung  der  Kräfte  unab- 
hängig ist.  Sind  nur  zwei  solcher  Kräfte  vorhanden,  so  findet  man  da- 
raus den  bekannten  Satz.  Sind  diese  Kräfte  entgegengesetzt  gerichtet, 
so  entsteht  ein  Kräftepaar,  das  nun  weiter  untersucht  wird,  in  der 
Weise,  wie  dies  Poinsot  in  seinen  bekannten  Elements  de  Statiqne  darstellt 

Wir  finden  hier  die  Sätze  über  die  Verlegung  eines  Paars,  sein 
Moment,  die  Zusammensetzung  der  Paare,  ihre  Axen  u.  s.  f. 

Wenn  nun  2X=o,  2Y  =  o,  2Z  =o,  so  können  die  gegebenen 
Kräfte  zu  einem  Paare  zusammengesetzt  werden,  dessen  Moment  gleich 
V  (2(Yz-Zy))*+(2(Zi-Xz))4-(X(Xy-Yx))»  ist 


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Broch:   Lehrbach  der  Mechanik. 


Eine  Kraft  und  ein  Kräftepaar  können  durch  eine  einreine  Kraft 
ersetzt  werden,  wenn  sie  io  derselben  oder  in  parallelen  Ebenen  liegen. 
Diese  Bedingung  ist  nothwendig  und  hinreichend.  Alle  Kräfte,  die  auf 
einen  Körper  wirken,  können  immer  auf  eine  Kraft  und  ein  Kräftepaar 
reduzirt  werden.  Die  Resultante  (R)  kann  in  einem  beliebigen  Punkt 
angreifen,  und  das  Resultantenpaar  hängt  von  R  und  der  Lage  dieses 
Punktes  ab.  Beieichnet  man  mit  G  das  Moment  dieses  Paares,  so  ist  es 
von  Interesse,  den  Angriffspunkt  in  finden,  für  den  G  ein  Maximum  ist. 
In  diesem  Falle  steht  das  Resultantenpaar  auf  der  Richtung  der  Resultt- 
renden  senkrecht.  Alle  Kräfte  können  also  immer  zu  einer  längs  einer 
bestimmten  Linie  wirkenden  Resnltirenden  und  einem  auf  ihr  senkrechten 
Resultantenpaar  reduzirt  werden,  in  welcher  Lage  alsdann  das  letztere 
seinen  kleinsten  Werth  hat.  Diese  bestimmte  Linie  heisst  die  Zentr al- 
axe der  gegebenen  Kräfte. 

Das  Moment  des  kleinsten  Paares  bestimmt  sich  aus  den  gegebenen 
Kräften.  Für  Punkte,  die  gleiche  Entfernung  von  der  Zentralaxe  haben, 
sind  die  Resultanteopaare  gleich.  Das  Resultantenpaar  in  Bezug  auf  jede 
andere  Axe  kann  durch  jenes  kleinste  Paar  bestimmt  werden.  Da  für 
den  Fall,  dass  die  gegebenen  Kräfte  eine  einzige  Resultirende  haben,  das 
Moment  des  kleinsten  Resultantenpaares  Null  sein  muss,  so  erhält  man 
wieder  die  schon  oben  angeführte  Bedingungsgleichung. 

Seite  56  Zeile  3  muss  „zwei"  statt  „drei«,  und  S.  57  Z.  6  „eine 
Resultirende"  statt  „Gleichgewicht  stehen. 

Das  folgende  (sechste)  Kapitel  handelt  vom  Zentralpunkt,  der 
Zentrallinie  und  der  Zentral  ebene  der  Kräfte.  Gesetzt  nämlich 
(unveränderliche)  Kräfte  wirken  auf  einen  Körper,  so  dass  sie  iu  unver- 
änderlichen Richtungen  an  ihren  Angriffspunkten  haften,  so  wird  man  als 
Bedingungen,  dass  der  Körper  in  jeder  Lage  im  Gleichgewichte  sei, 
finden:  2X  =  o,  2Y  =  o,  ZZ  — o,  2Xx  =  o,  SXy  =: o,  2Xz=o,  2Yx=o, 
2Yy  =  o,  2Yz  =  o,  2Zx  =  o,  2Zy  =  o,  IZz  =  o.  Es  scheint  mir,  als 
sei  die  Ableitung  dieser  Gleichungen  nicht  ganz  überzeugend,  namentlich 
ist  nicht  nachgewiesen ,  warum ,  wenn  diese  Gleichungen  in  irgend  einer 
Lage  des  Körpers  gelten,  sie  in  jeder  andern  gelten  müssen.  (X,  Y,  Z, 
x,  y,  z  beziehen  sich  auf  Axen ,  die  im  Räume  fest  sind,  sich  also  nicht 
ändern  mit  der  Stellung  des  Körpers.  Die  Komponenten  der  Kräfte:  X, 
Y,  Z,...  werden  also  in  jeder  Stellung  des  Körpers,  bei  der  beliebigen 
Drehung  um  den  Anfangspunkt  der  Koordinaten,  dieselben  bleiben,  wäb- 

raod  die  Koordinaten  x,  y,  z,         der  Angriffspunkte  sich  ändern.  Man 

lege  durch  denselben  Anfangspunkt  ein  im  Körper  festes  System  der  u, 


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760  Broch:    Lehrbuch  der  Mechanik. 

v,  w,  so  werden  x,  y,  z  durch  u,  vf  w  vermittelst  dreier  Winkel  <p, 
V,  o,  und  umgekehrt,  ausgedrückt  werden  können.)  Gesetzt  nun,  diese 
Gleichongeii  gelten  in  irgend  einer  Stellung  des  Körpers  und  man  drücke 
o»  v,  w  durch  x,  y,  i  aus,  so  wird  mau  findeo,  dass  £Xu=o,  XXv=o, 

SXw=ro,  XZw  =  o.    Da  eher  u,  r,  w  in  jeder  Stellung  dieselbe* 

sind,  so  folgt  unmittelbar,  dass  die  obigen  Gleichungen  dann  allgemein 
gelten,  da  ja  x,  y,  z  durch  u,  v,  w ,  also  XXx  durch  ZXu,  1 X  v.  XXw, 
gegeben  ist,  und  zwar  als  derartige  lineare  Funktion  dieser  Grössen,  d&ss 
sie  mit  ihnen  verschwindet 

Finden  nun  nicht  alle  jene  Gleichungen  statt,  so  isl  es  immer  leicht 
eine  oder  mehrere  Krade  zuzufügen,  welche  das  Gleichgewicht  herstellen, 
wenn  diese  Kräfte  mit  unveräuderlicher  Richtung  an  ihren  Angriffspunk- 
ten  haften. 

Ist  dazu  nur  eine  einzige  Kraft  (deren  Komponenten  X, ,  X, ,  Z, 
und  ihr  Angriffspunkt  x,,  y„  z,  sei)  nüthig,  so  muss  oOenbar:  XX— Xt 
=eo,  !X\ — X,a,?=o,  2Yx— Y,x,  =o,  vZx— Zlxl^=&,  SY-j— YgSis«, 
SXy-— X^  ==o,  XYy— vZy — Z^^o,  tl — Z,  =o,  2Xz — 
X,Xj=ro,  IY* -rY,*,  ^o,  XZz~-Zt z4~  o  seio.  Daraua  folgt,  dasa  die 
gegebenen  Kräfte  folgende  Bedingungen  erfüllen  müssen: 

SXx    -  IYx     SZx    IXy      lYy  _  iZy^  2Xt_2Yi_X& 
2X  ~   2Y        XZ '  IX       2Y        XZ '  XX    "  2Y  "™  2Z ' 
und  dass,  wenn  sie  erfüllt  sind,  ist: 

XXx     __XYa     _  XZz 

xx,yi~  x*'  h~XZ' 

Dieser  Punkt  nun  heisst  Z  e  n  l  r  a  I  p  u  n  k  t  der  Kräfte,  liegreiflich  darf 
nicht  augleicb  2X  =  o,  2Y=:o,  XZ  =  o  seiu.  Dieser  Punkt  ist  im  Kör- 
per fest  (was  im  Buche  zu  bemerken  Übersehen  ist),  da  man  für  seine 

Koerdinaten  up  v,,  w,  die  Ausdrücke  ^J,  findet,   die  sich 

-\     XY  jlL 

nicht  ändern.  Parallele  Kräfte  haben  immer  einen  Zenlralpunkt.  Ist  die 
Redoktion  auf  eine  einzige  Kraft  nicht  möglich,  d.  h.  finden  obige  Be- 
dingungsgleichungen nicht  Statt,  so  kann  mau,  wenn  die  Gleichungen: 
XX[2Yx.  2Zy— XZx.  XYy]-j-XY[XXy.  XZx— XZy.  £Xx]-fXZ |> Yy.  SXx 
XXy.  XYx]  =  o,  XX[XYxXZz-2ZxXYa|+XY[XXzXZx— XZzXXx]+lZ 
[XYy.  SXx-XXz,  XYx]=ro  erfüllt  sind,  die  gegebenen  Kräfte  auf  eine 
neue  und  ein  Kräftepaar  reduziren.  Es  ergibt  sich  sodann,  dass  man  den 
Wirkepunkt  der  Kraft  (welche  nichts  anders  als  die  Mittelkraft  des  Sy- 
stems ist)  willkobrlich  auf  einer  im  Körper  festen  Zen hr allin ie  wüh- 
len kann;  der  Arm  des  Paares  kann  beliebig  auf  einer  der  Zentrale 


X, — XX,  Y, — 2Y,  Zj  —  vZp  Xj  —  —^TiYt — ~TU~izi 


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Broch:   Lehrbuch  der  Mechanik.  761 

parallelen  Linie  angenommen  werden,  und  die  Kraft  dea  Paares  bekomm! 
eine  von  der  willkürlichen  Länge  des  Arms  und  der  Lage  dea  Angriffs- 
punktes der  Kraft  bestimmte  Grösse. 

Wenn  die  Mittelkraft  Null  ist,  ao  kann  man  die  Kräfte  durch  ein 
Paar  ersetzen,  dessen  Arm  willkürlich  ist,  das  aber  eine  bestimmte  Nei- 
gung hat. 

Ist  keine  der  vorigen  Bedingungen  erfüllt,  ao  kann  man  die  gege- 
benen Kräfte  durch  eine  Kraft  und  zwei  Kräflepaare  ersetzen.  Der  Wir- 
kepunkt der  Kraft  kann  beliebig  in  der  im  Körper  festen  Zentralebene 
gewählt  werden,  und  sie  ist  der  Mittelkraft  des  Systems  gleich  nnd  pa- 
rallel; die  Arme  der  Paare  sind  dieser  Ebene  parallel,  und  ihre  Momente 
hingen  vom  Angriffspunkt  und  ihrer  Lage  ab. 

Wühlt  man  die  Kraft  und  die  Paare  ao,  dass  jede  Kraft  auf  der 
Richtung  der  andern  senkrecht  ist  und  ebenso  die  Arme  der  beiden  Paare 
auf  einander,  was  immer  möglich  ist,  so  findet  man  alsdann,  dass  die 
Kraft  in  einem  Punkte  der  Zentralebene  angreift,  der  desshalb  Mittel- 
punkt der  Zentralcbene  heisst;  die  Arme  der  beiden  Paare  sind 
parallel  zweien  festen  Linien  in  der  Zentralebene,  die  die  Mittellinien 
derselben  heisaeu.  ,t 

Ist  die  Mittelkraft  Null,  so  sind  beide  Arme  einer  festen  Ebene 
parallel,  doch  muss  dabei  noch  eine  gewisse  Bedingungsgleichung  erfüllt 
sein  j  ist  das  letztere  nicht  der  Fall,  so  kann  man  die  Kräfte  immer  durch 
drei  Paare  ersetzen. 

Sucht  man  diejenigen  Stellungen  des  Körpers  (also  auch  seiner 
Zentral  axe),  bei  denen  das  kleinste  Kräftepaar  Null  ist,  also  die  Kräfte 
auf  eine  einzige  reduzirbor,  so  findet  man  den  zuerst  von  Prof.  E.  Minding 
aufgestellten  Satz,  dass  alsdann  die  Richtung  dieser  Kraft  im  Körper  eine 
Ellipse  und  eine  Hyperbel  trifft,  die  deu  Mittelpunkt  der  Zentralebene  zum 
gemeinschaftlichen  Mittelpunkt  haben  und  die  in  den  zwei  auf  einander 
und  der  Zentralebene  senkrechten  Mittelebenen  (durch  die  Mittellinien) 
tagen,  und  die  Scheitel  der  einen  mit  den  Brennpunkten  der  endern  zu- 
sammenfallen. 

Data  die  mehr  genannten  Linien  und  Ebenen  jeweils  im  Körper 
fest  sind,  ist  im  Buche  angegeben,  aber  nicht  nachgewiesen,  obgleich 
wenigstens  eine  Andeutung  dieses  Nachweises  nicht  am  unrechten  Platze 
gewesen  wäre. 

Verlangt  man  die  Bedingungen  zu  kennen,  dass  ein  Körner  bestandig 
im  Gleichgewichte  sei,  wenn  er  nur  um  eine  (die  z)  Axe  gedreht  wird, 
bei  Kräften  von  unveränderlicher  Richtung,  die  an  ihren  Angriffspunkten 


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Broch:   Lehrbuch  der  Mechanik. 


haften,  so  findet  man: 
2X -o,  IY  =  o,  2Z  =s  o ,  Z(Xx  +  Yy)  =  o ,  2(Xy  —  Yx)  =  o, 
2Xz  =  o,  2Yz  =  o,  SZx  =  o,  ZZy  =  o. 

Damit,  wenn  diese  Gleichungen  nicht  Platz  greifen,  die  gegebenen 
Kräfte  durch  eine  einzige  ersetzt  werden  können,  müssen  (drei}  Bedingungs- 
gleichungen statt  haben,  und  die  Resultantkraft  geht  immer  durch  desselben 
Punkt,  der  dann  der  Zentralpunkt  der  gegebenen  Kräfte  in 
Bezug  auf  die  angeführte  Axe  genannt  wird.  Liegen  alle  Kräfte 
in  einer  auf  jener  Axe  senkrechten  Ebene,  so  kann  dieser  Punkt  leicht 
graphisch  bestimmt  werden.  Sollen  die  gegebenen  Kräfte  durch  eine  ein- 
zige Kraft  und  ein  Paar  ersetzt  werden  können,  so  muss  der  Angriffs- 
punkt der  Kraft  auf  einem  Hyperboloid  mit  einem  Mantel  gewählt  werden, 
während  der  Arm  des  Paares  parallel  einer  durch  jenen  Punkt  gehenden 
erzeugenden  Geradeu  des  Hyperboloids  ist. 

Ein  Körper  heisst  astatisch,  wenn  er  in  jeder  Lage  im  Gleich- 
gewicht ist.  Ist  ein  Körper  mit  einem  festen  Punkte  nnn  nicht  astatisch 
(aber  immer  Kräften,  wie  so  eben  betrachtet,  unterworfen)  und  hat  das 
System  der  Krfifte  einen  Zentralpunkt,  so  wird  der  Körper  im  Gleichge- 
wicht sein,  wenn  der  Zentralpubkt  in  die  Richtung  der  durch  den  festen 
Punkt  gezogenen  Nittelkraft  kommt.  Aebnliches  gilt  in  den  weitern  Fullen, 
was  nun  untersucht  wird. 

Wendet  man  die  Gleichung  der  virtuellen  Geschwindigkeiten  auf 
den  Fall  an,  da  Kräfte  mit  unveränderlichen  Riebtungen  an  ihren  Angriffs- 
punkten haftend  auf  ein  System  materieller  Punkte  wirken,  die  irgend 
wie  mit  einander  verbunden  sind,  so  findet  man,  dass,  im  Falle  des 
Gleichgewichts,  2(Xx-|- Yy-f-Zz)  ein  Maximum  oder  Minimum  sein  muss. 
So  folgt,  dass  für  das  Gleichgewicht  eines  solchen  Systems  bei  parallelen 
Kräften  der  Mittelpunkt  (Zentralpunkt)  der  parallelen  Krfifte  so  hoch  oder 
tief  wie  möglich  liegen  muss,  von  einer  Ebene  an  gerechnet,  die  senk- 
recht ist  auf  der  Richtung  der  Kriifle  und  einige  ähnliche  Sätze. 

Eine  Anwendung  der  Theorie  des  Mittelpunkts  paralleler  Kräfte 
(Schwerpunkts)  auf  schwere  Körper  enthält  das  siebente  Kapitel.  Es 
wird  bestimmt  der  Schwerpunkt  einer  geraden  Linie,  des  Umfangs  eines 
Polygons,  eines  Kreisbogens,  einer  Parabel,  einer  Cycloide,  Kettenlinie, 
sowie  der  Satz  nachgewiesen,  dass  der  Flächenraum  einer  Unidrehungs- 
fläche gleich  ist  dem  Produkt  der  Länge  der  beschreibenden  ebenen  Linie 
mit  dem  Umkreise,  den  der  Schwerpunkt  der  Linie  beschreibt.  Der  Satz 
wird  angewendet  auf  das  Umdrehungsellipsoid.  Sodann  wird  der  Schwer- 
punkt eines  Paralleltrapezes,  eines  Dreiecks,  Ellipsensegments,  Hyperbel- 


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Broch:   Lehrbuch  der  Mechanik. 


7«3 


segments,  Parabelsegments,  Segments  der  Kettonünie,  einer  cycloidischen 
Fläche ;  der  Oberfläche  eines  Kugelsectors,  eines  sphärischen  Dreiecks  be- 
stimmt ond  die  bekannte  Guldinsche  Regel  abgeleitet.  Von  Körpern 
wird  der  Schwerpunkt  einer  dreiseitigen  abgestumpften  Pyramide,  einer 
dreieckigen  Pyramide,  eines  Ellipsoidensegments,  eines  Kugelsegments,  einer 
sphärischen  Pyramide  bestimmt,  natürlich  immer  nach  Anleitung  der  ge- 
gebenen allgemeinen  Formeln.  §.  73.  wlre  wohl  besser  „Gewicht"  statt 
„Masse"  gebraucht.  Ebenso  wird  im  achten  Kapitel  die  Theorie  der 
Zentrallioie  auf  schwere  magnetische  Körper  angewendet,  da  hier  eine 
resultirende  Kraft  nnd  ein  resultirendes  Paar  auftritt.  Es  werden  kurz 
die  Gleichgewichtsstellungen  eines  solchen  Körpers,  je  nach  der  Art  seiner 
Befestigung,  angegeben. 

Das  neunte  Kapitel  wendet  sich  nun  zur  Dynamik  und  stellt  zu- 
nächst die  Gesetze  der  Bewegungen  eines  Systems  von 
Punkten,  die  mit  einander  verbunden  sind,  dar,  wenn  diese  Verbindun- 
gen durch  Gleichungen  ausgedrückt  werden,  die  von  der  Zeit  unabhängig 
sind.  Wie  früher,  treten  auch  hier  wieder  die  Kräfte  der  Verbin- 
dungen auf.  Die  totalen  Kräfte  sind  diejenigen,  die,  wenn  alle  Ver- 
bindnngen  der  Punkte  aufgehoben  würden,  im  System  dieselbe  Bewegung 
hervorbringen  würden,  die  es  hat.  Da  die  Kräfte  der  Verbindungen  keine 
Bewegung  für  sich  hervorbringen  können,  und  die  totalen  Kräfte  aus  den 
gegebenen  und  diesen  letztem  bestehen,  so  folgt,  dass  die  gegebenen 
und  die  totalen  Kräfte  sich  ersetzen,  d.  h.  dass  diegegebenenKröfte 
und  die  in  entgegengesetzter  Richtung  genommenen  tota- 
len sich  im  Gleichgewicht  halten.  Diess  ist  das  d'Alem- 
herrsche  Prinzip. 

Es  ist  höchst  einfach,  den  Satz  abzuleiten,  dass  eine  Kraft  gleich 
ist  der  Masse  des  Körpers,  auf  den  sie  wirkt,  multiplizirt  mit  der  Be- 
schleunigung der  erzeugten  Geschwindigkeit.  Ist  K  nämlich  eine  Kraft, 
P  das  Gewicht  des  Körpers ,  g  die  Beschleunigung  der  Schwere ,  p  die 
durch  K  in  dem  Körper  hervorgebrachte,  so  hat  man: 

K:P  =  p:g,K  =  £p, 

P 

worin  -—  die  Masse  des  Körpers  ist.    p  ist  auch  die  Geschwindigkeit, 

welche  die  (unveränderliche}  Kraft  K  dem  Körper  in  einer  Sekunde  (der 
ersten}  mittheilt.  Ist  die  Kraft  veränderlich,  und  ist  e  die  gerade  Linie, 
welche  der  Körper,  der  sich  in  der  Richtung  der  Kraft  bewegt,  beschreibt, 
•o  ist  allgemein  „       P  d2e 


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TG4  Broch:   Lehrbuch  der  Mechanik. 

Zerlegt  man  eine,  auf  einen  Punkt  wirkende  Kraft  R  nach 
geute  der  Kurve,  welche  der  Punkt  beschreibt  und  nach  der  Normale  der- 

P  d2a  P  ?3 

selben  Kurve,  so  ist  die  erstere  —  —z-  die  zweite   ,  wenn  s  der 

g  dt2  g  r 

Dogen  aer  i\urse,  v  aie  uesenw  Innigkeit  in  oiesem  runKie,  r  uer  r\rum- 

mungshalbmesser  der  Kurve  ist  Die  erste  Kraft  heisst  die  Tangential-, 

letztere  die  Zentrifugalkraft.  Beide  zusammen  machen  wieder  R  ans. 

Aus  dem  d'A  lern  herrschen  Prinzip  folgt  unmittelbar,  dass  man 

die  Gleichungen  der  Bewegungen  erkalten  wird,  wenn  man  in  den  Glei- 

chungen  des   Gleichgewichts  statt  X,  Y,  Z  hier  X  jp-,  Y  — 2, 

d'z 

Z  —       setzt.    Die  Einführung  des  d'Alemberfschen  Prinzips  in  das  der 

virtuellen  Geschwindigkeiten  gibt  den  Satz  der  lebendigen  Kraft 
Die  lebendige  Kraft  eines  Systems,  wie  es  betrachtet  wird,  ist  gleich 
der  lebendigen  Kraft  des  Schwerpunkts,  wenn  das  ganze  System  dort 
vereinigt  wäre,  und  der  lebendigen  Kraft  des  Systems,  wenn  nur  die 
Bewegung  relativ  zum  Schwerpunkt  beachtet  wird  (dieser  also  fest  ge- 
dacht wird). 

Die  Sätze  der  Erhaltung  der  Bewegung  des  Schwer- 
punkts, sowie  der  Erhaltung  der  Flachen  sind  leichte  Folge- 
rungen aus  den  allgemeinen  Gleichungen  der  Bewegung.  Bndlich  ist  all— 

gemein:    l  d|  +  -y )  =f  2  m  v 

Die  allgemeinen  Gesetze,  welche  im  vorigen  Kapitel  aufgestellt 
wurden,  werden  nun  im  zehnten  angewendet  auf  die  Bewegung  eines 
festen  Körpers.  Hat  eiu  solcher  Körper  einen  festen  Punkt,  so  bat 
man  natürlich  nur  die  Bewegung  aller  andern  Punkte  in  Bezug  auf  dieses 
zn  beachten;  hat  er  diess  nicht,  so  kann  die  Bewegung  des  Körpers  ge- 
funden werden,  wenn  man  die  Bewegung  irgend  eines  Punktes  desselben, 
so  wie  die  relative  Bewegung  aller  andern  Punkte  zu  diesem  untersucht. 
Als  solcher  Punkt  wird  am  besten  der  Schwerpunkt  gewählt,  weil  dieser  sich 
bewegt,  als  ob  die  ganze  Masse  des  Körpers  in  ihm  vereinigt  sei  und 
alle  Kräfte  an  ihm  angebracht  wären.  Der  natürliche  Gang  ist  also  der, 
zunächst  die  Bewegung  eines  solchen  materiellen  Punktes  zu  untersuchen. 
Als  Beispiel  ist  die  Bewegung  eines  geworfenen  Punktes  im  leeren  und 
erfüllten  Räume  ausführlich  erörtert. 

Bei  der  Untersuchung  der  drehenden  Bewegung  treten  die  Träg- 
heitsmomente und  die  Hauptaxen  auf,  die  hier  nun  znm  Voraus 


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Broch:  Lehrbuch  der  Mechanik.  765 

bestimmt  sind.  Es  wird  nachgewiesen,  dass  für  jeden  Punkt  eines  Kör- 
pers es  drei  Hauptaxen,  die  auf  einander  senkrecht  stehen,  gibt,  die  dann 
so  beschaffen  sind,  dass  zu  einer  das  grösste  Trägheitsmoment  für  alle, 
durch  jenen  Punkt  gehende  Axen,  zur  zweiten  das  grösste  für  alle  in 
eioer,  durch  jenen  Punkt  gehenden  und  auf  der  ersten  Axe  senkrechten 
Ebeoe  gelegenen  Axen  gehört.  Die  Eigenschaft  der  Hauptaxen  ist  be- 
kanntlich durch  fxydm  =  o,^Jyzdm  =  o,^azdm  sss  o  ausgedrückt.  Es 

wird  aun  nachgewiesen,  in  welchen  Fällen  es  mehr  als  drei  Hauptaxen 
geben  kann  und  wie  mao  die  Lage  der  Hauptaxen  zu  bestimmen  im  Stande 
ist,  so  wie  auch,  wie  mao  in  einem  Körper  (falls  es  möglich  ist)  den 
Punkt  finden  kann,  für  den  alle  Trägheitsmomente  in  Bezug  auf  die  durch 
ihn  gebenden  Hanptaxen  gleich  sind ,  nnd  endlich ,  dass  jede  durch  den 
Schwerpunkt  gebende  Hauptaxe  zugleich  auch  Haupt  axe  ist  für  alle  Punkte 
des  Körpers,  durch  die  sie  geht.  Das  Trägheitsmoment  wird,  in  Bezug 
auf  durch  den  Schwerpunkt  gehende  Hauptaxen,  was  völlig  genügt,  be- 
stimmt für  ein  Prisma,  Ellipsoid,  abgestumpften  Kegel,  Kugelsegment. 

Der  zweite  Theil  der  Aufgabe  ist  nun  noch,  die  relative  Bewegung 
der  übrigen  Punkte  des  Körpers  zum  Schwerpunkte,  allgemein  zu  irgend 
einem  Punkte,  zu  bestimmen,  was  in  der  bekannten  Weise  geschieht.  Es 
wird  die  augenblickliche  Dre h ungsaxo,  die  Winkelgeschwin- 
digkeit um  dieselbe  u.  s.  f.  bestimmt,  überhaupt  die  Gleichungen 
dieser  Bewegung  gegeben.  Die  Bewegung  eines  solchen  Körpers  kann 
immer  durch  das  Rollen  zweier  Kegel  auf  einander  dargestellt  werden, 
wovon  der  eine  im  Räume,  der  andere  im  Körper  fest  ist.  Die  Berüh- 
rungslinie beider  ist  die  augenblickliche  Drehuugsaxe.  Zeichnet  man  über 
die  in  dem  betrachteten  Punkte  sich  schneidenden  Hauptaxen  ein  Ellipsoid, 
dessen  Haiboxen  den  Quadratwurzeln  der  drei  Hauptträgheitsmomente  re- 
ziprok gleich  sind,  so  gibt  jeder  Radius-vector  den  reziproken  Werth 
der  Quadratwurzel  des  Trägheitsmoments  an,  in  Bezug  auf  eine  durch 
ihn  gelegte  Axe.  Dessgleichen  ist  die  augenblickliche  Umdrehungsge 
schwindigkeit  der  Lange  desjenigen  Radius- vector  proportional,  om  den 
sie  statt  hat.  Die  Ebene,  weloho  das  Ellipsoid  im  Pole  der  Umdrehung 
berührt,  ist  im  Räume  fest  (was  übrigeus  im  Buche  nicht  deutlich  genug 
nachgewiesen  ist},  und  der  Ebene  des  Paares  der  Bewegungsmomente 
parallel,  vorausgesetzt  immer,  dass  die  Momente  der  gegebenen  Kräfte  in 
Bezug  auf  den  festen  Punkt  Null  seien.  Das  Ellipsoid  rollt  also  auf  je- 
ner festen  Ebene.  Zeichnet  man  ein  zweites  Ellipsoid  auf  dieselben  Axen, 
so  aber,  dass  die  Halbaxeo  den  Quadratwurzeln  der  Trägheitsmomente 


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7(56 


» 

Broch :   Lehrbuch  der  Mechanik. 


gleich  lind,  so  ichneidet  die  Axe  dei  Beweguogsmomentes  dasselbe  in 
einem  Punkte,  der  im  Baume  gleichfalls  feil  ist. 

Nachdem  noch  die  Gleichung  fflr  die  Umdrehung  um  eine  feste  Axe 
gegeben,  so  wie  die  Drucke  auf  dieselbe  bestimmt  werden,  wird  die 
Anwendung  des  Schwungrades  kurz  berührt  und  die  Theorie  des 
(zusammengesetzten)  Pendels  im  leeren  und  erfüllten  Baume  ausführlich 
behandelt,  wobei  denn  die  elliptischen  Funktionen  angewendet  werden. 
Der  Schluss  des  Abschnitts  bildet  die  Ableitung  der  Gesetze  der  Bewe- 
gung eines  festen  Körpers,  der  auf  einer  festen  Ebene  sieb  befindet,  wo- 
zu als  Beispiel  die  Bewegung  eines  schweren  Zylinders  auf  einer  festen 
Ebene  gegeben  wird. 

Seite  158  fehlt  die  Figur  42  und  Seite  188  der  Nachweis,  dau 
Apa  +  Bq3+Cr3  konstant  ist,  der  übrigens  leicht  zu  führen  ist;  S.  201 
wäre  mehr  Klarheit  zu  wünschen,  da  im  Allgemeinen  nicht  o  o, 
M  .  .  o>0*  k*  +  2ag  (1  —  cos  a)  . 

P     —   *   ist,  was  für  (o0  =  o  erst  mit  o 

4ag 


Auch  S.  205  ist  der  Werth  von  T  nicht  klar,  da  B 
fallen  wird ,  Indem  es  wenigstens  nach  dem  Vorangegangeoen  keine 
deotnng  hat. 

Man  wird  aus  dem  Vorstehenden  den  reichen  Inhalt  dieser  ersten 
Abtheilnng  leicht  entnehmen  können.  Die  Darstellung  ist,  Weniges  ab- 
gerechnet, vortrefflich,  wenn  auch  meistens  wohl  zu  gedrängt.  Für  An- 
fänger ist  das  Buch  jedoch  nicht  geschrieben.  Die  Ableitung  des  Prinzips 
der  virtuellen  Geschwindigkeiten  und  damit  des  Grnndiatzei  der  gesäum- 
ten Wissenschaft,  ist  ausgezeichnet  und  der  Standpunkt  einer  analytischen 
Mechanik  durchgängig  gewahrt.  Wir  sehen  mit  Verlangen  dem  Erschei- 
nen der  folgenden  Abteilungen  entgegen. 


Journal  of  the  American  orienlal  society.    Second  tolume.  Xetr-York 
et  London.    G.  G.  Putnam,  t851.  XLll  u.  342  p.  in  8. 

Vorliegender  Band  gibt  einen  erfreulichen  Beweis  von  dem  Ge- 
deihen der  noch  kein  ganzes  Jahrzehend  zählenden  amerikanisch-morgen- 
ländischen Gesellschaft  und  von  ihrem  mit  Erfolg  belohnten  Streben,  glei- 
chen Schritt  mit  ihren  Schwestern  in  Paris,  London  und  Halle-Leipzig  zu 
halten.  Während  der  erste  Band  dieser  Zeitschrift,  welcher  im  zweiten 
Doppelheft  der  Jahrbücher  angezeigt  worden  ist,  eines  Zeitraumes  von 
•ieben  Jahren  zu  seiner  Entstehung  bedurfte,  folgt  ihm  gegenwärtige1. 


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Journal  of  the  American  oriental  society.  767 

seboo  nach  etwa  anderthalb  Jahren  und  enthält  eine  Reihe  von  gediegenen 
Aufsätzen  Uber  die  verschiedensten  Theile  der  orientalischen  Philologie. 

Die  ersten  XLII  Seiten  enthalten  Berichte  Uber  die  Versammlungen 
der  Gesellschaft  im  Mai  1849  zu  Boston,  im  Oktober  desselben  Jahres 
xu  New -Häven,  im  Mai  1850  zu  Boston  und  Cambridge,  im  Oktober 
desselben  Jahres  zu  New-Haven,  ferner  die  Statuten  der  Gesellschaft,  das 
Yerzeichniss  ihrer  ordentlichen,  correspondirenden  und  Ehrenmitglieder,  so 
wie  das  der  Werke,  welche  der  Bibliothek  der  Gesellschaft  geschenkt 
oder  von  ihr  angeschafft  worden  sind. 

Der  erste  Aufsatz  dieses  Bandes  fuhrt  die  Ueberschrift :  „Shabba- 
thai  Zevi  and  bis  followers  by  rev.  William  G.  Scbauffler,  Missionary 
of  the  American  board  in  Turkey.tf 

Die  Geschichte  des  Schabbaibai  Zevi  ist  in  Deutschland  bekannt 
darum  begnügt  sich  Ref.  damit,  das  Leben  dieses  merkwürdigen  Mannes 
nur  in  seineu  HauptzUgen  hier  anzugeben,  um  das,  was  Herr  Scbauffler 
Neues  Über  die  Lehre  seiner  Anhänger  bietet,  daran  zu  knUpfen.  Schab- 
bathai oder  Schabthi  Zevi,  geboren  im  Jahr  1625,  war  der  Sohn  eines 
jüdischen  Kaufmanns  in  Smyrna.  Schoo  in  früher  Jugend  zeichnete  er 
sich  durch  ein  zurückgezogenes  religiöses  Leben,  so  wie  durch  seine 
Kenntnisse  im  Talmud  und  der  Kabbalah  aus.  Er  schloss  mehrere  Ehen, 
musste  aber,  da  er  sieb  immer  weigerte,  sie  zu  vollziehen,  sich  von  den 
ihm  angetrauten  Frauen  wieder  scheiden  lassen.  Im  24.  Lebensjahr  trat 
er  als  Messias,  der  Sohn  Davids  auf  und  behauptete,  allein  die  wahre  Aus- 
sprache des  Namens  Jehovah  zu  kennen,  was  ihm  eine  Excommunica- 
tion  der  jüdischen  Geistlichen  zuzog  und  ihn  nöthigte,  nach  Saloniki  zu 
entfliehen.  Da  er  auch  hier  gegen  die  Verfolgungen  der  Juden  keinen 
Schutz  fand,  begab  er  sich  zuerst  nach  Athen,  dann  nach  Egypten  und 
zuletzt  nach  Jerusalem,  wo  er  mehrere  Jahre  unangefochten  Vorlesungen 
Uber  den  Talmud  und  die  Kabbalah  hielt,  bis  er  endlich  auch  hier  (im 
Jahr  1665),  angestachelt  durch  einen  gewissen  Nathan  Benjamin  aus 
Gaza,  sich  für  den  verheissenen  Messias  ausgab  und  von  den  Rabbis  Ver- 
stössen ward.  Inzwischen  halten  aber  seine  Verwandten  ihm  in  Smyrna 
viele  Anhänger  gewonnen ;  er  konnte  es  jetzt  wagen,  dahin  zurückzukeh- 
ren, ward  daselbst  wie  ein  Prophet  empfangen  und  erhielt  Deputationen 
von  Haleb  und  andern  judischen  Gemeinden.  Auch  in  Konstantinopel  ent- 
stand eine  grosse  Aufregung  unter  den  Juden,  welche  durch  Schabba- 
tbars Ankunft  daselbst  gesteigert  ward,  und  sich  Uber  das  ganze  türki- 
sche Reich  verbreitete.  Bald  wurde  die  otbmaoische  Regierung  aof  das 
Treiben  dieses  Juden  aufmerksam  gemacht,  und  auf  Befehl  des  Sultans 


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768 


Journal  of  tbc  American  oriental  society. 


Mohammed  IV  ward  ihm  Kotahja  als  Aufenthaltsort   angewiesen.  Diese 
Verbannung  schmälerte  indessen  das  Ansehen  Schabbathafs  keineswegs, 
er  lebte  in  seinem  Exil  wie  ein  Fürst,  empfing  Gesandtschaften  von  sei- 
nen Anhängern  und  fuhr  fort,  die  Erlösung  als  nahe  bevorstehend  tu  ver- 
künden.   Während  seines  Aufenthalts  in  Kutabja  trat  ein  polnischer  Kab- 
I) nl ist,  Rabbi  Nehemia  genannt,  vor  ihn  und  disputirte  mit  ihm  Uber  seine 
angebliche  Sendung.    Der  Streit  ward  immer  heftiger  und  bald  lief  der 
polnische  Rabbi  Gefahr,  von  deo  Freunden  des  neuen  Messiaa  getüdtet 
zu  werden ;  es  blieb  ihm,  um  sein  Leben  zu  retten,  kein  anderer  Ausweg, 
als  sich  zum  Islam  zu  bekehren.    Der  Proselyte  begab  sich  hierauf,  mit 
Empfehlungsschreiben  des  Groesveziers  versehen,  zum  Sultan  und  klagte 
Scbabbathai  als  einen  Betrüger  und  Verführer  seines  Volkes  an.  Der  da- 
mals m  Adrianopel  residirende  Sultan  Hess  alsbald  Scbabbathai  herbeiholen 
und  auch  dieser,  um  der  ihm  angedrohten  Todesstrafe  zn  entgehen,  ward 
Muselman.    Aber  auch  als  solcher  setzte  er  seine  Beziehungen  zu  seines 
frühern  Anhängern  fort  und  behauptete  bald,  seine  Bekehrung  gehöre  auch 
zu  den  Kennzeichen  des  Messias.    Viele  seiner  Freunde  traten  gleichfalls 
zum  Islam  über,  ohne  jedoch,  wie  Scbabbathai  selbst,  aufzuboren,  die  Sy- 
nagoge zn  besuchen  und  eine  eigene  Liturgie  geltend  zu  machen.  Das 
zweideutige  Benehmen  Scbabbatbai's  uud  die  fortgesetzten  Bemühungen  der 
Juden,  ibn  beim  Grossvezier  zu  verdächtigen,  bewirkten  endlich  dessen 
nochmalige  Verhaftung  und  später  dessen  Verbannung  nach  Bosnien,  wo 
er  wahrscheinlich  (1676)  eines  gewaltsamen  Todes  starb. 

Mit  dem  Tode  Schabbathai^s  hurte  indessen  seine  Wirkung  nicht 
anf,  seine  Kabbalistischen  Lehren  fanden  noch  eifrige  Verfechter,  in  de- 
nen sogar  sein  früherer  Gegner  Rabbi  Nehemia  gehört.  Andere  lehrten, 
wie  manche  Schiiten  von  Ali  nnd  dessen  Nachkommen ,  er  sei  gar  nicht 
gestorben  und  werde  bald  in  erneuter  Herrlichkeit  wieder  erscheinen.— 
A  mli  nach  Polen  nnd  Deutschland  wanderten  Missionäre  des  Schabbatnats- 
mus  nnd  verliehen  ihren  Dogmen  ein  christliches  Gewand,  so  wie  ihre 
Brüder  im  Osten  ausserltch  Anhänger  des  Islsms  geworden.  Sie  waren 
würdige  Schüler  der  Ismaeliten  oder  Batiniten,  denn  auch  sie  lehrten: 
die  heilige  Schrift  habe  neben  dem  äussern  buchstäblichen,  noch  einen 
innern  verborgenen  Sinn,  welcher  allein  das  wahre  Wesen  der  Religion 
bilde,  während  das  todte  Wort  nur  dessen  Schale  sei.  So  lehrten  sie 
denn  auch  wie  Jene,  dass  Gott  in  menschlicher  Gestalt  zu  wiederholten- 
malen,  unter  Andern  auch  als  Christus,  sich  auf  der  Erde  gezeigt  habe 
und  dass  er  dereinst  auch  wieder  zur  vollkommenen  Erlösung  der  Mensch- 
heit als  Mensch  wiedererscheinen  werde. 

(Schluss  folgt.) 


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Nr.  49.  HEIDELBERGER  UM, 

JAHRBÜCHER  OER  LITERATUR. 


Journal  of  the  American  oriental  soelet  y. 

»  i  -I 

.  •  *  *  i  i  . 

(Schluss.) 

Herr  SchauOler.  welcher  zunächst  für  das  amerikanische  Publikum 
schreibt  und  darum  auch  mehr  ins  Einzelne,  sowohl  Uber  das  Leben 
Schabbathai's,  als  Aber  die  Kabbalistische  Philosophie  einzugeben  genöthigt 
war,  theilt  am  Schlüsse  seines  Artikels  ein  Dokument  mit,  das  ihm  von 
einem  Scbabbathaier  in  der  Türkei  mitgetheilt  worden.  Ort  und  Name 
des  Verfassers  wird  nicht  genannt,  das  Dokument  selbst,  eine  Art  Glau- 
bensbekenntniss  und  Missionsschreiben ,  ist  nicht  einmal  von  dem  Schab- 
batbaier  selbst  geschrieben,  sondern  nur  einem  Nicbtmobammadaner  diktirt 
worden.  Der  Scbabbathaier  ist  nämlich  äusserlicb  Muselmann,  musste  sieb 
daher  wohl  hüten,  etwas  zu  schreiben,  das  ihm,  wenn  es  bekannt  würde, 
d^Bfl  1^ o p f  kosten  k o o n  1 «i  es  Einern  l^iofitn^usliro  zu  diktirco  y  inoohtG  öjt 
weniger  Anstand  nehmen,  entweder  weil  der  Schreiber  sein  volle«  Ver- 
trauen hatte,  oder  weil  auch  im  schlimmsten  Falle  sein  Zeuguiss  gegen 
ihn  ungültig  wäre.  Im  Wesentlichen  stimmt  dieses  Dokument  mit  dam 
Glaubensbekenntnisse,  das  die  Scbabbathaier  vor  dem  Bischof  von  Camenz 
ablegten,  überein.  Auch  hier  wird  in  So  ha  ritisch  allegorischer  Weise  dar- 
getban,  dass  Gotteserkenntniss  mehr  als  Gottesdienst,  dass  die  güllliche 
Offenbarung  einen  innern  verborgenen  Sinn  habe,  und  dass  die  durch 
Sünden  gefallene  Menschheit  durch  den  Messias  wieder  von  denselben  ge- 
reinigt worden. 

Merkwürdig  ist  diese  Mittheilung  des  Herrn  Scbsuffler  besonders  da- 
durch, dass  sie  uicht  nur  das  Fortbesteben  dieser  Sekte  im  Oriente  dar- 
thut,  sondern  auch,  dass  selbst  mohammedanische  Scbabbathaier  Christus 
als  Messias  anerkennen,  was  bisher  nur  von  den  nach  christlichen  Staa- 
ten ausgewanderten  Scbabbathaiern  geglaubt  worden  ist.  In  diesem  neue- 
sten Glanbensbekenntnisse  ist  übrigens  von  einer  Dreieinigkeitslebre  keine 
Rede.  Christus  wird  nicht  als  Sohn,  sondern  als  ein  Gesandter  des  ein- 
zigen Gottes  dargestellt,  der  von  göttlichem  Geiste  beseelt  war.  Es  weicht 
bierin  entschieden  von  dem  vor  dem  Bischöfe  von  Camenz  abgelegten  ab, 
wo,  wie  bei  den  Schiiten,  von  einer  dreimaligen  Incarnation  der  Gott- 
heit selbst  die  Rede  ist,  als  Adam  kadmon,  als  Christas  und  dereinst 
als  Erlöser  der  Menschheit.  .  v. 

XUV.  Jahrg.  5.  Doppelheft.  49 


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770  Journal  of  Mm  American  orienlal  sociely. 

Der  zweite  Aufsatz  ist  Überschrieben: 

Account  of  a  Japanese  Romance,  with  an  introduction  by  William 
Turner* 

Der  Verf.  gibt  einen  summarischen  Ueberbück  über  den  Verkehr 
der  Japaneser  mit  fremden  Völkern,  von  der  ersten  Landung  der  Portu- 
giesen im  Jahr  1542  bis  zu  den  letzten  Versuchen  der  Amerikaner  vor  we- 
nigen Jahren,  Handelsbeziehungen  mit  Japan  anzuknüpfen,  dann  eine  Ge- 

nflnpuitrlipn  "Sinsum  in  Rnrnna  hia  auf  Amm  n«ru»i«  Werlr 
jjnuc ?i»v ii    ^iuuilii    in    liuiupa  ,    uu    am    uas    ucucswa    t»  ci» 

Ii.  ff.  W.u,  dessen  Inhalt  ausführlich  mitgelheilt  wird. 

Der  folgende  Aufsatz:  „Nota  on  Japanese  Syllabaries,  by  Sei 
Well  Williams u,  bildet  einen  Appendix  zu  dem  Vorhergehenden,  denn 


und  eine  Probe  der  neuesten  ii  Japan 

Der  dritte  und  vierte  Artikel  liefern  scbatsenswerthe  Beiträge  zur 
Geogrephie  und  neuem  Geschichte  von  Kurdistan.  Erslerer  ist  ein  Brief 
des  Missionars  Azariah  Smith  an  H.  Salianury,  d.  d.  Aintab, 
20.  August  1849,  mit  einer  Karte  von 
„Journal  of  a  tonr  froin  Oroomiah  to  Mosul,  tbrougfc  the 
tains,  and  a  visit  to  the  ruins  of  Niaiveb  ,  by  Justin  Perkins,  Uisaionary 
of  the  American  board  in  Persia.tt  Aus  dem  Schreiben  des  Herrn  Smith 
geht  hervor,  dass  die  von  Ainsworth  im  „joarnal  of 
cal  sociely"  (London,  1841)  milgetheilte  Karte  von 
Berichtigungen  bedarf  und  dass  namentlich  die  bedeutendsten  Plötze,  wie 
Ascbitnh,  Jnlamerk,  Kerim,  Kumri  Kala  und  andere  weiter 
nördlich  liegen,  als  sie  von  Ainsworth  angegeben  sind.  Auch  den 
fluss  setzt  A.  zu  weit  südlich,  wahrend  er  dem  kleinen  Zab 


iiHuei ungB nci»r  uio  oittrtio  ucr  DevuiKcruug^  oer  iiasionaujsciien  tieuirge 
angegeben.  Das  Tagebuch  des  Herrn  Perkina  beginnt  den  25.  April 
1840,  mit  deasen  Abreise  von  Mossul,  endigt  mit  einem  Besuche  der 
Ruinen  von  Nimrud  den  18.  Mai,  und  Uefert 


Notiz  Uber  (he  Kurdische  Sprache  von  B.  Ed wnrds,  welehe 
zöge  aus  den  über  diesen  Gegenstaad  sich  erstreckenden  Aufsätzen  ia 
„Zeitschrift  für  Kunde  des  Morgenlandes"  enthalt. 

Der  fünfte  Artikel  enthalt  unter  der  Ueberschnft .  ^ 
on  the  Peschito  Syrien  Version  of  the  new  testameat ,  by  Prot. 
W.  Gibbs"  eine  genaue  Zusammenstellung  aller  Eigenheiten  dieser  Ueber- 


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Jburnal  of  tbe  Americoo  oriental  «ociety.  771 

setzung  des  neuen  Testaments,  welche  langst  schon,  sowohl  durch  ihren 
i n oem  Werth ,  als  durch  ihr  hohes  Alter  und  die  Verwandtschaft  dir 
Sprache  mit  dem  zu  Christi  Zeit  io  Palästina  gesprochenen  Dialekte,  die 
Aufmerksamkeit  der  Bibelforscher  io  Anspruch  genommen  hat. 

Unter  dem  Titel:  „  Syllabus  of  tue  Siva-Gnana-Poikam u  tbeilt  der 
Missionir  H.  R.  Hoisington  deo  Hauptinhalt,  nebst  einigen  Auszügen, 
dieses  in  zwölf  Abtheilungen  zerfallenden  heiligen  Buches  der  Indier  mit. 
Dsrauf  folgt:  „Spedmens  of  the  Naga  laoguage  of  Asam,  by  Nathan  Brown, 
Missionary  of  the  American  baptist  union  in  Asam/- 

Aensserst  belehrend  ist  der  achte  Artikel:  r  Chinese  coltire:  or 
remarks  on  the  eauses  of  the  pecuNarities  of  the  Ghioeae.  By  rev.  Sa- 
muel R.  Browe,  täte  principal  of  the  Morrison  school  at  Hong-Kong,  China." 
Wir  finden  hier  ein  lebendiges  Gemälde  von  diesem  merkwürdigen  Lende, 
von  seiner  Cnltur,  Literatur,  Staatsleben,  Religion,  Sitten  und  Gebrauchen 
io  nicht  ganz  fünfzig  Seiten  zusammengedrängt,  wie  wir  es  vergebene  in 
diesem  Zusammenhange  und  mit  so  geistreicher  Aurfassung  und  klarer 
Darstellung  io  bandereichen  Werken  über  China  suchen. 

Artiole  IX  enthält  eine  Fortsetzung  der  im  ersten  Bande  dieser 
Zeitschrift  begonnenen  Uebersetzeeg  der  Eroberung  Persieaa  durch  die 
Araber,  aus  dem  türkischen  Tabari,  von  J.  P.  Brown,  nebst  dem  Tode 
und  der  Charakterschilderung  des  Chatifen  Omar,  aus  derselben  Quelle. 
Die  hier  mitgeteilten  Kapitel  betreffen:  die  Eroberung  von  Tudj  in  Fars, 
die  Eroberung  von  Kerman,  Sedjestan  und  Mekran.  Der  Zug  nach  Bei« 
rat  (?)  jenseits  Bassrab,  die  Sendung  des  Salim  Ibn  Keis.  Ref.  verweist 
anf  seine  Bemerkungen  zum  ersten  Bande  in  Betreff  der  Glaubwürdigkeit 
dieser  Berichte  und  auf  den  ersten  Band  seiner  Cbalifengeschicnle  Über 
den  Tod  und  Charakter  Omars. 

Article  X  enthalt:  „Notes  of  a  tour  in  mount  Libanon  and  to  tbe 
eastern  aide  of  lake  Hüleh  in  a  letter  to  a  relative  by  Henry  A.  de  Forest, 
M.  D.  ilissionary  of  tbe  American  board  in  Syriu".  und  der  folgende  Ar- 
tikel: „The  form»  of  tbe  greek  Substantive  verb  by  Prof.  James  Hadley.a 
Der  Verfasser  bemüht  sich,  io  diesem  kleinen  Aufsatze  die  Anomalien  des 
Zeitworts  etut  durch  Vergleichung  mit  dem  Sanskrit  zu  erklären. 

Der  letzte  bedeutendere  Artikel  ist  überschrieben :  Translation  of 
two  nnpoblished  arebio  documents,  retating  to  the  doetrioea  of  tbe  Is- 
mailis  and  other  öatinian  sects,  with  an  Introduction  end  notes,  by  Ed- 
ward E.  Selisbury."  - 

Der  gelehrte  Ucbersetzer  bat  diese  Documente  von  dem  oben  ge- 
nannten Missionäre  Dr.  de  Forest  erhalten  und  durch  deren  Veröffentli- 

49* 


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772 


Journal  of  the  American  oriental  Society 


chung  unsere  Kenntniss  von  einer  Sekte  vermehrt,  welche  vor  dem  Islam 
in  Penien  ihre  Wurzeln  schlaff  nnd  dann  unter  verschiedenartigem  mo- 
hammedanischen Gewände  und  allerlei  Namen  bis  auf  unsere  Zeit  fort- 
bestand. Das  erste  hier  Uberseite  Stück  ist  eine  Streitschrift,  welche  den 
Titel  führt:  „Der  Angriff  der  Gerechtigkeitsliebendeu  gegen  die  Sekte  der 
Ismaeliten  und  das  zornige  Ange  gegen  die  Karmaten.tt  Es  ist  ein  Aus- 
zug aus  dem  Werke:  „Kitab  Manahidj  Attawassul  fi  mabahidj  Altarassul.- 
Bs  besteht  aus  drei  T heilen:  1)  ein  Gedicht,  in  welchem  der  Verfasser 
von  der  Sekte,  gegen  welche  er  schreibt,  eine  vollständige,  natürlich 
nicht  vorteilhafte,  Schilderung  entwirft.  Diesen  Theil  bat  H  S.  noch 
unübersetzt  gelassen;  2)  ein  ähnliches  Gemälde  der  Ismaeliten  in  Prosa 
von  einem  gewissen  Alamidi,  vielleicht  Seif  Eddin  Alamidi  aus 
Hama,  welchen  Ibn  Cballikan  als  Verfasser  religiöser  und  philosophischer 
Streitschriften  nennt  und  dessen  Tod  nach  Herbelot  in  das  Jahr  816  d.  H. 
fallt,  3)  eine  Reihe  von  juridisch  -  theologischen  Fragen  in  Betreff  der 
Nussairfs,  die  dem  Scheich  Taki  Eddin  Ibn  Jatimeh  (gestorben  im 
Jahr  748  oder  768  d.  H.)  vorgelegt  und  von  ihm  beantwortet  worden. 
Dieses  Dokument,  von  Gegnern  der  Ismaeliten  entworfen,  darf  nur  mit 
Vorsicht  gebraucht  werden  und  zeigt  uns  nun  mit  Bestimmtheit,  was  die 
orthodoxen  Muselmänner  von  ihnen  dachten,  die  gewiss  von  frühester  Zeit 
her  ihnen  Lebren  und  Handlungen  andichteten,  die  kaum  später  bei  ein- 
zelnen Zweipen  derselben  mit  historischer  Gewissbeil  vorgefunden  werden. 
Zum  bessern  Verständnis  dieser  Dokumente  schickt  H.  S.  voraus,  was 
Schebrestani  über  diese  Sekte  unter  dem  Artikel:  „Batinijeh,  Gha- 
lijeh,  Nusseirijeb,  Ishakijeh,  Bakirijeh  und  Djafarijeh 
mittheilt. 

Das  zweite  Stück  hat  wahrscheinlich  einen  Missionär  der  Ismaeliten 
zum  Verfasser  und  besteht  aus  vier  Tbeilen:  1)  ein  System  der  Cosmo- 

rrnnif  ninn    Arl   filaiihAnehplr Anntnifl«  •     '1\   «inn   mvcticrh-  nllflcrnr'nrhp 

guuii  ,    %>  i  omo  Aik  \jiaoucii9UcnoiiuiiiiBt ,    o i  eine  uijausnj  aiioguuiiut 

Interpretation  desselben  und  4}  eine  Darlegung  der  Lehre  vom  Imam. 

Bin  drittes  Stück,  in  Form  eines  Gesprächs  zwischen  Mohammed 
Ibn  Ali  Albakir  und  Chalid  Ibn  Zeid,  welches  H.  S.  erat  später  mitzu- 
teilen gedenkt,  soll  von  den  obigen  Dokumenten  io  Betreff  mehrerer 
Dogmen  der  Ismaeliten  wesentlich  abweichen.  Wir  hoffen,  dasa  es  im 
nächsten  Bande  enthalten  sein  wird,  und  dass  etwaige,  dem  gewissenhaf- 
ten Uebersetzer  noch  dunkel  gebliebene  Stellen  im  Urtexte  beigegeben 
werden.  Wer  dieser  Chalid  Ibn  Zeid  war,  ist  nicht  mit  Bestimmtheit  zo 
ermitteln,  vielleicht  ein  Sohn  des  Zeid  Ibn  Ali  Ibn  Hinein  Ibo  Ali,  wel- 
cher im  Jahre  122  d.  H.  in  Knfa  umkam. 


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Karte  Anzeigen.  773 

Endlich  enthüll  der  vorliegende  Band  noch  nnler  dem  Titel:  „Mis- 
ce!laoiesu  1)  eine  Untersuchung  über  drei  zu  Malta  entdeckte  unterirdi- 
sche Gemächer \  2)  ein  Vorschlag,  wie  eine  gleichförmigo  Orthographie 
der  südafrikanischen  Dialekte  herzustellen  wäre ;  3)  Winke  Ober  den  Ur- 
sprung des  Bnddismns  in  Burma  Ii;  4)  ein  Verzeichuiss  arabischer  Hand- 
schriften zu  Worcesler;  5)  Nachricht  Ober  die"  inländischen  Druckereien 
in  Ostindien;  6}  ein  Verzeichniss  der  neuesten  in  Ostindien  erschienenen 
Sanskritwerke  und  7)  Uber  die  Juden  zu  Kaifung-fu  und  ihre  heiligen 
Bücher.  Well. 


Kurze  Anzeigen. 


1.  Löthrohrbuch.  Eine  Anleitung  tum  Gebrauch  des  Löthrohrs,  nebst  Beschreibung 

der  vorzüglichsten  Löthrohr-Gebldse.  Für  Chemiker,  Minerahgen,  Metallur- 
gen, Metallarbeiter  und  andere  Techniker;  sowie  »um  Unterricht  auf  Berg-, 
Forst-  und  landwirthschaf tlichen  Akademieen,  polytechnischen  Lehranstalten, 
Gesterbschulen  u.  s.  «?.  Von  Dr.  Theodor  Scheerer,  Professor  der 
Chemie  an  der  königl.  Sächsischen  Bergakademie  sm  Freiburg.  Mit  in  den 
Text  eingedruckten  Holzschnitten.  VI.  und  113  S.  kl  8.  Braunschuseig 
Druck  und  Verlag  ton  Fr.  Vietoeg  4*  Sohn.  1851» 

2.  Leitfaden  beim  Löthrohrprobir-  (nicht  Probier-)  Unterrichte  an  der  Bergschule 

sm  Clausthal  von  Bruno  Kerl,  Vice- Büttenmeister  und  Lehrer  der  Che- 
mie, Hüttenkunde  und  Probirkunst  an  der  Bergschule  sm  Clausthal.  20  S, 
in  8    Clausthal   Verlan  der  Schuieioer'schen  Buchhandlimo.  1851. 

Die  relative  Schmelzbarkeit  der  Mineralkörper  ist  ein  Merkmal  von  ho- 
hem Wertbe,  das  jedoch,  als  solches,  nur  im  Kleinen  beobachtet  werden  kann. 
Dies«  Betrachtungen  hatten  die  Entdeckung  des  Löthrohres  oder  Blaserobres  zur 
Folge,  einet  Werkzeuges,  vermittelst  dessen  man  auf  das  kleinste  Bruchstück 
irgend  einer  Mineral -Substanz  möglichst  heftige  Hitzegrade  einwirken  lassen 
kann.  Durch  Berselins  und  Plattner  erlangte  die  Gerättischart  noch  grös- 
sere Bedeutung;  ihre  Anwendung  wurde  zu  einem  sehr  wichtigen  Theile  che- 
mischer Untersuchungen.  Man  blieb  nicht  mehr  beschränkt  auf  die,  allerdings 
mehr  oder  weniger  wisseoswürdigen,  Erscheinungen,  wie:  Glühen,  Phospbores- 
cenz,  Aenderungen  von  Farbe  und  Form,  Aufschäumen,  Blasenwerfen,  Umwan- 
delnngen  zn  Glas  oder  Schmalz,  Redoction  metallischer  Oxyde  u.  a.  w.;  mit  dem 
Ldihrohr  lassen  sich  selbst  Analysen  anstellen. 

Der  „Leitfaden",  welcher  uns  in  der  ersten  der  genannten  Schriften 
aus  den  Händen  eines  der  berühmtesten  Chemiker  neuester  Zeit  geboten  wird, 
kann  nur  willkommen  sein,  und  die  allgemeine  Verbreitung  des  nützlichen  Büch- 
leins ist  dringend  zu  wünschen;  es  füllt  eine  wesentliche  Lücke  aus  und  kann 
nicht  genog  empfohlen  werden.  So  vortrefflich  die  Schriften  von  Berselina 
und  Plattner  —  wir  sind  weit  entfernt,  ihren  Verdiensten  zu  nahe  zu  treten 
—  so  eignen  sich  solche,  der  Ausführlichkeit  wegen,  kaum  für  Anfänger;  aber 


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774 


Kurze  Anzeigen. 


auch  die,  welche  weiter  vorschritten,  wir  zählen  uns  seihet  mit  andern  Fach- 
männern dahin,  können  Scheerer's  „Leih rohrbuch"  nicht  entbehren.  Sehr 
zweckgemas*  wurden  auch  die  Prüfungen  im  Glaskolben  und  in  der  offenen 
Glasröhre  abgehandelt,  sowie  die  Anstellung  von  Versuchen,  welche  die  Nach- 
weisung von  diesen  und  jenen  Stoffen  zum  Zwecke  haben. 

Die  Ausstattung  der  Schrift,  was  Papier,  Druck  und  Holzschnitte  betrifft, 
ist  so ,  wie  man  solche  an  jedem  Artikel  der  sehr  achtbaren  Verlags- Handlung 
kennt  und  zu  schätzen  weiss,  das  beisst  mustermassig. 

Das  Buchlein  des  Herrn  Kerl,  ein  Auszug  nusBerzelius  „ Anwendung 
des  Löthrohres"  und  ans  Plattner's  „Probirkunst  mit  dem  Löthrohr*,  ent- 
spricht ebenfalls  seinem,  weniger  umfassenden  Zwecke. 

v.  Leonhard. 

Die  Quart  führenden  Porphyre,  nach  ihrem  Wesen,  ihrer  Ver- 
breitung, ihrem  Verhalten  zu  abnormen  und  normalen  Ge- 
steinen, $o  tcie  Erzgängen,  ton  Gustav  Leonhard.  —  NU  zwei 
Lithographien,  fünf  colorirtcn  Profilla/cln  und  zwölf  Holzschnitten  im  Texte- 
Stuttgart  i85i.  J.  B.  Müller's  Verlagshandlung,  gr.  8.  Vitt.  u.  212  S. 

Wenige  plutonische  Felsarten  treten  unter  so  denkwürdigen  und  man- 
nigfaltigen Verhältnissen  uuf,  wie  die  Quarz  führenden  Porphyre.  Nachdem  der 
Verfasser  schon  vor  zwölf  Jahren  in  einem  kleinen  Aufsätze  die  unfern  Heidel- 
berg, bei  Schriesheim  und  Weinheim  vorkommenden  Porphyre  beschrieb,  suchte 
er  nun  im  vorliegendem  Werke  ein  allgemeine  Schilderung  der  in  rielfacher  Be- 
ziehung so  wichtigen  Felaart  au  geben.  HauBge  Wanderungen  in  den  Schwarz- 
wald, eine  grössere  Reise  in  einige  der  wichtigsten  Porphyr -Putride  Deutsch- 
lands (Gegend  von  Halle,  slchsiehee  Erzgebirge,  Böhmen,  Tyrol)  boten  StofT  za 
mancher  Beobachtung,  das  Studium  der  Schriften  deutscher,  französischer  und 
englischer  Geologen  gewahrten  reichliche  Belehrung. 

Nach  der  Einleitung,  welche  eine  gedrängte  Geschichte  der  Felsart,  so 
wie  einige  physikalisch-chemische  Bemerkungen  enthält,  folgt  eine  ausfuhrliche 
Charakteristik  des  Porphyrs,  der  Grundmasse  der  Einmengungen,  der  ausser- 
wesentlichen  Beimengungen,  so  wie  der  Slructur  und  Absonderung  desselben. 
Alsdann  gibt  der  Verfasser  eine  Uebersicht  der  Verbreitung  der  Felsart  in  den 
verschiedensten  Gegenden  der  Welt.  An  diese  reiht  sich  die  Schilderung  der 
Beziehungen,  welche  Porphyre  zu  normalen  und  abnormen  Gebilden  wahrneh- 
men lassen.  —  Eine  interessante  Thatsache  ist,  dass  Porphyre  sich  in  gewissen 
Gegenden  selbst  durchsetzen,  also  von  verschiedenem  Alter  sind.  Den  Sehlus* 
bildet  der  Abschnitt  über  Erzführung  der  Porphyre  und  deren  Verhältnis*  zo 
Erzgängen,  ans  welchem  hervorgeht,  das  die  Feisart  häufig  als  Erzbringer  be- 
trachtet werden  muss. 

Der  Verfasser  fühlt  wohl,  dass  seine  Arbeit  der  Lücken  und  Mingel  nicht 
entbehrt;  er  bemerkt  aber  auch  ausdrücklich,  dass  er  keine  Monographie,  son- 
dern nur  einen  Beitrag  zur  Kenntniss  der  Quarz  fuhrenden  Porphyre  liefern 
wollte.  — 


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Karze  Anzeigen. 


775 


Grundiüge  der  Mineralogie,  Geognosie,  Geologie  und  Bergbaukunde,  frei  nach  Da- 
vid T.  Ans t ed.  Erste  Lieferung:  Mineralogie;  bearbeitet  ton  G.  Leon- 
hard.    Stuttgart,  J.  B.  Müllers  Verlagshandlung.  1851.  8.  S.  176. 

Im  vorigen  Jahre  erschien  Anstedt  „eleineotary  oourse  of  mineralogy,  geo- 
logy,  «od  phyftical  geography,"  ein  Werk,  das  sich  namentlich  wegen  seiner  prakti- 
schen Richlung  in  England  vielen  Beifalls  erfreute.  Eine  Uebertragung  ins  Deutsche 
wurde  von  mehreren  Seiten  lebhaft  gewünscht;  ohne  sich  genaa  an  das  Origi- 
nal zu  halten,  befolgte  der  Bearbeiter  hauptsächlich  den  Plan  desselben,  in  mög- 
liehst gedrängtem  Rahmen  ein  Werk  über  Mineralogie,  Geognosie  und  Bergbau 
zu  schaffen,  und  »war  so,  dass  jeder  Abschnitt  gleichsam  für  sich  ein  Gan- 
zes bildet. 

Die  erste  Lieferung  enthält  die  Mineralogie.  Oer  Bearbeiter  hielt  lieh  in 
der  Aufzählung  der  Mineralien  an  das  System,  welches  Dana  in  der  dritten  Auf- 
lage seiner  „mineralogy"  (Neu-York,  1850)  wühlte,  und  benutzte  von  Lehrbüchern 
der  Mineralogie  namentlich  die  in  den  letzten  Jahren  erschienenen  Werke  von 
Hausmann,  Naumann  und  Dufrenoy.  Alle,  bis  zum  Mai  1851  bekannten 
Substanzen  sind  angefahrt,  die  wichtigeren  mit  grossem,  die  unbedeutenderen  — 
worunter  die  bedeutende  Zahl  der  „neu  entdeckten14  —  mit  kleinem  Druck.  Ein 
ausfuhrliches  Register  erleichtert  den  Gebrauch  des  Buches  in  hohem  Grade. 

Noch  im  Laufe  dieses  Sommers  folgt  die  zweite  Lieferung,  Geognosie  und 
Geologie,  welche  in  gleichem  Umfang,  über  hundert  Holzschnitte  (Petrefacten, 
Profile  etc.)  en  thalten  wird. 

Der  achtbaren  Verlagshandlung  von  J.  B.  Müller,  welche  den  „Grundzügen 

der  Mineralogie,  Geognosie,  Geologie  und  Bergbaukundea  eine  so  geschmackvolle 

und  gediegene  Ausstattung  verlieb,  die  dem  englischen  Orignale  in  keiner  Weise 

nachsieht,  sagt  der  Bearbeiter  hiermit  den  gebührenden  Dank. 

Ci.  Leonhard. 


Specimen  lUerarium  inaugvrale  de  Prometheo  Äeschyli  denuo  edendo,  guod 

 publico  ahpie  sotenni  examini  svbmiitet  Ernestus  Julius  Kiehl, 

Hagamts.  Lugduni  Batarorvm  apud  E.  J.  Brill,  academiae  typographum. 
MDCCCL.    110  5.  in  gr.  8.  . 

Zu  einer  Schrift  wie  der  Prometheus  des  Aescbylus  wird  jeder  Beitrag, 
er  betreffe  den  Text  oder  die  Erklärung,  nur  erwünscht  seyn  können.  Denn 
für  Beides  ist,  angeachtet  mancher  namhaften  Leistung,  doch  immer  noch  Man- 
ches zu  thun  übrig  geblieben.  Das  mag  auch  der  Verfasser  dieser  Inaugural- 
schrift  wohl  gefühlt  haben,  als  er  den  Plan  fasste,  eine  neue  Ausgabe  des  Pro- 
snethens zu  liefern,  die  nicht  bloss  eine  Zusammenstellung  alles  Dessen,  was 
frühere  Herausgeber  und  Erklärer  Brauchbares  bisher  beigesteuert,  bringen, 
sondern  auch  Neues  und  Wesentliches  Diesem  beifügen  sollte.  Indessen  von 
einem  solchen  Plane  glaubte  der  Verf.  vorerst  noch  abstehen  zu  müssen,  indem 
eine  nähere  Untersuchung,  namentlich  über  neue  Quellen  und  Hülfsmittel  zur 
Herstellung  des  Textes,  ihn  bald  überzeugte,  dass  aus  dem,  was  ihm  zu  Gebot 
stehe,  kaum  Etwas  zu  gewinnen  sey.  Und  so  beschränkte  sich  der  Verf.,  ne- 
ben der  Mittbeilung  der  zu  diesem  Zweck  vorgenommenen  Untersuchung  und 
ihrer  Ergebnisse,  auf  eine  Reihe  von  VerbesserungsYorschlägen ,  weiche  die 


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776  Kurie  Anzeigen. 

zweite  Abtheilung  der  Schrift  fS.  50—  80  Novae  lectione»)  einnehmen.  Die 
erste  Abtheilung,  Über  die  wir  zuvörderst  berichten  wollen,  enthält  unter  der 
Aufschrift  Expos itio  fontium  (S.  5—49)  die  bemerkte  Untersuchung,  wel- 
che zuerst  Über  die  noch  zu  diesem  Stück  vorhandenen  Scholien  und  deren 
Werth  und  Bedeutung  für  die  Herstellung  des  Teites  sich  verbreitet.  Sie  hat 
allerdings  ein  ganz  negatives  Resultat  geliefert,  insofern  diese  Scholien  in  ihren 
Mittheilungen  durchaus  Nichts  enthalten,  was  für  die  Kritik  des  Textes  von 
Nutzen  seyn  könnte;  in  dieser  Beziehung  entfernt  sich  auch  der  Verf.  von  sei- 
nem nächsten  Vorgänger  Francken,*)  der  immerhin  aus  diesen  Scholien 
noch  Einiges  Tür  die  Verbesserung  des  Textes  gewinnen  zu  können  glaubte. 
Bei  näherer  Prüfung  und  Erwägung  wird  man  indessen  kaum  Bedenken  tragen, 
der  wohlbegründeten  Ansicht  des  Herrn  Kiehl  beizutreten.  Dieser  bespricht 
nun  die  Lesarten  der  Mediccischen  Handschrift  (Collatio  Cobetiana  codicis  Me- 
dicei),  welche  auch  von  ihm  für  die  älteste  unter  den  noch  vorhandenen  Quel- 
len des  Aeschyleischen  Textes  anerkannt  wird,  insbesondere  für  die  Quelle 
der  übrigen  bis  jetzt  bekannten  Handschriften,  wie  diess  ja  auch  in  Deutschland 
so  ziemlich  anerkannt  seyn  dürfte;  a.  z.  B.  Franz:  des  Aeschylos  Oresteia 
S.  304.  oder  Prien  im  Rhein.  Mus.  N.  F.  VII.  p.  20ÄIT.;  jedoch  wird  nach 
dem  Urtheft  des  Verf.  (S.  31)  auch  diese  aus  einer  älteren  Quelle,  etwa  des 
neunten  Jahrhunderts  stammende  Handschrift  keineswegs  die  Grundlage  einer 
neuen  Ausgabe  bieten  können,  weil  die  Verderbnisse  aus  einer  schon  frühem 
Zeit,  wie  er  glaubt,  stammen;  „jam  saeculo  sexto  ad  ultimum,  probabiliter  jam 
•aeeulo  tertio  p.  Chr.  Aeschyli  teztus  ferc  Hadem,  quibus  hodie  vitiis  laborabat", 
heisst  es  S.  27. 

Spuren  dieser  älteren  Lesart  hofTte  der  Verfasser  in  einzelnen  An- 
führungen des  Lexicographen  Hesychius  zu  finden;  allein  auch  hier  ward  die 
Erwartung  völlig  getäuscht;  der  Verf.  gelangte  auch  hier  zu  dem  Resultat,  dass 
für  die  Gestaltung  des  Aeschyleischen  Textes  aus  dein,  was  Hesychius  bringt, 
Nichts  zu  gewinnen  stehe  (S.  48).  So  würde  denn  für  die  Verbesserung  des 
Textes  kein  anderes  Verfahren  mehr  einzuschlagen  übrig  bleiben,  als  das  der 
Conjecturalkritik,  wie  es  der  Verf.  in  dem  nächsten  Abschnitt  auch  angewendet 
hat,  aber  in  einer  Weise,  die  um  so  mehr  Bedenken  erregt,  als  wir  in  Be- 
zug auf  die  medieeische  Handschrift  immerhin  der  Meinung  sind,  dass  aus 
ihr,  wie  diess  Prien  am  a.  0.  an  den  Persern  gezeigt  hat,  für  die  Gestaltung 
oder  vielmehr  Berichtigung  des  Textes  noch  Manches  zu  gewinnen  scy;  denn 
es  wird  die  Conjecturalkritik  doch  nur  da  anzuwenden  seyn,  wo  sie  unumgäng- 
lich nothwendig  geworden  ist  durch  Verderbnisse  des  Textes,  welche  durch 
das,  was  die  Handschriften  bringen,  in  keiner  Weise  geheilt  werden  können; 
Hegt  die  Unzulänglichkeit  des  Textes  nicht  am  Tage ,  so  wird  kein  besonnener 
Kritiker  von  diesem  letzten  Heilmittel  einen  Gebrauch  zu  machen  gesonnen  seyn. 
Hiernach  können  wir  z.  B.  die  Verse  36  und  2«5,  die  hier  für  fremdartige  Ein- 
schiebsel erklärt  werden,  keineswegs  dafür  ansehen,  da  die  bemerkte  Unzuläng* 
lichkeit  hier  auch  nicht  entfernt  nachgewiesen  werden  kann;  und  dasselbe  wird 

  ' 

*)  In  dessen  Schrift;  De  antiquarum  Aeschyli  interpretalionura  ad  gern  r- 
nam  lectionem  restituendam  usu  et  auetoritate.  Trajecti  ad  Rhen.  1845.  8.  Siehe 
Jahrbücher  1847.  p.  274  sqq.. 


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Kurze  Anceigen. 


777 


ebensowenig  Vers  263  bei  dem  Worte  eXacppov  der  Fall  seyn,  welches  nach  dei 
Verf.  Vorschlag  in  eXa©poc  umgewandelt  werden,  und  nach  der  Analogie  von 
&xaio;  nnd  ähnlichen  Ausdrücken  hier  in  der  Verbindung  mit  dem  Infinitiv  (ita- 
patvsTv  voudrreTv  re)  angewendet  seyn  soll  in  der  Bedeutung:  leicht  im  Stande, 
geneigt,  einem  einen  Rath  zu  geben,  einen  zu  ermahnen,  während 
doch  wahrhaftig  diese  Infinitive,  als  das  Subject  zu  eXaopov  genommen,  nicht  im 
Entferntesten  ein  Bedenken  erregen  können;  dasselbe  wird  von  der  Interpola- 
tion gelten ,  die  der  Verf.  sogar  in  grösserem  Massstabe  nach  Vers  267  für  die 
drei  folgenden  Verse  geltend  machen  will.  Mit  gleichem  Grunde,  oder  viel- 
mehr Ungrunde,  wird  Vers  331  und  333  dem  Aeschylus  abgesprochen,  des- 
gleichen 370  (381  bei  Blomfield,  ftspuoTc  auX^cxou  ßsXeai  ituprcvcou  CaXijc  in 
der  herrlichen  Schilderung  des  Typhon).  Die  Vers  403  (413  ed.  Blomfield) 
vorgeschlagene  Verbesserung  ap/av  ffir  atXjidv  würden  wir,  wenn  sie  selbst  in 
einer  Handschrift  sich  fände,  eher  für  ein  mattes  Glossem  von  at'Xu-sv  erklaien, 
zumal  da  ett"/^  in  dem  bezeichnenden  Sinne  von  Gewalt,  Macht,  Herr- 
schaft doch  wahrhaftig  kein  Bedenken  erregen  kann  Wir  wollen  nicht  wei- 
ter fortfahren,  da  die  gegebenen  Proben  genügen  können,  als  Nachweis  unserer 
vorhin  ausgesprochenen  Behauptung.  Die  dritte  Abtheilung  bringt  eine  dreifache 
Probe  aus  den  Collectaneen  des  Verf.  über  den  Prometheus  (Expositio  Collec- 
taneorum  p.  81  ff.);  die  erste  betrifft  den  Wortgebrauch;  der  Verf.  hat  die  dem 
Prometheus  eigentümlichen  Ausdrücke  in  alphabetischer  Folge  zusammenge- 
stellt, nnd  die  verwandten  Ausdrücke  anderer  Dramen  des  Aeschylus,  sowie  die 
Stellen  anderer  Autoren  (bis  Aristoteles),  in  welchen  der  von  Aeschylna  ge- 
brauchte Ausdruck  vorkommt,  beigefügt;  was  er  daraus  hier  mittheilt,  ist  eine 
aus  dem  Buchstaben  N  genommene  Auswahl.  —  Die  zweite  Probe  ist  metri- 
scher Art,  und  betrifft  zunächst  die  Chorgesänge;  die  dritte  mythologischer  Art; 
sie  enthält  eine  Zusammenstellung  aller  der  den  Apollo  betreffenden,  ihn  unter 
diesem  oder  jenem  Beinamen  bezeichnenden  Stellen  in  den  verschiedenen  Dra- 
men des  Aeschylus.  Angehängt  sind  dieser  Abhandlung  von  S.  103  an  sechs 
und  dreissig  Theses,  fast  sämmtlich  kritischer  Art,  insofern  sie  zu  einzelnen 
Stellen  verschiedener  Autoren  Verbesscrnngsvorschläge  bringen,  die  uns  jedoch 
noch  sehr  zweifelhaft  erscheinen. 


Kritische  und  exegetische  Bemerkungen  tu  den  Persem  des  Aeschylus  von  Dr.  Lud" 
teig  Schiller.  (Programm  zum  Jahresbericht  der  K.  ß.  Studsenanstalt 
sm  Erlangen.)    1850.    26  S.  in  gr.  4. 

Diese  in  einer  Gelegenheitsschrift  mitgetheilten  Bemerkungen  bilden  einen 
überaus  werthvollen,  ja  Tür  den  Kritiker  wie  rar  den  Erklärer  der  Perser  we- 
sentlich notwendigen  Beitrag,  der  durch  die  schon  vorher  angeführte  Abhand- 
lung des  Herrn  Prien  zunächst  hervorgerufen  worden  ist,  und  uns  tatsächlich 
zeigen  kann,  wie  viel  doch  noch  für  die  richtige,  d.  h.  urkundlich  treue  Fas- 
sung des  Textes  aus  der  genannten  medieeiseben  Handschrift  zu  gewinnen  steht 
Es  wäre  rein  unmöglich ,  wenn  wir  alle  die  Stellen  hier  bezeichnen  wollten, 
welche  in  dieser  Schrift  in  gedrängter  Kürze  bebandelt  und,  setzen  wir  hinzu, 
auch  meist  glücklich  behandelt  werden;  wir  beschränken  uns  daher,  die  ein- 
zelnen Gassen  anzuführen,  nach  welchen  diese  Stellen  hier  besprochen  werden. 


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778 


Kuno  Anzeigen. 


Zuerst  werden  alle  diejenigen  Stellen  angeführt,  in  welchen  der  genannte  Ge- 
lehrte einfach  die  Aufnahme  der  Lesarten  der  mediceischen  Handschrift  ver- 
langt,  und  auch  von  Dindorf  der  richtige  Weg  eingeschlagen  worden  iat; 
in  aweiter  Reihe  erscheinen  die  Stellen,  in  welchen  beide  Gelehrte  über  die 
Anerkennung  der  mediceischen  Handschrift  difTeriren;  an  dritter  Stelle  wird 
on*  gezeigt,  wie  an  noch  gar  manchen  Orten  die  handschriftliche  Autorität  in 
ihre  Rechte  einzusetzen  sey;  diesen  reihen  sich  viertens  diejenigen  Stellen  an, 
welche  nach  Anleitung  der  vom  Cod.  Medic.  gebotenen  Lesarten  leicht  geheilt 
werden  können;  wie  selbst  aus  den  Verderbnissen  der  Handschrift  Gewion  ge- 
zogen werden  kann,  wird  an  einer  Anzahl  von  Stellen  in  fünfler  Reibe  gezeigt; 
in  sechster  und  siebenler  werden  Stellen  besprochen,  in  denen  die  Conjectural- 
kritik  zu  Hülfe  genommen  wird,  oder  wo  bloss  auf  dem  Wege  einer  bessern 
Interpunction  oder  Accentuation ,  oder  endlich  auch  milteist  einer  besseren  In- 
terpretation geholfen  werden  kann.  Dieser  Abschnitt,  in  dem  anch  manches 
Andere  (wie  z.  B.  S.  23  über  Zweck  und  Aufgabe  dieses  Dramas)  zur  Sprache 
kömmt,  darf  wohl  besonderer  Beachtung  empfohlen  werden,  wie  wir  aus  einer 
Reibe  von  Stellen,  denen  wirklich  auf  diesem  Wege  geholfen  worden  ist, 
leicht  nachweisen  könnten ,  wenn  der  Raum  solches  überhaupt  gestattete.  Kei- 
ner, der  mit  Aeschylus  sich  näher  beschäftigt,  wird  übrigens  die  Schrift  un- 
beachtet lassen  können. 


1  Arm  in  ins  Koe  chhj:  Emendafiones  Apollonianae.  Turici  ex  officina  Zür- 
cher* et  Furreri  1850.    15  S.  in  gr.  4. 

2.  Ar  min  tu  s  Koechly:  Tryphiodor*  de  Mi  excidio  Carmen  denuo  recognitum. 
Tuiici  etc.  1850.    28  S.  in  gr.  4. 

S.  Arminius  Koechly:  De  Madis  ß,  1—483  Dispvtatio.  Turici  etc.  1850. 
24  S.  in  gr.  4. 

4.  Arminius  Koechly:  Conjectaneonm  epicorum  fasciculus  I.  Turici  etc. 
1851.    24  S.  in  gr.  4. 

Wir  stellen  diese  verschiedenen,  in  kurzer  Zeit  nach  einander  erschie- 
nenen Gelegenheitsschriften  zusammen,  weil  sie  ihrem  Inhalte  nach  mehr  oder 
minder  verwandte  Gegenstände  bebandeln,  und,  auch  von  Seite  der  Behandlung, 
in  weiteren  Kreisen  bekannt  zu  werden  verdienen.  Der  Verf.,  der  uns  erst  un- 
längst durch  seine  Ausgabe  des  Quintns  Smyrnaus  gezeigt  hat,  wie  vertraut  er 
mit  demjenigen  Kreis  von  Schriftstellern  ist,  welche  den  Cydus  der  späteren 
Epik  der  Hellenen  bilden,  hat  einen  neuen  Beweis  davon  in  einer  Weis«  gelie- 
fert, die  uns  zugleich  zeigen  kann,  wie  er  die  Kritik,  die  sogenannte  höhere 
•ognt  wie  die  Wortkritik,  im  Sinn  und  Geist  seines  grossen  Lehrers,  Gottfried 
Hermann,  an  üben  versteht,  dem  er  zugleich  in  einem  dieser  Programme 
ein  schönes  Denkmal  gestiftet  hat,  worauf  wir  noch  zurückkommen  werden. 
Das  erste  dieser  Programme  bringt  eine  Reihe  von  einzelnen  Verbesserungsvor- 
schligen  au  einzelnen  Stellen  des  Apollonias  von  Rhodus,  den  der  Verf.  mit 
Beeilt  unter  den  AI  exend  rinischen  Dichtern  hervorhebt,  insbesondere  auch  we- 
gen der  Art  und  Weise  seiner  Nachbildung  der  Homerischen  Poesie;  eine  ge- 
nauere Kenntniss  der  Sprache,  der  ganzen  Aufdrucks-  und  Daratellungsweise 
des  Apoll on ms  wird  auch  hier  nur  dazu  dienen  können,  ein  günstiges  Urlheil 


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779 


über  diesen  Dichter  zu  begründen,  und  dazu  wird  selbst  der  vorlief  ende  Bei- 
trag nicht  ohne  Emfluss  seyru  Die  einzelnen  dtrin  behandelten  Stellen  auch 
hier  anzuführen,  erlaubt  uns  der  Umfang  der  Anzeige  nicht,  die  nur  die  Freunde 
der  epischen  Poesie  auf  diese  Schrift  hinweisen  soll;  nur  an  Einen  Punkt  wol- 
len wir  erinnern;  er  betrifft  den  tiebrauch  der  Modi,  insbesondere  des  Con- 
jnnetivs  oder  Optativs  nach  Partikeln  des  Zwecks  und  der  Absicht,  wie  670a, 
tva  und  ähnlichen.  Der  Verf.  gibt  eine  Zusammenstellung  der  einzelnen  Falle, 
unternommen  in  der  Absicht,  daraus  ein  allgemeines  Ergebniss  in  bestimmten 
Regeln,  nach  denen  Apollonias  sich  gerichtet,  abzuleiten.  Bei  dem  mehrfisch 
bemerkbaren  Wechsel  der  Modi,  ohne  das»  bestimmte  sachliche  Gründe  vorlie- 
gen, bei  dem  hier  mit  hervortretenden  Einfloss  des  Metrums  ist  es  schwer,  ein 
solches  bestimmtes  Ergebniss  jetzt  schon  zu  gewinnen,  wo  wir  noch  nicht  ein- 
mal in  allen  Stellen  über  die  wahre,  d.  h.  urkundliche  Schreibong  des  Textes 
verlässigt  sind.  Wir  zweifeln  jedoch  nicht,  dass  es  dem  Verf.  bei  fortgesetzter 
Forschung  gelingen  werde ,  mit  der  Zeit  ein  solches  Ergebniss  und  damit  die 
Losung  mancher  den  Text  In- treffenden  Schwierigkeiten  zu  erzielen. 

Das  an  zweiter  Stelle  genannte  Programm  bringt  einen  neuen,  berichtig- 
ten Abdruck  des  unter  dem  Namen  des  Tryphiodorus ,  oder,  wio  Letronne 
will,  Triphiodorus  auf  uns  gekommenen  epischen  Gedichtes  über  die  Eroberung 
Troja's.  Wer  nicke,  der  zum  letztenmal  dieses  in  manchen  Beziehungen,  na- 
mentlich aueh  historischen  nicht  zu  übersehende  Gedicht  im  Jahr  1819  heraus- 
gegeben hatte,  war  über  der  Herausgabe  gestorben  und  hatte  damit  selbst  nicht 
die  letzte  Hand  mehr  an  seine  Arbeit  legen  können.  Dass  daher  noch  Manches, 
auch  in  Bezug  auf  die  Gestaltung  des  Textes ,  Andern  zu  tkun  übrig  gelassen 
worden  ist,  kann  keinem  Zweifel  unterliegen,  ebenso  wie  es  auch  anerkannt 
werden  muss,  dass  Herr  Kochly,  der  in  diesem  Kreise  der  epischen  Literatur 
vor  Andern  zu  Hanse  ist,  auch  zunächst  berufen  war,  diese  Lücke  des  Vorgän- 
gers auszufüllen.  Das  hat  er  aber  auch  hier  in  der  That  geleistet.  Wir  erhal- 
ten den  Text  in  einem  üusserst  correcten  Abdruck,  und  unter  demselben  die 
Hauptabweichungen  sorgfaltig  aufgeführt.  Dass  der  Text  des  Gedichtes,  für 
dessen  Verbesserung  der  Verf.  schon  früher  nahmhafte  Beiträge  hatte  erscheinen 
lassen,  hier  an  nicht  wenigen  Stellen  in  einer  besseren  Fassung  erscheint,  und 
das  Ganze  dadurch  lesbarer  und  verständlicher  geworden  ist,  wird  kaum  einer 
besondern  Erwähnung  bedürfen. 

Die  dritte  Schrift  enthält  die  nähere  Ausführung  einer  Ansicht,  die  der 
Verf.  schon  früher  in  der  Philologcnversammlang  zu  Darmstadt  im  Jahre  1846 
(s.  deren  Verhandlungen  S.  73  AT.)  vorgetragen  hatte,  über  die  Bildung  und  Zu- 
sammensetzung des  ersteren  Theils  (Vers  1 — 483)  des  zweiten  Gesangs  der 
Ilias  aas  zwei  verschiedenen  Liedern.  Diese  Ansicht  war  inzwischen  auf  Wi- 
derspruch gestos9en,  insbesondere  ist  IVagelsbach  in  der  neuen  Ausgabe  sei- 
ner Anmerkungen  zur  Dias  dagegen  aufgetreten;  darum  versucht  nun  der  Verf. 
seine  frühere  Ansicht  hier  zu  vertbeidigen  und  naher  nachzuweisen,  sowie  die 
dawider  vorgebrachten  Einwürfe  zu  widerlegen;  in  wie  weit  ihm  dies  gelun- 
gen, wagen  wir  freilich,  ohne  eine  sorgfältige  und  genaue  Prüfung  des  Ein- 
seinen, wie  wir  sie  anzustellen  hier  ausser  Stand  sind,  nicht  auszusprechen,  um 
00  mehr,  als  wir  in  der  Grundanschauung  dieser  Verhältnisse  allerdings  anderer 
Meinung  sind  wie  der  Verf.,  und  insbesondere  von  der  ganzen  Art  und  Weise 


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780  Kurie  Anzeigen. 

der  Beweisführung,  durch  welche  die  ursprüngliche  Zusammensetzung  der  Ho- 
merischen Gesänge  aus  einer  Reibe  von  einzelnen,  auch  von  einander  verschie- 
denen und  unabhängigen  Liedern  erklärt  werden  soll,  uns  bisher  noch  nicht 
haben  überzeugen  können.  Und  so  bat  es  uns  denn  auch  in  dem  vorliegenden 
Falle  nicht  gelingen  wollen,  uns  zu  überzeugen,  dass  die  beiden  Lieder,  aus 
welchen  nach  des  Verf.  Annahme  dieser  erste  Theil  des  zweiten  Buches  zu- 
sammengesetzt ist,  in  der  Weise  im  Einzelnen  ursprünglich  zusammengesetzt 
gewesen,  wie  diess  der  Verf.  am  Schlosse  seiner  Erörterung  S.  23  ansogeben 
versucht.  Alle  Diejenigen  aber,  die  mit  der  ganzen  Frage  über  Bildung  und 
Entstehung  der  Homerischen  Gedichte  sich  beschäftigen,  werden  die  Schrift  des 
Verf.  nicht  ungelesen  lassen  dürfen,  ja  vielmehr  einer  gründlichen  Durchzieht 
und  Prüfung  zu  unterziehen  haben. 

Bei  dem  vierten  dieser  Programme,  das  eine  Reihe  von  einzelnen  Ver- 
besserung vorschlagen  zu  den  Frogmenten  der  früheren  epischen,  insbesondere 
der  sogenannt  kyklischen  wie  der  Hesiodetschen  Poesie,  nebst  einiger  andern 
verloren  gegangener  Dichter  enthält,  dürfen  wir  wohl  insbesondere  auf  den 
Schluss  wie  auf  den  Eingang  aufmerksam  machen.  Zum  Schlüsse  nämlich  gibt 
der  Verf.  einen  Abdruck  der  sieben  und  siebzig  Verse  einer  Gigantomachie, 
welche  unter  dem  Namen  des  Claudianus  aus  einer  Madrider  Handschrift  von 
Iriarte  (Bibl.  Matrit.  Codd.  Graecc.  I.  p.  219 ff.)  bekannt  gemacht  worden 
aind;  bei  der  Seltenheit  dieses  Werkes  verdient  dieser  Abdruck,  bei  welchem 
der  Verf.  mehrfach  passende  Verbesserungen  angebracht  und  eine  Anzahl  von 
Bemerkungen  kritischer  und  exegetischer  Art  beigefügt  bat,  doppelte  Berück- 
sichtigung. Des  Eingangs  glaubten  wir  aber  ans  dem  Grunde  besonders  ge- 
denken zu  müssen,  weil  der  Verf.  hier  einen  einst  von  ihm  als  Mitglied  der 
Griechischen  Gesellschaft  zu  Leipzig  an  Gottfried  H e r m a n n  gerichteten  Brief 
aufgenommen  hat,  auf  den  wir  alle  Freunde  des  grossen  Mannes  aufmerksam 
zu  machen  uns  gedrungen  fühlen.  Denn  wir  lesen  darin  eine  so  lebendige  and 
frische,  eine  so  anziehende  und  selbst  gemüthliche  Schilderung  der  Art  und 
Weise,  in  welcher  Hermann  die  Hebungen  der  Griechischen  Gesellschaft  lei- 
tete, dass  das  Ganze  einen  in  der  That  nur  erfreulichen  Eindruck  hervorbrin- 
gen, dem  dankbaren  Gefühl  des  Schülers  aber  nur  Ebre  machen  kann. 


Graeca  nomina  in  u>  exetmlia.  Cotnmentathnis  lexicographicae  et  gramtnaixcae  Parti- 
cvla  vritna.  Scriosit  et  ex  vroarammale  mimnasii  Maodalenaei  Vratisla- 
viensis  paschali  anni  MDCCCLl  separatim  ediiüt  Pistotheus  Tachir- 
ner.  Vratislatiae  apvd  A.  Schuh  et  Soc.  (Herrn.  Aland)  MDCCCLl. 
52  S.  in  gr.  4. 

Die  vorliegende  Schrift,  die  einen  wahrhaft  gediegenen  Beitrag  zur  Grie- 
chischen Grammatik  und  Lexicographie,  zunächst  in  Bezug  auf  die  Eigennamen, 
bringt,  kann  aufs  Neue  zeigen,  wie  Viel  hier  noch  zu  thun  ist  und  wie  We- 
nig eigentlich  bisher  auf  diesem  Gebiete  geleistet  worden  ist,  zumal  wenn  wir 
an  die  Behandlung  des  Einzelnen  den  Massstab  legen,  den  der  Verf.  dieser 
Schrift  sich  selbst  gesetzt  hat.  Ihm  war  die  Wichtigkeit  des  Gegenstandes  nicht 
entgangen,  der  in  neueren  Zeiten  noch  nicht  mit  gleicher  Sorgfalt  wie  manche 
andere  Zweige  der  Griechischen  Sprache  und  Literatur  behandelt  worden  ist 

>t 

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Kurte  Anseigen. 


(ist  doch  Pape's  Wörterbuch  der  griechischen  Eigennamen  eigentlich  der  erste 
grössere  und  anch  gewiss  verdienstliche  Versuch  neuerer  Zeit  auf  diesem  Ge- 
biete), aber  doch  in  jeder  Hinsicht  grössere  Aufmerksamkeit  anzusprechen  hat; 
denn  wir  sagen  mit  dem  Verf.:  „profecto  ab  hoc  studio  quamvis  exiguum  at- 
que  exile  esse  videatur,  non  nihil  repetitur,  quod  maximi  est  momenti  ad  etymoio- 
giam,  mythologiam,  historiam,  cognationem  populorum."  Diess  wird  gewiss 
Niemand  bestreiten  können,  zumal  wenn  die  Eigennamen  in  Bezug  auf  ihre 
Abkunft  und  Hcrleilung,  oder  in  Bezug  auf  ihre  Bedeutung,  ihre  Flexion  und 
dergleichen  in  der  Weise  untersucht  und  behandelt  werden,  wie  diess  der  Verf. 
dieser  Probe  so  erschöpfend  gethan  hat.  Bei  dem  grossen  Umfang  und  den 
grossen  Schwierigkeiten  dieses  Theils  der  Lexieographie ,  der  noch  eine  Reihe 
von  Vorarbeiten  erheischt,  hat  der  Verf.  einen  ganz  speciellen  Punkt  der  Be- 
handlung sich  gewählt,  indem  er  alle  die  auf  ü  ausgehenden  Griechischen  Ei- 
gennamen in  alphabetischer  Ordnung  zusammenstellt  und  zu  jedem  eine  Erörte- 
rung gibt,  die  sich  über  alle  die  eben  bemerkten  Punkte  verbreitet  und  wohl 
als  ein  wahres  Muster  der  Behandlung  derartiger  Gegenstände  angesehen  wer- 
den kann,  zumal  da  dem  Verf.  bei  seiner  sorgfaltigen  und  umfassenden  Leetüre 
kaum  irgend  Etwas  auf  dem  weiten  Gebiete  sprachlicher  wie  sachlicher  For- 
schung entgangen  seyn  dürfte,  was  mit  den  von  ihm  behandelten  Eigennamen 
in  irgend  einer  Berührung  steht.  Ein  gleiches  Lob  dürfte  dem  Verf.  in  Bezug 
auf  die  Sorgfalt,  mit  der  alles  Grammatische  behandelt  ist,  sowie  auch  in  Bezug 
auf  die  im  Gebiete  des  Etymologischen  beobachtete  Vorsicht  nicht  entgehen, 
und  insofern  nur  der  Wunsch  übrig  bleiben,  dass  es  ihm  gelingen  möge,  die 
hier  begonnenen  Studien  weiter  fortzusetzen  und  zu  einigem  Abschluss  zu  brin- 
gen.   Denn  in  diesem  ersten  Theile  reicht  die  Zusammenstellung  nur  bis  zum 

nur  die  vier  ersten  Buchstaben  des  Alphabets.  Bei  je- 
dem einzelnen  Wort  werden  vom  Verf.  nicht  bloss  die  Stellen  angeführt,  in 
welchen  dasselbe  vorkommt,  sondern  es  werden  auch  weitere  Erörterungen  da- 
mit verbunden,  welche  auf  die  Ableitung  des  Kamens,  seine  Bedeutung  und 
Anwendung,  sowie  sein  Verbältniss  zu  ähnlichen  oder  verwandten  und  abge- 
leiteten Wörtern  sich  bezieben,  lauter  Punkte,  die  an  und  für  sich  gewiss  wich- 
tig und  bedeutend,  doch  in  der  Ausführung  auf  manche  Schwierigkeiten  stossen, 
zumal  da,  wo  der  Käme  nicht  sowohl  Griechischen,  als  fremdartigen,  insbeson- 
dere orientalischen  Ursprungs  erscheint.  Wir  wollen  nur  Ein  Beispiel  der  Art 
ans  dem  Worte  'Au-aCu»  anführen,  wo  uns  der  Verf.  die  verschiedenen  Ablei- 
tungsversuche Griechischer  Worlkünstler  anführt,  daraus  aber  —  und  wohl  mit 
Recht  —  nur  Ein  Ergebniss  gewinnen  kann,  dass  nämlich  das  Wort  keineswegs 
Griechischen  Ursprungs,  sondern  aus  irgend  einer  Asiatischen  Sprache  abzulei- 
ten sey.  Und  wenn  hier  nun  die  von  Movers  bemerkte  Ableitung  aus  dem 
Semitischen  (Am-aza,  d.  i.  fortis  mater)  vorzugsweise  seinen  Beifall  findet, 
so  wird  man  jedenfalls  diese  Ableitung  für  weit  einfacher  und  natürlicher  als 
die  andern  mehrfach  in  Vorschlag  gebrachten  anzuerkennen  haben.  Bei  dem 
Namen  Ai&o,  womit  eine  der  Grazien  bei  den  Athenern  nach  Pausanias 
IX,  35  §.  2  bezeichnet  wird,  fiel  uns  die  bei  den  Aegineten  verehrte  Au^st« 
ein,  die  schon  0.  Müller  Aeginelt.  p.  171  mit  dieser  Attischen  A&e  zusam- 
mengestellt halte.  Bei  'A<ppo5iTÜ>,  aus  Hierocles  und  dem  Antoninischen  Itinerar 
als  Bezeichnung  der  Aegyptischen  Stadt  Aphroditopolis  (A<ppo5iTTjc  noXic)  ange- 


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T32 


Kurze  Altteigen. 


fdbrt,  htben  wir  einiges  Bedenken,  da  uns  ähnliche  Abkürzungen  nicht  Dekanat 
sind.  Oder  toll  eine  solche  Abkürzung  in  späterer  Zeil  stattgefunden  haben, 
etwa  nach  der  Analogie  des  die  Gottheit  wie  die  Stadt  bezeichnenden  Namens 
Bo'jrci»?  Auf  die  umfassende  Erörterung,  zu  welcher  der  Artikel  i'ooYÜ  Veran- 
lassung gibt  S.  33 — 38,  brauchen  wir  wohl  kaum  noch  besonders  aufmerksam 
machen  zu  müssen;  in  ähnlicher  Beziehung  können  noch  weiter  die  Artikel 
AcpxtTtti,  Aijjm»,  At]u>  und  manche  andere  angeführt  werden,  wenn  es  überhaupt 
noth  wendig  erscheinen  sollte,  das  oben  ausgesprochene  Urlheil  noch  durch  wei- 
tere Belege  zu  bekräftigen,  die  Jeder  leicht  ans  jeder  Seite  tntnehmen  kaaa. 
Um  so  mehr  wird  aber  der  schon  oben  ausgesprochene  Wunsch  einer  weiteren 
Fortsetzung  und  Vollendung  der  hier  angefangenen  Probe  gerechtfertigt  erscheinen. 


Mnive  und  sein  Gebiet  mil  Rücksicht  auf  die  neuesten  Ausgrabungen  im  Tigris- 
tlutU  ton  Dr.  Hermann  Jo.  Chr.  Weissenborn,  Professor  am  k.  Gym- 
nasium sm  Erfurt.  Erfurt  1851.  Druck  ton  Gerhardt  und  Schreiber. 
36  S.  in  or.  4. 

Der  grossartigen  Entdeckungen  neuester  Zeit  auf  dem  Boden  des  alten 
Assyriens  ist  auch  in  diesen  Blattern  mehrfach  gedacht  worden  (Jahrg.  1850.  S. 
62  ff.  740CT.) ;  schon  darin  mag  für  uns  ein  Grund  liegen,  auch  der  vorliegenden 
Schrift  zu  gedenken,  die  eine  Uebersicht  der  zunächst  das  alte  Ninive  betref- 
fenden Forschungen  und  Entdeckungen  beabsichtigt,  und  dadurch  beizutragen 
hofft,  auch  in  weiteren  Kreisen,  zumal  solchen,  denen  die  grösseren  und  theueren 
englischen  wie  französischen  Werke  minder  zugänglich  sind,  das  Interesse  an 
diesen  wichtigen  Entdeckungen  zu  erwecken,  und  da,  wo  schon  Bekanntschaft 
vorhanden  war,  es  zu  erhöhen  (S.  34).  Diesen  Zweck  hat  die  mit  sorgfältiger 
Kunde  des  Gegenstandes  selbst  und  aller  darauf  bezüglichen  Quellen  abgefasste 
Schrift  jedenfalls  vollkommen  erreicht.  Der  Verf.  wirft  zuerst  einen  Blick  auf  die 
nach  Asien  überhaupt  in  neuerer  Zeit  zu  gelehrten  Zwecken  veranstalteten  Reisen 
Europäischer  Gelehrten,  er  giebt  dann  eine  geographische  Schilderung  des  zwi- 
schen Euphrat  und  Tigris  gelegenen  Landes  und  des  Laufes  der  beiden  Flosse 
selbst,  und  kommt  dann  auf  die  in  grauer  Vorzeit  am  linken  Ffer  des  Tigris, 
dem  beutigen  Mossul  etwa  gegenüber  angelegte  Hauptstadt  Ninivc,  worüber 
alle  diejenigen  Angaben  der  Reihe  nach  aufgerührt  und  besprochen  werden,  welche 
aus  dem  Alterthumc  darüber  uns  zugekommen  sind,  bis  auf  die  arabischen  Geo- 
graphen des  Mittelalters  herab,  hei  welchen  noch  im  13.  Jahrhnndert  die  Rainen 
Kinive's  an  der  bemerkten  Stelle  erwähnt  werden.  Daran  reihen  sich  die  Ver- 
suche neuerund  neuester  Zeit,  die  Stätte  selbst  wieder  aufzufinden,  von  Ntebnhr 
an  bis  auf  Botta  und  Layard  herab.  Da  Layard's  Werk  früher  in  die- 
sen Blättern  ausführlicher  besprochen  worden  ist,  so  können  wir  uns  hier  auf 
die  Angabc  beschränken ,  dass  der  Verfasser  dieser  Schrift  einen  sehr  genauen 
Bericht  der  sämmllichen,  von  dem  thätigen  Britten  gemachten  Entdeckungen  vor- 
gelegt und  selbst  manche  Zuzätze  dazu  uns  gegeben  bat,  so  dass  wir  in  den 
stand  gesetzt  sind,  bequem  den  ganzen  Stand  dieser  Nachgrabungen  zu  überblicken. 
Er  ist  aber  noch  weiter  gegangen;  er  sucht  aus  dem,  was  dieso  Entdeckungen 
zu  Tage  gefördert  haben,  auch  weitere,  für  Wissenschaft  und  Kunst  belangreiche 
Resultate  abzoleiten;  demgemäss  bespricht  er  zuerst  die  Bauweise  des  Volkes, 


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Kurze  Anteilen. 


783 


die  durch  die  Verhältnisse  de«  Boden«  wie  des  Klima'f  bedingt  war,  und  hier 
allerdings  noch  manche  Punkte  darbietet,  die  einer  näheren  Erörterung  bedür- 
fe«, wie  sie  kaum  anders,  als  durch  fortgesetzte  Nachgrabungen  und  Entdeckun- 
gen zu  gewinnen  seyn  wird.   Denn  selbst  die  neuesten  Versuche  eines  englischen 
Architekten  (James  Fe  rgason:  The  Palaces  of  Nineveh  and  Persepoli«  re- 
siored.  London  1851.  S.  233  IT.)  und  die  dem  Titelblatt  gegenüber  beigefügte, 
auch  kunstvoll  ausgeführte  Restaurationsprobe  eines  der  Palastrflume  zu  Kbor- 
svvau  weraen  uns  grossere  \\ cmrscneiniiciiKeit  oaer  gar  uewissneit  scnweriicn 
bringen,  was  man,  ohne  den  Verdiensten  dieses  Mannes  zu  nahe  zu  treten,  wohl 
wird  behaupte«  dürfen.    Eher  lassen  sich  über  Sculptur,  ja  überhaupt  über  die 
bildende  Kunst  der  Assyrer,  bestimmtere  Ergebnisse  ziehen,  indem  hier  die 
Masse  dea  Entdeckten  und  die  meist  gute  und  vollständige  Erhaltung  um  dazu 
eher  befähigt,  namentlich  auch  das  Verhältnis«  dieser  Kunst  zu  der  persischen 
und  ägyptischen,  wie  zur  vorderasiatischen  und  namentlich  zur  griechischen 
nun  schon  deutlicher  hervortritt,  und  damit  auch  der  Einftuss,  den  diese  in  so 
früher  Zeit  schon  so  vorzüglich  entwickelte  und  ausgebildete  Kunst  auf  die 
griechische  geäussert  bat.    Es  freut  un«,  bei  dem  Verf.  eine  Anerkennung  die— 
«es  orientalischen  Einflusses  im  Allgemeinen  auf  die  frühere  hellenische 
Kunst,  die  dadnreh  bei  ihrer  weiteren  selbständigen  Entwicklung  wahrhaftig 
auch  nicht  das  Geringste  verliert,  gefunden  zu  haben;  auch  zweifeln  wir  nicht, 
dass  bei  weiter  fortgesetzten  Nachgrabungen  und  Entdeckungen  dieser  Punkt 
immer  mehr  zu  einer  allgemein  anerkannten  Wahrheit  werde,  die  jede«  Beden- 
ken abweist,   wünschen  aber  auch  desshalb  die  eifrige  und  angestrengteste 
Fortsetzung  dieser  Nachgrabungen,  und  wiederholen  die  Worte  B.  G.  Nie- 
buhr's  au«  dem  Jahre  1829,  —  also  vor  der  Zeit  dieser  grossen  Entdeckun- 
gen —  welche  der  Verf.  at«  ein  recht  passendes  Motto  auf  den  Titel  seiner 
Schrift  gesetzt  hat:   „Ninive  wfrd  das  Pompeji  Mittelasiens  werden,  eine  an- 
ermessliche  und  noch  unberührte  Fundgrube  für  unsere  Nachkommen  —  denen 
ein  Champollion  für  die  assyrische  Schrift  nicht  fehlen  wird  —  hoffentlich  schon 
für  unsere  Kinder.* 

Die  beiden  dieser  Schrift  beigefügten  Tafeln  enthalten  theils  Pläne  der 
in  der  Schrift  besprochenen  Gegenden  zur  näheren  Orientirung,  theils  Abbildun- 
gen einiger  der  vorzüglichsten  Sculpturen,  welche  durch  Layard,  Botta  u.  A. 
bekannt  geworden  sind,  und  so  auch  Denjenigen  bekannt  werden,  welche  in 
diese  Werke  selbst  noch  keinen  Blick  werfen  konnten.  Auch  dafür  gebührt 
dem  Verf.  unser  Dank,  mit  welchem  der  Wunsch  sich  verbindet,  noch  öfters  in 
der  Weise  durch  ihn  über  derartige  Gegenstände  belehrt  zu  werden. 


BeitriuMi  zur  Geschichte  der  Ha] Wachen  Schulen      Freie*  Stück      Von  Di    F  A 

EcAsfei».  Halle.  Druck  der  Waisenhausbuchdruckerei.  1850.  50  S. 
in  gr.  4. 

Erst  dann,  wenn  wir  eine  Reihe  solcher  Beiträge  erhalten  haben,  wird 
es  möglich  werden,  eine  gründliche  und  auch  näher  ins  Eiuzelne  gehende  Ge- 
schichte de«  höheren  deutschen  Schulwesens  von  den  Zeiten  der  Reformation 
an,  wie  sie  uns  noch  fehlt,  zu  liefern;  es  kann  daher  nur  höchst  wünschens- 
wert erscheinen,  wenn  die  Vorsteher  der  verschiedenen  Anstalten  es  sich  wol- 


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784 


leo  angelegen  seyn  lassen,  in  ähnlichen  Darstellungen  wie  die  vorliegende  an 
die  Geschichte  der  iUuen  anvertrauten  Anwalt  aus  officiellen  Quellen  darzulegea 
und  damit  zugleich  der  gesaminten  Culturgeschichte  unseres   Vaterlandes  ein 
wesentliches  Fordernis*  zu  bringen.    In  dieser  Ueberzeugung  hat  uns  die  vor- 
liegende Arbeit  nur  bestärken  können;  von  dem  Verf.  derselben  sind  wir  ohne- 
hin gewohnt,  nur  Gründliches  und  Gediegenes  zu  erhalten;  er  hat  diese  Erwar- 
tung auch  keineswegs  getäuscht  in  der  Schilderung,  die  er  uns  von  einer  der 
zu  Halle  befindlichen  Anstalten,  dem  ehemaligen  lutherischen  Gymnasium,  du 
im  Jahre  1808  mit  der  lateinischen  Schule  in  den  Francke'schen  Stiftungen 
vereinigt  ward,  vorlegt.    Er  führt  zuerst  diejenigen  Quellenschriften  a„t  wejcfte 
'  die  Verfassung  und  Einrichtung  der  Schule  betreffen,  und  dann  die  Gesetze, 
worauf  an  dritter  Stelle  die  Schulschriften  in  chronologischer  Ordnung  nach  der 
Reihenfolge  der  Rectoren  kommen.    Der  Verf.  befolgt  dabei  folgenden  Gang. 
Er  führt  die  einzelnen  Rectoren  auf  und  knüpft  daran  die  weiteren  Personalno- 
tizen über  dieselben,  sowie  Angaben  über  ihre  amtliche  Thätigkeit  an  der  An- 
stalt wie  über  ihre  literarischen  Leistungen;  nachher  werden  die  von  ihnen  in 
ihrer  amtlichen  Stellung  herausgegebenen  Schriften  genau  aufgeführt  und  mit 
manchen  andern  Nachrichten  und  Angaben  begleitet,  die  theils  ein  literarhisto- 
risches Interesse  haben,  theils  auf  den  Unterricht,  die  Einrichtungen  der  Schule 
und  dergleichen  sieb  beziehen,  hier  aber  Manches  bringen,  was,  selbst  abgese- 
hen von  dem  historischen  Interesse,  in  praktischer  Hinsicht  auch  in  unserer 
Zeit  noch  Beachtung  verdienen  wird,  wenn  man  anders  die  Winke  der  Erfah- 
rung benutzen  und  nicht  spurlos  alles  Das  vorübergehen  lassen  will,  was  auf 
dem  Felde  der  Erziehung  von  unseren  Vorfahren  schon  richtig  erkannt  und  in 
Anwendung  gebracht  worden  ist.    Aus  der  sorgfältigen  Prüfung  und  richtigen 
Auffassung  mancher  Einrichtungen  der  Vorzeit  wird  auch  unsere  Zeil  noch  Man- 
ches lernen,  Manches  gewinnen  können,  wenn  sie  anders  nur  es  will,  und  dann 
auch  die  Mühe  nicht  scheut,  mit  allem  Dein  sich  bekannt  zu  raachen,  was  auf 
diesem  Gebiete  früher  schon  vorgekommen  ist.    Es  liefse  sich  Manches  der  Art 
auch  aus  diesen  Milthcilungen  anführen,  worauf  wir  hier  nur  im  Allgemeinen 
«hinweisen  können;  die  literarhistorischen  Angaben,  sowie  die  auf  die  Geschichte 
der  Schule,  Methodik  und  Behandlung  des  Unterrichts  und  dergleichen  bezügli- 
chen Notizen  bilden  allerdings  den  wesentlicheren  Theil,  und  liefern  damit  auch 
manche  Berichtigung  fehlerhafter  oder  irrthümlicher  Angaben,  welche  über  der- 
artige Verhältnisse  und  Personen  hier  und  dort  sich  finden.    Aus  den  genau 
bei  jedem  der  Rectoren  angeführten  Schulschriflen  lässt  sich  über  den  Inhalt 
und  Charakter  derartiger  Schriften,  die  damals  im  Ganzen  und  der  Mehrheit 
nach  eine  nähere  Beziehung  tur  Schule  und  den  darin  behandelten  Gegenstän- 
den hatten,  als  diess  jetzt  der  Fall  ist,  ein  Begriff  bilden,  aus  einzelnen  der 
von  den  Rectoren  getroffenen  Anordnungen  der  Stand  des  Unterrichts  überhaupt 
ersehen. 

[Still 't $3  [otyt.) 


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Ir.  50.  HEIDELBERGER  1851. 

JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR. 


Kurze  Anzeigen. 


(Schluss.) 

Die  Abfassung   von  Gedichten,  um  nur  diesen  Punkt  zu  erwähnen, 
bei  feierlichen  Gelegenheiten ,  wo  sie  sogar  vorgetragen  wurden,  die  Auffüh- 
rung Yon  dramatischen  Stücken,  die  theils  zu  solchen  Zwecken  besonder«  ge- 
fertigt wurden,  spielt  hier  noch  neben  öfteren  Streitigkeiten,  die,  besonders  bei 
der  Anstellung  der  Rectoren  und  Lehrer,  durch  die  kirchlichen  Verhältnisse  je- 
ner Zeiten  und  die  von  diesem  Standpunkt  aus  gestellten  Forderungen  herbei- 
geführt wurden,  hier  auch  meist  in  Zusammenhang  standen  mit  den  verschie- 
dentlich verursachten  Reformplänen,  eine  besondere  Rolle.    So  ward  z.  B.  in 
der  Fastenzeit  des  Jahres  1617  eine  actio  comica  de  christiani  nominis  sorte  ac 
fortnna  aufgeführt;  die  letzte  grössere  Komödie ,  die  aufgeführt  ward,  fällt  in 
das  Jahr  1710,  also  fast  ein  Jahrhundert  spater;  in  dem  damals  aufgeführten 
Stück:  „Das  goldene  Vliess,  d.  i.  die  unvergleichliche  Belohnung  einer  uncr- 
müdeten  Arbeit",  traten  vier  und  dreissig,  meist  aus  der  mythisch-heidni- 
schen Zeit,  einige  auch  aus  dem  alten  Testament  gewählte  Personen  auf,  Jason 
mit  sechs  Gefährten,  Europa,  als  Weltheherrscherin ,  Japhet,  Sem,  Cainan  und 
Attabaiiba,  als  Vertreter  der  vier  VYelttheile,  Aeetes  und  Medea  u.  s.  w.  Eine 
ähnliche  Anzahl  von  Personen  finden  wir  an  einer  ähnlichen  Aufführung  theil- 
nebmend,  welche  zur  ersten  Jubelfeier  des  Gymnasiums  am  18.  August  1665 
stattfand  und  so  grossen  Beifall  einämtete,  dass  sie  am  25.  August  wiederholt 
werden  musste.    Wir  kennen  das  Stück,  das  nicht  gedruckt  wurde,  nicht  näher, 
ersehen  aber  aus  dem  Programm,  dass  es  eine  religiös-moralische  Tendenz  hatte: 
„data  also  der  gantze  Zweck  dahinaus  gehet,  welcher  gestalt  ein  rechtschaffe- 
ner Christ  beständig  in  wahrem  Glauben  wider  alle  Verfolgung  beharren  und 
Tor  die  schnöde  nichtige  Eitelkeit  dieser  Welt  die  hohe  und  selige  Ewigkeit 
getrost  erwehlen  sol.w    Bei  derselben  Feierlichkeit  fand  auch  ein  actus  oratorio- 
comieus  statt,  bei  welchem  (so  schreibt  der  Verf.)  erst  Apollo  eine  lateinische 
Rede  hält,  dann  die  neun  Musen,  eine  nach  der  andern,  auffordert,  von  denen 
jede  einen  Lebrgegenstand  preist,  Melpomene  die  alten,  Terpsichore  die  deut- 
sche Sprache,  gegen  welche  Euterpe  redet,  und  so  fort.    Nach  den  Musen  tre- 
ten fünf  andere  Personen  ungerufen  auf,  ignorantia,  otium.  voluptas,  doxosophia 
und  discordia,  die  Apollo  zum  Sprechen  lässt,  aber  ziemlich  kurz  abfertigt.  Zu- 
letzt kommen  die  Musen  noch  einmal,  um  gegen  die  Anwesenden  nach  Rang 
and  Würden,  vom  Herzog  August  zu  Sachsen  an  bis  zu  den  Scholarchen,  Dank 
and  Glückwunsch  auszusprechen.    So  wenig  derartige  Auflührungen  als  Muster 
des  Geschmacks  in  unserer  Zeit  werden  gelten  können,  so  liegt  doch  auf  der 
andern  Seite  in  dem  Ganzen  etwas  Sinniges,  was  uns  unwillkührlich  anspricht, 
zumal  wenn  wir  an  manche  der  jetzt  üblichen  Redeactus  mit  ihrer  Vornehro- 
thoerei  und  ihrem  Hinaufschrauben  in  andere  Sphären  denken  und  die  für  die 
gesummte  Erziehung  daraus  hervorgehenden  Nachtheile  erwägen,  die  keinem 
XUV.  Jahrg.  5.  Doppelheft.  50 


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m  %W  Anzeigen. 

wahren  Pädagogen  verborgen  bleibe«  können.  Unter  den  im  Jahre  1672  ein- 
geführten Reformen  finden  wir  auch  die,  dass  zweimal  die  Woche,  Mittwoche 
nnd  Samstags,  Redeübungen  gehalten  werden,  und  im  Interesse  dieser  Rede- 
übungen festgestellt  werden  sollte ,  dass  fortan  Keiner  ans  der  ersten  Klasse 
entlassen  werde,  „er  habe  denn  mit  einer  orajioq  cum  annexa  gratiarom  actione 
pro  aeeeptis  benefieiis  publice  valediciret."  Dass  damals  schon  man  insbeson- 
dere in  den  oberen  Classen  daran  dachte,  recht  viele  Zeit  für  die  Leetüre  der 
alten  Schriftsteller  zu  gewinnen,  könnte  auch  unsere  Zeit,  die  in  Allem  sich  so 
vorgeschritten  wlhnt,  wohl  sich  merken;  die  Mahnung  an  die  Lehrer:  „ihre  Stun- 
den richtig  zu  halten,  auch  die  etliche  Zeit  keineswegs  mit  unnöthigen  Die* 
coursen,  wodurch  die  Jugend  nur  zur  Dtssolution  gewöhnt  wird,  zuzubringen* 
wird  auch  für  unsere  Zeit  noch  Geltung  haben,  da,  wo  die  Lehrer,  statt  ihrer 
nächsten  Pflicht  zu  genügen,  lieber  von  Politik  and  Landständen  oder  von  der 
Republik  sich  mit  ihren  Schülern  unterhalten.  Die  Beschränkung  der  vierwö- 
chenüichen  Hundslagsferien  (während  welcher  nur  die  Nachmittagsstunden  aus- 
Helen), auf  viersehu  Tage,  wird  auch  in  unsera  Tagen  noch  beachtenswert h 
bleiben,  wir  würden  ihr  wenigstens  unbedingt  den  Vorzug  geben  vor  einer 
Einrichtung,  die,  eben  um  einzelnen  Lehrern  den  Genuas  eines  Bades  zu  er- 
leichtern, wenige  Wochen  vor  dem  Schlüsse  des  gesammten  Schuljahres  noch 
einige  Wochen  gänzliche  Ferien  anordnet  aber  im  Interesse  des  Unterrichts 
schwerlich  begründest  seyn  dürfte.  Doch  Derartiges  wird  man  noch  Man- 
ches in  diesen  Mittbeiiungen  finden;  die  angeführten  Proben  mögen  genügen, 
um  der  Schrift  recht  viele  Leser  zuzuführen. 


GvchichUtabellcn  mm  Auswendiglernen  von  K.  Arnold  Schäfer,  Professor  an 
der  h.  sächs.  landesschulc  tu  Grimma.  Dritte  Auflage.  Leipzig.  Armol- 
di'tche  Buchhandlung  1851   VI  und  6t  S.  in  gr.  8. 

Wir  haben  schon  die  beiden  ersten  Auflagen  dieses  Büchleins  als  ein 
zweckmässiges  Hülfsmittel  bei  dem  geschichtlichen  Unterricht  auf  Schalen  em- 
pfohlen (s.  diese  Jahrb.  1847  v  477  and  1848  p.  3t«j)  und  können  diese  auch 
bei  dieser  neuen  dritten  Auflage  mit  um  so  mehr  Grund  thun,  als  wirklich 
dieselbe  vor  den  beiden  früheren  sich  durch  einzelne,  indess  mit  Beobachtung 
des  Masses,  so  wie  des  der  ganzen  Schrift  zu  Grunde  liegenden  Zweckes,  ge- 
machte Zusätze  nnd  schärfere  Fassung  des  Mit  gelbeilten  auszeichnet,  und  über- 
desa  noch  eine  ganz  neue  Zugabc  in  einem  dritten  Curaus  erhalten  hat,  welcher 
in  ähnlicher  Weise  eine  tabellarische  Uebersicht  der  Cult  Urgeschichte  be- 
greift, ao  dass  auch  von  dieser  Seite  her  dem  Lehrer  ein  guter  Leitfaden  in  die 
Hände  gelegt  ist,  durch  den  es  ihm  möglich  wird,  auch  das  geistige  Leben  der 
Völker  in  seinen  Hauptmomenten  wenigstens  darzustellen  und  dem  Schüler  die- 
jenigen Nanner  vorzuführen,  die  durch  ihre  geistige  Thätigkeit  von  dem  wesent- 
lichsten Einfluss  auf  die  Cultur  und  damit  auf  das  gesammte  Leben  der  Völker« 
in  ihren  verschiedensten  Beziehungen  geworden  sind.  Der  Verf.  hat  damit,  wie 
Wir  glauben,  eine  Lücke  ausgefüllt,  die  bei  den  meisten  ähnlichen  Schriften  der 
Art  sehr  fühlbar  ist;  wir  wünschen  darum  diesen  Geschieh tstabellen  auch  in  die- 
ser nenen  Gestak  recht  weite  Verbreitung,  damit  sie  in  der  That  den  Katzen 
stiften,  den  der  Verfasser  damit  an  erreichen  bestrebt  war. 


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Kuno  Anzeigen. 


Lehensabriu  ton  Johann  Caspar  Orelli.  Aus  den  Heu  jähr shläUern  der  Stadt- 
bibliolhtk  in  Zürich  besonders  abgedruckt.  Zürich  1851.  In  Commission 
bei  (hell,  Füssli  und  Comp.  20  S.  in  gross  4.  Mit  dem  schon  gestochenen 
Bildnisse  Orelli's. 

Schon  früher  ward  in  diesen  Blattern  (Jahrg.  1850  S.  154)  der  in  fran- 
Eüsischer  Sprache  abgefaßten  Lebeniachilderung  des  Mannes  gedacht,  dessen  An- 
denken auch  die  hier  anzuzeigenden  Blitter  zu  ehren  bestimmt  sind.   Wenn  in 
jener  Schilderung  insbesondere  die  gelehrte  Seite  hervortrat,  und  die  Leistungen 
Ort:  Iii 's  auf  dem  Gebiete  der  classiseben  Philologie  und  andern  verwandten 
Zweigen,  wodurch  dieser  Mann  sich  in  ganz  Europa  bekannt  gemacht,  und  für 
eise  ganze  Richtung  der  gelehrten  Kritik  bestimmend  geworden  ist,  hauptsäch- 
lich den  Gegenstand  und  Inhalt  bildeten,  so  tritt  aus  dieser  Schilderung  mehr 
die  Persönlichkeit  des  Mannes,  die  ganze  geistige  Entwicklung  desselben  nach 
ihren  verschiedenen  Stadien  in  einem  schönen  Bilde  hervor,  das  übrigens  auch 
die  andern  Seiten,  namentlich  die  gelehrte,  und  hier  in  der  That  unermüdliche 
Tätigkeit  Orelli's  nicht  unberührt  lägst  und  hier  selbst  manche  wohl  zu  be- 
achtende Notiz  uns  mittheilt.    Schon  das  Knaben-  und  Jünglingsalter,  das  uns 
itier  näher  geschildert  wird,  bietet  manche  Züge,  die  selbst  für  die  spätere 
Kntwickclung  nicht  ohne  Belang  sind:  auch  das  häusliche  leben  in  dem  Kreise 
der  Familie  tritt  in  manchen  noch  nicht  bekannten  Zügen,  die  auf  den  Cha- 
rakter, wie  er  später  immer  mehr  hervortrat,  ein  Licht  werfen,  hervor.  Daran 
schliefst  sich  die  Entwickeln  ng  des  gereiften  Mannesalters,  in  welchem  Orelli 
als  Gelehrter  wie  als  Lehrer  gleich  ausgezeichnet  gewirkt  hat.    Von  seinen  ge- 
lehrten Leistungen  hier  zu  reden,  glauben  wir  unterlassen  zu  können;  nur  der, 
der  auf  dem  Gebiete  der  philologischen  Wissenschaft  ein  völliger  Fremdling 
ist,  könnte  diess  vermissen;  wohl  aber  wird  dessen  au  gedenken  seyn,  was  wir 
aus  dieser  Schrift  auch  über  die  Lehrtätigkeit  des  Mannes  erfahren,  der  auf 
dem  Gebiete  der  classischen  Philologie  als  Gelehrter  so  Tüchtiges  geleistet  hat. 
Der  Vortrag  Orelli's  (so  lautet  die  Mittheilung  eines  seiner  Schüler  S.  9)  hatte 
eine  hinreissende  Gewalt;  sobald  er  das  Catheder  bestiegen  und  das  Buch  ge- 
öffnet, geriet h  Alles  bei  ihm  in  Leben  und  Bewegung;  die  prachtvolle  metallene 
Stimme,  die  Würde  der  Sprache,  die  Lebhaftigkeit  der  Gesticolation,  die  kurzen 
sententiösen,  oft  witzigen  und  sarkastischen  Bemerkungen  dazwischen  —  alles 
Dieses  übte  auf  den  Zuhörer  einen  Zauber  aus,  der  unwiderstehlich  war.  Er 
wollte  anregen,  anspannen,  ermuntern,  begeistern,  die  antike  Welt  selbst  ken- 
nen zu  lernen  und  zu  studiren.    Wünschen  wir,  dass  der  von  ihm  auf  diesem 
Felde  ausgestreute  Same  die  besten  und  schönsten  Früchte  trage  und  auf  diese 
Weise  sein  Andenken  in  seiner  Vaterstadt  fortlebe  und  fortwirke. 

a 

America.  In  geschichtlichen  und  geographischen  Umrissen  ton  Dr.  Karl 
Andre e,  corresp.  Mitglied  der  üistorical  Society  und  der  Elhnological  So- 
ciety zu  Neu  -  York.  Mit  Abbildungen.  Braunschceig ,  bei  Georg  Westcr- 
mann.  1—4.  Lieferung.   320  S.  in  gr.  8. 

Diese»  Werk,  das  in  drei  Banden  die  ganze  neue  Welt  befassen  soll,  hat 
zunächst  die  Bestimmung,  bei  dem  stets  wachsenden  Verkehr  zwischen  der  al- 
ten und  neuen  Welt,  mit  den  Verhältnissen  der  letzteren  in  den  auf  dem  Titel 

50* 


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788 


Kurze  Anzeigen. 


bemerkten  Beziehungen,  geschichtlichen  wie  geographischen,  naher  bekannt  tu 
machen,  und  dadurch  eine  richtige  Anschauung  und  Würdigung  derselben  zu 
veranlassen.  Darum  ist  der  Blick  zuerst  auf  das  Land  selbst  und  dessen  Urzu- 
stände gerichtet,  wie  sie  zu  der  Zeit  waren,  in  welcher  die  ersten  Niederlas- 
sungen erfolgten;  die  Urbevölkerung  des  Landes,  wie  die  eingewanderte  und 
deren  weitere  Schicksale  bis  auf  die  neueste  Zeit  und  die  grossartige  Entwicke- 
lung  derselben  in  jeder  Hinsicht,  die  Ausdehnung,  welche  Handel  und  Schiff- 
fahrt in  einer  Weise  gewann,  die  noch  vor  einem  halben  Jahrhundert,  um  von 
früheren  Zeiten  nicht  zu  reden  —  kaum  geahnet  ward  —  das  Alles  soll  uns 
hier  übersichtlich  und  in  seinem  innern  Zusammenhang  vorgeführt  werden,  um 
so  jenen  Totaleindruck  hervorzurufen,  welcher  von  dem  Verfasser  beabsichtigt 
wird.  Sein  Werk  soll  ein  Gemälde  der  neuen  Welt  liefern,  das,  auf  einer  ge- 
lehrten Unterlage  beruhend  und  auf  gründliche  Forschungen  gestützt,  die  Er- 
gebnisse der  Wissenschaft  einem  grosseren  gebildeten  Publikum  vorführen,  und 
ihm  eine  eben  so  belehrende  und  nützliche,  wie  angenehm  unterhaltende  Leetüre 
gewähren  soll.  In  so  fern  hat  es  Much  einen  praktischen  Zweck,  als  ea  Han- 
del und  Wandel,  Verkehr  und  Verbindung  insbesondere  in  seinen  Kreis  zieht 
und  darüber  diejenige  Belehrung  gibt,  die  der  Gebildete  über  derartige  Verhält- 
nisse zu  gewinnen  wünscht.  Der  erste  Band,  von  dein  uns  die  vier  ersten  Lie- 
ferungen vorliegen,  enthalt  Nordamerika,  und  beginnt  mit  einer  Einleitung, 
welche  die  physischen  und  klimatischen  Verhältnisse,  die  Beschaffenheit  des  Lan- 
des im  Allgemeinen,  die  Pflanzen-  und  Thier  weit,  wie  die  Menschen  bespricht 
und  hier  die  Frage  nach  der  Abkunft  der  amerikanischen  Menschheit  (nach  Mor- 
ton) nicht  übergeht;  auch  die  weitere  Km  Wickelung  der  Bevölkerung,  die  ver- 
schiedenen darauf  wirkenden  Einflüsse  werden  in  allgemeinen  Umrissen  darge- 
stellt. Das  erste  Hauptstück  hat  es  mit  Island  und  Grönland  zu  thun; 
die  Fahrten  der  Normänner  nach  diesen  Ländern  im  neunten  Jahrhundert  bilden 
den  Ausgangspunkt.  Die  IVaturbeschaffenheit  wie  die  Bevölkerung  wird  dann 
charakterisirt.  Das  zweite  Hauptstück  bringt  eine  umfassende  Darstellung  der 
Potarreisen,  welche  uns  von  den  ältesten  Zeiten  an  der  Reihe  nach  bis  zum 
Jahr  1850  hier  vorgeführt  werden,  insbesondere  auch  mit  Rücksicht  auf  die  Be- 
mühungen, eine  nordöstliche  und  nordwestliche  Durchfahrt  zu  finden.  Wrir  zwei- 
feln nicht,  dass  die  hier  gegebene  Uebersicht  ansprechen  wird.  Das  dritte 
Hauptstück  schildert  Amerika,  im  Norden  des  fünfzigsten  Breitengrades ;  die  Ge- 
birge wie  die  Ebenen  dieser  weiten,  von  Indianern  und  von  Pelzhändlern  durch- 
zogenen Strecken,  die  Thier-  und  Pflanzenwelt,  der  Pelzhandel  und  dessen  Ge- 
schichte, also  auch  eine  Darstellung  der  verschiedenen  Handelscompagnien,  wel- 
che damit  beschäftigt  sind,  das  Leben  und  Treiben,  die  Beschäftigung  und  der 
Verkehr  der  verschiedenen  Indianerstämmo,  dann  die  verschiedenen  Niederlas- 
sungen der  Europäer  in  diesen  Strecken,  der  Russen  wie  der  Engländer  wer- 
den in  eben  so  anziehender  als  umfassender  Weise  geschildert,  um  so  ein  Ge- 
sammtbild  des  Ganzen  zu  gewinnen.  Das  vierte  Hauptstück  schildert  die  In- 
dianer in  Canada  und  den  vereinigten  Staaten  östlich  vom  Mississippi.  Aber 
nicht  bloss  die  gegenwärtig  in  diesen  Ländern  wohnenden  Stimme  sind  der  Ge- 
genstand dieser  Schilderang;  der  Verf.  geht  auch  in  die  Vorzeit  zurück,  die 
merkwürdigen  Alterthümer,  die  jetzt  noch  Zeugniss  geben  von  einer  nun  ans* 
gestorbenen  Welt,  werden  uns  vorgeführt  und  zun  Theil  selbst  durch  eilige* 


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78» 


druckte  Abbildungen  anschaulich  gemacht.  Die  verschiedenen  über  diese  Ge- 
genstände angestellten  Forschungen  neuer  und  neuester  Zeit  sind  dein  Verfasser 
nicht  entgangen,  der  hier  ein  sehr  anschauliches  Bild  des  Ganzen  geliefert  hat. 
Eine  klare,  lebendige  Darstellung,  die  nicht  so  sehr  bei  dem  Einzelnen  sich  auf- 
hält, wohl  aber  die  Hauptpunkte  treffend  hervorzuheben  weiss,  zeichnet  über- 
haupt diese  Schrift  aus,  deren  weitere  Fortsetzung  nur  erwünscht  seyn  kann. 
Was  in  den  vier  ersten  Lieferungen  uns  vorliegt,  haben  wir  angegeben;  die 
weiter  folgenden  dieses  ersten  Bandes  sollen  die  Vereinigten  Staaten,  sowie 
Californien  bringen;  wird  die  Schilderung  in  der  hier  begonnenen  Weise  fort- 
geführt, so  wird  sie  anziehend  und  unser  Interesse  vielfach  anregend  seyn. 
Der  zweite  Band  soll  Mexico,  Mittel- America  und  Westindien  begreifen;  der 
dritte  Südamerica.  Die  äussere  Ausstattung  ist  selbst  für  ein  grösseres  Publi- 
kum, das  auch  auf  die  Aussenseite  Rücksicht  zu  nehmen  pflegt ,  sehr  befriedi- 


Fran  coeur  (L.  B.  ehem.  Prof.  der  Mathematik  an  der  Universität  tu  Paris  etc.): 
Vollständiger  Lehrkur s  der  reinen  Mathematik.  Ersten  Ban- 
des erstes  und  drittes  Buch,  enthaltend  die  elementare  Arithmetik 
und  Geometrie.  Zweite  deutsche  Auflage,  bearbeitet  von  Dr.  Phi- 
lipp Fischer,  Lehrer  der  Mathematik  an  der  höhrrn  Gewerbschule  in 
Darmstadt.  Bern,  Chur  und  Leipzig  I8o0—1851 ,  Verlag  und  Eigenthum 
von  J.  F.  J.  Dalp. 

Der  von  Fran coeur  bei  der  Bearbeitung  seines  Cours  complet  de  Ma- 
themal i(ju es  pures  beabsichtigte  Zweck  war :  seine  Leser  in  den  Stand  zu  setzen, 
alle  Schriften  über  die  verschiedenen  Zweige  der  Mathematik  durch  das  Studium 
seines  Werkes  verstehen  zu  lernen.  Die  Darstellung  sollte  eine  mehr  kurige- 
f  aaste  sein,  die  sich  nicht  auf  lange  ermüdende  Eni  Wickelungen  einlaset.  — 
Francoeur  bemerkt  mit  Recht:  „Der  Schriftsteller,  der  Alles  sagt,  was 
er  denkt,  hindert  den  Leser,  selbst  zu  denken.  Der  Eotwickelung  jedesmal 
die  den  Fähigkeiten  des  Schülers  entsprechende  Ausdehnung  zu  geben,  ist 
die  Aufgabe  des  Lehrers.  Um  gut  zu  unterrichten,  muss  man  nicht  Alles  sa- 
gen, was  man  weiss,  sondern  nur  das,  was  für  denjenigen  passt,  den  man 
unterrichtet.'1  — 

Das  erste  Buch  des  ersten  Bandes  enthält  die  gewöhnlichen  Grundleh- 
ren der  Arithmetik  in  einer  ebenso  einfachen  als  klaren  Darstellung.  —  Ob- 
gleich die  verschiedenen  Satze  durchgängig  nur  an  Z  a  h  1  e  n  beispielen,  ohne  alle 
Anwendung  von  Buchstaben,  entwickelt  sind,  so  thut  dies  offenbar  doch  der 
Allgemeingültig  keil  keinen  Abbruch;  denn  die  Allgemein  Gültigkeit  ei- 
nes Beweises  hängt  nicht  von  der  blossen  Anwendung  von  Buchstaben, 
sondern  von  der  Allgemeingültigkeit  der  dabei  gemachten  Schlüsse  und  Betrach- 
tungen ab.  — 

Das  dritte  Buch  des  ersten  Bandes  enthält  die  Gründl  ehren  der  soge- 
nannten Elementargeometrie  in  der  Ebene  und  im  Räume.  Die  Geo- 
metrie wird  als  die  Wissenschaft  definirt,  welche  sich  mit  der  Ausmessung, 
so  wie  mit  der  Erforschung  der  Formen  und  Eigenschaften  des  Räum- 
lichen beschäftigt.  —  Die  gerade  Linie  wird  als  ein  durch  die  Anschauung 


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gegebener  einfacher  Begriff  angenommen,  und  die  Ebene  als  die  Fliehe 
deßnirt,  welche  die  Eigenschaft  hat :  das«  die  g  e  r  a  d  e  Verbindungslinie  je  zweier 
Tunkte  derselben  ganz  in  diese  Fläche  flllt.  —  Der  Winkel  wird  deßnirt  als  die 
zwischen  zwei  von  demselben  Punkte  auslaufenden  geraden  Linien  liegende 
Fl  Sehe  (?),  und  dennoch  soll  die  Grosse  des  Winkels  nicht  Ton  der  Lange 
•einer  Schenkel  abhängen!  —  Wenn  man  sich  die  Schenkel  aller  Winkel  hVs 
Unendliche  verlängert  denkt,  so  verhalten  sich  die  Grossen  dieser  Win- 
kel (als  Richtungsunterschiede  gedacht)  allerdings  wie  die  zwischen  ih- 
ren Schenkeln  liegenden  unendlichen  Fliehen;  allein  die  Definition  ist  eine 
ganz  unpassende,  und  bei  der  Lehre  von  den  Parallelen  wird  sich  zeigen,  wess- 
balh  diese  Definition  des  Winkels  gegeben  ist.  —  Dan  Scheitelwinkel 
einander  gleich  sind ,  folgt  unmittelbar  aus  dem  Begriffe  der  geraden  Linie.  — 
Mit  Recht  wird  der  Satz:  „Die  gerade  Linie  ist  der  kürzeste  Weg 
zwischen  zwei  Punkten14  bewiesen,  und  nicht  als  für  sich  klar  angenom- 
men; allein  bei  der  Yergleicbung  der  Länge  der  geraden  Linie  mit  der  diesel- 
ben Endpunkte  verbindenden  krummen  wird  stillschweigend  angenommen:  das* 
der  Längenunterscbied  zwischen  der  krummen  Linie  und  der  in  dieselbe  beschrie- 
benen TolygenHllinie  von  unendlich  vielen  uneodlich  kleinen  Seiten  unendlich 
klein  ist,  was  wohl  erst  nachgewiesen  werden  müsste.  —  Um  diese  Schwie- 
rigkeit zu  umgehen,  must  man  den  Satz  indirect  beweisen,  indem  man  zeigt: 
dass  jede  andere,  als  die  gerade  Linie  k e i n e  kürzeste  ist,  und  da  es  not- 
wendig eine  kürzeste  Linie  zwischen  zwei  Punkten  gaben  muas,  so  folgt  mit 
Nothwendigkeit:  dass  die  gerade  Linie  die  kürzeste  sein  muss.  — 

Parallelen  werden  zwei  in  derselben  Ebene  liegende  gerade  Linien 
genannt,  welche  sich  nie  treuen,  wie  weit  sie  auch  nach  der  einen  oder  an- 
dern Seite  hin  verlängert  werden  mögen.  —  Da  der  Satz :  dass  der  Aussenwin- 
kel  eines  Dreieckes  grösser  ist,  als  jeder  der  beiden  innern  gegenüberliegen- 
den Winkel,  vorhergegangen  ist,  so  liessen  sich  die  drei  bekannten  directen 
Sitze  über  die  Parallelen,  nämlich  dass  zwei  Gerade  parallel  sind:  I)  wenn 
die  Gegenwinkel,  2)  wenn  die  Wechselwinkel  gleich,  und  3)  wenn  die  Summe  der 
beiden  innern  (oder  äussern)  Winkel  an  derselben  Seile  der  Trnnsrersale  (Secante) 
zwei  rechte  betrögt,  leicht  streng  erweisen.  Um  aber  die  nm gekehrten  Sätze 
zu  beweisen,  muss  der  ganz  fremdartige  Satz:  dass  ein  Winkel  (nach  der  frü- 
heren Definition  als  unendliche  Fliehe  gedacht),  wie  klein  er  auch  sein  mag, 
doch  immer  grösser  ist,  als  jeder  noch  so  breite  unendliche  St  reifen  (Fläche 
zwischen  zwei  unendlichen  Parallelen),  zn  Hülfe  genommen  werden! 

Wir  brauchen  hinsiehtlich  dessen,  was  wir  über  die  Fnndamentalbegrifle 
(gerade  Linie,  Richtung,  Ebene,  Parallelen,  etc.)  hier  zu  sagen  hätten,  nur  auf 
das,  was  wir  bereits  früher  bei  verschiedenen  Gelegenheiten  in  diesen  Blättern 
darüber  bemerkt  haben,  zu  verweisen.  — 

Der  Inhalt  des  Buches  ist  der  gewöhnliche,  und  die  Darstellung  durch- 
weg ebenso  einfach  als  klar,  so  dass  es  ganz  den  Eindruck  eines  deutschen 
Originales  macht,  und  sich  besonders  als  Leitfaden  oder  Grundriss  bei 
dem  Unterrichte  an  höhern  Lehranstalten  (höhern  Bürgerschulen,  Gewerbschn- 
len  etc.)  eignet.    Die  äussere  Ausstattung  ist  ebenfalls  sehr  gut  und  correct. 

Von  den  übrigen  Titeilen  des  in  Rede  stehenden  Werkes  soll  s.  Z.  eben* 
laus  Dentin  er>uiiici  vterueti.  irr*  wciiiiMUt?. 


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Grades.  Von  Simon  Spitier.  Mit  einem  Vorworte  ton  Dr.  Schul* 
v.  Strassniltki,  Prof .  der  Mathematik  am  k.  k.  polyt.  Institute  in  Wien. 
Aus  den  naturw.  Abh.  III  Band,  2  Abih.  Wien.  i849.  Bei  W.  Braumül- 
ler JL  JL  üofbuchhändlcr.  34  S.  in  4. 

Die  vorliegende  Abhandlung  hat  den  Zweck,  die  Ho rner'sche  Methode 
auf  die  Berechnung  der  imaginären  Wurzeln  anzuwenden.  Ein  kurzes  Vorwort 
von  Prof.  Schulz  v.  Strassnitzki  leitet  dieselbe  ein. 

Zunächst  setzt  der  Verf.  die  Horn  er' sehe  Methode  in  Anwendung  auf 
die  Berechnung  reeller  Wurzeln  klar  auseinander,  wenn  er  natürlich  nicht  ge- 
sonnen sein  konnte,  in  die  besondern  Schwierigkeiten  der  Aufgabe  etwa  weiter 
einzutreten. 

Denselben  Gang  verfolgt  er  sodann  bei  der  Aufsuchung  der  imaginären 
Wurzeln  und  erweist  die  praktische  Brauchbarkeit  seiner  Ansicht  durch  Aufsu- 
chung der  imaginären  Wurzeln  einer  Reihe  von  Gleichungen.  Dess  die  Rech- 
nungen sehr  zusammengesetzt  ausfallen  müssen,  ist  von  vornherein  klar;  immer 
aber  ist  es  ein  Verdienst,  die  Bestimmung  der  imaginiren  Wurzeln  durch  die- 
selbe Metbode  versucht  zu  haben,  durch  welche  die  reellen  bestimmt  werden. 
Es  bleiben  allerdings  noch  manche  Schwierigkeiten  zu  erörtern.  Einmal  ist  der 
Fall  gleicher  imaginirer  Wurzeln  zu  untersuchen,  obgleich  allerdings  derselbe 
umgangen  werden  kann ,  indem  man  die  gleichen  Wurzeln  nach  den  bekannten 
Methoden  entfernt.  Sodann  ist  der,  bei  reellen  Wurzeln  besondern  Schwierig- 
keiten unterliegende  Fall,  da  mehrere  Wurzeln  der  Gleichung  nahezu  gleich  gross 
sind,  auch  hier  zu  behandeln,  wo  er  natürlich  noch  verwickelter  ausfallen  muss. 
So  ist  dann  auch  ein  genaues  Kriterium  festzustellen,  dass  man  über  eine  ima- 
ginäre Wurzel  hinausgegangen  sei,  wie  man  dies  bekanntlich  bei  den  reellen 
Wurzeln  dadurch  findet,  dass  das  letzte  Glied  sein  Zeichen  wechselt  in  der  neu- 
gebildeten Gleichung.  Dies  sind  Funkte,  die  festgestellt  werden  müssen,  ehe  die 
Aufgabe  vollkommen  gelöst  ist.  Herr  Spitzer  hat  aber  in  der  vorliegenden 
besonders  abgedruckten  Abhandlung  einen  wichtigen  Schritt  dazu  gethan  und  er 
wird  aoeh,  wie  Ref.  hofft,  der  weitern  Vervollkommnung  der  Metbode  seine 


Beiträge  zur  meteorologischen  Optik  und  zu  verwandten  Wissenschaften,  Von  J.  A, 
Gruncrl  u.  s.  w.   Viertes  Heft. 

Auch  unter  dem  besonderen  Titel: 
Die  Lichterscheinungen  der  Atmosphäre,  dargestellt  und  erläutert  von  R.  C lau- 
st us.    Mit  sechs  lithographirten  Tafeln,   hevpug  1850.    Verlag  um  E.  B. 
Schwickert. 

Wir  haben  schoii  früher  die  ersten  Hefte  dieser  Beiträge  in  diesen  Blät- 
tern angezeigt,  und  haben  dort  auf  den  interessanten  Inhalt  derselben  aufmerk- 
sam gemacht.  Das  vorliegende  vierte  Heft  enthält  nun,  was,  wie  der  Heraus- 
geber früher  bemerkte,  eigentlich  in  den  Anfang  der  Zeitschrift  gehört  hätte,  eine 
Ucbersicht  der  sfinuntlichen,  der  Optik  angehörenden  Erscheinungen  in  der  Al- 


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Kurie  Anzeigen. 


mosphäre,  von  dem  durch  mehrere  andere  hierher  gehörende  Arbeiten  wobl  be- 
kannten (laus  ins.  En  ist  sonach  dieses  Heft,  in  ähnlicher  Weise,  wie  die  an- 
dern theil weise  auch,  ein  für  sich  bestehendes  Ganze,  das,  abgesehen  von  der 
Zeitschrift,  zu  der  es  gehört,  dem  Leser  einen  Ueberblick  über  jene  durch  Far- 
benpracht und  zum  Theil  zauberhaftes  Auftreten  den  herrlichsten  Anblick  ge- 
wahrenden Erscheinungen  giebt. 

Die  in  dem  vorliegenden  Hefte  betrachteten  Erscheinungen  sind  nun: 

Die  Gestalt  des  Himmelf.  Ea  isl  eine,  bei  nur  oberflächlicher  Be- 
trachtung leicht  sieb  darbietende  Erfahrung,  das*  der  Himmel  als  ein  Gewölbe 
erscheint,  das  keineswegs  halbkugelförmig  ist,  sondern  eine  sehr  grosse  Ab- 
plattung hat,  so  dass  der  horizontale  Halbmesser  weit  grösser  ist,  als  der  verti- 
kale. So  untersuchte  schon  Smith  die  Gestalt  dadurch,  dass  er  sich  den  Bogen 
vom  Zenith  zum  Horizont  halbirt  dachte  und  dann  den  Winkel  bestimmte ,  den 
die  vom  Auge  aus  nach  jenem  Punkte  gezogene  Gerade  mit  dem  Horizonte 
machte.  Statt  45°,  die  er  haben  sollte  bei  Kugelform,  fand  sich  jener  Winkel  nnr 
23°,  woraus  eine  starke  Abplattung  folgt.  Die  Erklirungsweisen  dieser  Erschei- 
nung sind  mehrfach.  Wohl  am  besten  wird  die  schon  von  Smith  aufgestellte 
sein,  dass  uns  überhaupt  Gegenstände  am  Horizont  desswegen  ferner  scheinen, 
weil  wir  durch  die  an  der  Erdoberfläche  befindlichen  Gegenstände  überhaupt 
einen  Massslab  zur  Vergleichung  der  Entfernung  haben,  was  wir  hinsichtlich  der 
im  Zenith  befindlichen  Gestirne  nicht  besitzen;  bekanntlich  beruht  auf  demselben 
Grunde  die  Erklärung  der  Täuschung,  dass  wir  Sonne  und  Mond  am  Horizonte 
für  grösser  halten,  als  am  Zenith. 

Die  Gestalt  des  Himmels  ist  von  Wichtigkeit  für  die  Beurtheilung  man- 
cher Erscheinungen.  So  würde  es  offenbar  falsch  seiu,  wenn  min  von  einem 
Gegenstand,  der  etwa  in  der  Mitte  des  Bogens  vom  Zenith  zum  Horizonte  sich 
befindet,  sagen  würde,  er  wäre  45°  über  dem  Horizonte  gewesen,  was  man 
leicht  versucht  sein  könnte.  Es  ist  daher  bei  dergleichen  Bestimmungen  wohl 
auf  diese  Tauschung,  die  mit  unterlaufen  könnte,  zu  achten. 

Die  Schwächung  des  Lichts  in  der  Atmosphäre  ist  eioe 
langst  bekannte  und  schon  vielfach  untersuchte  Erfahrung.  So  hat  Sausaure 
durch  das  Verschwinden  zweier  ungleicher  schwarzer  Kreise  die  Schwächung 
zu  bestimmen  gesucht;  ßouguer  uniersuchte  die  Schwächung  des  Mondlicbts, 
je  nachdem  derselbe  höher  oder  tiefer  am  Himmel  steht.  Die  Durchsichtig- 
keit der  Luft  hangt  sehr  von  der  Witterung  ab,  sie  ist  um  so  klarer,  je 
trockener  sie  ist.  Doch  steht  dem  wieder  eine  andere  Erfahrung  entgegen,  die 
nämlich,  dass  die  Luft  kurz  vor  oder  nach  Regen  ausserordentlich  durchsichtig 
ist,  wie  man  dies  ja  aus  fast  täglicher  Erfahrung  kennt.  Diese  letztere  Erschei- 
nung widerspricht  der  ersteren  übrigens  nicht,  steht  vielmehr  neben  ihr,  ist  aber 
noch  nicht  hinlänglich  erklärt.  Das  zum  Tbeile  nur  von  der  Atmosphäre  absor- 
birte  Licht,  das  auf  dem  Wege  zu  uns  verloren  geht,  bringt  die  allgemeine  Ta- 
gcshclle  hervor,  indem  es  an  den  in  der  Luft  überall  befindlichen  Wn- -er- 
haschen, nach  der  Annahme  des  Verf.,  reflektirt  wird.  Dadurch  erscheint  dann 
das  ganze  Himmelsgewölbe  leuchtend  und  wenn  man,  wie  der  Verf.  in  Crelle's 
Journal,  Bd.  34  und  36  gethan,  die  Lichtmenge  berechnen  will,  die  ein  bestimm- 
ter Punkt  der  Erdoberfläche  erhält,  so  muss  man  dieses  Leuchten  des  Himmels- 
gewölbes mit  in  Anschlag  bringen. 


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Auf  der  Reflexion  der  Lichtstrahlen  in  der  Luft  und  dem  Leuchten  des 
Himmelsgewölbe*  beruht  die  Dämmerung.  Man  unterscheidet  eine  bürgerliche 
and  eine  astronomische.  Erstere  dauert  so  lange,  als  man  noch  gröbere  Arbei- 
ten ohne  künstliches  Licht  su  verrichten  im  Stande  ist.  Bei  uns  dauert  dies,  bis 
die  Sonne  etwa  6°  unter  dem  Horisonte  ist.  Die  astronomische  dauert  bis  da» 
hin,  da  man  auch  die  kleinsten  sichtbaren  Sterne  au  sehen  beginnt;  die  Sonne 
hat  dann  eine  Tiefe  von  etwa  18°.  Die  Dauer  der  Dämmerung  hängt  aber, 
eben  weil  diese  auf  der  Reflexion  des  Lichts  in  der  Atmosphäre  beruht,  wesent- 
lich von  dem  Zustande  der  Luft  ab,  und  sie  ist  eine  andere  in  andern  Ländern. 
So  hat  sie  Humboldt  in  Amerika  sehr  kurz  gefunden  u.  s.  w.  Der  in  Osten 
nach  und  nach  immer  rascher  aufsteigende  Schatten  ist  der  Er d  schatten,  der 
die  Atmosphäre  verdunkelt.  Die  Erscheinung,  dass  dieser  Schatten  sich  am  Zenilh 
weit  rascher  bewegt  als  am  Horisonte,  lisst  sieb  leicht  erklären;  und  eben  so 
die  Erscheinungen,  welche  die  aweite  u.  s.  w.  Dämmerung  hervorrufen.  Wir 
müssen  hier  darauf  verzichten  und  auf  das  Buch  verweisen,  da  ohne  Figur  die 
Sache  kaum  deutlich  würde.  Die  Dämmerungserscbeiuungen  sind  übrigens  im 
xweiten  Hefte  von  dem  Herausgeber  einer  ausfuhrlichen  Untersuchung  unterzo- 
gen worden. 

Die  aus  ihnen  gefolgerte  Höhe  der  Atmosphäre  beträgt  nicht  über  4  Mei- 
len: doch  ist  dies  nicht  eine  Höhe  der  Atmesphäre,  sondern  nur  die  Stel- 
len, die  noch  Licht  reflektiren. 

Die  blaue  Farbe  des  Himmels  entsteht  durch  Interferenz  des  re- 
flektirten  Lichts,  das  von  den  Wasserbläschen  in  der  Luft  zurückgeworfen  wird 
—  wie  denn  die  New  ton 'sehen  Farbenringe  aus  ähnlichen  Gründen  entstehen. 
Werden  die  Wände  dieser  Bläschen  dicker,  so  verschwindet  das  Blau  und  man 
erhält  eine  weissliche  Färbung.  Das  von  solchen  dünnen  Bläschen  duruhgelas- 
sene  Licht  ist  dann  roth,  woraus  Morgen-  und  Abendröthe  sich  erklären. 
Die  Erscheinung,  die  Forbes  wahrgenommen,  dass,  wenn  man  durch  den  aus 
einem  Dampfkessel  ausströmenden  Dampf  ein  Licht  betrachtet,  dasselbe  durch  den 
Dampf  dicht  am  Kessel  in  seiner  natürlichen  Färbung  erscheint,  weiter  darüber  roth, 
das  immer  tiefer  wurde,  je  höber  das  Licht  gehalten  war,  bis  endlich  der  Dampf  die 
Gestalt  von  Nebel  annahm,  der  das  Licht  unsichtbar  machte,  oder  an  einzelnen 
Steilen  weiss  erscheinen  Hess,  erklärt  sich  daraus  vollkommen.  Dicht  am  Kes- 
sel ist  der  Dampf  gasartig,  so  dass  er  auf  das  Licht  keine  Wirkung  ausübt;  höher 
hinauf  entstehen  sehr  dünne  Bläschen ,  die  eben  jene  Erscheinung  im  durchge- 
lassenen Lichte  aeigen  müssen,  und  noch  weiter  hinauf  werden  diese  Bläschen 
so  dick,  dass  das  Rothe  (Orange)  nicht  mehr  allein  kommt,  sondern  alle  Farben, 
die  dann  in  ihrer  Mischung  weiss  erzeugen. 

Auch  die  Polarisation  des  Himmelslichlea  beweist,  dass  dasselbe  re- 
gelmässig an  Körperchen  in  der  Luft  reflektirt  wird.  Da  aber  das  Licht  einer 
jeden  Stelle  des  Himmels  nicht  bloss  von  der  Sonne  herrührt,  sondern  von  allen 
andern  Thailen  des  Himmelsgewölbes  und  der  reflektirenden  Erdoberfläche,  so 
wird  die  durch  Erfahrung  bestätigte  Erscheinung  eintreten,  dass  die  Polarisa- 
tionsebene des  Lichta  nicht  genau  so  liegt,  wie  sie  es  sein  sollte,  wenn  das  Licht 
von  der  Sonne  allein  herrührte.  Durch  das  Zusammenwirken  alles  reflektirten 
Lichta  entstehen  die  neutralen  Punkte,  die  Arago,  H abinet  und  Brew- 
ster  gefunden. 


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Korea  Anzeigen. 


Die  Strahlenbrechung  in  der  Atmosphäre  erzeugt  eine  Reihe  Erscheinun- 
gen, die  zum  Tbeil  durch  ihre  Pracht  den  Betrachter  bezaubern.    Zunächst  er* 
zeugt  sie  das  Erheben  der  Gestirne.    Ist  aber  die  Luft  nicht  in  ihrem  ge- 
wöhnlichen Zustande,  sondern  etwa  der  untere  Tbeil  derselben  stärker  erwärmt, 
so  entsteht  die  Senkung  des  Horizontes,  indem  unser  Gesichtskreis  ver- 
engert wird;  im  entgegengesetzten  Falle  entsteht  die  Hebung  des  Horizon- 
tes, so  dass  ferne  Gegenstände,  die  wir  sonst  nicht  sehen  konnten,  uns  plötz- 
lich Sichtbarwerden,  wovon  ein  auffallendes  Beispiel,  von  Latbam  beschrieben, 
angeführt  wird.   Auch  die  Luftspiegelungen  beruhen  hierauf.    Die  mathe- 
matbische  Theorie  derselben  ist  im  dritten  Hefte  vom  Herausgeber  behandelt 
worden;  hier  wird  jene  wunderbare  Erscheinung  vollständig  beschrieben  und 
erläutert.    Bekanntlich  wurde  diese  Erscheinung  bei  Gelegenheit  des  ägyptischen 
Feldzugs  Napoleons  von  Monge  untersucht  nnd  ist  seither  (und  auch  schon 
vorher)  vielfach  beobachtet  werden.   Die  Ebene  Unterägyptens  erscheint  in  sol- 
chem Falle  als  ein  weiter  See,  aus  dem  die  Hügel  wie  Inseln  hervorragen.  — 
Nähert  man  sich  einem  solchen  Hügel,  so  entfernt  sich  das  scheinbare  Ufer,  zer- 
theilt  sich  endlich  vor  dem  Hügel  und  ist  nur  noch  hinter  demselben,  wenn  man 
ihn  erreicht.    Dieses  peinigende  Gefühl  zurückweichendes  Wasser  in  dem  bren- 
nenden Sande  ist  zur  Verzweiflung  bringend.  Dass  ähnliche  Erscheinungen  schon 
viel  früher  beobachtet  wurden,  beweist  eine  Stelle  des  Korans  (Sure  21).  Auch 
in  der  Provence  bemerkt  man  Aebnliches  u.  s.  f.    Die  Fata  Morgana  Inder 
Meerenge  von  Messina  gehören  hieher.    Die  ausführlichste  Beschreibung  solcher 
Erscheinungen  hat  Scoresby  gegeben  in  seiner  Beschreibung  einer  Reise  in 
das  nördliche  Eismeer.  Die  Berge  an  den  Küsten  nahmen  die  sonderbarsten  Ge- 
stalten an;  sie  sahen  aus  wie  Schlösser,  Thürme  und  gleich  darauf  verwandelte 
sich  der  Anblick  in  den  von  Brücken  u.  a.  f.,  so  dass  das  Ganze  in  steter  Ver- 
wandlung der  wunderbarsten   Formen  begriffen  war.    Die  Bilder  entfernter 
Schiffe,  welch  letztere  man  oft  gar  nicht  sah,  schwebten  verkehrt  in  der  Luft, 
ja  zwei  Bilder  desselben  Schiffes  über  einander.    Einmal  erschien  ihm  das  Bild 
eines  unsichtbaren  Schiffes  so  klar,  dass  er  es  als  das  seines  eigenen  Vaters  er- 
kannte, und  obgleich  das  Schiff  nicht  zum  Vorschein  kam,  ergab  sich  später  ans 
der  Vergleicbong  der  Tagebücher,  dass  er  recht  gesehen  hatte.    Der  Verf.  geht 
auf  eine  ziemlich  genügende  Erklärung  dieser  feenhaften  Erscheinungen  ein.  *■*■ 
Auch  das  Funkeln  der  Gestirne,  sowie  die  Aenderung  ihrer  Farbe  wird  er- 
läutert. — 

Die  Theorie  des  Regenbogens,  nach  der  gewöhnlichen  Pf  ewfton'scben 
Weise,  und  auch  nach  der  genauem,  anf  der  neuern  Theorie  de«  Lichta  beru- 
henden von  Airy  wird  sodann  gegeben,  worauf  Wir,  bei  der  wohl  bekannten 
Erscheinung,  nicht  weiter  eingehen  wollen. 

Um  die  Höfe  mit  ihren  Erscheinungen  zu  erklären,  ist  man  genötbigt. 
zweierlei  Wolken  anzunehmen  —  solche,  die  aus  Wasserbläachen  nnd  solche, 
die  aus  Eisnadeln  bestehen.  Letztere  erzeugen  die  Erscheinungen  der  Höfe  und 
Nebensonnen,  die  erstem  die  Lichtkränze,  die  man  ohnehin  jeden  Tag  sehen 
kann,  an  dem  die  Sonne  scheint  und  Wolken  in  ihrer  Nähe  am  Himmel  sind. 
Eine  Beschreibung  mehrerer  frühern  Erscheinungen  ist  schon  im  zweiten  Hefte 
gegeben  worden;  hier  gibt  der  Verf.  die  ausführliche  Erklärung  derselben,  die 
denn  auch  im  Ganzen  sehr  befriedigend  ist.    Wir  können  hier  eine  Uebertickt 


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Karte  Anzeigen*  795 

dieser  Erklärungen  schon  des  Räumet  wegen  nicht  geben,  und  müssen  dessbalb 
auf  das  Buch  selbst  verweisen. 

Das  Wasserziehen  der  Sonne  ist  nichts  Änderet,  als  Reflektion  des 
Lichtet  an  dem  etwa  in  der  Luft  schwebenden  Wasserdampfe. 

Den  Schluss  des  interessanten  vierten  Heftes  macht  eine,  gTÖsstentheils 
nach  Argelander  gegebene  Beschreibung  des  Nordlichtes,  das  bekanntlich 
tu  den  herrlichsten  Lichterscheinungen  in  der  Atmosphäre  gehört.  Eine  Erklä- 
rung dieses  prachtvollen  Phänomens  wird  nicht  versucht,  da  unsere  Erfahrungen 
bis  jetzt  eine  solche  nicht  gestatten. 

Man  wird  aus  vorstehenden  kurzen  Andeutungen  ersahen,  dass  so  ziem- 
lich alle  optischen  Erscheinungen  in  der  Atmosphäre  aufgeführt  und,  fügen  wir 
bei,  deutlich  beschrieben  und  fasslich  erklärt  sind,  ohne  dass  dabei  besondere 
mathematische  Entwicklungen  gebraucht  worden  wären. 


1 )  Sopra  U  Superßcie  parallele  ed  Applicaiione  di  guesla  teorica  alt  Ellissoide. 

Ricerche  di  ßarnaba  Tortolini,  ProfessorediCalcolo  Sublimo%  e  Mem- 
bro  del  Coüegio  Filosoßco  alV  Unitersilä  Romano,  Uno  dei  Quaranta  della 
Societä  Italiana  delle  Scierne.  (Eni rotte  dagli  Annali  di  Scierne  matema- 
Hche  et  fisicke,  Gennajo,  1850.)  Roma,  Tipografia  delle  belle  arti.  1850. 
(20  S.  in  8.) 

2)  Applicaiioni  dei  Trascendenti  ellittici  alla  Quadratur a  di  alcune  Curve  sferiche. 

Memoria  di  Barn.  Tortolini  etc.  {Estratte  etc.  Novembre  1850.)  Roma, 
Tipografia  delle  belle  arti.    1850.    (46  S.  in  8.) 

3)  Sulla  Riduüone  di  alcuni  Integra  Ii  deßniti  ai  trascendenti  ellittici  ed  applicaiione 

a  differtnti  problemi  de  Geometria  t  di  Meccanica  rationale.  Memoria  etc. 
(80  S.  in  8.) 

4)  Sopra  alcune  Superficie  curve  derivate  da  una  data  Superticie  e  di  Genere  con- 

ccidali.    Memoria  etc.    (27  S.  in  8). 

Vorstehende  vier  kleinere  Schriften  sind  dem  Unterzeichneten  durch  die 
Gefälligkeit  ihres  geehrten  Verfassers  zugekommen,  und  er  glaubt,  dieselben  um 
so  mehr  in  diesen  Blättern  erwähnen  zu  sollen,  als  damit  zugleich  auch  in  Er- 
ianerang  gebracht,  dass  „auch  jenseits  der  Alpen"  die  mathematischen  Wissen- 
schaften eifrig  bearbeitet  werden.  Die  beiden  ersten  Schriften  sind,  wie  ihr 
Titel  auch  milbesagt,  nur  Abdrücke  aus  Abhandlungen,  die  der  gelehrte  Verf. 
in  die  von  ihm  seit  Januar  1850  herausgegebenen  „Annali  di  Scienze  matema- 
tiche  e  fisiche"  (Roma,  Tipografia  delle  belle  Arti.)  geliefert  hat.  Diese  Zeit- 
schrift, wie  ihr  Titel  ausspricht,  den  mathematischen  und  physikalischen  Wis- 
senschaften gewidmet,  enthält  in  dem  bereits  Erschienenen  eine  bedeutende  Anzahl 
Abhandinngen  zumeist  italienischer  Gelehrten,  und  zeigt,  wie  bereits  schon  be- 
merkt, dass  diese  Wissenschaften  auch  in  Italien  kräftig  betrieben  werden.  Die 
zwei  andern,  oben  genannten  Schriften  sind  von  etwas  früherm  Datum,  wovon 
die  eine  (Nr.  3)  ans  dem  Giornale  Arcadico,  Tora.  CXVI  abgedruckt  ist. 

Der  Inhalt  obiger  vier  Schriften  ist  folgender: 

L  Eine  Fläche  lauft  einer  andern  parallel,  wenn  sie  die  einhüllende 
Fläche  aller  Lagen  ist,  die  eine  Kngel  annehmen  kann,  wenn  sich  ihr  Mittelpunkt 
auf  der  andern  Fläche  bewegt.   Die  parallelen  Flächen  sind  mehrfach  schon  un- 


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796  Kurze  Anzeigen. 

tersucht  worden,  so  von  Reis*  in  Güttingen,  und  Bordoni  in  Pavia  in  einem 
Memoria  prensatata  alla  Socio la  Italiann,  veröffentlicht  1813. 

Sei  f(x.  y,  z)  =  u  =  o  die  Gleichung  der  gegebenen  Flache;  l\,  y.  zi  ein 
Punkt  derselben;  X,  Y,  Z  laufende  Koordinaten,  so  ist  die  Gleichung  der  be- 
weglichen Kugel,  wenn  ihr  Mittelpunkt  in  (x  y  z)  ist:  . 

(X-x)*  +(¥-,)'  +  (Z~0'  =  k». 

Da  i,  y,  7.  durch  die  Gleichung  u=o  verbunden  sind,  so  kann 


als  Funktion  von  z  und  y  ansehen,  und  wenn  _  sp,  —  =  q,  so  erhalt 

dx  dy 

man,  wenn  man,  der  Theorie  der  UmhÜllungaMchen  gemäss,  nach  x  und  y  dif- 
fcreoffkt; 

X-x  +  (Z-i)  p  =  o,  Y-y  +  (Z-z)  q  =  o. 
Zugleich  sind  p  und  q  aus  u  =  o  bestimmt,  so  dass,  wenn  man  diese 
Gleichungen  mit  u  =  o  und  der  Gleichung  der  Kugclfläche  verbiudet,  man  die 
Grössen  x,  y,  z  climiniren  kann  und  so  die  gesuchte  Fläche  erhalt.  Da  letztere 
Gleichungen  nichts  anderes  sind,  als  die  Gleichungen  der  Normale  im  Punkte  (x 
y  z),  so  sieht  man,  wie  das  natürlich  war,  dass  man  die  gesuchte  Fläche  erhält, 
wenn  man  die  Normale  in  jedem  Punkte  der  Fläche  u  =  o  um  k  verlängert  and 
dann  die  Endpunkte  verbindet.  Dass  man  so  zwei  Flachen  —  eine  innere  und 
äussere,  je  nachdem  k  negativ  oder  positiv  —  erhalte,  ist  klar.  Von  diesem 
letztern  Standpunkt  aus  hat  auch  Ref.  die  Aufgabe  in  Grunert's  Archiv  der 
Mathematik  und  Physik,  12.  Tbeil  (1849)  gefasst.  Man  findet  nun  leicht  als 
Koordinaten  des  Punktes  der  gesuchten  Fläche,  der  dem  Punkte  (xyz)  entspricht: 


Vl+pH-q2'  Vl+pH-q2'  Vi+pH-q* ' 

wenn  man  nur  die  äussere  Fläche  beachtet. 

Was  nun  die  Quadralurder  neuenFläche  anbelangt,  so  ist  der  Inhalt : 


Man  betrachte  X,  Y  als  Funktionen  von  x,  y  und  bilde  das  doppelte  In- 
tegral nach  den  bekannten  Formeln  um,  so  findet  sich: 

™D  0  =  (l+p')«  +  O+<l,)r-2p<I'.  r  =  -g-,.=  g-,  fcs  jl. 

Das  erste  dieser  Integrale  gibt  den  Inhalt  der  ursprünglichen  Fläche;  das  dritte 
ist,  wenn  diese  Fläche  eine  geschlossene  ist,  und  die  Krümmungshalbmesser  nie 
ihr  Zeichen  wechseln,  wie  nach  Rodriguez  bewiesen  wird  (Gauss,  disqui- 
siüones  generales. . .)  gleich  4it.  Für  den  Fall,  dass  die  gegebene  Fläche  ab- 
wickelbar ist,  ist  dasselbe  Null.  Ist  die  gegebene  Fliehe  so  beschaffen, 
jedem  ihrer  Punkte  beide  Hauplkrümmungshalbmesser  gleich  und  entgegengi 
gerichtet  sind,  so  ist  Q=o. 

allgemeinen  Formeln  werden  nun  auf  das  EUipsoid: 


x2        y2  i2 
=="aT+  b*+  o1~lr=0' 


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Karze  Anzeigen.  797 

angewendet  und  durch  eine  Reihe  lehrreicher  und  höchst  eleganter  Umformun- 
gen findet  sich,  dass  die  Oberfläche  der  in  der  Entfernung  k  mit  diesem  Ellip- 
soid  parallelen  Flächen  gleich  ist  der  Fläche  des  ursprünglichen  Ellipsoids,  eines 

EUip.oide,,  de»..  fcIHwÄ,  und  der  KugeUUeh.  yom  H.lb- 

roesser  k.  Den  Kubikinhalt  des  von  der  neuen  Fläche  umschlossenen  Körpers 
hat  Ref.  in  der  angeführten  Abhandlung  in  Grunert's  Archiv  berechnet.  Die 
elliptischen  Funktionen,  welche  den  Flächeninhalt  ausdrücken,  sind  vollständig 
entwickelt ;  und  eben  so  hängt  auch  der  Kubikinhalt  von  solchen  Funktionen  ab. 

Die  vorkommenden  Integrale  haben  grosse  Verwandtschaft  mit  denen, 
welche  die  Anziehung  eines  Ellipsoides  auf  einen  Punkt  In,  bj  c, )  im  Innern 
geben.   Heiuen  dieselben  (nnch  den  Koordtnatenaxen)  A,  B,  C,  so  ist  bekanntlich: 

A  B  C 
a,       bj  c, 

Zwei  andere,  ähnliche  Gleichungen  leiten  sich  ans  den  gefundenen  For- 
meln leicht  ab.  » 

IL  Denken  wir  uns  eine  Kegelfläche,  deren  Gleichung  ffi,  "7)— 0 

aei  und  eine  Kugelfläche  x2-\-y2-\-i*~i,  so  schneiden  sich  beide  in  sphäri- 
schen Curven,  und  es  handelt  sich  um1  die  Bestimmung  des  von  der  sphäri- 
schen Curvc  umschlossenen  Raumes  (auf  der  Kugel). 
Die  allgemeine  Formel  ist. 


was  in  unserm  Falle  xn: 


-SS*  *  ^^iHi' 


SS¥ 


wird,  wenn  das  Integral  ausgedehnt  wird  auf  alle  Punkte,  die  innerhalb  der 
sphärischen  Kurve  liegen.  Diess  geschieht  auf  eine  Reihe  von  verschiedenen 
Fällen,  in  denen  die  Leitkurven  der  Kegelfläche  folgende  Linien  sind: 

(x*+y>)'=aV-by  ,(|)S+  (f )  =  1,  (xa+y3)2  C"W) 

=  .bxV,  5+jI  =  l,  O'+Y2)  C«V+bV)  =  (a^)  CbV- 
a*y2),  u.  •.  w. 

Die  angewendeten  Transformationsformeln  sind  höchst  elegant  und  bieten 
xur  Uebung  in  diesem  ziemlich  schwierigen  Felde  reichen  Stoff  dar. 

III.  Das  Integral,  um  das  es  sich  in  dieser  Schrift  bandelt,  ist: 

Daaselbe  wird  mit  Hülfe  der  elliptischen  Funktionen  rekurrirend  bestimmt  und 
die  dadurch  gefundenen  Formeln  angewendet  auf  die  Quadratur  der  Oberfläche 
eines  Ellipsoids;  die  Berechnung  der  Anziehung  eines  Ellipsoids  auf  einen  Punkt 
in  seinem  Innern»  wobei  dann  diese  Anziehungen  durch  elliptische  Funktionen 


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798  Kurze  Anstalten. 

ausgedrückt  sind;  auf  die  Berechnung  der  Oberliche  der  Elas tisitätsfläche ;  auf 
die  Berechnung  der  Trägheitsmomeute  bei  eben  dieser  Fläche;  anf  die  Berech- 
nung des  Inhalts  der  Fläche,  die  man  erhall,  wenn  man  vom  Mittelpunkt  dei 
Hyperboloids  mit  zwei  Fachern  Senkrechte  auf  feine  Tangentialebenen  füllt  und 
deren  Fusspunkte  verbindet,  auf  die  Fläche,  welche  alle  Ebenen  berührt)  die 
anf  den  Endpunkten  der  Diameter  eines  Ellipioids  senkrecht  stehen, 

Ein  ganz  ähnliches  Integral,  das  sodann  ebenfalls  bestimmt  wird,  ist: 

das  gleichfalls  auf  ähnliche  Probleme  angewandt  wird. 

IV.  Sei  f(x,  y,  s)  =  o  die  Gleichung  einer  Oberfläche,  man  siehe  von  ei- 
nem gegebenen  Punkte  aus  einen  Radius  veclor  auf  den  Punkt  (xya),  verlängere 
denselben  um  h  und  suche  die  Fläche,  die  durch  alle  Endpunkte  gebildet  ist, 
so  findet  sich  als  deren  Gleichung: 

w0  t»=x»+y»+i». 

Dies  wird  angewendet  auf  die  Fläche,  die  man  erhält,  wenn  man  als  Ur~ 
x3     y3  i2 

fläche  das  Ellipsoid  — -  +      -f»  — s=  1  annimmt,  und  dadurch  die  Gleichung 

der  Fliehe  erhalten,  die  Ref.  in  den  Nonvelles  Annales  von  Terquem  (Juin  1847) 
angegeben,  wie  dies  der  Verf.  auch  bemerkt.  Die  Formel  für  den  Kubikinhalt 
des  von  der  fraglichen  Flüche  umschlossenen  Körpers,  der  durch  elliptische  Funk- 
tionen ausgedrückt  wird,  und  die  Ref.  an  demselben  Orte  ohne  Beweis  gege- 
ben, wird  hier  abgeleitet  Dieselbe  Anwendung  wird  gemacht,  wenn  die  Ur- 
fläche  die  Oberfläche  der  Elastixitit  ist.   £(i«+y3+*2),=  «3»M-bty,+cV]. 

Dr.  J.  Diesiger. 


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INTELLIGENZBLATT. 

I¥r»  4L  September  und  Oktober.  f  Mi« 

'   — =====  ggggsgaagg ggg— gs—3—t 

Fauna  der  Vorwelt 

mit  steter  Bepücksichtigmig  der  lebenden  Thiere. 

Monographisch  dargestellt 
von 

Dr.  C.  CS«  Giebel. 

Dritter  Band:  Mollusken. 

Erste  Abtheilung: 

CVp  h  m  t  ©  p  o  a  e  tt« 

Erste  Hälfte. 

Gr.  8.   Geh.   2  Tblr. 

Der  erste  Band  (1847-1848,  5  Thlr.  18  Ngr.),  die  Wirbelthiere  ent- 
haltend, besteht  aus  folgenden  drei  Abtheilungen,  deren  jede  ein  für  sich  abge- 
schlossenes Ganzes  bildet: 

I.  Die  Säugethiere  der  Vorwelt.    1  Thlr.  18  Ngr. 

II.  Die  Vögel  und  Amphibien  der  Vorwelt.  1  Thlr.  lONgr. 
HI.  Die  Fische  der  Vorwelt.   2  Thlr.  20  Ngr. 

Der  zweite  Band  wird  die  Gliederthiere  behandeln  und  erst  nach 
Beendigung  des  dritten  Bandes  erscheinen. 

Leipzig,  im  August  1851. 

£L  Jrodvljotis. 


Bei  L.  Fr.  Fues  in  Tübingen  sind  erschienen  und  durch  alle  Buchband- 
lungen zu  bezichen: 

Sammlung  der  würtembergischen  Schulgesetze,  erste 
Abtheilung,  enthaltend  die  Gesetze  für  die  Volksschulen,  nebst 
Einleitung  von  Diacon.  M.  Th.  Eisenlohr.  gr.  8.  4839. 
Preis  fl.  4.  24  kr.  oder  Rtblr.  2.  22  %  Ngr. 

Sammlung  der  würtembergischen  Schulge  setze,  zweite 
Abiheilung,  enthaltend  die  Gesetze  für  die  Mittel-  und  Fach- 
schulen, nebst  Einleitung  von  Prof.  C.  Hirzel.  gr.  8.  1847. 
Preis  fl.  6.  6  kr.  oder  Rthlr.  3.  18  Ngr. 

Dieses  Werk,  das  in  verschiedenen  Zeilschriften  rühmende  Anerkennung 
gefunden  hat,  liefert  einen  wesentlichen  Beitrag  zur  Cult Urgeschichte  eines 


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IT  Literarische  Anzeigen. 

deutschen  Landes,  welches  auf  diesem  Gebiete  des  Unterrichts  ganz  eigenthüm- 
lfche  Anstalten  aufzuweisen  hat.  Schulmänner  insbesondere  werden  mit  Hülfe 
der  „vortrefflich  gearbeiteten  Einleitung,  welche  eine  übersichtliche  Geschichte 
des  Wärtern  bergischen  Schulwesens  seit  Anfang  des  16.  Jahrhundert*  enthalt"' 
(Berliner  Gymnas.  Zeitschrift  von  1848,  S.  287),  das  würlembergische  Schalwe- 
sen auf  dieser  Stufe  ebenso  leicht  als  vollständig  kennen,  und  in  seinen  jetzi- 
gen Verhältnissen  an  der  Hand  der  Geschichte  begreifen  lernen. 

Sammlung  der  würtembergischen  Schulgesetze,  dritte 
Abiheilung,  enthaltend  die  Universitätsgesetze  nebst  Einleitung 
von  Seminar-Rector  Dr.  T  h .  E  i  s  e  n  1  o  h  r.  gr.  8.  1 843.  Preis 
iL  4.  42  kr.  oder  Rlhlr.  2.  25  Ngr. 

Jede  Abtheilung  wird  auch  einzeln  abgegeben. 

Klüpfel,  Dr.  K.,  Universitatsbibliotbekar,  Geschichte  und  Beschrei- 
bung der  Universität  Tübingen,  gr.8.  Preis  fl.  3.  30  kr. 
oder  Rlhlr.  2.  4  Ngr. 

Diese  Schrift  schildert  nicht  nur  die  wissenschaftlichen  Zustände  der  Uni- 
versitlt  von  ihrer  Gründung  an  bis  auf  die  neueste  Zeit,  sondern  erzählt  auch 
die  Verfassung«-  und  Sittengeschichte  mit  vielen  interessanten  Einzelnheiten. 


i  • 


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Nr.  51.  ~  HEIDELBERGER  1851. 

JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR. 

  .  ,  ■■  .  , ,     ,  .  . , ,- ■■  ,  -n - , ■■ , 

Derbend-Nameh,  translated  from  a  selecl  turkish  version  and  pub- 
Ushed  toith  the  texts  and  with  notes,  illustrative  of  the  history, 
geography,  antiquities  etc.  etc.  occitrring  throughout  the  work  by 
Mirza  A  Kazem-B  eg. 

Dieses  für  die  Geschichte  und  Geographie  der  Araber  überhaupt, 
insbesondere  aber  der  Lander  und  Völkerschaften  zwischen  dem  schwarzen 
und  kaspiseben  Meere  höchst  bedeutende  Werk  füllt  nahezu  300  Seiten 
des  in  diesem  Jahre  zu  St.  Petersburg  erschienenen  6.  Bandes  der  „me- 
moires  presentls  ä  Tacademie  imperiale  des  sciencesu  aus.  Die  Existenz 
des  Derbend-Nameh  ist  in  Europa  seit  dem  Jahre  1725  durch  Bayer  be- 
kannt4) und  den  wesentlichen  Inhalt  desselben  hat  Klaproth  im  Pariser 
journal  asiatique"  des  Jahres  1B29  mitgetheilt.  Hier  erhalten  wir  aber 
zum  erstenmale  den  vollständigen  Texl  mit  einer  neuen  englischen  Ueber- 
setzung  nebst  sehr  belehrenden  Anmerkungen  und  Untersuchungen  Uber 
alle  diesen  Gegenstand  betreffenden  Fragen.  Was  zunächst  den  Verfasser 
dieses  Buches  angeht,  so  schreibt  Bayer,  ohne  seine  Quelle  zu  nennen: 
„Cum  Mahometani  duce  Gjerai  Chano  Derbentum  et  Anderum  urbes  oc- 
cupassent,  Muhamed  Auabi  Akrassi  jussus  est,  ut  excussis  Arabum  Per- 
sarumque  scriptis,  Antiquitates  Dagestanas  turcice  commentaretur  etc.tt  Das- 
selbe wiederholt  auch  Klaproth  im  Journal  Asiatique"  ebenfalls  ohne  eine 
Quelle  zu  dieser  Notiz  anzugeben,  die  er  jedoch  nicht  Bayer  nachgeschrie- 
ben zu  haben  scheint,  da  sie  mehrere  Zusätze  enthalt  und  in  einzelnen 
Punkten  auch  davon  abweicht.  Dieser  Nachricht  zufolge  wäre  das  Derbend- 
Nameh  erst  in  der  zweiten  Hälfte  des  16.  Jahrhunderts  verfasst  worden, 
als  der  Chan  der  Krim,  Mohammed  Gherai,  mit  seinem  Sohne  und  seinen 
Brüdern  auf  Befehl  des  Sultan  Murad  III.  als  dessen  Hilfsgenosse  gegen 
die  Perser  ins  Feld  zog  und  diese  Tartaren  mehrere  Jahre  hindurch  Der- 
bend und  andere  Plätze  Dagistans  besetzt  hielten.  Nach  der  Vorrede  einer 
Handschrift  des  Derbend-Nameh  im  Romanzoffschen  Museum  zu  St.  Pe- 
tersburg wäre  aber  der  obengenannte  Mohammed  Auabi  Akrassi  nicht  der 
Verfasser  dieses  Buches,  sondern  nur  der  Uebersetzer  desselben  aus  dem 
Persischen  ins  Türkische.  Auch  ergibt  sich  aus  dieser  Vorrede,  dass  er 
nicht  das  ganze  Buch  übersetzt,  sondern  nur  den  Theil,  welcher  die 
Geschichte  der  Gründung  von  Bab-Alabwab,  der  Eroberung  desselben, 

*)  In  den  Commentarii  Academ.  scient.  Imp.  Petropolitanae  t.  L 
XUV.  Jahrg,  6.  Doppelheft.  51 


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800 


Mirza  A  Kazem-Beg:  Derbend -Nameh. 


sowie  der  Kampfe  ia  Dagistan  enthält;  dieser  Theil  allein  wire  uns  dem- 
nach erst  bekannt  geworden,  wahrend  das  ursprüngliche  Derbend-Na- 
■  eh  noch  aufzufinden  bliebe. 

Ausser  diesem  RomanzofTschen  Manuscripte  hatte  der  Herausgeber 
noch  zwei  andere  zu  seiner  Verfügung:  eine  von  H.  Dorn  verfertigte  Ab- 
schrift der  zwei  Handschriften  der  kaiserl.  Bibliothek  zu  St.  Petersburg 
und  eine  ans  Derbend  selbst,  wo  er  seine  Jugend  zugebracht  und,  so 
viel  er  sich  erinnert,  drei  Handschriften  des  Derbend  -  Nameh  vorhanden 
waren.  Letztere,  von  den  andern  vielfach  abweichende,  bildet  die  Grund- 
lage seiner  Arbeit,  indem  sie  vollständig  edirt  und  übersetzt  wurde.  Nach 
jedem  Abschnitte  wird  zur  Vergleichung  das  betreffende  Kapitel  der  Klap- 
roth'schen  Uebersetzung  des  Berliner  Manuscripts  milgetbeilt  und  in  den 
Anmerkungen  werden  dann  auch  die  andern  Versionen  berücksichtigt. 
Zur  Vervollständigung  dieser  Arbeit  hat  Kazim  Bey  auch  noch  ausfol- 
genden Autoren  mehrere,  die  Geschichte  Dcrbend's  betreffende  Abschnitte 
beigefügt:  1)  Aus  der  türkischen  Uebersetzung  der  Chronik  des  Tabari, 
welche  nach  der  Ansicht  dieses  Gelehrten  gegen  das  Ende  des  14.  Jahr- 
hunderts verfertigt  wurde,  und  zwar  auf  Befehl  des  Ahmed  Pascha, 
Stifters  der  Dynastie  der  Beni  Ramazan,  welche  in  Adana  residirte  und 
das  nördliche  Syrien  bis  gegen  das  Ende  des  1 5.  Jahrhunderts  beherrschte. 
2)  Aus  der  persischen  Uehersetzuug  des  Tarich  Alfutub  von  Ahmed 
Ibn  Aatham  Alkufi.  Der  arabische  Verfasser  dieses  Werkes  lebte 
im  Anfang  des  4.  Jahrhunderts  der  Hidjrah,  der  persische  Uebersetzer  im 
siebenten.  3)  Aus  dem  Raudhat  liuli-l-Albab,  von  Facbr  Ed- 
din Benakiti,  eine  bis  zum  Jahre  1317  sich  erstreckende  Universal- 
Geschichte,  von  welcher  schon  d'Ohsson  die  Einleitung  mitgctheilt  bat 
4)  Aus  einem  Werke  des  narim  Dedeh  Efendi,  welches  von  der 
von  Alexander  dem  Grossen  erbauten  Mauer  handelt  und  endlich,  5)  aas 
dem  Bruchstücke  eines  Werkes  von  Molla  Mohammed  Rafi,  Soha 
eines  Kadhi  von  Kumuk,  das  ihm  einer  seiner  Freunde  aus  Derbend  mitgetheilt. 

Der  erste  Theil  des  Derbend  -  Nameh  handelt  von  der  Gründung 
der  Stadt  und  Wiederherstellung  der  Mauer  Alexanders  unter  Kobad.  Dieser 
soll  eine  Tochter  des  Chakanschah,  Fürsten  der  Chasaren  und  anderer  Völker- 
schaften des  Nordens  geheurathet,  dann  wieder  ihrem  Vater  zurückgeschickt 

haben,  sobald  er  die  Grenzen  seines  Gebietes  durch  diese  Mauer  sowohl,  all 
durch  die  Gründung  anderer  festen  Platze,  die  er  mit  Jrakanern*)  unJ 

Parsern  bevölkert,  gesichert  hatte.  Nun  entbrannte  ein  Krieg  zwischen  dem 

•)  Mit  Bewohnern  aus  Irak  und  Fürs  nicht  Arak,  auch  heisst  die  Toch- 
ter Omars,  von  welcher  S.  442  die  Rede  ist,  nicht  Ha  f  a  deeb,  sondern  Hafts  ab. 


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Mirta  A  Kaiem-Beg:  Derbend -Nameb.  801 

Cbakan  und  Kobad,  der  auch  noch  anter  des  Leistern  Sohn  Anaschirwan 
fortdauerte.  Erst  nach  dem  Tode  Anuscbirwans  erfochten  die  Chasaren 
mehrere  Siege  und  drangen  raubend  and  mordend  in  die  Provinzen  (wa- 
lajat,  nicht  Städte  es  towns  S.  463)  Irak  und  Adserbeidjan.  Sonderbar 
klingt  der  Scbluss  dieses  Theiles,  in  weichem  behauptet  wird,  Mohammed 
habe,  als  die  Muselmänner  von  allen  Seiten  von  Griechen  und  Persern  an- 
gegriffen wurden,  4000  Maon  gegen  die  Griechen  und  Chasaren  geschickt, 
welche  sie  besiegten  und  mit  Beute  beladen  wieder  heimkehrten.  Moham- 
med hatte  bekanntlich  gegen  die  Chasaren  gar  keinen  Krieg  geführt,  ge- 
gen die  Byzantiner  fanden  die  Feldzuge  von  Mula  und  Tabuk  statt,  in 
oralerem  wurden  aber  die  Mohammedaner  geschlagen  und  bei  letsterm, 
an  welchem  Mohammed  selbst  sich  betheiligte,  kam  es  zu  gar  keinem 
Treffen.  Die»  hat  wohl  der  Herausgeber  auch  eingesehen,  aber  selbst 
seine  Behauptung:  Mohammed  habe  genng  zn  thun  gehabt  mit  den  „Sy- 
riern, Egyptern,  Ethiopern,  Persern  und  Römern,"  ist,  zum  Theil  wenig- 
stens, irrig. 

Der  zweite  Theil  handelt  vom  Feldzuge  des  Salman  Ibn  Rabia  Al- 
bahili,  welcher  nach  Ibn  Kuteiba,  Beladori  und  andern  altern  Quellen, 
unter  Otbmans  Chalifate  statt  hatte,  hier  aber  fälschlich  in  das  Jahr  41 
der  Hidjrah,  in  Muawia's  Chalifat  gesetzt  wird;  der  Irrthum  rührt  daher, 
weil  diese  Expedition  von  Muawia  ausging,  welcher  damals  Statthalter  von 
Syrien  war.  Dem  Cbakan  der  Chasaren  soll,  nach  unserer  Version,  der 
von  China  zu  Hülfe  gekommen  sein,  wovon  die  Araber  nichts  wissen. 
Unmöglich  wäre  nicht,  dass  irgend  ein  turkomanischer,  unter  chinesischer 
Botbmässigkeit  stehender  Häuptling  den  Chasaron  Beistand  geleistet  habe, 
der  dann  in  den  Chakan  von  China  umgewandelt  wurde;  denn  auoh  im 
türkischen  Tabari  ist  bei  einem  spätem  Kriege  zwischen  den  Arabern  und 
den  Chasaren  von  einem  Bündnisse  zwischen  letztern  und  den  Chinesen 
die  Rede,  die  allerdings  in  jener  Zeit  ihre  Herrschaft  bis  gegen  das  kas- 
pische  Meer  hin  ausgedehnt  halten.  Das  letzte  Treffen  und  der  Tod  Sal- 
mans  fand  in  oder  bei  Balandjar  statt,  nicht  Bulch  oder  Boich  er 
wie  der  Herausgeber  glaubt.  Vergl.  Ibn  Koteiba  ed.  Wüstenfeld  p.  221 
und  den  von  Ref.  mitgeteilten  Auszug  aus  Beladori  im  3.  Bande  seiner 
Geschichte  der  Chalifen,  Anh.  I.  S.  4.  Balandjar  ist  sowohl  nach  dem 
Kamus  als  nach  Abu-l-Mahasin  der  Name  einer  Stadt  an  der  Grenze  von 

0 

Georgien  und  Cirkassien.  Der  türkische  Ueberseizer  des  Tabari  gibt  die- 
sen Namen  auch  einer  Provinz  nördlich  von  Derbend,  Bleadori  einem 
Flusse  in  jener  Gegend,  und  im  Urtexte  Tabari"  s  wird  auoh  ein  Gebirg 
Balandjar  genannt. 

51« 


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802  Mirza  A  Katern -Beg:  Derbend -Nameh. 

Im  dritten  Theile  wird  berichtet,  dass  unter  Welid  die  Cbasareo 
Darbend  überrumpelten.  Maslama,  der  Bruder  des  Chalifen,  zog  an  der 
Spitze  von  40000  Mann  gegen  die  Chasaren,  nahm  Derbend  wieder  dorcfa 
Verrath  eines  Chasaren,  schleifte  dann,  trotz  der  Einsprache  des  Abd 
Alaziz  Albahili,  welchem  es  gelungen  war,  die  Citadelle  einzunehmen,  die 
Festung  und  kehrte  nach  Syrien  zurück.  Diess  soll  im  Jahre  64  der 
Hidjrah  geschehen  sein.  Im  Jahr  70  soll  er,  da  die  Chasaren  inzwischen, 
wie  Abd  Alaziz  vorausgesehen,  sich  wieder  in  Derbend  befestigt  und  Ein- 
falle in  das  islamitische  Gebiet  gemacht  hatten,  abermals  an  der  Spitze 
von  40000  Kriegern  nach  Derbend  zurückgekehrt,  die  Festung  wieder 
erobert  und  bei  seiner  Heimkehr  eine  Besatzung  von  5000  Mann  zurück- 
gelassen haben.  Am  Schlüsse  dieses  Tbeiles  wird  noch  berichtet,  dass  im 
Jahre  73  d.  H.  die  Grossen  des  Reichs  Welid  entthront  und  dessen  Bin- 
der Abd  Almelik  dem  Sohne  Merwans  gehuldigt  und  dass  die  Chasaren 
Derbend  belagert  und  ein  Theil  derselben,  westlich  von  Derbend,  durch 
Dagistan  und  Adserbeidjan  bis  an  die  Grenze  des  Byzantinischen  Reichs 
gedrungen. 

Dass  die  hier  angegebenen  Daten  uurichtfg  sind,  mussten  sowohl 
Klaprotb  als  unser  Herausgeber  einsehen ,  denn  Welid  trat  erst  i.  J.  86 
d.  H.  die  Regierung  an  nnd  starb  im  Jahre  96.  Die  Zahl  64  konnte 
nach  arabischer  Schreibart  von  einem  Copisten  leicht  aus  94  entstanden 
sein,  wie  aber  das  Jahr  100,  wie  unser  Herausgeber  verbessern  will, 
in  70  verwandelt  ward,  ist  schwer  zu  begreifen.  Uebrigens  stimmen  diese 
Jahre  gar  nicht,  mit  den  aus  andern  Quellen  bekannten  Daten  der  Feld- 
züge Maslama's  Ubereio.  Mach  Wakidi,  im  Urtexte  Tabaris  angeführt, 
(Cod.  msc.  Berol.  fol.  161}  unternahm  Maslama  im  Jahre  89  seinen  er- 
sten Feldzng  nach  Derbend.  Einen  zweiten  Feldzug  nach  Dagistan  un- 
ternahm Maslama  im  Jahre  110.  Den  dritten  siegreichen  Feldzug  bis 
über  Balandjar  hinaus  machte  er  im  Jahre  112  und  den  letzten  unglück- 
lichen im  Jahre  114. 

Was  den  letzten,  geradezu  unverständlichen  Bericht  dieses  Tbeiles 
betrifft,  so  glaubt  der  Herausgeber  ibn  auf  die  Empörung  des  Jezid  Iba 
Muhall eb  beziehen  zu  können,  welche  durch  Maslama  im  Jahre  102  ge- 
dämpft ward.  Ref.  vermuthet  eher,  dass  hier  Welid  Ibn  Jezid  (Welid  II) 
mit  Welid  Ibn  Abd  Almelik  (Welid  1.)  verwechselt  worden.  Auch  dann 
muss  aber  das  Wort  „karindaschi"  gestrichen  und  vor  „Abd  Almau*" 
muss  „Jezid  Ibn  Welid  Ibn"  eingeschaltet  werden. 

Der  vierte  Theil  des  Derbend  -  Nameh  enthält  einen  ausführlichen 
Bericht  über  die  Expedition  des  Djarrah  Ibn  Abd  Allah,  im  Jahre  103 


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Mirza  A  Kazem-Beg:  Drehend -Nameh. 


803 


d.  II.,  welchen  der  Heraasgeber  noch  durch  den  türkischen  Tabari  ergänzt, 
der  aber  auch  hier  in  vielen  Punkten  vom  arabischen  Urtexte  abweicht. 
Von  der  Niederlage  und  dem  Tode  Djarrah's  wird  nichts  erwähnt,  und  in 
der  Klaproth'schen  Uebersetzung  wird  sogar  DjarratTs  Feldzug  ohne  Un- 
terbrechung bis  in  das  Jahr  114  fortgesponnen,  obgleich  er  schon  im 
Jahre  112  getödtet  ward.  Aus  den  arabischen  Quellen,  namentlich  aus 
Tabari,  ergibt  sich,  dass  Djarrah  zwei  Kriege  gegen  die  Chasaren  fahrte, 
den  ersten  im  Jahre  103  gegen  Nardjil,  Sohn  des  Chakans,  den  er  bei 
Nahrawan*)  schlug.  Von  hier  drang  er,  nach  Einnahme  mehrerer  anderer 
festen  Plätze,  bis  Balandjar  vor  und  der  Fürst  dieser  Stadt  floh  nach 
Samandar  (nicht  Samarkand  wie  im  türkischen  Tabari).  Djarrah  wollt© 
weiter  vorrücken,  aber  der  Fürst  von  Balandjar,  welchem  er  seine  in  die- 
ser Stadt  zurückgelassene  Familie  zurückgegeben  hatte,  warnte  ihn  vor 
den  im  Aufstande  begriffenen  Gebirgsvölkern ,  er  zog  sich  daher  nach 
Kesch  zurück,  um  Verstärkung  abzuwarten.  Wir  hören  dann  nichts  weiter 
von  dem  Kriege  Djarrah's,  der  wahrscheinlich  nach  dem  Tode  Jezids  zu- 
rückgerufen ward  und  Haddjadj  Ibn  Abd  Alraelik  schloss  im  ersten  Regie- 
rangsjabre  Hischams  einen  Frieden  mit  den  Völkern  Dagistans.  Erst  im 
Jahre  110  brach  der  Krieg  wieder  unter  Maslama  Ibn  Abd  Almelik  aus, 
welchen  Djarrah  im  Jahre  112  bis  zu  seinem  Tode  fortsetzte.  Ihm  folgte 
Said  Ibn  Amru,  dann  im  Jahre  114  abermals  Maslama  und  zuletzt  der 
spätere  Chalife  Merwan. 

Im  fünften  Theile  ist  abermals  von  einer  siegreichen  Expedition  des 
Maslama  Ibn  Abd  Almelik  die  Rede  und  von  den  verschiedenen  Einrich- 
tungen, die  er  in  Dagistan  traf.  Diese  ist  die  letzte  dieses  tapfern  Feld- 
herrn und  füllt,  nach  dem  Urlexte  des  Tabari,  iu  das  Jahr  114,  nicht  115, 
wie  im  Derbend  -  Nameh  angegeben  wird.  Hieran  reiht  sich  die  Erzäh- 
lung von  der  Statthalterschaft  Asad's  Ibn  Zafir,  welche,  nach  dem  Berliner 
und  Petersburger  Codex,  zwischen  die  Maslama's  und  Merwan's,  in  das 
Jabr  118  fällt.  Die  ältern  arabischen  Quellen  erwähnen  nichts  von  diesem 
Asad,  was  anzunehmen  berechtigt,  dass  er  nur  Unterstatihalter  Mer- 
wans  war. 

Der  sechste  Theil  des  Derbend  -  Nameh  erwähnt  die  Sendung  Mer- 
wans  nach  Derbend,  im  Jahre  120  und  den  Tribut,  welchen  die  ver- 
schiedenen Provinzen  Dagistans  ihm  zu  entrichten  hatten.  Die  Anmerkungen 


*)  Nahrawan,  über  welchen  Ort  der  Herausgeber  keine  Auskunft  zu  geben 
weiss,  lag,  nach  dem  arabischen  Tabari,  sechs  Pharasangen  nördlich  von  Bab 
Alabwab. 


804  Miro  A  Kazem-Beg:  Derbend- Namen. 

des  Herausgebers  zu  diesen  T  heile  bedürfen  eisiger  Berichtigung.  Er 
lässt  Merwan  bis  zum  Jahre  128  in  Adserbeidjan  verireilen,  während  er 
schon  im  Jahre  126  in  Mesopotamien  einfiel  und  von  hier  aus  mit  Jesid  10. 
einen  Frieden  schloss,  der  noch  im  Jahre  126  starb.  Beim  Tode  Jezid'a 
war  Merwan  schon  in  Harran  und  von  hier,  nicht  von  Armenien,  brach 
er  gegen  Ibrahim  nach  Syrien  auf. 

Im  siebenten  Theile  wird  von  den  Bemühungen  der  Chasaren  ge- 
handelt, während  der  Bürgerkriege  zwischen  den  letzten  Omajjaden  und 
Abbasiden  und  selbst  noch  unter  der  Herrschaft  Manssurs,  die  Muselmän- 
ner wieder  aus  Derbend  zu  verdrängen.  Sie  scheiterten  jedoch  an  der 
Tapferkeit  des  Jezid  Ibn  Asad,  Manssnrs  Statthalter  von  Derbend,  der  auch 
neue  Festungen  an  der  Grenze  anlegte.  Die  „Chawaridj  welche  unter 
Merwan  in  Dagistan  und  Adserbeidjan,  von  Zeid  Ibn  Hilal  angeführt,  das 
Haupt  erhoben  und  Merwans  Feldherrn  Abd  Almelik  Ibn  Maslama  schla- 
gen, waren  nicht  Ahden,  wie  der  Heraasgeber  in  einer  Note  (p.  575) 
glaubt,  sondern  Rebellen,  welche  sich  gar  keinem  Oberhaupte  unterwer- 
fen wollten  und  wahrscheinlich  in  Verbindung  mit  Dhabhok  Ibn  Kets  slan- 
den,  welcher  in  Mesopotamien,  dem  Hauptsitze  der  Republikaner,  von 
frühester  Zeit  her,  gegen  Merwan  Krieg  führte.  Dass  hier  unter  „Chawa- 
ridju  nicht  Aliden  gemeint  sind,  geht  auch  bus  dem  Petersburger  Codex 
hervor,  wo  es  heisst:  „die  Benu  Hascbim  erwiesen,  nach  dem  Untergänge 
der  Herrschaft  der  Omejjadcn,  der  Stadt  Derbend  viel  Gates  und  trugen 
durch  ihre  Verbesserungen  zur  Vermehrung  der  Bevölkerung  bei.  Sie 
führten  viele  Kriege  gegen  Cbawaridj  und  Ungläubige,  der  Glaube  des 
Islams  gewann  an  Stärke,  während  die  Chawaridj  und  Ungläubige  ge- 
schwächt und  gedemüthigt  wurden.14 

Der  achte  Abschnitt  des  Derbend- Nameh  enthält  nichts  Bemerkens- 
werthes  als  die,  gewiss  erdichtete,  Nachricht  von  Harun  Arraschid's  Reise 
und  dessen  siebenjährigem  Aufentbalte  daselbst.  Aehnliches  wird  auch  bei 
Kafib  Tschelebi  von  dem  Chalifen  Hischam  erzählt,  wovon  aber  ebenfalls 
andere  Quellen  schweigen.  „Hezimeh  the  so.»  of  Tscharkbi«  (S.  582), 
welchen  Harun  nach  Derbend  schickte,  ist  wahrscheinlich  Chuzeima 
Ibn  Chazim,  und  „Saghsa*  oder  „Hafadz"  Ibn  Omar  ist  kein  Anderer 
als  Hafss  (mit  Sid  nicht  Dhad)  Ibn  Omar. 

Von  Harun  Arraschid  macht  der  neunte  Theil  einen  Sprung  bis 
nur  Muwaffak,  welcher  (im  Jahre  272)  die  Nafta-  und  Salzquellen  der 
Provinz  Schirwan  den  Kriegern  von  Derbend  angewiesen  und  Mohammed 
Ibn  Ammar  ab  Aufseher  über  diese  Einkünfte  bestellt  haben  soll.  Im 
Jahre  290,  als  der  Statthalter  ßischutur,  um  sich  zu  bereichern,  die  Ein- 


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Hirz«  A  Kaaem-Beg:  Derbend- Hauch.  805 

kaufte  der  Krieger  schmälerte,  gaben  sich  die  Bewohner  Derbends  dem 
Handel  und  Erwerb  hin;  bald  nacuer  entstand  auch  eine  solche  Verwir- 
rung in  Bagdad  selbst,  als  die  Chalifen  das  Werkzeug  ihrer  Emire  wur- 
den und  rast  jeder  Befehlshaber  in  seiner  Provinz  sich  unabhängig  erklarte*), 
dass  auch  Dagistan  nicht  länger  dem  Cbalifate  treu  blieb.  Auch  hier  er- 
hoben  sich  unabhängige  Fürsten,  und  die  Stadt  Derbend  ward  bald  von 
dem  Einen  bald  von  dem  Andern  unterjocht,  bis  sie,  so  sculiesst  unser 
Manuscript,  unter  die  Herrschaft  der  Chane  und  Sultane  kam.  Im  Peters- 
burger Codex  werden  noch  Namen  zweier  Statthalter  aus  den  Jahren  255 
und  260  angegeben,  so  wie  auch  der  des  Nachfolgers  von  Mohammed 
Ibn  Ammar.  Dann  wird  noch  ein  Statthalter  aus  dem  Jahre  430  genannt, 
worauf  ebenfalls  der  Ausfall  der  Einkünfte  von  Nafta  und  Salz,  welche 
die  Bewohner  Scbirwans  für  sich  behielten,  als  Grund  des  Verfalls  von 
Derbeod  angegeben  wird.  Dieser  Codex  schliesst  mit  dem  Wunsche,  dass 
Gott  dereinst  den  frühern  Zustand  dieses  Landes  wieder  herstellen  möge! 
Diess  mag  der  wirkliche  Schluss  des  Derbend -Nameh  gewesen  sein,  wäh- 
rend der  unseres  Heraasgebers  von  einem  spatern  Copisten  oder  Ueber- 
setzer  herzurühren  scheint,  zu  dessen  Zeit  Derbend,  nachdem  es  mehrfache 
Einfülle  der  Mongolen  erlitten,  bald  von  den  Persern,  bald  von  der  Pforte 
erobert  ward.  Entere  blieben  jedoch  bis  gegen  das  Ende  des  17.  Jahr- 
hunderts Herrn  von  Derbend.  Im  Jahre  1722  unterwarf  sich  der  Statt- 
halter I  m  a  m  Kuli  dem  Scepter  Peters  des  Grossen.  Unter  Nadirschah 
war  ein  gewisser  Feridun  Statthalter  von  Derbend  uod  nach  der  Er- 
mordung Nadirschab's  ward  wieder  ein  Sohn  des  I  m  a  m  Kuli  zum  Fürsten 
erwählt.    Im  Jahre  1760  eroberte  Fath  Ali  Chan  Derbend  und  erst 

■ 

nach  dessen  Tode,  in  Folge  von  Streitigkeiten  zwischen  seinen  Nachkom- 
men und  den  Fürsten  von  Schirwan,  kehrte  endlich  Derbend  wieder  un- 
ter die  russische  Herrschaft  zurück. 

Am  Schlüsse  dieser  Geschichte  wird  in  unserm  Codex  noch  erzählt, 
dass  bei  Kirchler  372  Märtyrer  begraben  liegen  und  ausser  diesen 
noch  10  Jungfrauen,  welche  vor  dem  Feinde  geflohen  und  in  einer  Höhle, 
in  der  Nöhe  von  Kirchler  verschwunden  sein  sollen.  Im  Petersburger  Co- 
dex werden  die  Namen  von  50  Märtyrern  angegeben  und  dazu  bemerkt, 
dass  ausser  diesen  noch  456  Andere  in  der  Nähe  von  Derbend  begraben 
liegen. 


*)  Diess  ist  der  Sinn  der  (p.  601)  angeführten  Worte,  aus  dem  Djami- 
1-lataif:  „wastakalla  kullu  melikin  n  beledihi",  wenn  man  nur  die  iwci 
Punkte  vom  h  a  streich». 


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806  Mirza  A  Kazem-Beg:  Derbend -Namch. 

Wir  schliessen  diesen  Anfialz  mit  zwei  Berichtigungen,  welche  die 
Anmerkungen  des  Herausgebers  zu  den  Beilagen  erfordern: 

Seite  463  setzt  der  Herausgeber  die  von  Herwan  gewonnene  Koth- 
scblacht  (Ghazwat  Attin)  in  das  Jahr  113  und  beweist  dies  aus  dem 
türkiseben  Tabari.  Nun  muss  aber  zunächst  bemerkt  werden,  dass  diese 
ganze  Steile,  welche  von  dem  Feldzuge  Merwans  zwischen  Maslamas  und 
Said's  Statthalterschaft  handelt,  im  Urtexte  fehlt,  folglich  aus  einer  an- 
dern Quelle  vom  Uebersetzer  hinzugefügt  ist.  Im  Urlexte  ßnden  wir  Said 
als  Nachfolger  Djarrabs,  dann  noch  im  Jahre  114  Haslama,  erst  als  die- 
ser entweder  umkam,  wie  Tabari  berichtet,  oder  zur  Rückkehr  genöthigt 
ward,  wie  man  bei  Tbeophanes  p.  630  liest,  übernahm  Merwan  den  Ober- 
befehl. 

Seite  661  bemerkt  der  Herausgeber:  Hamza,  der  Oheim  Moham- 
meds, sei  in  dem  zweiten  Treffen  von  Bedr,  Ghazwat  Assughra 
genannt,  gefallen.  Diess  ist  ein  doppelter  Irrthum.  Erstens  biess  nicht 
das  zweite,  sondern  das  erste  Treffen  bei  Bedr  „Ghazwat  (Bedr}  Assughra^ 
es  war  der  Zug  gegen  Kurz  Ibn  Djabir,  welchem  Mohammed  bis  in  das 
Thal  Safwan  in  der  Nahe  von  Bedr  nachsetzte.  Das  zweite  Treffen  von 
Bedr  war  das  Grosse  (Alkubra),  in  welcfiem  der  erste  ernstere  Zusam- 
menstoss  zwischen  den  Muselmännern  und  Kureischiten  statt  hatte  und  das 
mit  der  Niederlage  der  Letztem  endete.  Zweitens  fiel  Hamza  gar  nickt 
im  Treffen  von  Bedr  sondern  in  der  Schlacht  bei  Obod,  im  Schawwal 
des  3.  Jahres  der  Hidjrah.  Well. 


t.  Erste  Grundlinien  der  mathematischen  Psychologie  ton  Morii  Wil- 
helm D robisch.    Mit  einer 
Voss.    1850.    XVI  ti.  232  SS.  in  8. 

2.  Die  Lehre  ton  den  Elementen  der  Psychologie  als  Wissenschaft  ton 
Wilhelm  Fr.  Volkmann  y  Doctor  und  Pritatdocent  der  Phi- 
losophie  an  der  K.  K.  Karl- Ferdinands  -  Unit  er  sitäl  zu  Prag. 
Prag  1850.  Schnellpressendruck  ton  Johann  Spurey,  Karlsgasse 
Piro.  184.  In  Kommission  bei  0.  Aug.  Schul*  in  Leipzig.  105  SS.  in  8. 

Mathematische  Psychologie  ist  bis  auf  diesen  Augenblick 
noch  für  Viele,  wenn  wir  es  höflich  ausdrücken  sollen,  eine  Paradoxie, 
die  ihnen  bald  ein  mitleidiges  Lächeln  abnöthigt,  bald  einen  eisigen  Schre- 
cken einflösst.  Man  bedauert  die  Männer,  die  Zeit  und  Kraft  verderben, 
indem  sie  sich  mit  einem  Phantome  beschäftigen,  das  nicht  mehr  Realität 
hat,  als  ein  viereckiger  Zirkel;  hinwiederum  in  schwachen  Augenblicken 


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Drobisch  nnd  Volkmaun :  üeber  mathematische  Psychologie.  807 


fühlt  man  eine  Anwandlung  von  Furcht,  es  möchte  am  Ende  doch  etwas 
Wahres  an  der  Sache  sein,  und  der  Geist  mit  olP  seiner  vielgepriesenen 
indeterministischen  Freiheit  in  Mechanismus  und  Recbenexempel  verwandelt 
werden,  vor  denen  sich  ffirder  kein  Gebeimniss  des  Herzens  in  verbor- 
gene Schlupfwinkel  flüchten  könnte.  Inzwischen  beruhigt  man  sich  doch 
mit  der  tröstlichen  Betrachtung,  dass  die  Anzahl  derer,  die  sich  alles 
Ernstes  mit  mathematischer  Psychologie  befassen,  bis  jetzt  ziemlich  klein 
geblieben  ist,  und  dass  es  Uberdiess  keine  Seltenheit  ist,  wenn  sich  deutsche 
Denker,  ideologisch  wie  sie  sind,  mit  sonderbaren,  wohl  gar  absurden 
Ansichten  tragen.  Wo  sich  die  Meinung  Uber  einen  wissenschaftlichen 
Gegenstand  so  bestandlos  hin  nnd  her  werfen  lösst,  da  fehlt  es  noch  an 
der  gehörigen  Kenntniss  desselben,  worin  allein  die  haltbare  Grundlage 
für  ein  festes  Urtheil  gelegen  ist.  Unter  diesen  Umstünden  würde  es  den 
Bedürfnissen  der  meisten  Leser  dieser  Jahrbücher  wenig  entsprechen,  wenn 
sich  Ref.  bei  Besprechung  der  vorliegenden  Schriften  in  einzelne  Parthien 
vertiefen  und  sie  kritisch  beleuchten  wollte.  Viel  angemessener  wird  es 
sein,  vorzugsweise  bei  der  Grundlegung  zu  verweilen,  und  von  da  aus 
nur  in  grossen  Zügen  Inhalt  und  Resultate  des  Uebrigen  anzudeuten.  So 
könnte  am  ersteu  eine  leidliche  Bekanntschaft  mit  Wesen  und  Ziel  der 
mathematischen  Psychologie  in  weitern  Kreisen  vermittelt  worden. 

Der  II.  Verf.  von  Nr.  1.  ist  bekanntlich  zugleich  Philosoph  und  Mathe- 
matiker und  diese  Verbindung  hat  eben  so  sehr  seinen  übrigen  Leistungen 
für  beide  Wissenschaften  ein  eigenthümliches  Gepräge  aufgedrückt,  als 
sie  ihn  für  Förderung  d  er  mathematischen  Psychologie  besonders  geschickt 
macht.  Ueberdiess  versteht  er  es,  seine  Gedanken  lichtvoll  und  schön  dar- 
zustellen;  dies  bewähren  in  der  vorliegenden  Schrift  vorzugsweise  die 
einleitenden  Parthien,  deren  Studium  selbst  für  denjenigen,  der  das  Rech- 
nen perhorreszirt,  angenehm  nnd  sehr  belehrend  sein  dürfte.  Der  H.  Verf. 
beginnt  in  der  Vorrede  mit  einem  Rückblick  auf  Herbart,  den  Erfinder 
der  mathematischen  Psychologie.  Zwar  sei  seit  dem  Erscheinen  von 
Herbarfs  „Psychologie  als  Wissenschaft"  schon  ein  volles  Viertel  des 
Jahrhunderts  verflossen,  aber  von  einer  schriftstellerischen  Betheiligung  des 
wissenschaftlichen  Publikums  an  den  mathematisch  psychologischen  Unter- 
suchungen sei  bis  auf  seine  (DrobischV)  eigene  und  die  Willst ein's 
nichts  zu  berichten.  Der  Grund  dieser  Erscheinung  lüge  zum  Theil  wohl 
darin,  dass  es  den  meisten  Psychologen  an  der  nöthigen  mathematischen 
Vorbildung  und  Uebung,  den  Mathematikern  an  psychologischen  Kenntnis- 
sen und  selbst  an  Interesse  dafür  fehlen  möchte.  Die  Mathematiker  ins- 
besondere hätten  bald  ein  Vorurtheil  gegen  eine  Theorie  gefasst,  deren 


808        Drobisch  and  Volk  mann:  Uebet  mathematische  Psychologie. 

Resultate  sieht  einer  Kontrolle  durch  Messung  sich  unterziehen  lasten. 
„Herbart  hatte  es  noch  nicht  nachdrücklich  genug  ausgesprochen,  dass 
seine  mathematische  Psychologie  eigentlich  erst  eine  abstracto  Vorbereitung 
zu  einer  künftigen  Theorie  der  durch  die  innere  Erfahrung  gegebenen 
Erscheinungen  ist;  er  strebte  vielleicht  zu  frühzeitig  den  synthetischen 
Theil  seiner  Untersuchungen  mit  dein  analytischen  in  Verbindung  zu  brin- 
gen, was  doch  nur  in  lockerer  Weise  geschehen  konnte,  so  dass  es  da- 
mit weder  gelang,  die  empirische  Gültigkeit  der  mathematischen  Formeln 
exaet  nachzuweisen,  noch  die  Unentbehrlichkeit  eiuer  mathematischen  Theorie 
zur  Erklärung  der  psychischen  Phänomene  genügend  darzuthun.  Indessen 
würde  ein  etwas  tiefer  eingehendes  Studium  der  dargebotenen  Lehren  bald 
von  selbst  auf  die  richtige  Würdigung  des  Verhältnisses  der  mathemati- 
schen Psychologie  zu  der  empirischen  geführt  haben,"  hätte  nur  Herbart 
dies  nicht  dadurch  sehr  erschwert,  dass  er  seine  Psychologie  auf  Erfah- 
rung der  Metaphysik  gründete,  und  seinen  Lesern  zumulhete,  sich  mit  bei- 
den recht  ernstlich  zu  befassen.  Es  hilft  nichts,  dass  er  wiederholt  gel- 
tend macht,  es  lasse  sich  die  Ansicht  von  den  Vorstellungen  als  psy- 
chischen Kräften  auch  als  Hypothese  aufstellen  und  mathematisch  entwi- 
ckeln. Er  selbst  geht,  wenigstens  in  seinem  psychologischen  Hauptwerke, 
mitten  durch  die  dornenvolle  Metaphysik  hindurch.  Begreiflicherweise  sind 
auch  seiue  psychologischen  Lehren  nicht  alle  gleich  lichtvoll  und  fest  be- 
gründet, sondern  sie  erwarten  hie  und  da  die  bessernde  und  vervollkomm- 
nende Selbsttätigkeit  seioer  Nachfolger.  Unter  diesen  Umständen  gehürt 
allerdings  ein  grosses  Interesse  an  der  Sache  und  eine  feste  Ueberzeu- 
gung  von  ihrer  Wichtigkeit  und  Ausführbarkeit  dazu,  um  diese  Schwie- 
rigkeiten zu  überwinden. 

Der  IL  Verf.,  der  durch  die  vorliegende  Schrift  vorzüglich  die  Iba- 
tige  Theilnahme  Anderer  für  die  mathematische  Psychologie  gewinnen  will, 
bestrebt  sich  den  Zugang  zu  ihr  zu  erleichtern.  Das  glaubt  er  vor  Al- 
lem dadurch  erreichen  zu  könneu,  dass  er  die  streng  metaphysische  Be- 
gründung bei  Seite  lässt ,  und  kurzer  Hand  für  die  in  der  innero  Erfah- 
rung vorkommenden  Grössen  plausibel  erscheinende  Verhältnisse  der  ge- 
genseitigen Abhängigkeit  hypothetisch  annimmt  und  diese  dann  durch  Rech- 
nung entwickelt.  Freilich  müssen  die  psychischen  Thatsachen,  von  deuen 
ausgegangen  wird,  aus  den  übrigen  ausgewählt,  die  Begriffe,  durch  weiche 
sie  zu  denken  sind ,  müssen  aus  ihrem  anfänglichen  Schwanken  zur  Fe- 
stigkeit gebracht  und  zur  Deutlichkeit  erhobeo  werden;  es  müssen  end- 
lich darin,  unter  Aufgeben  der  Willkür  und  Beliebigkeit,  die  Motive  ge- 
funden werden ,  warum  die  Hypothesen  über  die  gegenseitige  Abhängig- 


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Drobisch  nnd  Volkmann:  Ueber  mathematische  Psychologie. 


kcit  der  in  Betracht  gezogenen  GrOssen  gerade  so  zu  stellen  sind,  wie 
sie  gestellt  werden.  Dies  Alles  kaou  ohne  ernstes  Denken  nicht  abgehn, 
immerhin  werden  auf  diesem  Wege  die  weit  grössern  Schwierigkeilen 
umschifft,  die  Herbart  in  seiner  grossen  Psychologie  selbst  geübten  Den- 
kern entgegengeworfen  hat  dadurch,  dass  er  Alles  und  selbst  die  Grund- 
lagen der  Rechnung  aus  der  speculativen  Auflösung  des  Problems  vom 
Ich  ziehen  woUte.  Eine  derartige  Grundlegung  besitzt  dann  freilich  nicht 
blos  hypothetische  Geltung,  sondern  sie  ist  so  gewiss,  wie  jeder  andere 
durch  Spekulation  gefundene  Satz.  Indessen  macht  Drobisch  in  dieser  Be- 
ziehung die  Bemerkung,  dass  „das  letzte  Urtheil  über  mathematische  Psy- 
chologie sich  am  Ende  doch  mehr  durch  das,  was  sie  zu  leisten  yermag, 
als  durch  die  Meinung  Uber  die  Unantastbarkeit  ihrer  Principien  feststellen 
wird.  Ob  diese  deduzirle  Grundsätze  oder  motivirle  Annahmen  sind,  wird 
daran  nicht  viel  ändern."  Darin  liegt  freilich  kein  Lob  für  das,  was 
man  heutzutage  Spekulation  zu  nennen  beliebt.  Nichts  desto  weniger  muss 
man  der  Wahrheit  die  Ehre  geben;  wenn  eine  Ansicht,  ein  Urtheil  blos 
aas  einer  einzigen,  vielleicht  noch  dazu  sehr  abslracten  Gedankenreihe 
hervorgegangen  ist  nnd  auf  der  Spitze  derselben  gleichsam  balanzirt,  so 
besitzt  es  in  der  Regel  nur  eine  geringe  Sicherheit;  zur  festen  Ueber- 
zeugung  wird  es  erst,  wenn  eine  Mehrheit  von  Gedankenreihen,  die  ein- 
ander tragen  uud  stützen  und  zugleich  vielfach  an  das  Gegebene  anknüpfen, 
zu  seiner  Bewährung  zusammentrifft.  Mit  Recht  beruft  sich  der  H.  Verf.  auf 
die  Naturwissenschaften,  in  denen  die  von  ihm  in  der  Psychologie  einge- 
schlagene Methode  längst  heimisch  ist  und  zu  grossen  Resultaten  geführt 
hat.  Ausserdem  fuhrt  er  aber  auch  noch  das  Beispiel  der  Mathematik  an, 
die  doch  nicht  minder  apriorische  Wissenschaft  ist,  als  die  Philosophie. 
Auch  hier  hat  man  es  nicht  verschmäht,  Schwierigkeiten  in  den  Anfängen 
vorerst  nur  provisorisch  zu  erörtern,  ihre  definitive  Lösung  aber  bis  zur 
vollen  Entwicklung  etwa  gemachter  Annahmen  auszusetzen.  Soll  doch  ein 
berühmter  Geometer  der  Gegenwart  erkliirt  haben,  nicht  zu  wissen ,  was 
Grösse  sei!  rL«sst  sich  doch,  sagt  Drobisch,  an  den  Grundbegriffen 
und  Grundsätzen  der  reinen  Mathematik  gar  Manches  aussetzen  nnd  nicht 
weniger  an  vielen  Beweisen  der  wichtigsten  Lehrsätze.  Wie  viele  un- 
fruchtbare Versuche  sind  gemacht  worden,  das  elfte  Axiom  des  Euklides 
zn  beseitigen,  wieviel  ist  über  das  Unendlichkleine  gestritten  worden  I  Wie 
spät  htt  man  von  vielen  durch  eine  unvollständige  Induktion  aufgefundenen 
Haupttbeoremen,  z.  B.  dem  Fundamenlalsatze  der  höhern  Theorie  der  Glei- 
chungen, dem  Harriot'schcn  Lehrsatz,  dem  Parallelogramm  der  Kräfte,  dem 
Princip  der  virtuellen  Geschwindigkeit  u.  n.  allgemeine  und  vollkommen 


810       Drobisch  und  Volkmann:  ücber  mathematische  Psychologie. 

strenge  Beweise  gefunden!  Die  Mathematik  hat  sich  dadurch  in  ihrem 
Gange  nicht  aufhalten  lassen.  Sie  hat  das  Problematische  hypothetisch  an- 
genommen und  ist  muthig  weiter  fortgeschritten.  Warum  sollte  die  ma- 
thematische Psychologie  im  schlimmsten  Falle  dieses  Beispiel  nicht  nach- 
ahmen dürfen  ?u  In  der  That  kann  selbst  der  strengste  Logiker  nichts 
gegen  diese  Methode  einwenden,  so  lange  man  ihren  Resultaten  keine 
andere  als  problematische  Gültigkeit  zuschreibt.  Genau  genommen  hat 
auch  schon  Herbart  auf  ihre  Anwendung  in  der  Psychologie  nicht  blos 
hingedeutet,  sondern  sie  wirklich  gemacht.  In  dem  zuerst  1816  erschie- 
nenen Lehrbuche  zur  Psychologie  stellt  er  der  „Hypothese  von  den  Gei- 
stesvermögen11 die  ..Hypothese  von  den  Vorstellungen  als  Kräften"  ge- 
genüber, so  jedoch,  dass  er  der  Erklärung  der  psychischen  Erscheinungen 
aus  dieser  Letztern  nur  wenige  „ vorbereitende  Lehrsätze  aus  der  -Meta- 
physik1' vorausschickt.  In  der  Abhandlung  de  attentionis  mensnra,  die 
wohl  eigentlich  für  Mathematiker  bestimmt  ist,  lässt  er  alle  metaphysischen 
Voruntersuchungen  bei  Seite,  und  knüpft  ohne  Weiteres  an  die  geläufigen 
Begriffe  von  Bewegung  und  Veränderung,  von  Kraft  und  Gleichgewicht 
entgegengesetzter  Kräfte  an,  sowie  an  die  durchgreifende  physische 
Thatsacbe,  dass  sich  die  Vorstellungen  einander  aus  dem  Bewusstsein  ver- 
drängen. 

Nach  diesen  allgemeinen  Angaben  über  Stellung  und  Methode  der 
Schrift  betrachten  wir  kürzlich  ihr  Ziel  und  die  Mittel  zu  seiner  Er- 

Zwar  erklärt  die  gewöhnliche  Psychologie  aus  Assoziation  und  Re- 
produktion eine  Menge  innerer  Vorgänge:  Erinnerungen,  Phantasien,  den 
Wechsel  der  Gefühle  und  Gemüthsstimmuogen ,  der  Wünsche  und  des 
Verlangens,  des  leidenschaftlichen  Begehrens  und  des  vernünftigen  Wol- 
lens, selbst  Urlbeilen,  Schliessen,  Selbstbewusstsein  und  überhaupt  die  hö- 
here Thätigkeit  und  Ausbildung  des  Geistes.  Allein  alle  diese  Erklärungen 
leiden  an  Unbestimmtheit,  weil  sie  sich  auf  die  quantitativen  Verbältnisse 
entweder  gar  nicht  oder  nicht  mit  Genauigkeit  einlassen.  Und  doch  sind 
die  Gradunterschiede  der  verschiedensten  Zustände  unseres  Bewusstseins 
und  die  Gesch wind igk ei ts unterschiede  ihres  Wechsels  bekannte  und 
unbestreitbare  psychische  Thatsachen.  In  ihnen  liegt  in  Verbindung  mit 
dem  erwähnten  Mangel  die  Aufforderung,  durch  mathematische  Behandlung 
dieser  Quantitäten  dem  psychologischen  Wissen  Exaktheit  zu  geben.  So- 
fort stellt  sich  aber  der  Gründung  und  Ausführung  einer  mathematischen 
Psychologie  scheiubar  wie  ein  unübersteigliches  Hinderniss  der  Umstand 
entgegen,  dass  jene  Grössen  nicht  messbar  sind,  und  dass  darum  jede 


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Drobisch  und  Volkmann:  Ueber  mathematische  Psychologie.  811 


auf  irgend  eine  Hypothese  gebaute  mathematische  Theorie  der  Veränderun- 
gen unserer  Geisteszustände,  in  Ermanglang  der  Möglichkeit  einer  nume- 
rischen Vergleicbang  ihrer  allgemeinen  Formelo   mit  der  Erfahrung  pro- 
blematisch und  unfruchtbar  bleiben  zu  müssen  scheint.  Dagegen  stellt  nun 
Drobisch  eine  Unterscheidung  auf,  die  von  der  grössten  Wichtigkeit  ist, 
weil  sie  jenen  von  so  Vielen  vorgebrachten  oder  begierig  ergriffenen  Ein- 
wand seiner  prätendirten  Bedeutung  entkleidet  und  auf  seine  wahre  zu- 
rückführt. Es  muss  nämlich  die  theoretische  Messbarkeit  von  der 
praktischen  unterschieden  werdon.    Jene  ist  da  vorhanden,  wo  sich 
die  Möglichkeit  der  Messung  in  Begriffen  n a oh w eisen  lässt, 
während  diese  die  Ausführbarkeit  der  Messung  in  der  Wirklichkeit  be- 
deutet. Nur  die  erstere  ist  nothwendig,  um  darauf  hin  eine  mathematische 
Theorie  veränderlicher  Erscheinungen,  in  unserm  Falle  der  Phänomene  des 
Bewusstseins,  versuchen  zu  können.  Eine  so  entstehende  Theorie  ist  frei- 
lich nur  eine  mathematische  Spekulation;  es  kommt  also  nur  zu  einer 
abstrakten  psychischen  Mechanik.  Indessen  würden  auch  unter  Voraus- 
setzung der  praktischen  Messbarkeit  der  psychologischen  Grössen  die  An- 
fange der  mathematischen  Psychologie  immer  nur  sehr  abstrakt  ausfallen, 
und  kein  Ausdruck  der  unmittelbaren  Erfahrungstatsachen  sein.  Jede 
Theorie  hat  vom  möglichst  Einfachen  auszugehen,  und  kann  erst  später 
zum  Zusammengesetzten  und  Verwickelten  fortschreiten.   So  geschieht  es 
io  den  mathematisch-physikalischen  Theorien,  so  muss  es  in  der  mathe- 
matischen Psychologie  geschehen,  die  unter  allen  Umständen  anfangs  viel 
einfachere  Voraussetzungen  machen    und  entwickeln  muss,  als  sie  je  in 
der  Wirklichkeit  unsers  Seelenlebens  statthaben.    Eine  Menge  von  Um- 
ständen, die  in  der  psychischen  Wirklichkeit  von  grossem  Einflüsse  sind, 
müssen  zunächst  bei  Seite  gesetzt  werden ,  um  erst  späterhin  bei  höherer 
Ausbildung  nach  und  nach  berücksichtigt  und  in  die  Rechnung  aufgenom- 
men zu  werden.  Dieser  Methode  darf  sich  die  mathematische  Psychologie 
in  keinem  Falle  entscblagen,  wenn  sie  soll  auf  ähnliche  Erfolge  hoffen 
dürfen,  wie  sie  die  mathematischen  Naturwissenschaften  in  der  Gegenwart 
bereits  errungen  haben.  Uebrigens  ist  die  Möglichkeit  durchaus  nicht  ab- 
geschnitten, dass  die  methodische  Entwicklung  der  mathematisch-psycho- 
logischen Theorie  künftighiu  zu  Resultaten  führe,  die,  vielleicht  in  sehr 
mittelbarer  Weise   auch  zu  einer  wirklichen  Messung  der  empirisch  ge- 
gebenen psychologischen  Grössen  Anleitung  geben.  So  etwas  ist  nicht  ohne 
Beispiele  im  mathematisch-physikalischen  Gebiete.  Sicherlich  darf  man  an 
die  eben  erst  entstandene  Wissenschaft  der  mathematischen  Psychologie 
nicht  den  Massstab  derjenigen  Kritik  anlegen,  welcher  für  die  mathema- 


812        Drobisch  and  Volkmann.'  üeber  mathematische  Payehologie. 

tischen  Naturwissenschaften  in  ihrem  heutigen  Zustande  gilt,  sondern  man 
muss  sich  an  die  Kindheit  derselben  erinnern,  wo  man  sich  auch  mit  sehr 
allgemeiner  Uebereinstimmung  zwischen  Theorie  und  Erfahrung  begnügt 
hat.  Nämlich  bei  aller  Abstraktheit  der  psychischen  Mechanik  und  trotz 
der  Trüglichkeit  und  Ungenauigkeit  des  Schützens  der  psychologischen 
Grössen  muss  sich  doch  eine  Uebereinstimmung  der  Rechnungsresultate  mit 
den  wirklich  in  uoserm  Innern  beobachteten  Pbönomenen  von  ferne  her 
zeigen,  wenn  man  sich  bei  den  zu  Grunde  gelegten  Voraussetzungen  soll 
beruhigen  können.  Und  dies  ist  in  der  That  auch  in  einem  solchen  Masse 
der  Fall,  wie  es  nur  immer  von  den  Anfangen  der  mathematischen  Psy- 
chologie erwartet  werden  kann,  so  dass  mao  sich  vielfach  zur  Anwendnag 
dieser  Theorie  bei  der  Erklärung  der  Thatsechen  des  Bewußtseins  aufge- 
fordert fühlt.  Dabei  ist  freilich  Vorsicht  nöthig,  dass  man  sich  nicht 
Ubereile  und  in  Irrlhum  verfalle ;  denn  es  ist  immer  noch  eine  sehr  grosse 
und  weite  Kluft  zwischen  den  abstrakten  Formelo,  selbst  den  komplhur- 
tcsten,  und  den  konkreten  Thatsachen.  Die  Warnung,  die  in  dieser  Be- 
ziehung Drobisch  ausspricht,  ist  ganz  au  ihrer  Stelle.  Ganz  wunderlich 
aber,  um  nicht  zu  sagen  vollkommen  idiotisch  ist  die  Furcht,  als  wurde 
der  individuelle  geistige  Mensch  durch  die  mathematische  Psychologie  zcr 
Maschine  herabgewürdigt  und  in  ein  blosses  RechenexempeJ  umgewandelt. 
Allerdings  macht  sie  die  Grundvoraussetzung,  dass  Alles,  was  in  unserm 
Innern  geschieht,  in  einem  unter  mathematischen  Gesetzen  stehenden  Kau- 
salnexus sich  befindet.  Herbart  hat  sogar  wirklich  die '  mathematische  Re- 
gelmässigkeit des  niedere,  durch  die  Eingriffe  der  Selbstbeherrschung  nicht 
gestörten  Vorstellungsverlaufes  als  „ psychologischen  Mechanismus"  bezeich- 
net, offenbar  aus  Mangel  eines  entsprechenden  Ausdruckes.  Dennoch  on- 
terscheidet  sich  der  Mechanismus  in  der  äussern  Natur  durch  seine  gleich- 
massige  periodische  Wiederholung  der  Phänomene  ganz  wesentlich  von 
der  mathematischen  Gesetzmässigkeit  im  Seelenleben ,  die  keine  Periodi- 
zität an  sich  trägt.    Ohnedies  würde  eine  solche,  selbst  wenn  sie  vor- 

Ii  and  An  wtire     durch  die  t&useudfochen     keiner  erkenn  bsren  festen  Rcfftl 

zu  unterwerfenden  Berührungen  mit  der  Aassenwelt  gänzlich  zerstört  werden. 
Jeder  gegenwärtige  augenblickliche  Zustand  eines  Menschengeistes  ist  von 
so  vielen  Bedingungen  abhängig,  dass  sie  alle  zumal  von  der  Rechnung 
nimmer  beherrscht  werden  können.  Vollends  aber  unsere  Gedanken,  Wun- 
sche und  Gefühle  auch  nur  auf  eine  Stunde  hinaus  voraus  bestimmen,  davon 
kann  niemals  die  Bede  sein.  Das  höchste  Ziel,  das  sich  die  mathemati- 
sche Psychologie  ateokt,  ist  viel  bescheidener;  Herbart  bat  es  in  dea 
Worten  aufgesprochen,  die  Drobisch  als  Motto  seiner  Schrift  vorgesetzt 


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Drobisch  und  Volkmann:  Ueber  mathematische  Psychologie.  815 

hat:  „In  der  Psychologie  können  wir  bei  dem  Mangel  oder  doch  der 
Schwierigkeit  bestimmter  Beobachtungen  weniger  darauf  ausgeben,  irgend 
ein  wirkliches  und  individuelles  Ereigniss  genau  zu  erkennen  und  zu  er- 
klären, als  die  einfachen  Gesetze  einzusehen,  deren  höchst 
manchf  al  tig  e  Verflechtung  die  Wirklichkeit  bestimmt." 

Um  nun  die  Grundbegriffe  und  Grundsatze  der  mathemalischen  Psy- 
chologie darzulegen,  wäre  der  erste  Abschnitt  der  vorliegenden  Schrift 
zu  resumiren.  Ref.  wird  jedoch,  eingedenk  der  Schranken,  innerhalb  deren 
er  sich  hier  bewegen  darf,  nur  einige  Hauptpunkte  herausbeben,  und  muss 
im  Uebrigeo  auf  die  Schrift  selbst-  verweisen.    Gefühle  und  Begehrungen 
sind  nicht  unabhängig  von  den  Vorstellungen,  wohl  aber  diese  von  jenen. 
Daher  die  ersten  Gegenstände   der  Untersuchung  der  Vorstellungen,  und 
xwar  wiederum  nicht  die  zusammengesetzten,  sondern  die  einfachen,  also 
die  sogenannten  Empfindungsvorstellungen,  die  den  einfachen  Empfindungen 
als  Nachbilder  entsprechen.    Jede  einfache  Vorstellung  hat  eine  unverän- 
derliche Qualität  und  eine  veränderliche  Klarheit  im  Bewusstsein,  deren 
höchster  Grad  im  Momente  ihres  Eutstebens  durch  Empfindung  statthat; 
man  nennt  diesen  ihre  ursprungliche  Klarheit,  während  der  niedrigste  Grad 
der  ist,  bei  welchem  die  Vorstellung  aus  dem  Gedächtniss  verschwindet. 
Die  fundamentalen  ThaUachen,  die  an  die  Spitze  gestellt  werden,  um  ans 
ihnen  und  zugleich  für  sie  Erklärungsprinzipien  zu  entnehmen,  die  der 
mathematischen  Behandlung  fähig,  sind  folgende:  1)  die  Anzahl  der  Vor- 
stellungen, deren  wir  uns  gleichzeitig  bewusst  sind,  ist  in  Vergleich  mit 
der  Anzahl  derer,  die  nacheiuander  zur  innern  Erscheinung  kommen  kön- 
nen, eine  sehr  geringe.  2)  Vorslelluugen  werden  durch  andere  Vorstel- 
lungen aus  dem  Bewusstsein  verdrängt.   3)  Vorstellungen,  die  aus  dem 
Bewusstsein  verschwunden,  durch  andere  verdrängt  sind,  können  unter 
günstigen  Umständen  in  dasselbe  zurückkehren.    Sie  sind  nicht  als  ver- 
nichtete, sondern  nur  als  völlig  unwahrnehmbar  gewordene  anzusehen,  und 
ihre  Wiederkehr  ist  keine  neue  Erzeugung  derselben.    Diese  Thatsacheu 
gelten  zunächst  von  zusammengesetzten  Vorstellungen,  wie  fast  alle  die- 
jenigen sind,  die  wir  wirklich  in  uns  beobachten.    Da  jedoch  das  Zu- 
sammengesetzte von  seinen  konstituirenden  Elementen  abhängig  ist,  so  darf 
man  gleichwohl  nach  jenen  Thatsacben  das  Verhalten  der  einfachen  Vor- 
stellungen also  entwerfen:  Die  Grundursache  der  Vorstellung  ist  die  Tbä- 
tigkeit,  die  in  der  Seele  entsteht,  wenn  sie  von  aussen  dazu  angeregt 
wird.    Diese  Thätigkeit  ist  eine  intensive.  Qualitativ  verschiedenen  Vor- 
stellungen liegen  ebenso  verschiedenartige  Thätigkeiten  zu  Grunde;  auch 
entspricht  der  quantitativen  Verschiedenheit  der  ursprünglichen  Klarheit 


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814         D robisch  und  Volkmann:  Uebcr  mathematische  Psychologie. 

der  Vorstellungen  verschiedene  Stärke  oder  Intensität  der  Thötigkeiten  des 
Vorstellens.  Diese  Thätigkeiten ,  einmal  entstanden,  dauern  io  unverän- 
derter Qualität  und  Stärke  gleicbmässig  fort.  Nur  ihrer  Ausübung  können 
sich  Hindernisse  in  den  Weg  stellen;  die  Folge  davon  ist  Verminderung 
der  Klarheit,  die  bis  zum  völligen  Verschwinden  fortschreiten  kann.  Da- 
durch werden  jedoch  die  Tätigkeiten  selbst  weder  gradweise  vermindert, 
noch  aufgehoben,  sondern  sie  dauern  in  anderer  Form,  als  Streben  vorzu- 
stellen, ungeschwächt  fort,  und  gehen  wieder  in  wirkliches  Vorstellen  über, 
sobald  die  Hindernisse  beseitigt  sind.  Man  muss  also  die  freie  von  der  — 
theilweise  oder  gänzlich  —  gehemmten  Thätigkeit  des  Vorstellens  unter- 
scheiden. Die  Hindemisse  des  freien  Vorstellens  können  leibliche  sein, 
wie  in  Schlaf  und  Ohnmacht,  oder  geistige.  Die  vorliegende  Schrift  be- 
schäftigt sich  allein  mit  den  letztern.  In  dieser  Hinsicht  ist  die  qualitative 
Verschiedenheit  der  Vorstellungen  als  Hauptgrund  anzusehen ,  warum  sich 
ihrer  mehrere  nicht  in  ungeschwüchter  ursprünglicher  Klarheit  nebeneinander 
behaupten  können.  Nun  werden  unterschieden  die  disparnten  Vorstellungen, 
wie  ein  Ton  und  Geruch,  von  den  gleichartigen,  z.  B.  zwei  Tönen  oder 
zwei  Farben.  Die  gleichartigen  sind  entweder  ganz  gleich,  wie  wenn  der 
nämliche  Ton  wiederholt  wird,  oder  sie  sind  einander  entgegengesetzt,  und 
zwar  ist  dann  ihr  Gegensatz  entweder  voll,  konträr  =  1  wie  zwischen  schwan 
und  weiss,  oder  zwischen  Grundton  und  Octave,  oder  er  ist  geringer  als  1, 
wie  zwischen  weiss  und  grau,  oder  zwischen  Grundton  und  Terz.  Sind  mehr 
oder  minder  entgegengesetzte  Vorstellungen  gleichzeitig  in  einer  Seele 
vorhanden,  so  können  sie  nicht  anders  als  sich  gegenseitig  hemmen;  die 
verminderte  Klarheit  der  Vorstellungen  ist  der  in  der  innern  Erfahrung 
zu  Tage  tretende  Effekt  davon.  Allein  jede  Vorstellung  widerstrebt  auch 
der  Hemmung,  weil  die  Thätigkeit  des  Vörstettens  durch  Hemmung  nicht 
vermindert  wird,  sondern  nur  in  dem  Masse,  in  welchem  sie  aufhört  frei 
zu  sein,  die  Form  des  Strebens  vorzustellen  annimmt.  Je  stärker  nun 
die  ursprüngliche  Thätigkeit  des  Vorstellens  ist,  einen  um  so  grössern 
Widerstand  setzt  sie  der  Hemmung  entgegen.  Es  werden  also  unter  übri- 
gens gleichen  Umständen  Vorstellungen  von  grösserer  Intensität  in  gerin- 
gem! Ilasse  der  Hemmung  unterliegen  als  schwächere. 

(Schlmt  folgt.) 


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Kr.  52.  HEIDELBERGER  1851. 

JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR. 

Drobftaeli  und  Volkmannt  Ueber  niatheniaf Ische 

Psychologie. 

(Schluss.) 

Sofern  nun  die  Grade  des  Gegensatzes  und  die  Intensitäten  der  Vor- 
stellungen als  Grössen  betrachtet  werden  dürfen,  die  sich  in  Zahlen  aus- 
drucken lassen,  so  muss  es  für  jede  von  mehrern  gleichzeitig  gegebenen 
entgegengesetzten  Vorstellungen  eine  bestimmte  Grösse  der  Hem- 
mung geben,  bei  welcher  das  Widerstreben  gegen  dieselbe  der  von  don 
entgegengesetzten  Vorstellungen  ausgehenden  Nötbigung  dazu  gleich  ist. 
Tritt  diese  Gleichheit  zwischen  Nötbigung  und  Widerstreben  für  alle  gege- 
benen Vorstellungen  gleichzeitig  ein,  so  ist  zur  Veränderung  der  Hem- 
mung keine  Ursache  mehr  vorhanden,  so  ist  Gl  eich gewi  cht  oder  Ruhe 
unter  diesen  Vorstellungen.  Der  Uebergang  aus  dem  ungehemmten  Zustand 
in  den  irgendwie  gehemmten  muss  stetig  sein,  weil  das  Widerstreben  der 
Vorstellungen,  welches  mit  der  wirklichen  Hemmung  zunimmt,  nicht  um- 
hin kann,  die  Wirkung  der  Nötbigung  zur  Hemmung  zu  verzögern.  Dieser 
Uebergang  zeigt  sich  in  der  Veränderung  der  Klarheit  der  Vor- 
stellungen und  wird  Bewegung  genannt,  wobei  selbstredend  an 
rSum  liehe  Bewegung  nicht  zu  denken  ist.    Es  gibt  nur  zwei  einander 
entgegengesetzte  Arten  von  Bewegungen  der  Vorstellungen,  weil  nur 
Abnahme  oder  Zunahme  der  Klarheit  der  Vorstellungen  gedenkbar  ist. 
Man  bezeichnet  sie  anschaulich  jene  als  Sinken,  diese  als  Steigen 
der  Vorstellungen.    Dagegen  sind  unzahlig  viele  Verschiedenheiten 
für  die  Geschwindigkeit  dieser  Bewegungen  und  für  die  Aende- 
rang  der  Geschwindigkeit  denkbar.  Hiernach  hat  die  mathematische  Psy- 
chologie zweierlei  Untersuchungen  anzustellen :  für  jede  Anzahl  gleichzeitig 
gegebener  Vorstellungen  von  bekannten  Intensitäten  und  Graden  ihrer  Ge- 
gensätze sind:   1)  die  Grössen  der  Hemmung  zu  bestimmen,  bei  denen 
sie  sich  im  Gleichgewicht  befinden,  2)  die  Bewegungsgesetze,  nach  de- 
nen sie  sinken  und  steigen  *,  bei  weiterer  Fortführung  ist  beides  nicht  blos 
für  einfache  Vorstellungen  zu  berechnen ,  sondern  auch  für  irgendwie  zu- 
sammengesetzte.   Die  erste  Klasse  von  Untersuchungen  trägt  den  Namen 
psychische  Statik,  die  andere  den  der  psychischen  Mechanik, 
wiewohl  man  mit  Mechanik  oder  Dynamik  auch  beiderlei  Untersuchungen 

» 

zofammenfasst. 

XLIY.  Jahrg.  6.  Doppelheß.  52 


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S15       Drobiich  und  Vom  mann:  UeJ>er  mathematische  Psychologie. 

Diu  Bedingung  psychologischer  Rechnungen,  die  theoretische  Mess- 
barkeit  der  hier  in  Betracht  kommenden  Grössen  wird  zum  Schlüsse  des 
ersten  Abschnittes  erörtert.  Nachdem  im  Allgemeinen  vorausgeschickt  ist, 
dass  Gegensätze  und  Intensitäten  der  Vorstellungen  konstante,  Hem- 
mung und  Klarheit  veränderliche  Grössen  sind,  wird  der  Reihe  nach  be- 
handelt die  numerische  Darstellbarkeit  des  Gegensatzes  unter  den  Vor- 
stellungen der  Intensität,  der  Hemmung  und  der  Klarheit  der  Vorstellungen. 
Wir  glauben,  dass  sich  Drobiseh  hierdurch  ein  wesentliches  Verdienst  um 
die  Apologie  und  festere  Begründung  der  mathematischen  Psychologie  er- 
worben bat.  Hat  man  nämlich  wohl  unterschieden  zwischen  theoretischer 
und  praktischer  Messbarkeit,  zwischen  abstrakter  psychischer  Mechanik  und 
mathematischer  Theoria  der  wirklichen  psychischen  Thatsacheo.  und  ist 
der  Nachweis  für  die  theoretische  Messbarkeit  der  psychischen  Grössen 
gegeben,  so  sind  damit  im  Wesentlichen  die  Einwürfe  gegen  die  mathe- 
matische Psychologie  beseitigt,  sofern  sie  auf  Verkennung  jener  Unter- 
scheidungen hinauslaufen.  Daher  bat  es  Drobiseh  mit  Recht  nicht  mehr 
für  nöthig  gerunden,  sich  auf  Widerlegung  einzelner  Einwürfe  einzulassen. 

Im  zweiten  Abschnitt  der  vom  Gleichgewicht  einfacher  Vorstellungen 
handelt,  werden  zuerst  llemmungssumme  und  Hemmungsverbältuiss  bestimmt, 
d.  h.  die  Summe  des  von  beliebig  vielen  gleichzeitig  gegebenen  entge- 
gengesetzten Vorstellungen  zusammengenommen  im  Gleichgewichte  zu  Hem- 
menden und  das  Verhultniss .  in  welchem  hierbei  iede  einzelne  hetheihat 
ist  und  wirklich  gehemmt  werden  soll.  Es  ist  ohne  Weiteres  einzusehen, 
dass  man  es  hier  mit  Grundbegriffen  zu  thun  hat,  die  zu  den  wichtigsten 
in  der  mathematischen  Psychologie  gehören.  Die  klaren  Auseinandersetzungen 
des  H.  Verf.  sind  um  so  dankenswerther,  als  die  entsprechenden  Expo- 
sitionen Herbarts  im  ersten  Bande  der  Psychologie  als  Wissenschi fl  eine 
Mischung  von  hypothetischen  und  spekulativen  Sätzen  bieten,  und  dem 
Urheber  selbst  späterhin  nicht  genügt  zu  haben  scheinen.  Wenigstens  ist 
er  in  der  ersten  Abhandlung  der  „ Psychologischen  Untersuchungen a  wie- 
der darauf  zurückgekommen,  und  hat  sich  des  Weitern  namentlich  über 
Gleichgewicht  verbreitet;  unsers  Eracbtens  ist  es  ihm  aber  nicht  gelun- 
gen, die  Schwierigkeiten  und  Dunkelheiten  dieser  Gegenstände  gänzlich  za 
besiegen  und  aufzuklären.  Auf  den  gelegten  Grundlagen  werden  sodann 
allgemeine  Formeln  für  das  Gleichgewicht  zweier  und  mehrerer  Vorstellun- 
gen entwickelt  und  erläutert,  und  namentlich  auch  Tafeln  von  numerisch 
berechneten  Werthen  aufgestellt,  wie  sie  mit  steigender  Ausbildung  der 
mathematischen  Psychologie  immer  nötltiger  werden.  Auf  diese  und  die 
folgenden  Rechnungen  kann  hier  nicht  eingegangen  werden;  nur  auf  ei- 


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Drobisch  und  Volkmana:  Ucber  mathematische  Piychologle.  M 


nige  Stellen  soll  noch  aufmerksam  gemaoht  werden,  wo  sie  sich,  wie 
abstrakt  sie  immer  hier  sein  mögen,  doch  zur  Erklärung  von  wirklichen 
Thalsachen  des  Bewusstseins  schon  dienlich  zeigen.  Setzt  man  zwei  Vor- 
stellungen voraus,  so  kann  die  schwächere  von  der  starkern  nie  ganz 
gehemmt,  d.  i.  aus  dem  Bewusstsein  verdrängt  werden ,  wie  vielmal  auch 
die  Intensität  der  letztern  grösser  ist  als  die  jener.  Dagegen  kann  schon 
von  drei  Vorstellungen  die  schwächste  leicht  eine  so  geringe  Intensität 
besitzen,  dass  sie  von  den  übrigen  beiden  im  Zustande  des  Gleichgewichts 
ganz  unterdrückt  wird.  Das  wird  im  dritten  Abschnitte,  der  von  den 
Bedingungen  des  Verschwindens  einfacher  Vorstellungen  aus  dem  Bewusst- 
sein bandelt,  nachgewiesen.  Namentlich  ist  es  von  Wichtigkeit,  den  Gränz- 
Werth  der  schwächsten  beim  Verhältniss  zu  den  beiden  stärkern  a  und  b 
zu  finden,  und  durch  Tafeln  zu  veranschaulichen,  bei  welchem  c  gerade 
aus  dem  Bewusstsein  verschwindet.  Bis  hierher  sind  nur  einfache  Vor- 
stellungen in  Betracht  gezogen,  die  Rechnung  hat  sich  also  in  einem  Ge- 
biete von  Abstraktionen  bewegt,  da  einfache  Vorstellungen  isolirt  und 
ohne  Verbindung*  mit  andern  nicht  mehr  in  unserm  Innern  vorkommen. 
Es  ist  also  eine  Annäherung  an  die  psychische  Wirklichkeit,  wenn  im  vier- 
ten Abschnitt  vom  Gleichgewicht  zusammengesetzter  Vorstellungen  gehan- 
delt wird.  Hier  treten  uns  die  Komplikationen  disparater  Vorstellungen 
und  die  Verschmelzungen  gleichartiger,  als  zwei  verschiedene  Klassen  zu- 
sammengesetzter Vorstellungen  entgegen.  Die  Rechnungen  in  §§.  76  bis 
79  geben  im  80.  Paragraphen  Erklärungen  für  die  unwillkürliche  Auf- 
merksamkeit und  für  die  Gefühle  des  Kontrastes  her;  über  die  letztem 
bat  man  auch  §.  64  zo  vergleichen. 

In  den  Abschnitten  5  —  7  werden  die  Elemente  der  psychischen 
Mechanik  vorgetragen.  Dario  spielen  die  veränderlichen  Grössen  der  Zeit, 
der  Geschwindigkeit  und  der  von  beiden  abhängigen  Hemmung  eine  be- 
deutende Rolle.    Im  fünften  Abschnitte  wird  zu  Anfang  der  Begriff  der 
Geschwindigkeit  einer  Erörterung  unterworfen,  und  der  Mechanik  der  Kör- 
perwelt ein  vergleichender  Blick  zugewendet.     Geschwindigkeit  kommt 
nämlich  jeder  stetigen  Veränderung  zu,  mag  es  Ortsveränderung  sein  oder 
Veränderung  intensiver  Zustände.  In  der  mathematischen  Psychologie  sind 
die  Hemmungen  der  Vorstellungen  das  in  stetiger  Veränderung  Begriffene, 
möge«  nun  wie  beim  Sinken  der  Vorstellungen  die  Hemmungen  zu-,  oder 
wie  beim  Steigen  abnehmen.    Die  Diskussion  der  Gleichungen  des  §.  104 
führt  zur  Erkenntniss  der  Gesetze  des  Sinkens  einer  Vorstellung.  Es  ist 
nämlich  im  ersten  Anfange  ihres  Sinkens  das  Quantum  ihrer  Hemmung 
der  Zeit  direkt  und  einfach  proportional.    Dennoch  gelangt  die  Vorstel- 

52* 

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818       Drobiscb  und  Volkmann:  Ueber  mathematische  Psychologie; 

1ung  io  keioer  endlichen  Zeit  zu  der  für  absolutes  Gleichgewicht  gefe- 
derten Hemmung ,  sondern  nähert  sich  diesem  nur  ohne  Ende,  und  zwar 
anfänglich  in  ziemlich  schnellen  Schritten,  die  aber  immer  langsamer  wer- 
den.   Dasselbe  gilt  mutalis  mutandis  auch  für  das  Steigen  der  Vorstellun- 
gen.   Zur  Versinnlichung  dieser  Bewegungen  wird  eine  Kurve  konstruirt, 
die  sich  der  Abscissenaxe  als  Asymptote  int  Unendliche  bin  annähert. 
Derlei  Konstruktionen  der  mathematisch-psychologischen  Formeln  hat  Dro- 
bisch  schon  früher  in  seinen  Quaestionibus  mathematico-psyebologicis  mit 
Yortheil  angewendet;  sie  geben,  wie  nichts  Anderes,  durch  das  anschau- 
liche Bild  dem  abstrakten  Denken  Haltung  und  Bestimmtheit,  und  wir  em- 
pfehlen dessbalb  ihre  fleissige  Benützung  allen  denjenigen,  die  sich  mit 
der  hier  besprochenen  Theorie  erst  noch  bekannt  und  vertraut  zu  machen 
haben.    Die  Resultate  aus  den  Rechnungen  des  sechsten  Abschnittes  über 
die  Bewegungen  successiv  gegebener  Vorstellungen  zieht  §.  138.  Die 
geführten  Untersuchungen  geben  nämlich  „im  Kleinen  ein  Bild  von  einem 
Tbeil  der  Vorgänge,  die  stattfinden,  wenn  unsere  Gedanken  durch  sinn- 
liche Wahrnehmungen  gestört  werden."   Die  Wahrnehmungen  üben  durch 
ihre  Starke  und  ihren  Gegensatz  gegen  die  im  Bewusstsein  vorhandenen 
Vorstellungen  auf  diese  letztern  einen  Einfluss,  den  man  als  Reiz  der  Neu- 
heit bezeichnet,  und  der  gar  oft  in  Affekt  ausartet,  Dabei  zeigt  sich  dann 
die  Depression  und  Exaltation  der  Vorstellungen,  die  hier  rechnend  be- 
stimmt ist.  Damit  verbinden  sich  allerdings  Reproduktionen  anderer  älterer 
Vorstellungen,  wovon  hier  abstrabirt  ist;  gleichwohl  lassen  sich  an  dem 
in  Rechnung  Gezogenen  die  Keime  der  Affekte  erkennen.    Im  letzten  Ab- 
schnitt endlich  wird  das  freie  Aufsteigen  gehemmter  Vorstellungen  un- 
tersucht und  die  wichtige  Rechnungstbatsacbe  zu  Tage  gefördert,  dass 
sich  entgegengesetzte  Vorstellungen,  wenn  sie  bis  dabin  gänzlich  gehemmt 
waren  und  nun,  von  aller  Hemmung  befreit,  gleichzeitig  aufsteigen  und  zam 
ersten  Male  im  Bewusstsein  zusammentreffen,  eine  grössere  Klarheit  oder 
Höhe  erreichen  und  im  Gleichgewichte  behaupten,  als  diejenige  ist,  auf 
welcher  sie  bleiben  würden,   wenn  sie  durch  äussere  Wahrnehmung  ins 
Bewusstsein  getreten  und  durch  Sinken  ins  Gleichgewicht  gekommen  wä- 
ren.   Also  sind  die  aus  dem  Innern  zugleich  aufsteigenden  entgegenge- 
setzten Vorstellungen  untereinander  verträglicher,  als  wenn  sie  von  Aussen 
gegeben  wären.    Dehnt  man  dies  spezilizirend  aus,  so  darf  man  sagen, 
dass  Objekte  der  innern  Wahrnehmung,  bei  gleichem  Gegensatze  ihres  In- 
haltes wie  Objekte  der  äussern  Wahrnehmung,  einander  doch  nicht  so 
schroff  zurückstossen  wie  diese,  dass  blosse  Gedanken  von  entgegengesetz- 
ter Beschaffenheit  weniger  unerträglich  erscheinen  als  eben  ao  entgegen- 


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Drobiich  und  Volkminn:  Uebcr  mathematische  Psychologie.  819 


gesetzte  Thatsachen  der  äussern  Erfahrung;  dass  in  der  Phantasie  Man- 
ches sich  nicht  so  unvereinbar  ausnimmt  wie  in  der  Wirklichkeit.  „In 
der  Gedankenwelt,  sagt  Herbert,  stossen  sich  die  Dinge  lange  nicht  so 
arg  als  in  der  wirklichen.  Die  Gedankenwelt  behält  immer  etwas  Phan- 
tastisches, Märchenhaftes,  ja  Traumähnliches  im  Vergleich  gegen  das  Harte, 
Strenge,  Schroffe  der  äussern  Erfahrung.14  Es  liegt  aber  in  dem  obigen 
Satze  noch  die  Wahrheit,  dass  Gedanken,  die  sich  von  Innen  heraus  ent- 
wickeln, zu  grosserer  bleibender  (durch  das  Gleichgewicht  bedingten) 
Klarheit  gelangen  als  solche,  die  uns  von  Aussen  her  zukommen.  Ref. 
halt  es  für  eben  so  passend  als  nothwendig,  dass  die  Lehre  von  den  frei- 
steigenden Vorstellungen  sogleich  in  die  Elemente  der  mathematischen  Psy- 
chologie aufgenommen  ist.  Denn  die  freisteigenden  sind  mit  die  stärksten, 
bleibendsten,  einflussreichsten  Vorstellungen;  es  sind  Vorstellungen,  die 
nicht  blos  einmal  steigen  und  bald  wieder  sinken,  sondern  jeden  Tag  mit 
jedem  neuen  Erwachen  von  neuem  steigen  und,  einmal  hervorgetreten,  nun 
nicht  mehr  weichen,  ausser  in  kurzen  Fristen,  um  sogleich  ihren  alten 
Platz  wieder  einzunehmen,  die  deshalb  vom  entscheidendsten  Einfluss  fUr 
die  Aperception  und  das  Selbstbewusstsein  des  Menschen ,  und  bei  Selbst- 
bestimmung und  Selbstthätigkeit  aller  Art  äusserst  bedeutend  sind.  Hat 
man  für  sie  den  Blick  nicht  offen,  so  macht  sich  diess  durch  Mangelhaf- 
tigkeit in  der  Auffassung  psychischer  Thatsachen  und  durch  Einseitigkeit 
in  der  Theorie  bemerklich. 

Die  sämmtlichen  Rechnungen,  deren  Auslegungen  theilweis  so  eben 
mitgetheilt  sind ,  entwickeln  sehr  einfache  Voraussetzungen :  zwei  oder 
drei  einfache  Vorstellungen,  zwei  oder  drei  Komplexionen,  jede  von  zwei 
Gliedern,  werden  in  Wechselwirkung  gedacht;  nur  einige  Male  wird  Ober 
diese  engen  Grenzen  hinausgegangen,  und  n  Vorstellungen  werden  ange- 
nommen. Jedermann  sieht  auch  ohne  unsere  Hinweisung,  dass  diese  Rech- 
nungen ungeheuer  weit  von  den  wirklich  in  unserm  Innern  vorkommenden 
Thatsachen  entfernt  bleiben.  Kaum  möchte  es  noch  vereinzelte,  unver- 
bnnden  gebliebene  Vorstellungen  in  uns  geben;  die  Komplexionen  beste- 
hen in  der  Regel  aus  viel  mehr  als  zwei  Gliedern;  die  Anzahl  der  in 
jedem  Augenblicke  wirksamen  Vorstellungen  ist  ziemlich  bedeutend,  und 
was  besonders  zu  beachten  ist,  sie  sind  zu  kürzern  oder  läugern  Reiben 
verbunden,  und  treten  selbst  Massenweise  in  Wechselwirkung.  Nicht  ein- 
mal in  einer  kindlichen  Seele  geht  es  so  einfach  her,  wie  beim  Beginn 
und  Verfolg  der  Rechnung  die  Voraussetzungen  sind,  und,  wie  oben  schon 
bemerkt,  den  Reichthum  des  wirklichen  innern  Lebens  und  die  vielfachen 
äussern  und  innern  Bedingungen  kann  keine  Rechnung  befassen.  Daher 


820        Drob i seh  and  Volkmann:  Ueber  mathematische  Psychologie:, 

ist  die  oben  erwähnte  Unterscheidung  Drobisch's  zwischen  abstrakter  psy- 
chischer Mechanik  und  mathematischer  Theorie  der  konkreten  innern  Thal- 
sachen vollkommen  berechnet  und  gültig,  und  man  darf  die  Resultate  von 
jener  nur  mit  Vorsicht  und  Einschränkung  zur  Auslegung  der  Tbatsacbeu 
der  Erfahrung  anwenden.  Ist  es  unter  diesen  Umstanden  nicht  zum  Ver- 
wundern, dass  der  H.  Verf.,  der  seine  uns  eben  beschäftigenden  Elemente 
der  mathematischen  Psychologie  gewiss  als  abstrakte  psychische  Mechanik 
charakterisiren  wird,  darin  doch,  wie  aus  dem  Angeführten  hervorgeht, 
der  Versuchung  nicht  widerstanden  ist,  öfter  auf  individuelle  Tbalsacben 
hinznblicken  und  sie  aus  seinen  Formeln  zu  erklären?  Wir  finden  diese 
Lockuug  aus  der  Natur  der  Sache  begreiflich  genug.  Wenn  aaalytiscbe  For- 
meln durch  Zahlenwerthe  erläutert,  wonn  für  den  Zusammenbang  der  ver- 
änderlichen Grössen  eine  bildliche  Darstellung  im  Haum  gefunden  wird,  so 
steigt  man  damit  von  der  aligemeinen  Formel  zu  den  einzelnen  Fallen 
herab,  man  gewinnt  einen  Ueberblick  über  das  unter  einem  allgemeinen 
Begriffe  befasste  Einzelne,  kurz  mau  wird  in  das  Gebiet  des  Individuellen 
versetzt.  In  diesem  liegen  aber  auch  die  wirklichen  Thalsachen,  und  wenn 
diese  auch  viel  reicher  und  konkreter  sind,  als  die  elementaren  Schemale 
und  Typen  der  mathematischen  Psychologie,  so  kommt  man  durch  ihre 
Individualisirung  mittelst  Zahlenwerthe  oder  räumliche  Konstruktion  doch 
dem  Wirklichen  ungleich  näher,  als  man  es  je  mit  allgemeinen  Begrif- 
fen vermag.  Man  denke  nur  an  die  abstrakte  Starrheit  der  psychologi- 
schen Vermögenslehre  im  Gegensatz  gegen  die  Schwing-  uod  Biegsam- 
keit mathematischer  Formeln.  Da  sich  nun  Drobisch  doch  einmal  her- 
beigelassen hat,  in  vorliegender  Schrift  Einiges  aus  dem  Gebiete  der 
Thalsathen  zu  erklären,  so  vermissen  wir  ungern  präzise  Bestimmungen 
über  die  Gränzen  der  Anwendung  der  mathematischen  Untersuchungen  auf 
die  psychischen  Thatsachen.  Es  ist  wahr,  derlei  Bestimmungen  gehören 
in  den  Eingang  einer  mathematischen  Theorie  der  konkreten  inaeru  That- 
sachen.   Allein  wenn  man  liest,  die  Rechnungen  des  sechsten  Abschnittes 

• 

gäben  „im  Kleinen  ein  Bild  von  eine/n  Theile"  gewisser  psychischer  Vor- 
gänge, wenn  in  den  daselbst  untersuchten  Störungen  des  Gleichgewichts 
der  Vorstellungen  durch  äussere  Eindrücke  „schon  die  Keime  zur  Erklä- 
rung der  Affekte*  liegen  sollen,  so  lassen  gerade  diese  figürlichen  Aus- 
drücke und  Vergleichungen  den  Mangel  bestimmter  Begriffe  recht  fühlen. 
In  dieser  Beziehung  drängt  sich  die  Bemerkung  auf,  dass  die  abstrakten 
Typen  psychischer  Vorgänge,  mit  denen  sich  die  mathematische  Psychologie 
beschäftigt,  einerseits  auf  eine  möglichst  geringe  Anzahl  von  Eletneeteo, 
von  einfachen  Vorstellungen  beschränkt,  anderseits  jeder  füf  sich,  isourt 


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Drobisch  and  Volkraann:  üeber  mathemati  che  Psychologie.  821 


in  Betracht  gezogen  werden,  wfihrend  in  der  psychischen  Wirklichkeit 
stets  eine  viel  grössere  Menge  von  vielfach  verbundenen  Vorstellungen 
thötig  ist,  und  ihre  Wirksamkeit  zugleich  von  verschiedenen  sich  gegen« 
seilig  modifizirenden  Gesetzen  bestimmt  wird. 

Bei  dem  Allen  erscheint  dns  besprochene  Werk  doch  um  Vieles  ab- 
strakter, als  es  sein  könnte.  Nicht,  als  bäte  es  nicht  schon  genugsam  verwi- 
ckelte und  zusammengesetzte  Formeln,  deren  Eleganz  übrigens  den  Mathe- 
matiker ergötzen  mag.  Warum  sollte  auch  die  vielfache  Bedingtheit  des 
geistigen  Lebens  zu  minder  verwickelten  Berechnungen  fahren,  als  etwa 
die  der  Störungen  der  Planeten?  Der  Grund  der  grösser  erscheinenden 
Abstraktheit  liegt  vielmehr  darin,  dass  Drobisch  nur  einen  Theil  der  ma- 
thematischen Psychologie  geboten  hat,  und  obwohl  der  Umfang  des  Ge- 
gebenen gross  genug  ist,  um  einem  tiefer  eingehenden  Studium  als  Grund- 
loge dienen  zu  können,  so  ist  doch  gerade  der  Ausschluss  mancher 
Untersuchungen ,  namentlich  der  über  mittelbare  Reproduktion ,  um  so 
empfindlicher,  je  weitgreifender  deren  Wirksamkeit  ist  im  ganzen  gei- 
stigen Leben.  Möge  es  daher  dem  H.  Verf.  bald  gefallen,  eine  Fortsetzung 
seiner  Arbeiten  zu  veröffentlichen.  Sicherlich  liegt  dies  in  seinem  und  der 
Sache  Interesse.  Denn  so  lichtvolle  und  ausgereifte  Arbeiten  wie  die  sei- 
nigen fördern  die  Wissenscboften  immer,  und  die  vorliegende  wird  dem 
Mathematiker  von  Profession  ungleich  mehr  zusagen,  als  die  Herbart'sclieft. 
Inzwischen  dürfen  wir  Jedem,  der  sich  für  mathematische  Psychologie 
interessirt,  die  kleine  unter  Nro.  2  aufgeführte  Schrift  empfehlen.  Zwar 
ist  sie  in  einem  sehr  beschränkten  Raum  eingeschlossen,  allein  der  Reich- 
thom  ihres  Inhalts  überragt  die  Enge  und  Unscheinbarkeit  ihres  Rahmens. 
Ihr  Charakter  ist  jedoch  ein  ganz  anderer,  als  der  von  Nro.  1.  Meta- 
physik und  Rechnung  sind  ihr  nicht  fremd,  von  beiden  wird  Gebrauch 
gemacht,  aber  wenige  Grundgedanken  von  jener  und  ein  paar  Hauptfor- 
meln genügen  dem  H.  Verf.,  um  daran  die  Erklärung  uud  Beleuchtung 
einer  grossen  Menge  psychischer  Thatsachen  zu  knüpfen.  Ihm  sind  hier 
Metaphysik  und  Mathematik  nur  das  Mittel,  eine  mathematische  Theorie 
des  konkreten  geistigen  Lebens  das  eigentliche  Ziel  seiner  Bemühungen. 
Freilich  kann  man  nicht  verlangen,  dass  anf  hundert  Seiten  und  etlichen 
das  ganze  Gebiet  der  Psychologie  durchmessen  wird.  Aber  man  sehe 
nur,  wie  Vieles  geboten  ist!  In  der  Einleitung  wird  unter  Anknüpfung 
an  die  Erfahrung  und  Benützung  der  Metaphysik  von  der  Seele  gehan- 
delt, und  von  ihren  innern  Zustünden,  in  die  sie  geräth ,  wenn  sie  mit 
andern  realen  Wesen  entgegengesetzter  Qualität  in  KausalverhUltnisse  tritt. 
Der  erste  Abschnitt  bietet  eilte  Theorie  der  Entstehung  der  einfachen  Vor- 


822        Drobisch  and  Volkmann:  üeber  mathematische  Psychologie. 

Stellungen,  und  man  flodet  hier,  abgesehen  von  den  reinen  Vorstellungen. 
Vitalempfindung  und  Gemeingefübl,  die  Annehmlichkeit  und  Unannehmlichkeit 
der  sinnlichen  Gerüble,  die  Bewegungen  und  Handhingen  sammt  Uebnng 
und  Fertigkeit  erklärt,  sogar  eine  Vermuthung  Uber  den  Sonnambalismus 
wird  geäussert  und  «war  mit  lobenswertber  Bescheidenheit.  Hiebei  muss 
begreiflicherweise  fielfach  auf  die  Thiitigkeit  des  Nervensystems  eingegan- 
gen werden,  und  der  H.  Verf.  zeigt  dabei  eine  gute  Bekanntschaft  mit 
den  neuem  Entdeckungen  und  Ansichten  der  Physiologen.  Bis  bieher  kana 
die  Schrift  geradezu  als  vorbereitende  Ergäniung  von  Nro.  1.  beeülit 
werden,  da  Drobisch  die  einfachen  Vorstellungeu  kurzweg  als  vorhanden 
voraussetzt.  Natürlich  darf  dann  der  Leser  metaphysische  Erörternngea 
nicht  ganz  scheuen;  zu  grosse  Zamuthungen  werdon  ihm  in  dieser  Be- 
ziehung nicht  gemacht,  und  die  Darstellung  des  II.  Verf.  ist  im  Goniea 
leicht  und  geschickt.  Der  zweite  Abschnitt  spricht  von  der  „Wechsel- 
wirkung der  Vorstellungen,*  also  von  Hemmung  und  Verbindung  gleich- 
seitiger Vorstellungen,  wobei  auch  die  physiologischen  Ursachen  der  Hem- 
mung berücksichtigt  werden ;  von  der  Hülfe,  die  verbundene  Vorstellungen 
einander  leisten;  vom  Sinken  und  Steigen;  von  der  Abnahme  der  Em- 
pfänglichkeit. Der  dritte  Abschnitt  bebandelt  den  „Fortbestand  der  Vor- 
stellungen, u  der  sich  vor  Allem  in  der  Reproduktion  der  gehemmten 
zeigt.  An  die  mittelbare  Reproduktion  wird  die  Erklärung  der  Sinnes- 
täuschungen angeknüpft;  die  Lehre  von  den  Vorstellungsweisen  gibt  die 
Grundlage  für  das  Vorstellen  des  Zeitlichen,  Räumlichen,  Gezählten,  Be- 
wegten, und  es  steht  damit  auch  die  Bildung  der  Vorstellung  vom  Leibe, 
die  Verörllichung  der  Empfindungen  und  das  Vorstellen  der  Aussendinge 
in  Verbindung.  Dies  Alles  wird  besprochen,  und  im  Allgemeinen  recht 
besprochen.  Dazwischen  treten  uns  noch  manche  kritische  Bemerkungen 
entgegen,  aus  denen  wir  diejenigen  hervorheben,  welche  gegen  die  ver- 
wandle Psychologie  von  Waitz  gerichtet  sind,  zuweilen  ohne  Nennung 
seines  Namens.  Diese  Psychologie  hat  nämlich  u.  A.  den  Beweis  gelie- 
fert, natürlich  unbeabsichtigt,  dass  es  sehr  nothweodig  ist  die  mathemati- 
sche Behandlung  der  psychologischen  Grössen  beizubehalten  und  immer 
weiter  zu  treiben.  Sonst  verliert  sich  auch  sofort  wieder  alle  Schärfe  und  Be- 
atimmtbeit  der  Begriffe  und  Erklärungen,  wie  sie  Herbart  zuerst  erreicht  hat; 
man  verfällt  auch  gar  leicht  in  Hypothesen,  deren  Grundlosigkeit  und  Lo- 
snwendbarkeit  die  mathematische  Behandlung  unwiderleglich  dartbun  würde. 

Wir  wünschen  schliesslich  dem  vorliegenden  Büchlein  die  Beachtung, 
die  es  verdient,  und  dem  H.  Verf.  die  Nüsse  und  Gesundheil,  die  ihm  bei 
der  Abfassung  desselben  gefehlt  hat,  damit  er  sich  ermuntert  and  kräftig 


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Drobisch  und  Volkmann:  Ueber  mathematische  Psychologie.  823 


fühle,  um  die  psychologische  Literatur  bald  mit  Grüsserm  zu  bereichern. 
Wir  erwarten  ober  sicher,  dass  dies  in  einem  ansprechendem  Gewände 
uod  mit  weniger  Druckfehlern  sich  präsentire,  als  das  gegenwärtige.  Noch 
erlauben  wir  uns  die  Bemerkung,  dass,  obwohl  die  Schreibart  im  Ganzen 
gut  uod  zuweilen  schön  uod  nicht  ohoe  poetische  Anklänge  ist,  sie  doch 
hie  uod  da  einen  Mangel  an  formeller  Schärfe  zeigt.  Eine  Besserung  in 
dieser  Beziebuog  würde  um  so  vorteilhafter  wirken,  als  der  H.  Verf. 
schon  in  dieser  kleinen  Probe  seine  begabte  Natur  und  reiche  Bildung  zu 
erkennen  gegeben  hat.  Freilich  scheint  jenes  bei  den  hervorragenden 
Oesterreicbero  nicht  minder  charakteristisch  zu  sein,  wie  dieses.  Immerhin, 
hat  Oesterreich  nur  an  solchen  Kräften  einen  grossen  Reichtum,  dann  felix 
Austria! 

G  Jessen.  Schilling. 


Die  Burg  Höchberg  im  Breisgau,  hauptsächlich  tom  sechszehnten 
Jahrhundert  an.  Beschreibung  und  Geschichte  aus  urkundlichen 
Quellen.  Von  Christ.  Phil.  Ii  erbst,  Pfarrer  %u  Mundingen  u. 
s.  10.  Mit  drei  Lithographien.  Im  Selbstverlage  des  Verfassers. 
Karlsruhe.  Buchdruckerei  von  Malsch  und  Vogel.  I85L  XII  u.  199  S.  8. 

Wir  freuen  uns  ,  auch  in  diesem  Hefte  der  Jahrbücher  eine  neue 
Bereicherung  unserer  vaterländischen  Literalur  mit  dieser  Schrift  anzeigen 
zu  können.  Sie  ist  ein  oeuer  erfreulicher  Beweis ,  dass  auch  ohne  Ver- 
ewigung der  vereinzelten  Kräfte,  wie  sie  nach  dem  Vorgang  anderer  Län- 
der auch  für  das  Grossherzogthum  Baden  wünschenswert  wäre,  doch 
dasselbe  in  diesem  Zweige  der  gelehrten  Forschung  hinter  andern  Gauen 
des  gemeinsamen  deutschen  Vaterlandes  keineswegs  zurückbleibt.  Der 
Gegenstand  vorliegender  Schrift  ist  eine  Burg,  die  als  Landesburg  und 
Fttrstenschlos8 ,  sowie  als  Bergfeste  einst  die  bedeutendste  in  der  ganzen 
Umgegend  war,  und  noch  jetzt  als  Ruine  vielleicht  die  bedeutendste  und 
umfangreichste  nicht  blos  in  dem  jetzigen  Grossherzogthum  Baden  —  mit 
einziger  Ausnahme  der  Heidelberger  Schlossruine  —  sondern  in  ganz 
Suddeutschland  genannt  werden  kann.  Mehrere  Jahrhunderte  hindurch  war 
sie  der  Sitz  eines  Zweiges  unseres  Fürstenhauses,  dessen  Geschicke  mithin 
an  diese  Borg  zu  einein  grossen  Tbeile  geknüpft  sind ;  sie  diente  vielfach 
zum  Schutz  und  Schirm  der  Umgegeod,  zunächst  des  sie  umgebenden  fürst- 
lichen Gebietes;  sie  zieht  auch  jetzt  noch  durch  ihre  herrliche  Lage  die 
Blicke  des  Wanderers  auf  sich,  während  die  auf  dem  Maierhof  in  unmit- 
telbarer Nähe  der  Burg  gegründete  Ackerbauscbule  jetzt  ihre  Segnungen 


Herbst:  Die  Barg  Hachberg. 

über  das  ganze  Land  zu  verbreiten  beginnt.  So  verdiente  wohl  diese 
Barg  der  Gegenstaad  einer  Monographie  zu  werden,  wie  sie  uns  hier  von 
der  Hand  eines  der  Veteranen  vaterländischer  Geschichtsforschung  geboten 
Wir*,  der  schon  früher  durch  andere  Leistungen  auf  diesem  Gebiete  rühm  - 
liehst  bekannt ,  auch  in  dieser  Schrift  die  Ergebnisse  mühevoller ,  viel— 
jähriger  Forschung  in  wohlgeordneter  klarer  Darstellung  vorlegt.  Dass 
Alles  das,  was  in  gedruckten  Schriften  Uber  diesen  Gegenstand  vorlag 
oder  damit  in  näherer  oder  entfernlerer  Beziehung  stand,  von  dem  Ver- 
fasser benutzt  worden,  wird  kaum  einer  Erwähnung  bedürfen ;  wohl  aber 
wird  man  anzuführen  haben,  wie  bei  dem  Wenigen,  was  auf  diesem  Wege 
bekannt  geworden  war,  der  Verfasser  hauptsächlich  auf  handschriftliche 
bisher  unbenutzte  und  unbekannte  Quellen  gewiesen  war,  auf  denen  seine 
Darstellung  beruht.  Keioe  Mühe  ward  hier  gescheut,  Keine  Anstrengung 
gemieden,  dieses  Material  in  möglichster  Vollständigkeit  von  allen  Orten 
her  über  alle  Schicksale  der  Burg  im  Laufe  und  Wechsel  der  Jahrhun- 
derte zu  gewinnen;  und  wenn  hier  nicht  alle  Hoffnung  in  Erfüllung  ge- 
gangen ist,  wenn  namentlich  für  die  frühere  Periode  nur  Weniges  auf- 
zutreiben war,  so  ist  es  wahrhaftig  nicht  die  Schuld  des  Verfassers,  wohl 
aber  die  Ungunst  der  Zeit,  welche  die  schriftlichen  Denkmale  froherer 
Jahrhunderte  vernichtet  oder  an  unzugänglichen  Orten  verborgen,  dem 
Späherblick  der  gelehrten  Forschung  bis  jetzt  noch  entzogen  hat. 

Der  Verf.  beginnt  seine  Darstellung,  wie  billig,  mit  einer  topogra- 
phischen Beschreibung  der  Burg  und  ihrer  nahen  Umgebung;  diese  sorg- 
fältig m  das  Detail  der  noch  vorhandenen  Raine  eingehende  und  alle 
einzelnen  Theile  derselben,  so  weit  nur  immer  möglich,  nachweisende  Be- 
schreibung wird  durch  drei  dieser  Schrift  beigefügte  Pläne  veranschaulicht, 
von  welchen  der  erste  ein  im  Jahre  1820  von  einem  Freibarger  Archi- 
tekten aufgenommener  Situationsplan  ist;  hoflen  wir,  dass  bei  einer  voll- 
ständigen Aufräumung  des  Schuttes  und  Entfernung  alles  Heckengestrnpps 
und  Baumwerkes,  was  bis  jetzt  jeder  genauen  Orientiruug  und  Untersu- 
chung der  einzelnen  Bestandteile  und  ihrer  frühem  Bestimmung  hemmend 
in  den  Weg  tritt,  Manches  von  dem,  was  damals  noch  nicht  völlig  ins 
Heine  gebracht  werden  konnte,  aus  dem  Dunkeln  und  Ungewissen  an  das 
klare  Licht  gezogen  werde.  Dass  übrigens  der  vorliegende  Plan  zum 
Verständniss  des  Ganzen  durchaus  nolhwendig  war,  wird  Niemand  in  Ab- 
rede stellen.  Ein  zweiter  Plan  gibt  den  Umriss  der  Festungswerke,  mit 
denen  einst  die  Burg  umgeben  war,  nach  einer  auf  der  Grossherzoglichen 
Hofbibliothek  zu  Carlsruhe  befindlichen  Zeichnung  vom  Jahre  1673.  Die 
dritte  Tafel  bringt  eine  Ansicht  des  innern  Theiles  des  Schlosses  mit  den 


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Herbst:  Die  Burg  Hachberg. 


Werken,  vom  Hornwald  her,  lisch  einer  Originalzeichnung  vom  Jabre  1 670, 
also  vor  der  letzten  Zerstörung  des  Schlosses.  Nachdem  auf  diese  Weise 
der  Leser  zuerst  mit  der  ganzen  Lokalität  nach  allen  ihren  einzelnen  Thei- 
Jen  bekannt  geworden  und  zugleich  auch  gezeigt  worden,  wie  diese 
Burg ,  welche  eine  Stande  von  Emmeodingen  und  drei  von  Freiburg  ent- 
fernt auf  einen  etwas  über  sechshundert  Fuss  ober  der  Ebene  (also  circa 
zwöUhundert  Fuss  Uber  der  Meeresfläche)  erhobenen,  mild  ansteigenden 
Bergkegel  mit  herrlicher,  nach  allen  Seiten  hin  freien  und  geöffoeten  Aus- 
siebt hervorragt,  eine  der  reichsten  und  schönsten  der  ganzen  weiten 
Umgegend  gewesen,  da  sie  Alles  besass,  was  man  in  der  Blülhezeit  des 
Rillerltiums  zum  Glanz  ued  Ruhm  einer  Burg  rechnete,  fruchtbare  Felder, 
Teiche  und  Weiher,  Waldungen  und  Gfirlen,  stattliche  Wohnungen  und 
sichern  Schutz  und  Schirm  gegen  jeden  Angriff  u.  dgl.,  wendet  sich  der 
Verfasser  zur  Geschichte  der  Bnrg,  welche  von  S.  29  an  den  grösseren 
Theil  seiner  Schrift  wie  billig  einnimmt.  Wir  haben  schon  erwähnt,  dass 
für  die  frühere  Periode  die  Quellen,  zunächst  die  handschriftlichen,  die 
hier  fasl  allein  in  Betracht  kommen,  leider  nur  dürftig  fliessen;  was  der 
Verfasser  ausfindig  machen  konnte  (und  er  bat  diese  Quellen  in  der  Vor- 
rede Seile  V  IT.  genau  verzeichnet)  zu  Emmendingen,  oder  zu  Karls-  . 
ruhe,  hier  besonders  im  Generallandesarchiv  und  auf  der  Hofbibliotäek, 
gehört  meist  der  späteren  Periode  des  secbszehnlen  und  siebenzebnten 
Jahrhunderts  an  und  gibt,  besonders  in  der  sorgfältigen,  kritisch  gesich- 
teten Darstellung  des  Verfassers,  ein  anschauliches  Bild  der  Schicksale  der 
Burg  während  dieser  spätem  Periode,  indem  die  früheren  Jahrhunderte 
noch  grösstenteils  mit  einem  Dunkel  bedeckt  sind,  das  ohne  neue  Quel- 
lenfunde  nicht  sobald  gelüftet  werden  kann.    Dieses  Dnnkel  lastet  ins- 
besondere auch  auf  der  ersten  Anlage  der  Burg  und  lässt  uns  daher  auch 
die  Frage  nach  dem  Ursprung  derselben,  so  wie  nach  dem  Geschlecht, 
das  im  ersten  Besitz  derselben  war,  nicht  mit  völliger  Sicherheit  und  Ge- 
wissbeit  beantworten.    Wohl  weiss  die  Sage  von  einem  Grafen  Hacho 
zu  melden,  der  im  neunten  Jahrhundert  unter  Karl  dem  Grossen  die  Burg 
angelegt  nnd  ihr  den  Namen  gegeben;  ein  Dietrich  de  Hacbberg 
kommt  in  einer  Urkunde  des  eilften,  ein  Erkenbold  de  Hacbberg 
m  Urkunden  des  zwölften  Jahrhunderts  mehrmals  vor,  letzterer  namentlich 
ift  Verbindung  mit  den  Herzogen  von  Zäbringen ;  dass  beide  einem  Dienst- 
Biauneageschlecht  der  Letztern  angehört,  ist  eine  Verinutuung,  die  jeden- 
falls, auch  bei  dem  Mangel  anderer  Beweise,  zu  nahe  liegt,  um  von  der 
Hand  gewiesen  zu  werden.    Wie  freilich  die  Burg  dem  Stamm  der  Zäh- 
rioger zugefallen,  vermögen  wir  nicht  anzugeben,  nur  so  viel  bleibt  ge« 


r 

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Herbst:  Die  Burg  Hachberg: 


wiss,  dass  Berthold  L,  der  Stammvater  der  Zubringer,  Herr  des  Breis- 
gaues, Uschberg  besessen  hat,  da  dem  zweiten  Feiner  Söhne  Hermann I. 
die  Herrschaft  Hachberg  alt  ein  Theil  des  väterlichen  Zahringer  Familien- 
Gutes  im  Breisgau  mit  dem  Grafenamte  des  Lindes  und  mit  dem  Titel 
eines  Markgrafen  zugefallen  war.  Zu  diesen  Besitzungen  knm  alsbald  noch 
die  Herrschaft  Baden  im  Osgau,  wie  denn  sein  Sohn  Hermann  II.,  der 
dem  1074  im  Kloster  zu  Clugny  gestorbenen  Vater  folgte,  bereits  all 
Markgraf  von  Baden  erscheint;  dessen  Sohn  Hermann  III.  (1130—1160) 
mnss  ebenfalls  auf  Hachberg  gewohnt  haben,  da  er  der  Grundlegung  des 
nahen  Klosters  Thennenbach  beiwohnte;  er  wird  hier  neben  Berthold  IV. 
von  Zlhringen  als  Markgraf  de  castro  Hachberg  angeführt.  Nach  dem 
Tode  seines  Sohnes  Hermann'»  IV.  (1160—  1190)  trat  aber  die  Tren- 
nung ein;  die  beiden  Söhne  theilten  sich  in  das  väterliche  Erbe,  der  al- 
tere, Hermann  V.,  erhielt  die  Markgrafschaft  Baden  nebst  Ettlingen  und 
Durlach;  der  jüngere,  Heinrich  I.,  das  alte  Stammland  im  Breisgau,  die 
Markgrafschaft  Hachberg;  so  bildeten  sich  zwei  Linien,  von  welchen  die 
Höchberg  sehe  bis  zum  Jahre  1418,  wo  sie  ausstarb,  fortgedauert  bat. 
Dass  aber  Hachberg  (denn  so,  und  nicht  Hochberg  muss  nach  den  alten 
Urkunden  geschrieben  werden,  pag.  32)  jedenfalls  zu  den  ältesten  Be- 
sitzungen des  zilhringisch-badiseben  Fürstenhauses  gehört,  und  selbst  noch 
vor  Baden,  das  als  späterer  Erwerb  erscheint,  wird  hiernach  kaum  ei- 
nem Zweifel  unterliegen,  und  gibt  der  Burg,  als  dem  ältesten  Besitzthum 
unseres  Fürstenhauses,  eine  Bedeutung,  die  ihre  Schicksale  mit  den  Geschi- 
cken unsers  Fürstenhauses  auch  für  die  folgenden  Jahrhunderte  so  eng 
verknüpft  bat.  Die  nächste  Periode  von  dem  Jahre  1190  bis  zu  dem 
Erlöschen  der  Hachberger  Linie  im  Jahre  1418  bildet  den  Inhalt  des 
dritten  Abschnittes  S.  39  flf.;  wahrend  dieser  zwei  Jahrhunderte  hat  Hach- 
berg, wie  der  Verfasser  sich  ausdrückt,  seinen  schönsten  und  unange- 
fochtenen Ruhm  und  Glanz.  Nach  dem  bemerkten  Ausslerben  der  Linie 
mit  dem  unverehlichten  Otto  II.  kam  Hachberg  an  den  Markgraf  Bernhard 
von  Baden,  der  nm  die  Summe  von  80000  Gulden  die  sammtlicben  Hach- 
berg'schen  Lande  übernahm.  Der  vierte  AbschniU  führt  uns  die  Begeb- 
nisse vor,  welche  Hachberg  unter  der  Regierung  der  Badenseben  Linie 
bis  mm  dreissigjährigen  Krieg  (1418  bis  1618)  betroffen  haben;  die 
Verheerungen  des  Bauernkrieges,  welche  in  diesen  Zeitraum  fallen  (1524), 
Hessen  die  Veste  unberührt.  Anders  ward  es  freilich  in  der  Periode,  welche 
im  nächsten  fünften  AbschniU  besprochen  wird,  in  der  Periode  des  dre- 
ijährigen Krieges;  die  aus  dieser  Zeit  reichlicher  fliessenden  Quellen 
machten  es  auch  dem  Verfasser  möglich,  diesen  Zeitraum  mit  grösserer 


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Herbst:  Di«  Burg  Hachberg. 


827 


Ausführlichkeit  und  aller  Genauigkeit  des  Details  zu  behandeln.    In  Folge 
der  unglücklich  ausgefallenen  Schlachten  bei  Wimpfen  uod  Nördlingen, 
gegen  Ende  des  Jahres  1634,  breiteten  österreichische  und  baierische  Trup- 
peo  sich  Ober  die  Gegenden  aus,  in  deren  Mitte  und  zu  deren  Schutz  und 
Schirm  die  Veste  Höchberg  angelegt  war;  aber  erst  im  Jahre  1636  ge- 
lang es  ihnen,  der  Burg,  die  sich  nicht  länger  mehr  behaupten  konnte, 
sich  zu  bemächtigen,  wobei  die  kleine  Garnison ,  die  den  Platz  solange 
rcrtheidigt  und  gehalten  hatte,  einen  ehrenvollen  Abzug  erhielt;  die  dar- 
über abgeschlossene  Capitulation  bat  indess  merkwürdiger  Weise  bis  jetzt 
noch  nicht  in  den  Archivalakteo  aufgefunden  werden  können.  Alsbald 
nach  der  Uebergabe,  wie  uns  der  Verfasser  im  sechsten  Abschnitt  berich- 
tet, erfolgte  die  Abführung  des  vorgefundenen  Geschützes  sammt  den  vorhan- 
denen Kriegs  vorrätben,  von  welchen  ein  genaues  Verzeicbniss  mitgetheilt  wird ; 
dann  schritt  man  zur  Schleifung  und  Zerstörung  der  Festungswerke,  wo- 
mit mehrere  hundert  Arbeiter  mehrere  Monate  lang  beschäftigt  waren.  AI» 
aber  endlich  der  westphälische  Friede  die  Veste  wieder  an  sein  Fürsten- 
haus zurückgebracht  hatte,  da  erfolgte  nach  längerem  Zeiträume  in  den 
Jahren  1662  und  folgende  die  Wiederherstellung  der  zerstörten  Werke, 
eine  ständige,  später  verstärkte  Garnison  diente  fortan  als  Besatzung  der 
wiederaufgerichteten  Veste,  gegen  welche,  wie  in  dem  Abschnitt  VIII. 
uns  näher  erzählt  wird,  seit  dem  Beginne  des  mit  Frankreich  1674  aus- 
gebrochenen Reichskrieges  die  Blicke  der  Franzosen  gerichtet  waren,  je- 
doch ohne  Erfolg,  da  die  Besatzung  der  Veste  inzwischen  bedeutend  ver- 
stärkt worden  war.     In  Folge  des  Friedens  von  Nymwegen  zog  die 
kaiserliche  wie  die  Reichsbesatzung  ab  und  eine  badische  Garnison  blieb 
zurück ;  bald  aber  trat  die  Schwierigkeit  einer  gänzlichen  Wiederberstellung 
der  Festungswerke,  wenn  sie  anders  ernstlichen  Angriffen  bei  der  fort- 
geschrittenen Kriegskunst  erfolgreichen  Widerstand  entgegen  stellen  soll- 
ten, sowie  der  Unterhaltung  derselben  in  so  fühlbarer  Weise  hervor,  dass 
der  von  Seiten  des  Markgrafen  im  Spätjahr  1681  gefasste  Entschiusa  ei- 
ner Demolirung  derselben,  der  dann  auch  mit  aller  Schnelligkeit  ausge- 
führt wurde,  kaum  befremden  kann,  wenn  man  sich  von  der  Unhaltbarkeit 
einer  solchen  Veste  in  Fällen  eines  Krieges  überzeugt  hat.    Das  Schlots 
blieb  unversehrt,  bis  nach  einem  im  Oktober  1684  ausgebrochenen  Brande 
im  Jahre  1689  die  gänzliche  Zerstörung  desselben  erfolgte,  ausgeführt 
durch  dieselben  französischen  Schaaren ,  die  schon  früher  die  Schlösser 
zu  Röteln  and  Sausenberg  zerstört,  die  eben  so  auch  das  Schloss  von 
Bäden  and  die  untere  Markgrafschaft,  so  gut  wie  die  rheinische  Pfalz 
zum  Gegenstand  ihrer  Verheerungen  gemacht  hatten.    Wir  können  hier 


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828  Herbst:  Die  Barg  Hacbberg. 

nur  das  beifügen,  dass  nach  der  aos  laoter  officielleo  Berichten  und  Akten 
geschöpften  Darstellung  des  Verfassers  die  Franzosen  in  Ganzen  hier  nicht 
mit  der  furchtbaren  Zerstörungswut!!  verfahren  sind ,  die  sie  an  andern 
Orlen  damals  rücksichtslos  an  den  Tag  gelegt  haben.  Seit  dieser  Zeit 
hat  das  Ganze  ein  verändertes  Ansehen  gewonnen;  schon  früher  waren 
die  Fischweiher  ausgefüllt  und  in  Wiesen  und  Aecker  verwandelt  worden, 
die  äussern  Vorwerke ,  die  Wolle  «od  Grüben,  welche  die  Veste  ringsum 

um  n  □  l\  a  n       c  in/?     nein     vaha  aIiw  im/likn      iins~l       j  i  <  _ .     I )  1  .  4 1 .  _        1  .  ^     Wqii/I  ornrd  j  _  \.i 

umj*nut*n,  pinu  nun  verscn™  uikicu  una  (icni  diickg  uc»  tTanuercrs  mim 
mehr  erreichbar,  wohl  aber  dem  Pfluge  dienstbar  geworden;  nur  die  ei- 
gentliche Burg  ragt  in  ihren  Ruinen  noch  Uber  dem  Bergkegel  hervor, 
dessen  oberste  Flüche  sie  krönt,  vielfach  verschlungen  mit  Gebüsch,  mit 
Baumwerk  und  Gestrüpp ,  das  dem  Ganzen  ein  eben  so  romantisches  als 

molanr  finlicrh  a«  AncaliPii  oihf  iinrl  Hon  fl  n«jn  mm  \  tt  i  n  rt  rnrlf  rlit*cpp  Trümm*»r 
lU  CIOI1 V  II  vFI  13  v  II  vj     /\IlaCHCII      kiUI     UUU     UCU     VI 18  U  III  III  l  v  I  II  U I  Uvlt     UIvBCi        1  I  UHIlUCt 

vergangener  Zeit  nur  zu  erhöhen  vermag.  Im  Interesse  der  Wissenschaft 
würe  freilich  Aufrüumung  des  angehäuften  Schuttes,  Entfernung  des  sin- 

rnnrlpn     RilCrhu'Arl;  o*a      K  o  c  n  n  r  I  o  r  ^     Aac    in     /lia   Moiiorn     hin  Ain  rrAWnphennPn  Clt* 
I  CIIUCII     DU  9vll  TT  CrtlC9^     UOSUIlUCl  9    UC9    lU     UIU   JII  all  CI  II     UtllCIlJg  v  Vt  il  ^  II?  Cll  Cll  uc* 

»trüppes  zu  wünschen,  weil  es  nur  dann,  wenn  die  Hauern  mögliehst 
blosgelegt  und  die  einzelnen  Bestandteile  des  Ganten,  sowie  ihre  Ver- 
bindung und  Beziehung  zu  einander  erkennbar  sind,  möglich  werden  wird, 
die  Bauart  näher  in  untersuchen  und  ans  der  Beschaffenheit  des  Baues, 
der  einzelnen  Theile  wie  des  Ganzen,  diejenigen  geschichtlichen  Folge— 

......    •k»nl»i#A*»      w.|.La  ,i:  _     Jnn|.fl|.    PmwifiAm     Am—    frii  |,arnn  Tskrtimi 

luugav  Buiuiriicii,   vtciviiu  in  uic  uuimeio  r onuuc    ucr  iruucrcu  jaurnuu— 

derte  einiges  Licht  tn  werfen  und  so  den  Mangel  schriftlicher  Quellen 
zu  ersetzen  vermögen.  Möge  dazu  diese  gründliche  und  verdien  st  liebe 
Schrift  den  weitern  Anstoss  geben;  der  ehrwürdige  Verfasser  derselben 

nhor     fnrtfuKiran        nno     Aom     rainhan    Crliil?«     ci'inor     KnrcrJi  nnrran  nnc 
auvw     ivitivnivH,     aus     uciii    icivuoii    oiuiutD    sciuui     t  uiiiuuii^cii     uua  tut» 

ähnlichen  Mitthcilungon  zu  erfreuen ;  zunächst  dürfte  es  wohl  die  Geschichte 
der  nahen,  im  sechzehnten  Jahrhundert  während  des  Bauernkrieges  zer- 
störten Burg  Land  eck  und  ihrer  Besitzer,  des  im  ganzen  Breisgau  einst  so 
ausgebreiteten,  mit  den  Markgrafen  von  Baden  in  vielfachem  Verkehr  ste- 
henden Geschlechts  der  S newelin  sein,  welche  wir  von  seiner  Hand 
um  so  eher  zu  erwarten  haben,  als  er  seit  Jahren  mit  ausgebreiteten, 
darauf  bezüglichen  Forschungen  beschäftigt  ist. 

*  iir.  nnnr. 

i 


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Smith:  Ueber  den  Sbhiffbau  im  Alterthum,  von  Thierse!*,  m 

Ueber  den  Schiffbau  der  Griechen  und  Römer  im  Alterthum.  Eine  an- 
tiquarische Abhandlung  um  James  Smith.  Aus  dem  Englischen 

lung.  1851.  53  S.  in  gr.  8. 

Bei  dem  Dunkel,  das  Uber  unsere  Kunde  des]  alten  Seewesens  in 
so  manchen  Beziehungen  im  Einzelnen  noch  obwaltet,  kann  es  nur  dank- 
bar anerkannt  werden,  dass  eine  Abhandlung,  wie  die  vorliegende,  auch 
auf  deutschen  Bodeo  verpflanzt  worden  ist,  was  sie  gewiss  verdiente.  Der 
englische  Verfasser,  beschäftigt  mit  einer  Untersuchung  über  den  in  der 
Apostelgeschichte  cp.  27.  28.  beschriebeneu  Schiffbruch  des  Apostels  Pau- 
las, ward  in  seinem  Bestreben,  Alles,  was  nur  einigermassen  zur  Aufhel- 
lung  und  Erklärung  dieser  Sache  dienen  konnte,  herbeizuziehen  und  Nicht* 
unbeachtet  zu  lassen,  was  aus  alter  wie  neuer  Zeit  zu  ermitteln  war,  auch 
auf  eine  Untersuchung  über  die  Beschaffenheit  und  den  Bau  der  alten 
Schiffe,  ihre  einzelne  Bestandteile  u.  s.  w.  geführt,  indem  eben  Einzel- 
nes davon  bei  der  Erzählung  jenes  Schiffbruches  zur  Sprache  kommt.  Er 
studirte  zu  diesem  Zwecke  mit  aller  Sorgfalt  die  Werke  des  Alterthums, 
and  stellte  die  auf  diesem  Wege  erhobenen  Nachrichten  mit  dem  zusam- 
men ,  was  die  bildlichen  Denkmale  des  Alterthums,  die  Manzen,  die  Werk» 
der  Kunsl  (Reliefs])  über  diesen  Gegenstand  bieten ;  er  schiffte  selbst  viele 
Jahre  auf  der  See  herum,  und  zog  über  jeden  einzelnen  Punkt  die  Man- 
ner vom  Fach,  die  erfahrnen  Seeleute,  zu  Rathe,  und  gelangte  auf  diesem 
eben  so  gelehrten,  wie  praktischen  Wege  allerdings  zu  Ergebnissen,  wie 
sie  vor  ihm  keiner  der  Gelehrten  gewinuen  konnte,  welche  diesem  Ge- 
genstand ihre  Aufmerksamkeit  mehr  oder  minder  geschenkt  haben.  Diese 
Ergebnisse  einer  wohl  dreissigjührigen  Forschung  legte  er  dann  in  einer 
Abhandlung  nieder,  welche  unter  der  Aufscrift:  On  the  sbips  of  the  An- 
cients,  einen  integrirenden  Theil  des  grössern  Werkes  bildet,  das  die 
Gesammtresultate  eiuer,  dem  oben  erwähnten  biblischen  Gegenstande  zu- 
gewendeten Forschung  enthält  und  in  der  That  auch  im  Ganzen  eine 
deutsche  Uebertragung  verdiente  ,  wie  sie  hier  der  oben  genannten  Ab- 
handlung über  die  Schiffe  der  Alten  im  Besondern  zu  Theil  geworden 

4 

ist.  Denn  wir  glauben,  dass  der  gelehrte  Theolog,  auch  abgesehen  von 
dem,  was  im  dritten  Abschnitt  (S.  203  ff.}  des  grössern  Werkes,  dessen 
Titel  wir  in  der  Note  beifügen*),  über  die  Quellen  des  Lucas,  und  was 

*)  The  voyagc  and  shipwreck  of  St.  Paul,  with  dissertations  on  the  sour- 
ces  of  the  writiogs  of  St.  Luce  and  the  ships  and  navigatton  of  the  ancienta. 
By  James  Smith,  Esq.  of  Jordanhill  etc.  London  1848.  8.  bey  Longmau,  Brown 


830  Smith:  Ueber  den  Schiffbau  im  Allerthum,  von  Thiersch: 

im  ersten  Uber  Leben  and  Schriften  des  Evangelisten  Lucas  (S.  i — 18) 
enthalten  ist,  namentlich  der  Exeget  gar  Manches  zur  Abklärung  der 
Seereisen  und  Seeabentheuer  des  Apostels  und  zum  besseren  Verständnisse 
der  einschlägigen  Berichte  der  Bibel  finden  wird,  die  hier  eine  so  um- 
fassende Erörterung  und  Besprechung  nach  allen  Seiten  und  Richtungen 
hin  erhalten. 

Der  Verfasser  war  vor  Allem  bedacht,  durch  seine  Abhandlung  uns 
eine  klare  Anschauung  von  der  Beschaffenheit  und  dem  Bau  eines  alten 
Schiffes  zu  verschaffen,  und  hier  insbesondere  auch  auf  die  Verschieden- 
heit aufmerksam  zu  machen,  welche  der  Bau  eines  alten  und  eines  mo- 
dernen Schiffes  erkennen  lüsst.  Er  untersucht  daher  zuerst  die  Aussenseilen 
des  Baues,  die  Länge  und  Breite,  weil  hier  gerade  jene  Differenz  ganz 
besonders  hervortritt,  er  bespricht  die  Anlage  des  Steuers,  er  geht  dann 
Ober  zu  der  Ausrüstung  eines  Schiffes  mit  Hasten  und  Segeln,  mit  Ankern 
und  Hypozomen  (wo  der  Verfasser  sogar  zeigt,  wie  selbst  noch  jetzt 
in  besondern  Fällen  ein  solches  Umgürten  der  Schiffe,  wie  es  mit  diesem 
Ausdrucke  bezeichnet  wird,  stattfindet  S.  28 — 33) ;  er  knüpft  daran  ei- 
nige Bemerkungen  über  die  Art  des  Segeins,  und  über  die  Schnelligkeit 
der  Fahrten  im  Alterthnm  ungeachtet  der  im  Ganzen  doch  nur  unvoll- 
kommnen  Ausstattung  mit  Segeln;  dann  kommt  (S.  36 ff.)  die  innere 
Einrichtung  des  Schiffes  für  die  Ruderer  zur  Sprache,  die  allerdings  manche 
Schwierigkeiten  bietet,  die  der  Verfasser  milteist  technischer  Kunde  und 
praktischer  Uebung  zu  lösen  versucht  hat,  da  die  in  alten  Schriftstellern 
darüber  enthaltenen  Notizen  so  weoig  wie  die  Bildwerke  ausreichen,  um 
genügenden  Aufschluss  Uber  Alles  zu  geben.    Und  doch  wird  für  den 
Alterthumsforscher  gerade  dieser,  die  Triremen  und  das  Kriegswesen 
betreffende  Punkt  mit  einer  der  wichtigsten,  wessbalb  die  hier  gegebenen, 
durch  bildliche  Darstellungen  (Abdrücken  von  Münzen)  erläuterten  Auf- 
schlüsse ganz  erwünscht  sind.    Die  Uebersetzung  ist  durchweg  reiu,  das 
Ganze  liest  sich  auch  im  deutschen  Gewände  recht  gut.   Eben  so  befrie- 
digend ist  die  äussere  Ausstattung. 

Chr.  Bühr. 


Green  oud  Longmans.  Hier  findet  sich  die  Abhandlung  über  die  Schifte  der  Al- 
len d.  140  -  202. 


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Nr.  53.  HEIDELBERGER  1851. 

JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR. 


Die  Kirche  in  ihren  Liedern  durch  alle  Jahrhunderte.  Von  Johann 
Friedrich  Heinrich  Schlosser.  Erster  Band.  Mit  etnetn 
radirten  Blatt  nach  Eduard  Steinte.  Mainz.  Verlag  von  Kirchheim 
und  Schott.  1851.  438  S.  in  gr.  8. 

Wenn  auch  die  gesammte  christliche  Kunst  aus  dem  Kultus  hervor- 
gegangen ist  und  fortwährend  dort  den  sichersten  Grund  und  die  höchste 
Weihe  eines  gedeihlichen  uud  würdigen  Lebens  zu  suchen  hat,  so  ist 
doch  Poesie  und  Gesang  die  älteste  und  allgemeinste  Begleiterin  des  ehrist- 
liehen  Kultus.  Ehe  noch  die  christlichen  Basiliken  sich  erhoben,  ehe  noch 
die  Malerei  und  Plastik  die  heilige  Geschichte  in  Bildern  darstellte,  er- 
tönten in  den  Versammlungen  der  Christen  Psalmen  und  Hymnen.  Welche 
Fülle  von  tiefen  Gedanken,  von  innigen  Empfindungen,  von  schöpferischer 
Phantasie  quillt  in  diesem  reichen  Strome  von  Liedern,  der  durch  so 
viele  Jahrhunderte  und  durch  so  viele  Völker  sich  bis  jetzt  ergossen  hat. 
Darunter  nehmen  für  uns  die  Hymnen  frühester  Jahrhunderte  der  abend- 
ländischen Kirche,  wie  der  Zeit  so  dem  Werthe  nach,  die  erste  Stelle  ein. 
Die  grossartige  Einfacheit,  die  Wahrheit  der  Empfindung,  der  dogmatische 
Vollgehalt  des  lateinischen  Kirchenliedes  werden  diese  ehrwürdigen  Denk- 
mäler des  christlichen  Altertbums  für  jeden  Bekenner  des  Christenthums, 
so  wio  für  jeden  unbefangenen  und  tiefer  eindringenden  Freund  der  Poesie 
und  Literatur  stets  als  einen  Gegenstand  des  höchsten  Interesse  darstellen. 
Der  grösste  Theil  jener  Hymnen  bildete  während  eines  Jahrtausend  und 
lunger  einen  Haupttheil  der  Liturgie  der  gesammten  abendländischen  Kirche; 
sie  ertönten  in  einträchtigem,  alle  Nationen  umfassenden  Chore  während 
einer  so  langen  Reihe  von  Jahrhunderten  in  den  Basiliken  und  Domen  der 
Christenheit,  ohne  jedoch  das  nationelle  Kirchenlied  in  den  Laudesspra- 
chen feindselig  auszuschliessen ,  wie  die  deutschen  Kirchenlieder  aus  der 
Zeit  vor  der  Kirchentrennung  beweisen  (s.  Hoff  mann  Geschichte  des 
deutschen  Kirchenliedes  bis  auf  Luthers  Zeit.  Breslau  1832).  Aber  auch 
nach  der  Kirchentrennung  wurden  lauge  Zeit  hindurch  noch  einzelne  je- 
ner lateinischen  Kirchengesänge  aus  dem  früher  gemeinsamen  Schatze  fort- 
während in  den  protestantischen  Kirchen  gesungen,  worüber  Daniel  an 
mehreren  Stellen  des  Thesaurus  hymnologicus  die  Nachweisungen  gibt  (Tom. 
n.  p.  60.  99.274.  295.);  andere  wurden  in  das  Deutsche  übersetzt  und 
gingen  in  dieser  Form  in  den  protestantischen  Kirchengesang  über.  In 
XLIY.  Jahrg.  6.  Doppelheft.  53 

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83»  Schlosser:  Die  Kirche  in  ihren  Liedern. 

* 

der  «Ken  Kirche  blieben  die  lateinischen  Hymnen  in  den  liturgischen  Bü- 
chern und  in  dem  Brevier  enthalten  in  fortwährenden  kirchlichen  Ge- 
brauch; doch  gerade  bei  uns  in  Deutschland  wurden  bei  dem  öffentlichen 
Gottesdienste  viele  derselben  durch  neue  Lieder  verdrängt,  so  wie  ja  auch 
die  alten  liturgischen  Kirchengebete  in  den  für  den  Gebrauch  der  Laien 
bestimmten  Gebetbüchern  fast  allgemein  neugemachten  Gebeten  dea  näch- 
sten besten  Verfassers  w  eichen  mussten.    Hätte  man  in  Deutschland,  wie 
sonst  in  allen  übrigen  Ländern  bei  den  Katholiken  geschieht,  den  Gebet- 
büchern fortwährend  zum  Inhalt  die  kirchliche  Liturgie  mit  eiuer  daneben 
stehenden  Uebersetzung  in  der  Landessprache  gegeben,  so  wäre  für  die 
Erbauung  besser  gesorgt  worden  und  die  durch  Alter  und  innern  Werth 
so  ausgezeichneten  Gebete  und  Gesänge  der  lateinischen  Liturgie  wären 
nicht  so  Vielen  entfremdet  worden.  Wenn  in  neuerer  Zeil,  wie  hinsicht- 
lich der  Architektur,  Malerei  und  Musik  eine  richtigere  Würdigung  der 
Kunst  der  christlichen  Vorzeit  und  des  Mittelalters  eingetreten  ist,  nun 
auch  immer  mehr  dasselbe  in  Beziehung  auf  das  alte  Kirchenlied  statt- 
findet, so  lässt  es  sich  nicht  läugnen,  dass  die  Katholiken  in  Deutschland, 
welche  doch  die  nächste  Veranlassung  und  Verpflichtung  halten,  jene  allen 
Schätze  zu  bewahren  und  zu  gemessen,  die  Anregung  zur  Rückkehr  auf 
den  bessern  Weg  zu  einem  nicht  geringen  Theile  ihren  protestantischen 
Mitchristen  verdanken,  und  dass  sich  hier  in  manchen  Kreisen  ein  lebhaf- 
teres Interesse  für  jene  kirchlichen  Denkmäler  zeigte,  als  unter  den  Mit- 
gliedern der  alten  Kirche,  so  wie  es  denn  eine  häufige  Erscheinung  ist, 
dass  man  den  eignen,  althergebrachten  Besitz  eines  Gutes  oft  nicht  zu 
schätzen  weiss,  bis  man  von  Andern  darauf  aufmerksam  gemacht  wird. 
Ram  b ach' s  Anthologie  christlicher  Gesänge  (Altona  1817)  und  Daniel"» 
Thesaurus  hymnologicus  (llalis  1841)  haben  in  dieser  Beziehung  ein  gros- 
ses Verdienst.  Einer  von  katholischer  Seile  ausgehenden  kleinen  Sammlung 
gleichen  Inhalts,  die  zum  Besten  der  studirenden  Jugend  von  K  e  h  r  e  i  n 
veranstaltet  wurde  (Lateinische  Anthologie  aus  den  christlichen  Dichtem 
dea  Mittelalters,  für  Gymnasien  und  Lyceen.  Frankfurt  1840),  wäre  darum 
in  ihrem  Kreise  mehr  Verbreitung  zu  wünschen  als  sie  gefunden  zu  he- 
ben  scheint.   Aber  freilich,  während  der  protestantische  Theologe  Daniel 
dieses  Unternehmen,  wodurch  die  Kenntniss  der  Kirchenhymnen  an  katho- 
lischen Gymnasien  befördert  werden  soll,  lobt  und  ihm  recht  herzlich  ei- 
nen guten  Erfolg  wünscht  (Tom.  I.  Praef.  p.  XXIII.) ,  weise  der  Schrei- 
ber dieser  Zeilen  aus  eigener  Erfahrung,  dass  ein  Versuch  für  denselben 
Zweck  an  den  katholischen  Gymnasien  unsers  badischen  Heimellandes  Et- 
was zu  thun,  bei  Einigen  unserer  aufgeklärten  Katholiken  auf  grosse  Hin- 


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Schlosser:  Die  Kirche  in  ihren  Liedern. 


833 


dernisse  stiess.  Wie  dem  nun  auch  sei,  es  steht  fest,  da»  das  altcbrist- 
licbe  Kirchenlied  ein  gemeinsames  Gut  aller  christlichen  Confessionen  ist; 
das»  es  einen  Theil  des  Bandes  ausmacht,  welches  die  wenn  auch  Ge- 
trennten noch  vereinigt;  dass  es  einen  gefriedeten  Raum  bildet,  in  wei- 
chem wohlgesinnte  und  friedlich  gesinnte  Muuuer  beider  Theile  sich  die 
Hand  reichen  können. 

Von  solchen  Grundsätzen  ausgehend  würden  wir  das  Erscheinen  des 
vorliegenden  Werkes,  welches  das  katholische  Kirchenlied  durch  alle  Jahr- 
hunderte in  seinen  schönsten  Erzeugnissen  umfasst,  mit  reiner  und  voller 
Freude  begrüben,  wenn  nicht  die  Trauer  Uber  das  Hinscheiden  des  treu- 
lichen Verfassers  mit  diesem  Gefühle  der  Freude  sich  vereinigte.  Wenn 
irgead  Jemand  in  Deutschland,  so  war  vorzugsweise  Friedrich  Schlos- 
ser befähigt  und  berufen  zu  einem  solchen  Unternehmen.  Inniges  und 
tiefes  Gefühl  christlicher  Frömmigkeit,  Verständuiss  und  Liebe  des  Geistes 
der  katholischen  Kirche  und  ihrer  Einrichtungen,  eine  gediegen  allgemein 
wissenschaftliche  Bildung  und  geuug  lueologiKhe  Kenntnisse,  um  des  Sinn 
des  Kirchenliedes  richtig:  aufzufassen  und  in  dem  besten  Ausdrucke  wie- 
der zu  gehen,  ein  nicht  gewöhnliches  poetisches  Talent,  eine  seltne  Ge- 
wandtheit in  der  Sprache  und  im  Versbau,  ein  reiner  und  sicherer  Ge- 
schmack, —  diese  Eigenschaften  werden  sich  nicht  leicht  in  dem  Maasse 
mit  einander  vereinigt  finden,  wie  sie  in  Schlosser  vereinigt  waren.  Ge-r 
ride  diese  Eigenschaften  zusammen  sind  aber  nuth wendig,  um  aus  dem 
reichen  Schatze  des  katholischen  Kirchenliedes  das  ßeste  auszuwählen  und 
in  der  besten  Form  wiederzugeben.  Dazu  kam  nun  noch  bei  diesem  Unter- 
nehmen Schlosse r"s  der  unermüdliche  gelehrte  Fleise  und  die  Reife 
der  Zeit.  Wie  wir  aue  dem  Vorworte  erfahren,  welches  dem  Vernehmen 
Dach  von  einem  hochwttrdigen  Mitglied*  des  Seeyrer  DomcapUel»  herrührt 
oad  das  Werk  auf  eine  würdige  Weise  einführt,  so  geht  die  älteste  Ue- 
bertragung  dieser  Sammlung,  die  Ue bei  trug ung  des  Stabat  mater  in  das 
Jiar  1802  zurück,  wo  der  damals  noch  jugendliohe  Verlasser  an  der 
Ittvereiftat  Jene  den  Stadien  oblag.  Wie  dieses  Stück  wiederholt  über* 
arbeitet  wurde,  so  findet  sieh  auch  unter  den  übrigen  Stacken  kaum  ei- 
nes,  welches  von  dem  Verfasser  nicht  wiederholt  verbessert  und  durch- 
gesehen worden  wäre.  Seine  letzten  Arbeiten  auf  diesem  Gebiete  reichen 
**  in  die  jüngsten  Jahre  herab.  So  begleiteten  diese  hohem  Harfentöne 
den  trefflichen  Mann  fast  ein  halbes  Jahrhundert  lang  durch  das  Leben, 
nnd  was  er  davon  mit  Liebe,  Verständuiss  und  Kunstfertigkeit  auffasste 
»od  wiedergab,  bildet  in  religiöser,  kirchlicher  und  literarischer  Beziehung 
einen  bleibenden,  reichen  und  reinen  Schatz  der  Erbauung,  Belehrung» 

53* 


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834 


Schlosser!  Die  Kirche  in  ihren  Liedern. 


des  Genusses  für  Andere  und  dai  schönste  Denkmal  für  den  Dahinge- 


Der  vorliegende  erste  Band  des  Werkes  begreift  die  Inte 
Kirchenlieder  von  der  frühesten  Zeit  an  bis  in  das  XVII.  Jahrhundert, 
Torzugsweise  solche,  welche  in  den  liturgischen  Büchern  und  in  dem  Bre- 
vier enthalten  sind,  aber  auch  andere;  das  Ganze  ist  in  fünf  Bücher  ein- 
geteilt. Das  I.  Buch  enthalt  Lieder  aus  den  sechs  ersten  Jahrhunderten, 
von  Hilarius,  Ambrosius,  Augustinus,  Prudentius  u.  A.  Das  zweit«  Bach 
begreift  die  folgenden  Jahrhunderte  bis  zu  dem  elften;  das  dritte  Bach 
das  zwölfte  und  dreizehnte;  das  vierte  Buch  das  fünfzehnte;  das  fünfte 
Bnch  das  sechzehnte  und  siebenzehnte  Jahrhundert.  Anf  die  Uebers 
dieser  Lieder  folgt  als  Anhang  die  Uebersetzung  der  doxologischen 
verse  der  im  römischen  Brevier  enthaltenen  Hymnen.  Die  nacl 
Anbange  gegebenen  Noten  enthalten  die  Angabe  der  Quellen,  wo  der 
lateinische  Text  der  Hymnen  zu  finden  ist,  Hinweisungen  auf  die  Samm- 
lungen von  Hombach  und  Daniel  und  andere  literarhistorische  Nachwei- 
sungen. Den  Schluss  des  Ganzen  bilden  drei  genaue  Register:  1)  In- 
haltsverzeichnis der  deutschen  Uebersetzung,  2)  Verzeichnis  der  lateini- 
schen hier  übersetzten  Lieder  nach  den  Anfangsworten  alphabetisch  ge- 
ordnet, 3)  Verzeichniss  der  Hymnen,  zu  welchen  die  doxologischen  Schluss* 
verse  gehören,  gleichfalls  nach  den  Anfangsworten. 

Die  Uebersetzung  der  ältesten  Hymnen  (vom  IV.  bis  VL 
dert)  gibt  ganz  jene  ruhige  einfache,  aber  in  dieser  ihrer  Einfachheit 
so  wirkungsvolle  Weise  wieder,  welche  wir  in  jenen  herrlichen  Liedern 
auf  die  verschiedenen  Tagszeiten,  auf  die  Feste  und  zur  Verherrlichung 
der  Märtyrer  finden.  Die  rhythmische  Form  ist  treu  nachgebildet,  nur  im 
G g b r 3 u c Li c  des  Reimes  ^  der  in  (Jen  0 r i ^ i n o  1  c o  Dieb \  immer  regelmässig  c i o 
halten  ist,  wird  die  durch  unser  Gefühl  im  Deutschen  verlangte  bessere  Regel- 
mässigkeit angewendet.  Es  ist  keine  leichte  Aufgabe,  die  prägnante  Kürze 
der  lateinischen  Verse  einigermassen  im  Deutschen  ohne  fremdartige  Hirte 
wiederzugeben:  der  Verfasser  bat  dieses  mit  grosser  Virtuosität  erreicht; 
fast  ein  jedes  Stück  dieses  ersten  Buches  könnte  als  Beispiel  dafür  an- 
geführt werden.  Von  gleichem  Charakter  sind  auch  noch  viele  Hymnen 
des  zweiten  Buches.  Als  Probe  der  Behandlung  des  Verfassers  mag  hier 
seine  Uebersetzung  des  berühmten  und  vielgesungenen  Pfiugsthymnus  ste- 
hen, mit  dem  Original  zur  Seite,  welches  man  Karl  dem  Grossen  zuschreibt : 

Komm,  Schöpfer  Geist,  kehr'  in  uns  ein.  Veni ,  creator  Spiritus , 

Der  Deinen  Herzen  harren  dein:  Meotes  tuorum  visita, 

Füll'  an  mit  lichter  Gnaden  Strahl  Imple  supernä  gratia 

Die  Seelen,  die  du  schufst,  zumal.  Quae  tu  cre&sii  pectora. 


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Schlosser:  Die  Kirche  in  ihren  Liedern. 


Dich  preisen  wir,  o  Tröster  Werth, 
Dich,  den  ans  Gottes  Huld  bescheert, 
Lebend' ger  Born,  Feu'r,  Liebe,  dich, 
Und  Geistes  Salbung  krafiiglich. 

« 

Du  siebenfält'ger  Gaben  Pfand 
Da  Finger  an  des  Vaters  Hand, 
Von  Gott  verbeiss'ner  Gnadenhort, 
Da  schenkst  der  Zunge  Flammenwort. 


Sinn'  erleucht  mit  lichtem  Schein, 
Geass  Lieb'  in  unsre  Herzen  ein: 
Wann  unser  müder  Leib  erschlafft, 
Stark'  uns  mit  deiner  ew'gen  Krad. 

Des  Feindes  Grimm  scheuch  von  uns  weit, 
Und  schenk'  ans  Fried'  in  aller  Zeit: 
0  leit*  uns  stets  auf  rechtem  Pfad, 
0  schätz  uns,  wann  Gefahr  uns  naht. 

* 

Den  Vater  auf  dem  ew'gen  Thron 
Lehr  uns  erkennen,  und  den  Sohn: 
Geist,  der  aus  beiden  strömt,  an  dich 
Glaub'  unser  Herz  beständiglich. 


Preis  sei  dem  Vater  unserm  Gott, 
Dem  Sieger  auch  von  Grab  und  Tod, 
Dem  Sohn,  und  ihm,  der  Trost  verleiht, 
Dem  hcilgon  Geist,  in  Ewigkeit 


Qui  Paracletos  diceris, 
Donum  Dei  altissimi, 
Fons  vivus,  ignis, 
Et  spiritalis  unctio. 

To  septiformis  tnunere, 
Dextrae  Dei  lu  digitus, 
Tu  rite  promissam  Patris, 
Sermone  ditaos  gnltura. 


Accende  lumen  ^».u», 
Infunde  amorem  cordibus, 
In  firm a  nostri  corporis 
Virtute  firmans  perpeti. 

Hostem  repellas  longiüs, 
Pacemque  dones  protinüs ; 
Ductore  sie  te  praevio, 
Yitemus  omne  noxium. 

Per  te  sciamus  da  Patrem, 
Noscamus  atque  Filium; 
Te  utriusque  Spiritum 
Credamus  omni  tempore. 

Sit  laus  Patri,  laus  Ftlio, 
Par  sit  tibi  laus,  Spiritus. 
Aftlante  quo  mentes  sacris 
Lucent  et  ardent  ignibus. 


Eine  reichere  Entfaltung  in  Gedanken,  im  Ausdruck  und  im  Reim 
zeigen  die  Kirchenlieder  des  zwölften  und  dreizehnten  Jahrhunderts,  und 
eben  dadurch  für  den  Uebersetzer  entsprechende  Schwierigkeiten.  Unter 
der  Auswahl  ans  dieser  Zeit  stehen  in  dem  dritten  Boche  die  Lieder  des 

■ 

heiligen  Thomas  von  Aquin  voran,  und  es  gehören  ferner  hierher  jene 
am  allgemeinsten  und  auch  ausser  den  kirchlichen  Kreisen  berühmten  zwei 
Sequenzen:  Slab.it  mater  dolorosa  und  Dies  irae,  dies  i IIa.  Um  auch  von 
dieser  Gattung  und  von  der  Virtuosität  des  Verfassers  im  Ueberwinden 
dieser  Schwierigkeiten  eine  Probe  zu  geben,  mag  vergönnt  sein,  von 
dem  jetzt  noch  fortwährend  in  den  katholischen  Kirchen  ertönenden  Ge- 
lange: Pauge  lingua  des  Thomas  von  Aquin,  die  erste  Strophe  nebst 
den  zwei  letzten  Strophen  hier  beizusetzen: 


Künd',  o  Zunge,  des  verklärten 
Frohnleichnams  Mysterium, 
Und  des  Bluts,  des  hoch lc wahrten 
Das  zur  Wellentsöodigung 
Gab  die  Fracht  des  unversehrten 
i,  der  Völker  Heil  und  Ruhm. 


Fange,  lingua  gloriosi 
Corporis  mysterium , 
Sanguinisque  pretiosi, 
Quem  in  mundi  pretium 
Frnctus  ventris  generosi 
Rex  eftundit  gentium. 


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838  Schlosser;  D16  Kirche  m  ihren  Liedern. 

Solch  erhabnes  Bundeszeichen  Tantum  erge  Sacr 

Beten  wir  mit  Ehrfurcht  an:  Veneremur  cermii, 

Und  der  alte  Brauch  muss  weichen,  Et  antiquum  docum 

Da  der  neue  Brauch  begann,  Pimo  cedat  ritui: 

Wo  die  Sinne  zagend  schweigen,  Praestet  Ii  de»  supp 

Steigt  der  Glaube  himmelan.  Sensuum  defectui. 

Preia  dem  Vater  und  dem  Sohne,  Genitori,  genitoque 

Preis  and  ateter  Jubelsang:  Lau  et  jubiiatio; 

Heil  und  Ehre  schall'  zum  Throne,  Salus,  honor,  virtus 

Lob  und  Segens  -  Wonncklnng :  Sit  et  benedictio; 

Auch  den  Geist  in  gleichem  Tone  Procedenti  ab  utroque 

Singe  unser  Hochgesang.       Amen.  Compar  sit  laudatio. 

Der  hier  gegebenen  Uebersetzung  des  Dies  irae  liegt  die  Schlegel- 
sche  Uebersetzung  uim  Gruode,  welche  demnach  dem  Verfasser  unter  den 
acht  und  fünfzig  deutschen  Ueberselzungen,  welche  Lisko  (Dies  irae,  Hym- 
nus auf  das  Weltgericht,  herausgegeben  von  Lisko.  Berlin  1840)  und 
Daniel  (T.  II.  p.  128)  aufzählen,  als  die  beste  erschien.  Von  dem  Sta- 
bat  mater  gibt  er  eine  eigene  und  neue  Uebersetzung,  welche  sich  aa 
die  besten  unter  den  von  Lisko  (Stabat  mater,  Hymnus  auf  die  Schmer- 
zen der  Maria.  Berlin  1843)  aufgezählten  drei  und  achtzig  Ueberselzon- 
gen  würdig  anreiht.  Wir  besorgten  eine  zu  grosse  Ausdehnung  unserer 
Anzeige,  wenn  wir  als  Probe,  mit  welchem  Glücke  die  Schwierig- 
keiten der  häutigen  Doppelreime  innerhalb  der  Zeilen  in  diesem  durch 
seinen  Inhalt  und  Ausdruck  mit  Recht  bewunderten  Stücke  überwunden 
sind,  die  Uebcrsetzung  dieses  oder  andrer  ähnlicher  Hymnen  hier  mittheil- 
ten. Eine  andere  Klasse  der  metrischen  Form  nach  bilden  diejenigen 
kirchlichen  lateinischen  Hymnen,  welche  ohne  Reim  in  antiken  Versmaas- 
sen  (meistens  dem  sapphiseben  und  asklepiadeiscben)  abgefasst  sind.  Der 
Verfasser  hat  es  für  angemessen  gehalten,  sie  in  jambische  gereimte  Strophen 
Ton  gleich  viel  Versen  umzugestalten.  Aber  auch  in  dieser  Umgestaltung 
finden  wir  dieselbe  Wahrheit  und  Treue  der  Auffassung,  Schönheit  des 
Ausdruck?  und  dieselbe  Kunstfertigkeit  der  Ausführung. 

Auf  dem  Umschlage  des  schön  ausgestatteten  Buches,  dessen  Titel 
ein  nach  einer  trefflichen  Zeichnung  Steinlc's  von  Bucher  radirtes 
Bild  (David  die  Harfe  spielend)  ziert,  wird  die  Notiz  mitgetheilt,  dass 
dem  zweiten  Bande  ein  Charakterbild  des  Verfassers  von  Herrn  Geistlichen 
Rath  Beda  Weber  zu  Frankfurt  und  ein  Portrait  des  Verfassers  nach 
einem  Gemälde  des  Herrn  von  Strahlendorf,  radirt  von  Bucher, 
beigefügt  werden  wird. 

So  hat  die  treue  und  liebende  Hand,  welche  das  Werk  veröffent- 
lichen liess,  nicht  blos  dem  theuern  Hingeschiedenen  das  würdigste  und 
dauerndste  Denkmal  gegründet,  sondern  sich  auch  zugleich  ein  grosses 


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837 


Verdienst  om  die  bessere  Kenntniss  und  Verbreitung  des  Kirchenliedes 
und  der  christlichen  Poesie  erworben.  Denn  wer  fortsn  in  diese  geweihten 
Räume  eingeführt  werden  will,  kann  keinen  treuem  und  bessern  Führer 
finden,  als  dieses  Werk  ist.  Bell. 

1.  Achtzehnte  Publikation  des  literarischen  Vereins  in  Stuttgart.  (Fünfter 
Jahrgang,  erste  Publikation)  enthaltend:  Konrads  ron  Weinsberg> 
des  Reichserbkämmerers  Einnahmen-  und  Ausgabenregister,  her- 
ausgegeben ton  J.  Albrecht.  Tübingen  1850.  VIII  u.  95  S.  8. 

IL  Neunzehnte  Publikation  des  literarischen  Vereins  in  Stuttgart.  (Fünfter 
Jahrgang,  zweite  Publikation)  enthaltend:  Das  habsburg-österrei- 
chische  Urbarbuch,  herausgegeben  ton  Dr.  Franz  Pfeiffer. 
Tübingen  1850.  XXVIII  u.  404  S.  8. 

Es  kann  bei  der  Anzeige  voranstehender  Veröffentlichungen  des  Ref. 
Absicht  nicht  sein ,  über  das  wissenschaftliche  Unternehmen,  von  welchem 
sie  einen  Theil  bilden,  sieb  überhaupt  zu  verbreiten,  er  setzt  dasselbe  als 
bekannt  und  durch  das  Bedürfniss  hinlänglich  gerechtfertigt  voraus.  Was 
hinsichtlich  der  urkundlichen  Forschung  Schwabens  Mone's  „Zeitschrift 
für  die  Geschichte  des  Oberrheins"  ist,  das  sollen  für  alle  Zweige  des 
Wissens  diese  Veröffentlichungen  der  Hinterlassenschaft  früherer  Jahrhun- 
derte durch  den  Stuttgarter  Verein  mittelst  der  wissenschaftlichen  und 
öcODomischen  Betheiligung  seiner  Mitglieder  bewirken. 

Die  vorliegenden  Hefte  der  Sammlung  wurden  vom  Ref.  zur  An- 
zeige gewühlt,  weil  sie  einen  wesentlichen  Beitrag  nicht  bloss  zur  sprach- 
lichen Forschung,  sondern  auch  ebenso  zur  äussern,  als  Sittengeschichte 
SQddeutschlands  darbieten. 

Das  letztere  ist  denn  vorzüglich  bei'm  erst  genannten  Werke  der 
Fall,  dessen  Heransgeber,  der  F.  Hohenlotfsche  Archivar  Albrecbt,  den 
Lesern  dieser  Jahrbücher  als  Verfasser  der  Münzgeschiohte  des  genannten 
Fürstenhauses  ehrenvoll  bekannt  ist  Die  vor  uns  liegende  Arbeit  ist  nun 
zwar  weder  von  dem  Umfange  noch  der  Anstrengung,  wie  die  so  eben 
erwähnte,  da  dem  diplomatisch  treuen  Abdrucke  seiner  Handschrift  der 
Verfasser  nur  kurze  Bemerkungen  theils  sprachlichen,  theils  sachlichen 
Inhalts  beizufügen  hatte,  um  das  VerstBndniss  des  Textes  zu  erleichtern-, 
deonoch  aber  ist  sie  keineswegs  von  geringerm  Verdienste,  denn  sie  gibt 
nicht  nur  zu  mannigfach  anregenden  Vergleicbungen  mit  der  Gegenwart 
Veranlassung,  sondern  verschafft  uns  Uberhaupt  die  lebendigste  Anschauung 
der  damaligen  Lebensverhältnisse,  des  Geldwerths,  der  Preise,  Ziusverbältnisse 


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$98  Publikationen  des  literarischen  Vereins. 

u .  s.  f.  |  deren  Ergebnisse  u.  A.  in  der  Einleitung  (S.  VI  —  V ITH  über- 
sichtlich dargestellt  sind.  Aber  auch  zu  einer  grossartigern  Auffassung 
jener  Zeit  und  ihrer  Verhältnisse  ßndet  man  in  der  Aufzahlung  des  Lehens- 
and Dienstadels  des  Reichserbkümmerers,  in  der  Aufzählung  seiner  diplo- 
matischen Reisen  für  den  Kaiser  sowohl,  als  die  rheinischen  und  fränki- 
sehen  Bischöfe  reichlichen  Stoff. 

Ref.  kann  dieses  natürlicherweise  nur  andeuten  und  muss  den  Leser 
auf  die  Schrift  selbst  verweisen.  Doch  in  einem  Punkte  kann  er  sich  nicht 
enthalten,  eine  Parallele  zu  ziehen.  Bekanntlich  wurde  der  Entdeckung 
von  Amerika  stets  ein  starkes  und  plötzliches  Sinken  des  Geldwertes, 
folgerichtig  also  eine  Preiserhöhung  aller  Bedürfnisse  zugeschrieben.  Ref. 
bat  nun  gerade  in  diesem  Ausgabcnbuche  die  bemerkenswerte  Erschei- 
nung gefunden,  dass  im  Jahre  1437  Conrad  von  Weiusberg  unter  ähn- 
lichen Verhältnissen  fast  eben  so  grosse  Aufgaben  machen  musste,  als  m 
Ende  jenes  Jahrhunderts  Graf  Wolfgang  von  FUrstenberg,  geh.  Rath  Kai- 
ser Maximilians  und  Begleiter  Philipp  des  Schönen  nach  Spanien,  auf  seine 
Hofhaltung  und  Bedürfnisse  verwendete.  Diess  .dem  Leser  anschaulich  zu 
machen,  stellt  Ref.  einen  Jahrgang  der  Einnahmen  und  Ausgaben  beider 
Herrn  nebeneinander. 

Conrad  v.  Weiusberg  nimmt  nach  der  Specifikation  in  S.  6 
bis  28  der  angez.  Schrift  im  Jahre  1437  ans  den  Anlehen  vom  Abte 
von  Schönthnl,  von  Berngar  von  Berlichingen,  vom  Bischöfe  von  Passau, 
von  Caspar  von  Schlatt,  Gerhard  von  Thalheim,  Hans  von  Gemmingen, 
ferner  aus  dem  Erlös  von  verkauftem  Vieh,  aus  der  Judensteuer,  aus  zu- 
rückbezahlten  Vorschüssen  im  Ganzen  die  Summe  von  8247  '/2  Gulden  ein. 
Seine  Ausgabe  dagegen  für  Haushaltung,  Löhne,  Kleider,  Waffen,  Schmuck, 
Reisen,  Zinse  belauft  sich  auf  8714  Gulden. 

Vergleichen  wir  damit  eine  Stelle  aus  dem  s.  g.  Kinzigthaler  Lagerbuch, 
geführt  von  Michael  Speiser,  Sekretär  des  Grafen  Wolfgang  von  FUrsten- 
berg, Handschrift  des  FF.  Archivcs  zu  Donaueschingen. 

:  Hier  ßnden  wir  folgende  Darstellung  der  öconomisoben  Verhaltnisse 
des  Grafen  vom  Jahre  1500. 

Dieser  Herr  hatte  in  der  Abtheilung  mit  seinen  Vettern  1498  die 
Herrschaften  im  Kinzigthale  —  einen  grossen  Theil  der  Grossh.  Bez.  Aera- 
ter  Wolfach  und  Haslach,  die  Hälfte  des  Prechthals  und  das  Amt  Neustadt 
auf  dem  Schwarzwalde  erhalten,  und  zwar  mit  den  darauf  lastenden  Schul- 
den, deren  Zinse  und  Gülten  jährlich  929  Gulden  betrugen.  Das  Einkommen 
derselben  bestund  in  directen  Abgaben,  Zoll,  Zins,  Fischwasser  vom  Kinziglbal 
1050  Golden;  vom  Prechthal  circa  54  Gulden  und  250  Pf. Fische,  von  Neustadt 


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Publikationen  des  literarischen  Vereins.  839 

circa  300  Gulden.  Hierunter  war  nicht  inbegriffen  der  Ertrag  der  Wälder,  des 
Wildes,  der  Viehzucht,  der  selbst  gebauten  Schlossgüter,  die  Sterbfälle,  die  bei 
der  damals  noch  bestehenden  Drittelspflichtigkeil  zu  einer  beträchtlichen  Summe 
ansteigen,  aber  in  manchen  Jahren  auch  ganz  ausbleiben  konnten.  Diese  sammt 
den  Frohnden,  welche  meist  in  Frohnholzabgabe  für  die  Schlösser  umgewandelt 
waren,  dienten  zur  Bestreitung  der  Haushaltung  und  Besoldung  der  Beamten,  die 
grösstenteils  in  Naturalien  verabfolgt  wurde.  Dieselbe  zu  1000  Gulden  ange- 
schlagen, beträgt  dieGesammteinnahme  der  Herrschaft  höchstens  5000  Guides. 

Dagegen  beliefen  sich  die  ßaarauslagen,  meistens  aus  Aulehen  ge- 
schöpft, weil  sie  theils  zur  Erwerbung  von  Grundstock  vermögen  dienten, 
theils  als  Vorschüsse  an  den  Kaiser  anzusehen  sind,  im  genannten  Jahre 
auf  6720  Gulden,  die  auf  folgende  Posten  vcrtheilt  sind,  mit  beigefügter 
Verwendung:  140  fl.  vom  Abt  zu  Alpirsbach  „zum  ersten  ritt  zum  Kö- 
nig und  enoz  mer  (itcr  transmarinum  uach  Spanien):  310  von  OiTenburg 
„Sollich  gelt  fuort  min  her  an  k.  ho f  in  der  mainung  mit  K.  N.  gen  wien 
zu  ziehen  und  mer  dazu";  1000  fl.  von  Erhard  wurmser  in  Strasburg, 
wovon  600  11.  an  seinen  Sohn,  Graf  Wilhelm  nach  Augsburg  verausgabt, 
200  fl.  für  einen  Wechsel  von  ebendaher,  200  11  an  Gangolf  von  Ge- 
roldseck zur  Ablösung  des  Pfandrechts  an  erkauften  Grundbesitz;  1000  fl. 
von  Spilmauu  in  Breisach  gegen  Unterpfand  von  Prechthal,  Lenzkircb, 
Neustadt  „Ist  von  Min  herrn  Graf  Wolfgong  an  Spilgelt  von  Mins  herrn 
Graf  Heinrich  sei.  versprochen  zu  bezahlen.  (Also  ein  Quasikauf  der  ge- 
nannten schwarzwälderischen  Herrschaften  von  einem  kinderlosen  Grosso- 
heim}; von  Strasburg  600  fl.  für  „Lunsen  tuoch,  goldsebmid  und  ander 
Rüstung  auf  den  Ritt  zum  jungen  Prinzen  nach  Niederlande  verwendet; 
300  fl.  von  OiTenburg  „Uf  den  Prinzeuntt  gen  Brabant«;  300  fl.  zu 
lospruck  entlehnt;  mehr  auf  den  Ritt  nach  Geldern  zum  Prinzen  200  fl. 
für  eine  goldene  Kette,  die  bis  Mai  ohne  Zinsen  in  natura  erstattet  wer- 
den kann;  780  fl.  zum  Baue  des  Schlosses  in  Wolfach;  1000  fl.  „da 
Graf  Wilhelm  die  von  Vay  nahm  und  min  her  gen  Museiburg  und  Ellin— 
court  ritt  und  fürter  in  die  Niederlanden  zum  Köuig  von  Kastilien  zum 
Zug  gen  Hispanien;u  weitere  700  fl.  auf  die  3  Städte,  wahrscheinlich 
zu  gleichem  Zwecke;  1000  fl.,  wovon  800  fl.  zum  Kauf  der  v.  Recken- 
bach'scnen  Güter  im  Kinzigthal  und  200  fl.  „In  ein  seckel  zum  Landtag 
gen  Ensisheim".  Rechnet  man  also  die  2580  fl.  für  Gülererwerb  und  Bau- 
ten von  obiger  Summe  ab,  —  so  bleibt  die  Ausgaben- Summe  4140  fl., 
welche  die  Einnahme  um  einige  hundert  Gulden  übersteigt. 

Das  Voranstehende  mag  zur  Bestätigung  unserer  eben  ausgespro- 
chenen Ansicht  genügen;  die  Vergleichung  mit  der  von  Herrn  Albrecht 


840 


Publikationen  des  literarischen  Vereins. 


herausgegebenen  Schrift  wird  aber  auch  auf  den  ersten  Blick  zeigen,  am 
wie  viel  genauer  und  sicherer  die  Angaben  Conrads  von  Weinsberg  sind, 
und  so  das  Dankenswerte  des  Herausgebers  noch  mehr  herausstellen. 

Das  zweite  Werk,  das  Habsburgisch  Oesterreichische  Urbar  ist 
nach  einer  andern  Richtung  hin  höchst  anziehend.    Es  enthält  nemlich 
nicht  nur  für  die  Topographie  des  jetzt  französischen,  schweizerischen 
oder  schwäbischen  Theil  Alemanniens  bedeutende  Aufschlüsse,  sondern  bie- 
tet ingleich  einen  äusserst  belehrenden  reherblick  Ober  das  Habsburgische 
Hausgut  zu  einer  Zeit,  da  dieses  Geschlecht  schon  nach  einem  grossen 
Theile  Deutschlands  seine  Hand  begehrlich  ausstreckte.    Dieses  materielle 
Interesse  gewinnt  aber  noch  bedeutender  durch  den  Umstand,  dass  nicht 
nur  die  Guter  selbst,  sondern  gar  hanfig  die  Art  ihrer  Erwerbung,  die 
Erhebungsweise  der  Zinse,  die  Auflage  von  Steuern,  die  Gewobnheits- 
Rechte  angemerkt  sind,  wodurch  sich  das  Urbar  an  manchen  Stellen  zum 
Range  eines  Weisthums  erhebt.    Ueber  die  Art  der  Herausgabe  dieses 
wirklich  kostbaren  Schatzes  «rollen  wir  uns  nicht  mit  der  Nachricht  be- 
gnügen, dass  Herrn  Pfeiffer  die  grosse  goldene  Medaille  des  Kaiserreiches 
zu  Theil  geworden  sei,  sondern  wir  glauben  in  unserer  Anzeige  nach- 
weisen zu  können,  dass  diese  Auszeichnung  die  Anerkennung  eines  wirk- 
lichen grossen  Verdienstes  um  sprachliche  und  historische  Kenntniss  gewesen 
sei.    Die  Vorrede  (S.  I  —  XXV)  ist  umfangreich :  sie  ist  fast  eine  ei- 
gene selbstständige  Arbeit,  die  Geschichte  des  herausgegebenen  Schrift- 
Werkes.    Wir  lernen  deraus  (S.  VIII),  dass  schon  Rudolf  von  Habsburg, 
der  eben  so  umsichtige  Gutsbesitzer  als  kräftige  Kaiser,  den  Plan  der 
Abfassung  des  Urbars  fasste  und  es  durch  seinen  Protonotar  Burkbart  von 
Frikke  meist  an  Ort  und  Stelle  aufnehmen  lies».    Es  ist  dabei  vom  Herrn 
Herausgeber  mit  Recht  auf  die  wahrhaft  königliche  Weise  aufmerksam 
gemacht  worden ,  in  welcher  König  Rudolph  nicht  nur  einen  Mann  mit 
dieser  Arbeit  betrauen  konnte,  dessen  Freisinnigkeit  er  kennen  musste, 
sondern  auch  dessen  Bemerkungen  über  den  unerschwinglichen  Steuer- 
druck, die  Härte  der  Vögte  und  andere  üble  Gewohnheiten  derselben  — 
Dinge,  die  später  der  Abgrund  wurden,  in  welchem  das  ursprüngliche 
Habsburgische  Hausgut  verschlungen  wurde  —  hinnahm  und  der  Nachwelt 
erhielt.    Wir  fügen  zum  Belege  nur  einige  Stellen  an:  S.  172  beisst  es 
z.  B. :  „Die  burger  von  Zur*«?  falttt  von  alter  gewonheit  nicht  mer' geben 
ze  stiure  jerlichs  danne  X  marc  Silbers.    Sit  aber  diu  heuchaft  begonde 
koufen  lant  unde  liut,  sö  hant  si  als  ander  der  henchaft  statte  jeriieh 
m€r  gestiuret  denne  X  murc  wan  si  haut  geben  in  etswie  wenigen  jaren, 
Wie  swere  es  in  lag,  je  des  jares  XXl/2  marc.tt  S.  210  von  dem  Kelu- 


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Publikationen  des  literarischen  Vereins. 


841 


hof  zn  Wisnang :  „Er  hat  oach  gegeben  Ij  pfunt  eines  jöres  and  beschach 
das  nie  me>,  nnde  mag  onch  nihl  wol  mßr  besehenen  von  der  linte  tr- 
moot.a  S.  208:  „Ze  Weinowe  Kl  ein  hof,  ....  so  den  die  herschaft 
rihfet  als  si  in  rihten  sol  von  alter  gewonheit,  so  sol  der  bof  gelten  ze 

zinse  WCC  Kese  elc  „Die  hersebaft  sol  aber  den  hof  rihten  alsö.  Sie 

sol  geben  uf  den  hof  XXX  nutzber  Küe  HI  pfarren  etc. . .  unde  wen  die 
herachaft  den  hof  vor  mengen  Ziiten  alsd  nit  gerihtet  hat,  do  beleih 
der  hof  wfleste  und  ane  allen  nutz  der  herschaft.  Dö  das  der  vogt  ersacB, 
dö  twang  er  liute  dar  ftf  unde  kam  mit  den  überein,  das  si,  alle  die  wllo 
so  der  hof  nit  berihtet  we>e  als  da"  vorgeschrieben  stAt  von  jdem  hove 
geben  sollten  jerlichs  XVHI  müt  kernen  VI  maller  habern  Wintertorer  m£s 
unde  XXX  Schill,  den."  —  Beispiele,  die  sich  fast  auf  jedem  Bogen  des 
Werkes  wiederholen,  und  über  die  wir  ganz  wie  der  Herausgeber  or- 
theilen:  „Sie  gereichen  dem  Fürsten,  der  die  Wahrheit  hören  nnd  dem 
Diener,  der  sie  sogen  mochte,  gleich  sehr  zur  Ehre.44  —  Doch  geschah 
die  eigentliche  Abfassung  des  Burkharlischen  Urbars,  wie  S.  IX  nach- 
gewiesen ist,  erst  von  1303 — 1311  nnter  König  Albrecht  und  dessen  Söh- 
nen. —  Ob  derselbe  auch  die  obersehwöbischen  Aemter  selbst  aufgenom- 
men, ist  S.  X  als  zweifelhaft  dargestellt.  Jedenfalls  kann  es  der  Fall 
nicht  sein  bei  LV  „Diu  Rehlunge  ze  Tengen",  die  nach  der  Bemerkung 
des  Herrn  Herausgebers  von  einer  Hand  des  XV.  oder  XVI.  Jahrhan- 

• 

derts  nachgetragen  ist.  Diese  Herrschaft  Thengen  kam,  wenn  wir  der 
seitherige!!  Kunde  der  badischen  Topographien  glauben  wollten,  erst 
1522  durch  Verkaufshandlnng  der  Dynasten  von  Thengen,  die  zugleich 
Grafen  von  Nellenbnrg  waren ,  an  Carl  V.  oder  dessen  Bruder  Ferdi- 
nand von  Oesterreich.  —  Dies  ist  nun  (Seite  236  des  Urbars)  durch 
die  bestimmte  Angahe  wiederlegt:  „Dis  sind  die  nutze  unde  reht  die 
din  herschaft  hftt  zuo  Tengen  an  liuten  und  an  guote,  die  konfet  sind 
umbe  herrn  Albrcht  von  Klingenberg  die  derselbe  her  Albreht 
konfte  von  junkherren  He  inrichen  von  Tenffen.w  Nun  findet  Ref. 
von  dem  zahlreichen  Geschlechte  von  Klingenberg,  welches  im  Hegau, 
a  A.  schon  Hohentwiel  besoss,  in  seinen  Auszügen  nur  einen  Albert, 
der  hicher  passen  könnte,  den  nemlichen,  der  1465  mit  seinen  Brüdern 
Caspar,  Heinrich,  Wolfgang,  deu  Mitbesitzern  von  Hohentwiel,  den  28.  Jön- 
ner  zn  Biberach  durch  Herzog  Sigismund  gegen  die  Grafen  v.  Würtem- 
berg  und  Werdenberg  und  die  Ritterschaft  voti  St.  Georgenschild  vertra- 
gen wurde.  (Lichnowsky  R.  VII  960.)  Da  derselbe  anch  das  Oeffnungs- 
Recht  auf  Hohentwiel,  welches  sein  Bruder  Heinrich  und  Vetter  Eberhart 
13.  Jan.  1465  an  Oesterreich  überlassen  hatten  (Lichnowsky  R.  VII  958), 


Publikationen  des  literarischen  Vereini. 


dem  Habsburgischen  Hause  überliest  (Schönhut  Hohentwiel  p.  64)  und  das 
Geschlecht  durch  die  erwähnte  würtembergische  Fehde  sehr  herunterge- 
kommen war,  »o  ist  sogar  wahrscheinlich,  dass  der  Kauf  der  Herrschaft 
Thengen  nur  ein  Scbeinkauf  gewesen  sei.  Nun  tnuss  aber  noch  jener  Jun- 
ker Heinrich  von  Thengen  näher  bestimmt  werden.  Bader  (ZeiUchr. 
f.  Gesch.  d.  Obcrrb.  I.  92)  macht  Uber  die  letzten  Verbältnisse  des  Nel- 
lenburgischen  Geschlechtes,  die  hier  beigeiogen  werden  müssen,  folgende 
Angaben:  Eberhard  des  Jüngern  weltliche  Söhne  waren  Eberhard  und 
Wolfram.  Letzterer  starb  ohne  Erben.  Eberhards  Tochter  Kunigund, 
an  Johann  von  Schwarzenberg  vermählt,  desgleichen;  —  so  kam  die 
Landgrafschaft  Nellenburg  durch  seine  Schwester  Anna  Sophia  an  Freiherrn 
Johann  von  Thengen.  Hier  muss  zuerst  berichtigend  bemerkt  werden, 
dass  Kunigund  von  Schwarzenberg  1463  in  einer  Urkunde  Über  Auslösung 
von  Gefällen  in  Mauenheim  den  Grafen  Johann  von  Thengen  ihren  Bruder 
nennt  (Raisersches  Urk.  Verz.  v.  Insbruck);  sie  ist  daher  wohl  die  Tota- 
ler des  Freiherrn  Johann  v.  Thengen,  der  vor  1439  starb,  weil  in  die- 
sem Jahre  12.  April  zu  Wien  seine  Söhne  Heinrich,  Hans  und  Conrad 
mit  der  von  ihrem  sei.  Vater  besessenen  Landgrafschaft  im  Hegau  und  Madach 
belehnt  wurden  (Lichnowsky  Reg.  V  4214).  Da  ferner  der  Verkauf  von 
Nellenburg  an  Erzherzog  Sigmund  von  Hans  v.  Thengen,  sicher  Bruder 
Heinrichs,  1461  beredet  wurde  (Lichnowsky  VII  Reg.  475);  —  ao 
muss  unbedingt  angenommen  werden,  dass  Heinrich  von  Thengen  1461 
schon  gestorben  war,  der  fragliche  Kouf  zwischen  1439  und  1461  fal- 
len. Mit  dieser  frühen  Zeit  stimmt  auch  die  Sprache  und  Rechtschreibung 
der  S.  236—238  beigebrachten  „Rehtunge  ze  Tengen«  gut  überein, 
obwohl  Ref.  das  Original  des  Rodels  nicht  gesehen  bat. 

Auf  die  Erörterung  über  das  Alter  der  Rödel,  welche  Ref.  zu  die- 
ser grössern  Abschweifung  benutzte,  um  zu  zeigen,  wie  Manches  in  der 
badischen  Specialgeschichte  noch  im  Argen  liege,  lässt  Herr  Pfeiffer  S. 
XI  —  XXII  eine  sehr  interessante  Geschichte  der  Rödel  und  eine  Auf- 
zählung der  in  den  verschiedensten  Händen  zerstreuten  Bruchstücke  fol- 
gen, wobei  man  nur  bedauern  muss,  dass  der  Gesammtrodel ,  welcher 
nach  S.  XIV  wieder  aus  schweizerischem  Besitz  in  Oesterreichischen  kam, 
sich  verloren  hat. 

Auf  die  Einleitung  folgt  sodann  S.  1-346  der  Abdruck  der  Rö- 
del selbst,  mit  kurzen,  kritischen  und  erklärenden  Anmerkungen.  Da  die 
aufgeführten  ßesitzthUmer  so  weit  in  verschiedener  Herren  Länder  zerstreut 
sind,  so  können  wir  nur  im  Allgemeinen  die  Sorgfalt  dankend  aner- 
kennen, mit  welcher  der  Herausgeber  in  der  Ortsbestimmung  verfahren 


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Publikationen  des  literarischen  Vereins.  843 

ist,  einer  Sache,  die  namentlich  in  der  Schweiz  bei  so  oft  in  ganz  an- 
dern Cantonen  wiederkehrenden  gleichen  Namen,  schwierig  genug  war. 
Um  einen  Schluss  auf  das  Andere  zu  erleichtern,  will  Ref.  hier  nur  aa 
den  badischen  Besitzungen  nachweisen,  was  die  Topographie  durch  die  Her- 
ausgabe des  Werkes  gewonnen  habe. 

Von  Sackingen  wusste  man  bisher,  dass  die  Stadt  ein  Kloster- 
lehen der  Grafen  von  Habsburg  gewesen  (Huhn  bad.  Lex.  S.  950).  Hier 
lernen  wir  kennen,  dass  die  Rechte  der  Grafen  von  Habsburg  an  die  Stadt 
—  denn  so  ist  sie  schon  im  Urbar  benannt  —  theils  von  der  Kast- 
vogtei,  theils  vom  Landgrafenamt  im  Prickgau,  welcher  sich  also  über  den 
Rhein  herüber  erstreckte,  herrührten  (S.  41),  ferner  dass  das  Schult- 
heissenamt  durch  Kauf  vom  Gescblechte  der  Wielandingen  —  deren  Erb- 
lehen es  wahrscheinlich  war  —  an  Oesterreich  gedieh.  Todtmoos 
wurde  sonst  schon  1268  als  Pfarrkirche  angenommen;  hier  ersehen  wir, 
dass  es  noch  1300  eine  blosse  Kapelle  war  (S.  46).  Bei  W aids- 
hat, welches  wir  hier  als  ein  ursprüngliches  Eigen thum  der  Grafen  von 
Habsburg  erkennen,  erfahren  wir  den  Bestand  einer  alten  Kl»  ein  brücke 
(S.  53).  Das  Dorr  Herrischried,  welches  man  als  Bestand t heil  der 
Grafschaft  Hauenstein  anzusehen  gewohnt  war  (Huhn  a.  a.  0.  S.  547), 
erkennen  wir  als  Säckingisches  Eigenthum,  über  welches  die  Grafen  von 
Habsburg  das  Vogtrecht ,  die  Herrn  von  Wielandingen  das  Haieramt  hal- 
ten. Ober-  uud  Ünter-Alpfen  hatte  (wie  wir  S.  51  sehen),  freie 
Bewohner,  die  an  Habsburg  wegen  der  Gerichtsbarkeit  nur  Zins  und  Fast- 
nachtshühner bezahlten.  K  renk  in  gen,  welche  Herrschaft  vom  Freiherrn 
Heinrich  1275  an  St.  Blasien  verkauft  wird  (Gerbert  H.  N.S.III.  192), 
sehen  wir  hier  in  Habsburgischem  Besitze. 

Gailingen,  welches  in  der  badischen  Topographie  in  verworre- 
ner Weise  dem  Herrn  von  Gay!  und  einem  eigenen  Adel  gehört  haben 
soll ,  lernen  wir  als  ein  Lehen  kennen,  welches  die  Habsburger  vom  Bis- 
thum Konstanz  trugen  (S.  230).    Th engen  haben  wir  oben  erwähnt 

Nenenhöwen,  oder  die  Herrschaft  und  Schloss  Stetten  bei  En- 
gen, welches  die  Archivalien  des  jetzigen  Besitzers,  des  Fürsten  von  Für- 
st enberg,  als  eine  von  den  Herrn  von  Höwen  an  Oesterreich  gediehene 
und  von  da  an  die  Grafen  von  Hohenberg  verpfändete  Besitzung  kennen 
(Vergl.  meine  Forlsetzung  der  Münclf sehen  Geschichte  des  Hauses  Fürsten- 
berg IV.  263),  finden  wir  hier  als  eine  ursprüngliche  Besitzung  der  Gra- 
fen von  Hohenberg,  von  denen  es  durch  Graf  Albrecht  (den  Minnesänger 
vergl.  v.  Stillfried  u.  Härcker  Ho  he  nzo  II  ersehe  Forschungen  S.  104)  an  die 
Habsburger  verkauft  wurde  (S.  288).    „Dia  sind  nutze  und  reht,  die 


844  Publikationen  des  literarischen  Vereins. 

diu  kerschaft  hat  an  Unten  und  au  guote,  die  mit  der  bürg  le  der  Nie- 
wen  He  wen  koufet  sind  umbe  greveo  Albreht  van  Heigerluch."  Es  dürfte 
dieser  Umstand  besondert  geeignet  sein,  die  Aufmerksamkeit  der  Forscher 
für  Hobenzollersche  Genealogie  auf  die  Archivalien  dieser  Gegend 
zu  ziehen,  zumal  die  Stiftung  des  Kloster»  St.  Margen  und  jene  rätsel- 
hafte Stelle  der  alten  St.  Georger  Annalen:  ..Bellum  int  er  dneem  (von 
/abringen)  et  Zolrenses.  Dax  occupavit  Castrum  Für#leuberga  auf  Güter* 

Külitz  ifttips  (*&sclilt?ch tes  iu  der  westlichen  Rhaf  hindeutet     J)as&  übri*?£OS 

die  Herrschaft  ursprünglich  zu  Howen  geirrte ,  geht  aus  den  mit  dersel- 
ben erworbenen  Gütern  zu  Zimmerholz  nnd  Stetten  hervor,  welche  „an 
Sant  Martin  hörent."  Dies  aber  ist  die  Pfarrpfründe  der  Stadt  Engen, 
die  bekanntlich  (1370.  10.  Jan.  Basel)  von  Herzog  Leopold  zusammt 
„der  Burg  vormals  Iunghewea,  jeUt  Heweoegg«  —  bei  Möhringen  — 
an  Peter  von  Hewen  wieder  als  Leben  übertragen  wurde,  nachdem  sie 
wahrscheinlich  von  ebendemselben  verkauft  worden  war.  Wenigstens  schul- 
den die  Erzherzoge  ihm  1398  noch  Geld  (Lichnowsky  IV.  Reg.  954. 
V.  Reg.  263.  2S4.  331.  332.  337).  Bei  Aach  und  Badolphsell 
erfahren  wir  S.  290,  dass  Oesterreich  als  Vogt  des  Bislbnms  Koostaoi  und 
der  Abtei  Reichenau  bestimmte  Einkünfte  hatte,  die  später  erst  sich  in 
eine  Art  Landeshoheit  verwandelten,  aus  welcher  für  kurze  Zeit  (1419 
— 1435)  Kaiser  Sigismand  letzlere  Stadt  unmittelbar  an  das  Reich  brachte. 

Ref.  will  seine  Anzeige  nicht  schliefen,  ohne  durch  einige  Berich- 
tigungen dem  Herrn  Herausgeber  die  Aufmerksamkeit  nachzuweisen,  mit 
welcher  er  seiner  mühevollen  Arbeit  gefolgt  iat.  S.  45  wird  die  Sielte. 
„Die  herst-haft  hat  in  (den  bei  Wehr  erwähnten)  dörferr»  allen  und  in 
andren  dorfern  unz  uf  die  Murge  iu  und  ie  gerihlel"  auf  den  Flu&s 
Murg  bei  Rastatt  bezogen,  während  es  offenbar  nur  auf  einen  gleichna- 
migen Bach  des  Dorfe*  Murg  bei  Sackiogen  sich  bezieben  kann. 

Schadhusen  S.  48  wird  —  mit  Frage  —  auf  Stadenban- 
sen  bei  Lüllingen  bezogen ;  Ref.  möchte  es  au/  Schadenbirndorf  bei 
Biradorf  beziehen. 

Ko  b  ol  t  z  fk  53  wird  mit  Zweifel  auf  Kadolzharg  (KadeJbnrg)  be- 
zogen; —  es  ist  sicher  das  Dorf  Cobleaz,  unfern  von  Waldshut  am  Zu- 
sammenfluss  der  Aar  mit  dem  Rheine.  Zell,  eben  das.  ist  gewiss  das  im 
Wiesenthaie,  das  au  Stickingen  gehörte,  worüber  che  Habsburger  ja  die 
Schirmvogtci  hatten. 

Zum  Schlüsse  läset  Herr  Pfeiffer  (S.  347-367)  ein  sprachliches 
nnd  (S.  368-464)  ein  geographisch  -  historisches  Register  folgen.  Bs 
ist  dies  eine  sehr  danken s wer the  Arbeit,  wie  jeder  ermessen  kann,  der 


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Publikationen  des  literarischen  Vereint. 


845 


auch  noch  dem  sorgfältigsteu  Studium  eines  derartigen  Werkes  bei  spa- 
lerm  Nachschlagen  sich  in  völliger  Hathlosigkeit  wegen  Mangels  eines 
solchen  Registers  befunden  hat.  Auch  hier  will  Ref.  nur  wenige  Be- 
merkungen beifügen.  S.  347  wird  bei  balche,  „balle,  grosse  mariine, 
weissfelcheu"  bemerkt,  dass  auch  kanbalchen  und  stanbalchen  vorkom- 
men. Es  durften  die  beiden  letztem  Arten  des  gleichen  Fisches,  des  Fei« 
chen  sein.  Auch  im  Bodensee,  der  durch  seine  Felchen  berühmt  ist,  un- 
terscheidet man  Weissfelchen ,  Blaufelchen  und  Sand  felchen,  und  will  die 
drei  Arten  dem  verschiedenen  Alter  desselben  Fisches  zuschreiben. 

S.  142  hat  der  Herr  Herausg.  einen  Zweifel  über  den  dunkeln 
Ausdruck:  „Der  Son  hütten  git  ein  Schilling  Imperial."  Hütten  scheint 
nach  der  Zusammenstellung  mit  „wollen  Tuchu,  von  welchem  6  El- 
len 2  Imperial  Marktgeld  kosten,  grobe  Decken  zu  bedeuten  (cf.  Hui, 
Hütte,  provinc.  Huss  =  Bettdecke,  Kuzze,  Kozze,  etc).  Son  aber  ist 
aller  Wahrscheinlichkeit  verschrieben,  statt  S  o  m ,  eine  Pferdlast,  wie  die- 
ser Ausdruck,  der  nur  noch  für  die  Flüssigkeit  geblieben  ist,  in  den 
Marktordnungen  des  XIV.  Jahrhunderts  häufig  wiederkehrt  und  mit  der, 
auch  in  andern  Schriftstücken  gleichmütig  vorkommenden  Schreibung  so  um 
auf  der  gleichen  Seite  zu  finden  ist.  Es  dürfte  also  vielleicht  die  ganze 
Stelle  so  auszulegen  sein:  „Swer  stahel  and  isen  mit  einander  veil  bis, 
der  git  von  der  hütten  (dem  Verkaufszelte)  XXX  Imperial  (nach  S.  353 
23/2  Schilling  Imperial  und  dies  nach  S.  352  */u  Mark,  oder  nach  un- 
serm  Werthe  ongef.  1  Gulden);  swer  aber  deweders  sunderlich  veil  bat 
der  git  (von  jedem  der  beiden  Kramzelte)  XV  Imperial.  Das  pfunt  wol- 
len git  einen  Imperial  (=  i/244  Mark,  oder  0,098  Gulden  d.  i.  etwa 
5  Kreuzer).  Der  son  hütten  (die  Pferdelast  Decken,  oder  Loden)  git 
einen  Schilling  Imperial  (oder  »/61  Mark  =0,39  Gulden,  ungef.  23  kr.). 
Swer  hütten  niht  hat,  unde  wollen  tuoch  veil  bat  (wahrscheinlich  wurde 
gewöhnlich  Loden  und  Wollentuch  im  gleichen  Krem  verkauft,  wie  Stahl 
und  Eisen),  der  git  von  sechs  eine  die  er  verkaufet  (nach  der  Preisbe- 
stimmung S.  367  sechs  Schilling,  oder  mehr  wertb)  Ij  Imperial  (etwa 
10  Kreuzer  von  drei  Gulden  Kauferlös). 

Doch  bescheidet  sich  Ref.  dieses  nur  als  einen  Versuch  zur  Erklä- 
rung der  schwierigen  Stelle  beizubringen. 

Dass  S.  367  eine  für  die  Culturgeschichte  beachtenswertbe  Preis- 
liste von  LebeasmiUeln  und  Anderm  beigebracht  sei,  wurde  so  eben  ge- 
legentlich erwähnt 

Mit  dem  geographischen  Register  ist  das  geschichtliehe  verbunden, 
bei  welchem  Ref.  nur  gewünscht  hätte,  dass  die  Geschlechts-,  nicht  die 


846 


Monuments  historiques  de  Luxembourg. 


Tauf  -  Namen  zur  Aufnahme  massgebend  gewesen  wären.  So  ist  zom  Bei- 
spiel Graf  Alberl  von  Heigerloch,  Albert  von  Klingenberg,  von  Rormos 
u  0.  f.  beim  Buchstaben  A  zu  suchen  u.  s.  f. 

Ref.  bedauert,  nicht  weiter  auf  die  Einzelheiten  der  so  dankens- 
werten Arbeit  eingehen  zu  können.  Doch  glaubt  er  genug  beigebracht 
zu  haben,  sein  Eingangs  gegebenes  Urtbeil  aufrecht  zu  erhalten.  Doch 
es  wird  dem  mit  so  mühsamen  Forschungen  Vertrauten  genügen,  and  da 
diese  ernstern  Studien  der  Landes-  und  Cnlturgescbichte  in  neuester  Zeit 
wieder  neuen  Aufschwung  und  grössere  Verbreitung  gewinnen,  so  ist  zo 
hoffen,  dass  beide  Werke  den  Erfolg  haben  werden,  den  wir  ihnen  wünschen. 

Rastatt.  FIckler. 


Publications  de  la  societe  pour  la  recherche  et  la  conserration  des  mo- 
numents  historiaues  dans  le  Grand-duche  de  Luxemboura  4  Tom 
Luxemb.  i846—1849.  4. 

Auf  die  Alterthümer  im  Grossherzogthum  Luxemburg  wird  in  den 
gelehrten  Zeitschriften  so  wenig  Rücksicht  genommen,  dass  wir  es  für 
nothweedig  halten,  nur  kurz  darauf  hinzuweisen.    Hat  ja  doch,  so  viel 
wir  uns  erinnern,  das  berühmte  Werk  Luciliburgensia  von  Alex.  Wiltheisi 
noch  keine  ausführliche  Besprechung  irgendwo  gefunden.    Wir  wollen 
nicht  denken,  dass  diese  Beschreibung  römischer  und  belgischer  Alter- 
thümer von  Luxemburg  und  den  angrenzenden  Orten,  so  wie  sie  200  Jahre 
als  Manuscript  in  den  Bibliotheken  verborgen  lag  und  nur  von  Wenigen 
benützt  wurde,  so  auch  jetzt,  wo  sie  schon  Uber  8  Jahre  edirt  ist,  unbeach- 
tet bleibe,  da  sie  im  Gegentheil  um  so  mehr  Berücksichtigung  verdient, 
■la  sie  einmal  viele  Inschriften  enthält,  welche  in  den  Sammlungen  dor- 
tiger Monumente,  wie  bei  Brower,  Berlbolet,  Quednow,  Steiner,  Lersch 
(welcher  letztere  zwar  nur  die  noch  vorhandenen  Inschriften  edirte)  u.  A. 
sich  nicht  finden  und  dann  auf  100  Tafeln,  zwar  in  rohen  Umrissen,  den- 
noch deutlich  und  genau  eine  grosse  Anzahl  von  Alterthümern  jeglicher 
Art  abbildet,  welche,  wie  die  meisten  der  dort  mitgeteilten  Inschriften, 
nicht  mehr  vorhanden  sind.  Denn  wenn  gleich  jede  Stadt  am  Rhein  den 
Verlust  römischer  Alterthümer  während  des  16.  und  17.  Jahrhunderts 
beklagen  kann,  so  wird  es  doch  kaum  einen  Ort  geben,  wo  schon  da- 
mals ein  so  schönes  Museum  aufgestellt  war,  wie  in  dem  Schloss  Clausen 
durch  die  Kunstliebe  des  Grafen  Peter  Ernst  von  Mansfeld  (L  J.  1563), 
welche  reichhaltige  Sammlung  durch  die  zerstörenden  Einfälle  der  neuern 
Yandalen  gegen  das  Ende  der  zwei  vergangenen  Jahrhunderte  fast  spur- 
los verschwunden  ist 

(Schluss  /oty.) 


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Hr.  54.  HEIDELBERGER  1851. 

JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR. 

ITIoiiiimenlH  lilHtorl<|iie»  de  JLu*eiHbourg. 


(Schluss.) 

Um  so  mehr  ist  es  zu  lobeu,  dass  auch  in  Luxemburg  endlich  (1845) 
ein  Verein  zur  Erhaltung  der  AlterthUmer  gegründet  worden  ist.  Indem 
wir  nun  wünschen,  dass  Wiltheim's  erwähntes  Werk  in  diesen  Blättern 
eine  kurze  Beurtheilnng  finde,  wollen  wir  uns  zu  den  Publikationen  jenes 
Vereines,  welche  seit  seiner  Gründung  ausgegeben  wurden,  wenden,  und 
kurz  sehen,  was  darin  der  Alterthumskunde  ein  allgemeines  Interesse  bie- 
ten kann.  Eine  besondere  Aufmerksamkeit  verdient  der  Bericht  des  H. 
Sen  ekler  in  Köln  (in  französischer  Sprache?  wiewohl  Titel  und  offi- 
zieller Bericht  dieses  Vereins  in  dieser  Sprache  gegeben  sind,  wundern 
wir  uns  doch,  dass  hier  Deutsche  (?)  französisch  schreiben,  da  doch 
Luxemburger  sogar  hie  und  da  in  diesen  Bänden  sich  der  deutschen  Sprache 
bedienen);  er  behandelt  von  S.  58 — 83  den  bekannten  Dahlheimer  Fund; 
bei  diesem  Orte  in  der  Nähe  von  Luxemburg  wurden  nämlich  1842  an 
24,000  röm.  Kupfermünzen  aus  dem  3.  u.  4.  Jahrhundert  in  3  Töpfen 
gefunden;  zwar  schon  früher  wurde  Uber  diese  reichhaltige  Sammlung, 
die  grösstenteils  in  das  Kabinet  des  Hrn.  de  la  Fontaine,  Gouverneur  von 
Luxemburg,  kam,  gehandelt,  namentlich  auch  von  Senckler  z.  B.  in  seinem 
Catalogue  de  la  collection  de  medailles  rom.  (Col.  1847)  und  noch  später, 
Jahrbücher  des  V.  f.  Alt  im  Rheinlande.  Bonn.  XIV  p.  6 sqq.;  nirgend  aber, 
so  viel  wir  uns  erinnern,  werden  die  vorzüglicheren  der  dort  gefunde- 
nen Münzen  so  ausführlich  mitgetheilt,  wie  im  erwähnten  Aufsatze,  da- 
her wir  die  Freunde  der  röm.  Nüuzkunde  besonders  darauf  hinweisen. 
Wenn  aber  durch  solche  Müozfunde  die  früheren  Verluste  in  Luxemburg 
eioigermassen  ersetzt  wurden,  so  gilt  dieses  nicht  ebenso  in  Betreff  an- 
derer Alterthümer,  namentlich  in  Bezug  auf  Inschriften,  solche  werden 
selten  gefunden,  und  wenn  eine  entdeckt  wird,  findet  sie,  wenigstens 
bisher,  wie  es  scheint,  nicht  gleiche  Berücksichtigung,  was  nm  so 
mehr  zu  beklagen  ist,  als  Inschriften  gewöhnlich  von  mehr  lokalem  In- 
teresse sind,  als  Münzen  oder  kleinere  Alterthümer.  So  wurde  1823 
und  sogar  wieder  1842  bei  Waldbillig  eine  ziemliche  Anzahl  von  römi- 
schen Allerthümern  verschiedener  Art  ausgegraben,  aber  wieder  verschla- 
gen oder  vergraben,  sogar  der  Inschriften  wurde  nicht  geschont;  daher 
XLIV.  Jahrg.  6.  Doppelheft.  54 


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848 


Monuments  historiques  ie  Luxembourg. 


ist  man  Uber  die  Inschriften  jener  Gegend  ganz  im  Unklaren.  Wir  wol- 
len dies  an  ein  paar  Beispielen,  die  uns  im  III.  Band  anfstiessen,  zeigen. 
Prof.  Engling  in  Luxemburg  handelt  Uber  die  Gemeinde  Waldbillig 
archäologisch-statistisch  (?)  und  bespricht  ausführlich  p.  176—200  die 
früher  entdeckten  und  noch  vorhandenen  Romervesten,  wobei  wir  aar 
glauben,  dass  der  Phaotasie  zu  viel  Spielraum  gelassen  wurde.  Bei  die- 
ser Gelegenheit  hören  wir  auch,  dass  eine  Inschrift,  von  welcher  Eveqae 
Itineraire  da  Luxem,  german.  (1844)  p.  234  sagt,  das»  sie  1823  bei 
jenem  Orte  gefunden  worden  sei,  gar  nicht  hieher  gehöre,  sondern  dass 
aie  die  schon  von  Grut.  904.  2.  und  Bertholet  (1741)  I.  p.  432  aus 
Lyon  edirte  sein  soll;  da  wir  doch  weitere  Aufklärung  wünschen,  wollen 
wir  sie  miUbeilen :  D  M  |  CACVROM  SATTONfl  TRKVERI  |  ANNORYI 
Vn  |  SINILVS  DEFVNC  V1VVS.  Die  Inschrift  ans  Lyon  wird  in  8  Zei- 
len angeführt,  hat  SATTONIS  und  gibt  die  Jahre  auf  XVII  an;  wenn  aber 
ans  dieser  Inschrift  auf  den  Namen  Sattonius,  der  übrigens  nicht  unge- 
wöhnlich ist,  geschlossen  wird,  so  übersah  man,  dass  Grut.  SATTOMS  hat, 
nnd  hier  also  Ii  Iii  zu  ergänzen  ist,  es  also  nickt  Beiname  des  Cacuro- 
nius,  sondern  Salto  der  Name  des  Vaters  ist,  wie  er  auch  anderwärts 
vorkommt  (vergl.  Abbild,  d.  Mainz.  Mus.  S.  6) ;  ja  ich  möchte  sogar  nicht 
Cacuronius,  sondern  Cacaro  als  Name  des  Treverer's  annehmen ,  indem  bei 
Gruter  CACVRON  eine  Zeile  ausmacht,  also  die  Endsilbe  IS  wohl  ver- 
schwunden sein  konnte. 

Wenn  man  aber  Uber  die  Existenz  dieser  Inschrift  im  Zweifel  ist, 
Jie  Lesarten  aber  nur  unbedeutend  verschieden  sind ,  so  findet  bei  einer 
andern  das  Gegen t heil  statt,  wobei  man  sich  über  die  Nachlässigkeit,  mit 
der  mnn  eine  ganz  schleckte  Leeart  verbreitet,  nickt  genug  wundern  kann. 
Es  wird  n»  ml  ich  p.  177  eine  1844  im  benachbarten  preuss.  Ort  Bollend  ort 
gefundene  Inschrift  also  catirl :  D.  M.  |  VLLVCINARI  |  ILLAE  TA  CC. 
FILIA  (  FASCDJA  ATTON  |  IVS  SECVNDINVS  F.  wahrscheinlich  nach 
Evöque,  welcher  I.  o.  p.  208  nnr  ATI  OMA..  P  in  der  letzten  Zeile 
variirt  Diese  Inschrift  zu  erklären  wird  natürlich  kein  Versuch  gemacht, 
wäre  auch  unmöglich  nnd  dazu  unnöthig,  da  schon  vor  6  Jahren  die  richtige 
Abschrift  edirt  ist,  nämlich  von  Lersch  in  Bonn,  Jahrbücher  V.  p.  328,  wo  sie 
also  beissi:  D.  M.  ATTVCIA  ARI  |  1LLA.  KT.  ACCEPTIA  |  TASCILLA. 
SATTON  |  IVS.  SBCVDINV3  F.  Ein  eklatantes  Beispiel,  wie  leicht  eine 
Inschrift  durch  fehlerhafte  Abschrift  verdoppelt  werden  kann;  wen«  dies 
zn  unseren  Zeiten  geschieht,  welche  Dinge  waren  dann  früher  möglich I 
Leicht  könnten  wir  aus  Apiani,  Gruter,  Muratori  u.  s.  w.,  ähnliche  nnd 


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Monument*  historiques  de  Luieubourg.  $49 

doch  Vereine  sich  hüten  mdgen,  zur  Verbreiteng  solcher  schlechten  Ab- 
schriften beizutragen. 

Weiter  linden  wir  im  erwähnten  Aufsatz  nur  eine  Inschrift  sunt 
erstenmal,  so  viel  wir  wissen,  edirt: 

10.  ET  IVS 

MALIVT  ' 

....IOV 

CONIV... 

MASSAE 

IVIR... 

•  •  • 

.... 

am  alten  Thurm  zu  Waldbillig  S.  178.    Die  Abschrift  scheint  uns  fehler- 
haft; wir  sehen  aber  doch,  dass  es  ein  Altar  dem  Jupiter  und  der  Juno 
geweiht  war.    Sonst  verdient  der  Aufsatz  wegen  genauer  Erörterung  auf- 
gefundener Altertbfimer  alles  Lob  und  ist  für  die  Lokalgeschichte  nicht 
ohne  besonderes  Iuteresse.  Der  IV.  Band  dieser  Luxemburger  Publikatio- 
nen enthält  nicht  minder  interessante  Abhandlungen,  jedoch  nichts  Inschrift- 
liebes;  dagegen  die  Freunde  der  Münzkunde  finden  niedreres,  was  sie 
belehren  wird;  so  wird  von  ISamur  über  einige  grieeb.  Münzen  (von 
Smyrna")  berichtet,  die  1847  bei  Diekirch  gefunden  wurden  S.  95—97, 
so  bandelt  Senckler  (S.  90 — 95)  bei  Gelegenheit  eines  Medaillon  ans* 
führlich  Uber  den  Caesar  Licinius  junior  (von  seinem  Oheim  Konstantin 
wahrscheinlich  386  getödtet),  —  die  Abhandlung  von  Prof.  Engling 
über  den  Heidenaltar  in  der  Kirche  zu  Bendorf,  auf  welchem  Apollo,  Juno, 
Herkules  und  Minerva  vorgestellt  sind,  genügt  minder  (S.  98 — 109),  in- 
dem über  das  Viergötlersystem  überhaupt,  über  die  Bedeutung  der  er- 
wähnten Gottheiten  nichts  vorgebracht,  keine  Vergleichung  mit  ähnlichen 
Ueberresten,  deren  es  am  Rheine  viele  gibt,  angestellt,  kurz  die  alter- 
tümliche Betrachtung  und  Untersuchung  bei  Seite  gelassen,  und  ober 
Verwandlung  und  Verwendung  dieses  Steins  zu  einem  christlichen  Altar, 
wozu  er  noch  dient,  und  über  ähnliches  damit  Zusammenhängendes,  de» 
Breiten  viel  vorgebracht  ist.    Gelegentlich  hören  wir,   dass  vor  etwa 
100  Jahren  noch  auf  dem  Petrusaltar  der  Kirche  eine  Jupiterstatue  mit 
dem  Donnerkeil  in  der  Hand  als  Gott  Vater  verehrt  wurde,   bis  sie  da- 
mals von  einem  allzueifrigen  Kaplan  weggeschafft  wurde  (S.  102).  Wenn 
aller  weiter  S.  104  erzählt  wird,  dass  1810  in  Bendorf  „ein  Bündel  an- 
tiker Pasees  ausgegraben  wurde, u  so  wünschten  wir  hierüber  nähere  Anf- 
««rang.   Schliesslich  hoffen  wir,  dass  die  römischen  Altertümer,  wo?on 

54* 


r 

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850  Siuder's  Geologie  der  Schweix. 

noch  viele  io  Luxemburg  verborgen  sind,  fortwährend  sich  einer  gentuen 
Aufmerksamkeit  zu  erfreuen  haben  mögen,  damit  was  fast  seit  Wiltbeim 
in  jenem  Lande  versäumt  worden  ist,  nachgeholt  werde,  und  Manches, 
was  bisher,  wie  wir  oben  zeigten,  zweifelhaft  oder  oberflächlich  behan- 
delt wurde,  genau  eruirt  und  fest  bestimmt  werde.  % 

Mains.  ■Ueitn. 


Geologie  der  Schwei*  von  B.  S tu  der,  Dr.  d.  Phil.,  Prof.  d.  Min.  u. 
Geol.  in  Bern  u.  s.  w.  Erster  Band.  Mittehone  und  südliche  Ne- 
benzone der  Alpen.  Mit  Gebirgs-Durchschnitten  und  einer  geolo- 
gischen Vebersichtskarte.  IV.  und  485  S.  in  8.  Bern,  Stämpflfsche 
Verlags  -  Handlung ,  185/. 

Der  verdienst-  und  talentvolle  Verfasser,  ein  Mann  von  seltener 
Geistesbildung,  der  sein  Leben  rein  wissenschaftlichen  Arbeiten  widmet, 
gilt  uns  —  wie  wir  schon  bei  anderer  Gelegenheit  in  diesen  Jahrbüchern 
gesagt,  — als  der  Saussure  der  Jetztzeit. 

Von  dieser  Ueberzeugung  belebt,  nahmen  wir  das  Buch  zur  Hand, 
welches  besprochen  werden  soll.  Eine  merkwürdige  Arbeit,  die  Aufsehen 
machen  muss,  da  sie  reich  ist  an  einer  ausserordentlichen  Menge  höchst 
wichtiger  und  belehrender  Tbatsacbeo,  dargelegt  mit  geschickter,  takt- 
voller Hand  und  mit  schlichter  Entschiedenheit 

Man  gestalte  uns,  die  Worte  zu  wiederholen,  womit  S  tu  der  sein 
,        Werk  einfuhrt  in  die  Wissenscharts  -  Welt. 

Das  Interesse  an  Erforschung  der  wichtigsten  Massen-Erhebungen  un- 
teres Continentes  —  so  ungefähr  sagt  der  Berner  Geolog  —  ist  in  den 
letzten  Jthren  mit  grosser  Lebendigkeit  rege  geworden.  Während  in 
früherer  Zeit  nur  Einzelne  die  Untersuchung  kleiner  Alpenlheile,  des  Mont- 
blanc oder  des  Gotthard ,  sich  zur  Aufgabe  setzten ,  während  vor  drei 
Jahrzehenden  Gliederung  und  geologisches  Alter  des  Jura  und  Apennin 
nicht  besser  bekannt  waren,  als  jetzt  noch  viele  Gebirge  in  entfernten 
Weltgegenden,  sehen  wir  nun  eine  stets  wachsende  Zahl  von  Arbeitern 
um  die  Wette  bemüht,  die  Erforschung  unserer  Gebirge  zum  Abschluss 
zu  bringen.  Rings  um  die  Alpen  vertheilte  Wachtposten  einer  Beobachtungs- 
Armee  ;  jeden  Sommer  dringen  sie  vor  nach  dem  Gebirgs  -  Innern  und 
erobern  der  Wissenschaft  einen  Theil  desselben.  Der  Jura,  von  Cham- 
bery  bis  ntch  Franken,  ktnn  bereits  als  gewonnenes,  allen  Gesetzen  der 
Doktrin  gehorchendet  Land  betrachtet  werdeu;  auch  Toteana,  dar  alte 


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Studcr's  Geologie  der  Schweix. 


851 


Stammsitz  derselben,  und  das  tiefere  Italien  bestreben  sich,  ihr  zu  hul- 
digen. —  Wer  gedenkt  nicht  beim  Jura  der  Hochverdienste  des  Grossmei- 
sters aller  Geologen,  Leopolds  von  Bach? 

In  Frankreich,  Piemont,  Oesterreich,  Baiern  haben  die  Regierungen, 
zum  Besten  des  Gewerbfleisses  und  der  Staatswirthschaft,  für  geologische 
Erforschung  ihrer  Länder,  für  Darstellung  der  Ergebnisse  auf  Karten  reich- 
liche Geldmittel  ausgesetzt.  In  den  grossen  Mutterstädten  des  Wissens, 
in  London,  Paris,  Berlin,  werden  die  Resultate  örtlicher  Untersuchungen 
gesammelt,  mit  den  bereits  gesicherten  verglichen,  und  ihr  Einfluss  auf 
Fortschritt  des  Ganzen  regt  den  vereinzelt  stehenden  Geologen  an  zu  er- 
neuter Anstrengung. 

Studer's  „Geologie  der  Schweiz^  soll  zunächst  zur  Erläuterung 
einer  Karte  des  Alpenlandes  dienen,  welche  wir  noch  im  Laufe  dieses  Jah- 
res erwarten  dürfen.  Sie  wird  Studer's  und  Escherts  Namen  tragen. 
Bei  den  vielen  Abweichungen  der  südeuropäischen  Gebirgs-Verhäitnisse  von 
jenen  mittel-  und  nordeuropüischer  Länder,  bei  den  Schwierigkeiten,  die 
selbst  erfahrne  Fachmänner  finden,  wenn  sie  zum  erstenmale  das  Alpen- 
Gebiet  betreten,  war  ferner  eine  übersichtliche  Darstellung  der  bis  jetzt 
Ober  dieses  Gebirgs-System  und  über  seine  Verzweigung  gewonnene  Kennt- 
nisse noth wendig;  Studers  Schrift  ist,  auch  in  dieser  Beziehung,  als 
Einleitung  zum  Studium  südeuropüischer  Geologie,  als  Reise-Handbuch  sehr 
zu  empfehlen.  (EbeTs  „Bau  der  Erde  im  Alpen-  Gebirge",  classisch 
für  seine  Zeit,  ist  nun  etwas  veraltet.)  Zu  letzterm  Zweck  ist  der 
Schrift,  wovon  unsere  Anzeige  bandelt,  eine  Uebersicbts-  Karte  des  Al- 
pen-Systems und  seiner  Umgebungen  beigegeben  worden,  welche  sie  auch 
ohne  Beibülfe  der  grössern  Karte,  verständlich  machen  soll. 

Was  den  Mittheilungen  Studer's  besonders  grossen  Werth  verleiht, 
ist  der  Umstand,  dass  er  die  meisten  geschilderten  Gegenden  selbst  sab, 
viele  wiederholt  besuchte,  nicht  wenige  in  Gesellschaft  Escherts.  (Das 
Berner  Museum  bewahrt  die  Belegstücke  zur  gegebenen  Darstellung,  Fels- 
arien und  Petrefacten.)  Wo  der  Verf.  sich  fremder  Beobachtungen  be- 
dienen musste,  findet  man  stets  die  Quelle  angeführt.  Die  wichtige  Un- 
terstützung Escherts  erkennt  Studer  mit  lebhaftem  Dank;  alle  schrift- 
lichen Reise-Bemerkungen  überliess  jener  so  sehr  achtbare  Geolog  seinem 
Freunde  zur  Benutzung. 

Dies  vorausgesetzt,  wollen  wir,  so  weit  es  der  Raum  gestattet, 
den  Inhalt  vorliegenden  Buches  andeuten. 

Eine  allgemeine  Einleitung  ist  der  Betrachtung  des  Apennins,  der 
Alpen  und  des  Jura  gewidmet.    Die  Alpen  folgen  einander  in  nach- 


852 


Studer*a  Geologie  der  Schweis. 


stehender  Ordnung:  Ligurische,  die  erste  alpinische  Gruppe,  der  man 
westlich  ron  Genua  begegnet;  Meeralpen,  in  denen  der  alpinische  Ty- 
pus bereits  deutlicher  in  einer  zweiten  Centralmasse  krystallinischer  Schie- 
fer entwickelt  ist;  Cotlische  und  Crajische  Alpen;  Alpen  von 
Oisans,  sie  entsprechen  der  Vorstellung  einer  alpinen  Centralmasse  voll- 
ständiger, als  irgend  eine  andere,  die  Sind  er  bis  jetzt  durchwanderte; 
an  keiner  wird  es  ao  deutlioh,  dass  die  Feldspath  -  Gesteine,  ihren  Kern 
bildend,  erat  nach  Ablagerung  der  darüber  den  Silz  habenden  neptuni- 
schen Gebilde  aufgestiegen  sind,  sie  durchbrachen ,  nach  allen  Seiten  ab- 
warfen und  an  der  Grenze  umwandelten;  die  Rousses,  ein  in  der  Ge- 
schichte des  Französischen  Bergbaues  berühmtes  Gebirge;  die  Westal- 
pen: <die  S c h we i s er a  1  p e n  und  endlich  die  Ostalpen. 

So  weit  die  Einleitung.  Es  folgt  nun  der  erste  HaupUheil  des  Wer- 
kes, und  in  dessen  erstem  Abschnitt  die  Mittelzone  der  Alpen. 

I.  Alpen -Granit,  Gneiss  und  krystallinische  Schiefer.  Die  Alters- 
Bestimmung  des  Alpen -Granits,  welche  Jurine  durch  Einführung  der 
Benennung  Protogyn  festzustellen  glaubt,  ist  zu  einem  Wendepunkt  der 
altern  und  der  neuern  Geologie  geworden.  Die  Entstehung  der  krystal- 
liniaebcn  Schiefer  aus  neptunisch  abgelagerten  Massen  durch  Metumorpbose, 
und  die  Erklärung  dieses  Processes  nach  Grundsätzen,  welche  nicht  mit 
den  Lehren  der  Chemie  und  Physik  im  Widerspruche  stehen.  Die  alte 
Frage:  ob  die  Entstehung  jener  Gesteine  durch  Wasser  oder  durch  Feuer, 
oder  durch  beide  zugleich  bewirkt  worden,  betraget  der  Verf.  als,  wie 
vor  fünfzig  Jahren,  im  Vordergrund  des  dem  Geologen  zugewiesenen 
Arbeits-Feldes  stehend,  und  nach  «einem  Dafürhalten  dürfte  eine  befrie- 
digende Lösung  kaum  von  der  nächsten  Zukunft  zu  erwarten  sein.  Wir 
können  und  wollen  keineswegs  unbedingt  widersprechen,  leben  indessen 
der  Hoffnung,  dass  viele  gegen  den  sogenannteu  „Ültra-Pluteniamusu  ge- 
stellte chemische  Einwendungen  durch  die  Chemie  selbst,  und  vielleicht  in 
nicht  gar  langer  Zeit  widerlegt  werden  dürften  Solches  weiter  auszufüh- 
ren, ist  hier  der  Ort  nicht. 

€s  bespricht  nnn  Studer,  als  dieser  Unter- Abtheilung  angehörend: 
die  Centralmasse  der  Aiguilles  Rouges,  des  Montblanc,  des  Fin- 
etera arhornes,  des  Gotthard  und  der  W  alliseralpen,  sodann 
werden  abgehandelt  die  Tessinor  alpen,  das  Adulagebirge,  das 
Sureta-  und  Seegebirge,  die  Centralmasse  des  Beroina,  nnd  jene 
des  Seloretta,  endlich  die  Gebirgsmasse  der  Oezthaler  Feraer. 

Der  Alpen -Granit  oder  Protogyn  der  Centraimasse  der  Aiguil- 
les-Ron  gea  eiguet  sich  nicht  selten  Gneissartige  Struktur  en.    ia  der 


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Studer's  Geologie  der  Schweix. 


Umgegend  von  Servoz  wurde  gegen  Ende  des  zweiten  Jahrhunderts  star- 
ker Bergbau  getrieben  auf  Silberheitenden  Bleiglanz  und  Kupferkies.  In 
der  Grube  von  Promenaz  brachen  Blei-  und  verschiedene  Kupfererze  auf 
Barytspath  -  Gängen  u.  s.  w.  Granit  scheint  nicht  nur  in  die  kryalalliai- 
sche  Schiefer-,  sondern  selbst  in  Kaik-Gebilden  gangförmig  eingedrungen 
zu  seyn.  Der  Süd-Abbang  der  Dent  de  Hördes  bietet  Andeutungen,  die 
weiter  verfolgt  zu  werden  verdienen.  In  einer  Theorie  der  Hocbalpeo 
wird  die  Aehnlichkeit  der  centralen  Granitmassen  mit  trachytischem  Dome 
stets  berücksichtigt  werden  müssen,  so  abweichend  auch,  bei  näherer  Be- 
trachtung, die  Verhältnisse  sich  zeigen.  W  ie  Tracbytkegel  Uber  einen  cen- 
tralen Schlund ,  so  scheinen  jene  Granitgebirge  über  längere  Spalten  sich 
erhoben  zu  haben ;  sei  es,  dass  vielleicht  die  ganze  Nasse,  in  starrem  oder 
erweichtem  Zustande,  hervorgestossen  worden,  oder  —  was  dem  Bericht- 
Erstatter  weniger  glaubhaft  —  dass  flüssige  oder  dampfförmige  Substanzen 
eindrangen  in  frühere  Sedimente,  sie  veränderten  und  ihr  Volumen  zur 
Hohe  der  Hochgebirge,  wovon  die  Rede,  auftrieben. 

In  der  Centralmasse  des  Montblanc  herrscht,  wie  in  jener  der 
AiguillesRouges,  Protogyn  und  zeigt  sich  ebenfalls  am  mächtigsten  auf 
der  Ostseite  und  nach  der  Milte  bin.  Dass  die  gegenwärtige  Gestaltung 
der  Uontblanc-Masse  die  ursprüngliche  sei,  wird  Niemand  behaup- 
ten, der  die  zerrissenen  Felsgrate  kennt,  die  schlanken  Nadeln,  die  schrof- 
fen Abstürze,  welche  das  Eismeer  des  Montantvert  und  die  hinter  ihm 
liegenden  Gletscher  -  Reviere  umgeben.  Fast  möchte  man  glauben,  das 
Gebirg  habe  sich,  nach  seiner  ersten  Bildung,  ungefähr  in  der  Gegend 
des  oberu  Tacnl-Gletschers  am  höchsten  erhoben,  und  durcii  ein  Zurück« 
sinken  der  Masse  sey  das  hohe  Gletscberthal  entstanden,  das  vom  Meer  da 
Glace  nach  dem  Montblanc  ansteigt.  Wie  ThUrme  am  Eingange  eines  in- 
dischen Tempelraumes,  erheben  sich  M.  Chetif  und  M.  de  la  Saxe  zur  Seite 
der  Fels -Schlucht,  durch  die  man  von  Courmayeur  in  die  Lez  Blanche 
und  in  V.  Ferrat  eingeht.  Die  Aussicht  von  dieser  Höhe  auf  die  Mont- 
blanc-Kette übertrißt  an  Großartigkeit  jene  des  Cramont.  Unfern  der  M. 
de  la  Saxe  ist  der  Stollen  des  Trou  des  Romains,  in  unbekannter  Zeit 
getrieben  zum  Abbau  eines  Ganges  von  silberfübreudem  Bleiglanz.  Es  ist 
dieser  längst  verlassene  Berghau  keineswegs  der  einzige,  welcher,  im 
Umfang  der  Montblanc  -  Masse,  tbeils  früher  versucht  worden,  theils  noch 
im  Umgang  sich  betiudet.    So  gewinnt  man  noch  jetzt  auf  der  Höbe  von 

Mit  beiden  erwähnlen  Central- Massen  zeigt  die  des  Finsteraar- 
horn  es,  ungeachtet  der  wtit  grössern  Ausdehnung  und  ihres  abwei- 


854 


Studer's  Geologie  der  Schwei«. 


ch enden  Sreichens,  mehrere  und  zum  Theil  ganz  anerwartete  Analogieen. 
Die  Lagerungs- Verhältnisse  derselben  zum  anstossenden  Kalk-  and  Schiefer- 
Gebirge  stimmen  überein  mit  den  in  Savoyen  beobachteten,  sind  aber 
zum  Theil  weit  grossartiger  and  deutlicher  aufgeschlossen.  Die  merk- 
würdigsten Thatsachen  über  den  Contnct  krystallinischer  und  sedimentärer 
Bildungen  trifft  man  längs  dem  Nordrande  der  Masse;  hier  bat  die  tiefe 
Thal-Bildung  das  Gebirge,  quer  durch  die  BerUhrungs-Fläche  eingreifend, 
bis  an  den  innern  Kern  aufgerissen.  Auf  der  Bachalp,  oberhalb  Leuck, 
scheint  ein  keilförmiges  Eingreifen  des  Gneiss  -  Gebirges  in  das  es  um- 
ziehende Kalkstein  -  Gebirg  angenommen  werden  zu  müssen.  Vortrefflich 
eignet  sich  das  wundervolle  Gaslerentbal  zum  Studium  solcher  Verhält- 
nisse. Mannigfaltige  Biegungen  und  Verschlingungen  der  Kalk-  und  Schie- 
ferlagen an  den  Felswänden  der  auseinander  gerissenen  Masse  des  Alteis- 
und  des  Doldenhorns,  so  wie  die  Umwandlung  der  untersleu  Lagen  in 
Marmor  ond  Dolomit,  beweise,  dass  hier,  wie  in  Savoyen,  das  Kalk-Ge- 
birg  früher  da  war,  als  das  iu  seiner  Grundlage  hervortretende  Fcldspath- 
Gebirg.  Am  Östlichen  Abfall  des  Tschingel-Gletschers  erscheint  der  Gra- 
nit ebenfalls  unterhalb  der  Kalkdecke.  Analoge  Beziehungen  lösst  der  Ge- 
birgs-Finschnitt  wahrnehmen,  durch  welchen  der  untere  Gletscher  von  Grin- 
delwald heraustritt.  Die  lehrreichsten  Aufschlüsse  Ober  die  Rand-Verhäll- 
nisse  der  Centralmasse  gewahrt  der  Hintergrund  des  Urbachthaies,  und 
besonders  der  schmale  Kamm  des  Urbachsattels  zwischen  dem  Tossen- 
horn  and  dem  Gstellihoro.  Die  wichtigste  Thatsache  ist  wieder  die  steil 
S.  fallende  Schieferung  des  Gneisses.  Bei  flüchtiger  Betrachtung  könnte  man 
wohl  annehmen,  das  Gneiss-Gebirg  sey  Alter  als  der  Kalk,  und  seine  ge- 
genwärtigen Umrisse  längs  demselben  wären  dnreh  Zerstörung  seiner  Masse 
entstanden;  eine  Ansicht,  die  jedoch  unmöglich  festzuhalten  ist,  wenn  man 
einen  Blick  auf  die  gegenüberliegende  Thal  seile  wirft,  auf  die  Gebirge 
des  Laubstocks  und  des  Triftenstocks.  —  Der  Grimsel-Pass  hatte,  durch 
die  Süssere  Gestaltung  der  Gesteine,  schon  Saussure's  Aufmerksamkeit 
erregt.  Die  abgerundete  sphärische  Form  —  Rockes  moutonnees ,  Rund- 
höcker —  des  Gneisses  und  Granites  im  Thalweg,  das  baucharlige  und 
cylindrische  Hervortreten  der  Felsen  in  den  Seitenwänden  zeigt  sieb  sel- 
ten so  constant,  so  auffallend.  Nicht  oft  ist  der  Contrast  dieser  tiefern  ge- 
rundeten Felsen  und  der  scharf  zackigen  Grate  der  höchsten  Felskämme 
ao  grell  ausgeprägt,  wie  er  an  der  Kette,  welche  den  Aargruod  auf  der 
Grimsel  and  den  Vorderaar-Gletscher  umgeben.  Man  glaubt  zwei  ganz 
gänzlich  verschiedenartige  Fels-Gebilde  zo  seheo,  and  muss  durch  genaue 
Untersuchung  sich  überzeugen,  dass  die  gerundeten  Buckel  aas  sebieferi- 


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Studer's  Geologie  der  Schweis. 


gen  Gneiss  bestehen,  der  ohne  Trennung  in  den  obern  Gneiss  fortsetzt. 
Eine  Erosion  durch  Gletscher,  wie  Agassiz  und  dessen  Genossen  sie 
für  diese  Gegenden  voraussetzen,  ist  auch  nach  dem  Verf.  die  einfachste, 
der  Natur  am  besten  entsprechende  Erklärung. 

Näher  noch,  als  die  Montblanc-Masse  an  die  der  Aiguilles  ron- 
ges,  drängt  sich  von  Süden  her  die  Gotthard-Masse  an  die  des  Finster- 
aarhornes.  An  Längen  -  Ausdehnung  steht  diese  Central- Masse  gegen  die 
vorige  weit  zurück,  übertrifft  aber  die  Montblanc- Masse,  nur  ist  sie 
weniger  breit  und  hoch.  Zunächst  oberhalb  des  Hospital  sehr  entschiedene 
Glimmerschiefer.  Aufwärts  nach  dem  Gemsbodeo  zu,  deutlicher  Gneiss. 
Das  Gebiet  des  eigentlichen  Gotthard-Granites  beginnt  auf  der  Fläche  der 
Gotthard  See'n.  Am  Süd-Gehänge,  gegen  Val  Tremola  hinunter,  wieder 
Gneiss,  sodann  Hornblende- Gestein  und  Dolomit.  Die  bekannte  Fächer- 
Struktur  des  Gotthards  erstreckt  sich  nach  Osten  hin  so  weit,  als  der 
Granit  sich  verfolgen  lösst.  —  Der  Gotthard  ist  als  reiche  Fundstätte  man- 
nigfaltiger Mineralien  berühmt.  Wie  Daubree  sehr  richtig  bemerkt,  zei- 
gen die  Substanzen  dieser  Centralmassen,  in  Oisans ,  in  Montblanc,  Fin- 
steraarhorn und  Gotthard,  eine  auffallende  Uebereinstimmung,  so  dass  sich 
auch  von  dieser  Seile  die  Annahme  eines  engen  genetischen  Zusammen- 
hanges aller  erwähnten  Gebirge  bestätigt.  Es  bestehen  ferner  zwischen 
mehreren  jener  Mineralien  und  den  Erzeugnissen  neuerer  Vulkane  Analo- 
gion, wie  man  sie,  bei  der  grossen  Verschiedenheit  der  Stamm  -  Gebirge, 
nicht  erwarten  dürfte.  Die  Chemie  lehrt  aus  dieser  Vergleichung  Schlüsse 
herleiten,  die  über  ihren  dunkeln  Ursprung  und  die  Bildung  der  Centrai- 
Massen  selber  einige  Aufhellung  hoffen  lassen.  Tiefere  Begründung  die- 
ser Schlüsse  wird  jedoch  erst  nach  neuern  Untersuchungen  und  Verglet- 
cbnngen  der  einzelnen  Fundorte,  ihrer  geologischen  Verbältnisse  und  der 
Beschaffenheit  der  Muttergebirge  möglich  werden.  Von  dem  um  diesen 
Tbeil  der  schweizerischen  Mineralogie  wohl  verdienten  Wies  er  in  Zürich 
dürften  am  ersten  belehrende  Angaben  zu  erwarten  sein. 

Die  geologische  Beschaffenheit  der  Cenlralmasse  der  Walliser-Alpen 
erscheint  als  Uebergang  von  den,  näher  dem  äussern  Alpenrand  liegenden 
hohen  Fächer-Gebirge  zu  den  mehr  wagrecht  verbreiteten  Gneiss-Gebil- 
den, die  den  innern  Rand  des  Alpenringes  ausmachen.  Eine  Fäcber-Strnc- 
tur  der  Gneiss-  und  Glimmer-Straten  tritt  nicht  deutlich  hervor,  die  Nei- 
gung zu  einer  symmetrischen  Anordnung  der  Gesteine  fehlt.  Häufiger 
zeigen  sich  Einlagerungen  von  Kalk  und  Marmor;  Serpentin  und  Gabbro 
drängen  eich  hervor,  und  im  südlichen  Theil  der  Masse  trifft  man  auch 
einen  Granit  -  Syenit ,  wie  er  nur  am  Süd -Rande  öfter  zu  sehen.  Wai 


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Siuder's  Geologie  der  Schweiz. 


diese  Centralmasse  auszeichnet,  ist  die  innige  Verbinden;  ihrer  Gesteine 
mit  denen  angrenzender  Schieferronen,  sowohl  durch  die  oft  seltsame  Ver- 
flechtung der  Schichten,  als  durch  petrographische  Uebergtfnge  der  Fels- 
arten. —  Talkgneiss  und  grüner  Schiefer  bilden,  mit  Ausnahme  der  Ser- 
pentin- und  Gabbro-Einlagerungen,  alle  Berge  auf  beiden  Seiten  des  Fer- 
peole-Gletschers  und  des  Col  dTtriu.  In  der  Hauptmasse  des  M.  Cervin, 
dieser  unersteigticben,  wandervollen  Pyramide  unterscheidet  man  zwei,  durch 
Färbung  scharf  begrenzte,  Abtheilungen  der  Gestoine;  Verhältnisse,  ähn- 
lich denen  der  AiguiUcs  rouges.  —  „Räthselbafte*  .Verbindung  zwischen 
Gneiss,  Serpentin,  Schiefer  und  Kalkstein,  welche  in  diesen  Gebirgen  überall 
hervortreten,  zeigen  aich  namentlich  auf  der  Höhe  des  Matterjochs;  hier 
war  es,  wo  Saussure  deren  Untersuchung  mehrere  Tage  widmete. 

Im  Gneiss-  und  Glimmerschiefer  -  Gebiete  der  Tessiner-Alpen 
ist  der  eigentümliche  alpinische  Charakter  der  Gesteine  und  ihrer  Stroc- 
tur- Verhältnisse  so  viel  als  ganz  verschwunden.  Ausgezeichneter  Gneiss 
herrscht,  und  nächst  ihm  bildet  Glimmerschiefer  ein  wesentliches  Glied 
der  Gruppe.  Letztere  Felsart  ist  reich  an  mannigfaltigen  sogenannten  zu- 
fälligen Beimengungen,  besonders  an  der  Cima  di  Lambro  am  Fusse  des  P. 
Forno  auf  Sponda  oberhalb  Chironico,  auf  dem  Lambro  u.  s.  w.  —  Die  Kalk- 
und  Schiefermasseo  der  Levi-  und  Deveralpen  liegen  im  Streichen  der  von 
Saas  her  durch  Zwischbergen  zu  verfolgende  grüne  Schiefer  und  Kalksteine 
und  dürfen  als  deren  Fortsetzung  betrachtet  werden.  —Grössere  Verwi- 
ckelungen zeigen  sich  in  dem  merkwürdigen  Gebirgsknoten  von  Naret, 
wo  die  wilden  Thal  er  Bavona,  Peccia  und  Campo  In  Torna  zusammen- 
gössen. In  der  tief  eingeschnittenen  Schlucht  des  hintern  Val  Bavona, 
am  östlichen  Fusse  des  bisher  fast  unbekannten,  von  keinem  Geologen 
notn  uniersu einen  uran  rusuutin,  uuenagcri  uuciss,  ucr  hui  soiucr  ▼»  es*— 
seite  die  Alp  Suena  umscbliesst,  den  zur  nördlich  austosaenden  Kalkzone 
gehörenden  Dolomit  und  ist  mit  diesem  und  mit  Schiefer-Geeiem  verfloch- 
ten.   Weiterhin  zeigt  sich  Gneiss  deutlich  als  Grundlage  des  Gebirges. 

Einen  ungewohnten  Charakter  entwickelt  die  Gliederung  des  Alpen- 
Systems  im  Adula- Gebirge.  Längen-  und  Quer-Thäler  scheinen  ihre  sonst 
übliche  Beschaffenheit  ausgetauscht  zu  haben.  Die  Trennung  der  befragten 
Gebirge  vom  Gneiss  der  Tessiner-Aipen  kann  durch  ihre  bedeutende  mas- 
sige Erhebung,  so  weit  ausserhalb  der  Axe  der  letztem,  gerechtfertigt 
werden  * 

der  Tessiner-Gebirge,  ist  mit  diesem  die  Gneiss-Masse  verbunden,  welche 
sich  aus  Schorns  nach  der  Roda  and  nach  Ferren  ausdehnt  und  in  den, 


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Studer*s  Geologie  der  Schwei«. 


857 


vod  Gletschern  umschlossenen,  Schneegipfel  der  Sureta-Alpen  ihre  mach- 
tigste Entwicklung  erreicht.  Die  Umgebungen  des  Splttgen-Passes  eignen 
sieb  vortrefflich  tum  nähern  Studium  dieter  Gruppe.  Im  Westen  erbebt 
»ich  die  schöne  Pyramide  des  Tambohornes,  aus  nach  Osten  fallenden 
Gneisstagen  bestehend.  Mit  diesem  Gneiss  verbinden  sich,  im  Hintergründe 
der  Logaalp,  Kalk-  oder  Glimmerschiefer,  Hornblende-Gestein  und  Quar- 
xite,  meist  von  schwankendem  Charakter.  Vom  Splügen  her  der  Haupt- 
stresse  folgend  in  die  malerischen  Engpässe  der  Rofta,  dringt  man  so- 
gleich in  die  innere  Kernmasse  der  Gruppe  ein.  Die  am  Spittgen  ver- 
breiteten „graue  glimmerige  und  kalkigeu  Schiefer  weichen  erst  Suveri 
gegenüber  Chlo ritschief ern  und  Talk-Gneisien  mit  weissem  Marmor  wech- 
selnd. —  Auf  dem  Wege  von  Pignen  nach  Newa,  bis  in  ungefähr  fünf- 
hundert Meter  Uber  dem  Thalbodcn,  wagreebt  liegender  Schiefer  als  Grund- 
lage mächtiger  Wände  von  weissem  Marmor  und  grauem  Kalkstein.  Die 
Alp  Despin,  oberhalb  Zillis,  in  einem  eng  umschlossenen  Thalkesael,  des- 
sen Hintergrund  nach  dem  hoben  Gipfel  des  Curver  ansteigt.  Gegen  We- 
sten schliesst  eiu  Kalkstein-  und  Dolomit-Plateau  jenen  Kessel,  bis  auf  den 
schmalen  Ausweg  des  Bergwassers.  Am  Ausgange  des  Thaies  wurde  in 
älterer  Zeit  anhaltend  gebaut  auf  silberhaltigen  Bleiglanz  und  Kupferkies, 
die  im  Talk-Gneiss  mit  grosson  Feldspath  Krystnllen  ihren  Sitz  haben.  Am 
Rande  des  in  vielen  Katarakten  herabstürzenden  Wildbaches,  und  längs 
dem  felsigen  Abfall  des  Gebirges  gegen  Neza,  zählt  man  Uber  ein  Dutzend 
zerbrochener  Stolleu  -  Mundlöcher. 

Die  zwischen  der  vorigen  Gruppe  und  der  südlichen  Nebenzone  vor- 
kommenden krystalliniscben  Schiefer  lassen  sich  nicht  leicht  charakterisiren 
und  allgemeinem  Gesichtspunkten  unterordnen.  Wir  überlassen  den  Lesern 
im  Boche  nachzusehen,  was  über  das  See-Gebirge  gesagt  wird.  (S.  254 
-  260.J 

Die  Gebirgsmasse  des  Bernina  stellt  sich  in  der  Gruppe  von  Gneiss- 
und  Glimerschiefer- Höhen,  welche  den  Raum  zwischen  Oher-Engadin  und 
Val  Camonica,  den  Serpentinen  von  V.  Malenco  und  der  Kalksteine  des 
Ortles  anfüllt,  als  centrale  Masse  dar,  ausgezeichnet  durch  Höhe  der  Gi- 
pfel, durch  Schönheit  der  Gletscher  und  Firne  und  durch  krystnUmische 
Entwicklung  der  Gesteine.  Nirgends  in  diesen  Gegenden  tritt  Gneiss  so 
mächtig  auf  und  die  Eis-Gebirge,  au  deren  östlichem  Fusse  die  Bernina- 
Strasse  führt ,  lassen  sich  den  Grossartigsten  vergleichen ,  deren  die  Ai- 
penwelt  aufzuweisen  hat.  Wie  keine  andere  der  besprochenen  Centrai- 
Masse,  wird  der  Bernina  beinahe  vollständig  von  einem  Hinge  von  Granit, 
Hornblende-Gestein  und  Serpentin  umschlossen  j  man  könnte  wohl  versucht 


Studer's  Geologie  4er  Schweiz. 


seyn,  io  dieser  Nasse  den  Hebel  zu  erkennen,  welcher  den  Gneiss  hier 
in  so  ungewöhnlicher  Höhe  emportreibt.  Die  Haoptslrasse  über  den  Ber- 
Dina  führt  von  der  Höhe  der  See'n  mehr  östlich,  durch  die  Alpen  Motu 
und  Rosa.  Am  nördlichen  Ufer  des  Lago  Bianco  herrscht  ein  dunkel- 
grünes, Serpentin  ähnliches  Gestein.  Am  steilen  Abfall  nach  den  Abgrün- 
den von  Motte  und  im  Niedersteig  gegen  La  Rosa  Gneiss.  Der  Granit 
von  Brusia  erscheint  nur  als  beträchtliche  Einlagerung. 

Die  Centralmasse  der  Selvreta  erinnert ,  in  mehreren  Beziehungen, 
an  die  am  äussern  Rande  der  Miltelzone  vorhandene  Centralmasse,  in 
anderer  Hinsicht  hat  sie  wie  jene  der  andern  Gruppen  besondere  Eigen- 
tümlichkeiten. Fächerförmige  Struktur  ist  vorbanden,  das  Auftreten  des 
Alpen-Granits  in  der  Axe  des  Fachers,  das  ('ebergreifen  krystalliniscber 
Schiefer  Uber  das  Kalk-Gebirge  u.  s.  w.  werden  nicht  vermisst.  Dagegen 
findet  man  Hornblendeschiefer  überaus  mächtig  und  weit  verbreitet,  den 
Gneiss  in  einem  beträchtlichen  Theile  der  Gebirgsmas^e  fa*t  verdrängt 
Die  Reise  über  Fluela  gewährt  eine  gute  Uebersicht  der  Verhältnisse  des 

Die  Gebirgsmasse  der  Oezlhaler  -  Ferner  endlich  gleicht  der  Sel- 
vreta-Hasse;  Gneiss-  und  Glimmerschiefer-Gebirge  greifen  keilförmig  in 
die  Bündner-Alpen  ein.  Im  südlichen,  höchsten  Theile  erkennt  man  zwei 
Fächer -Systeme  von 

Es  folgen  nun  mehr  oder  weniger  ausführliche  Bemerkungen  über 
die  einzelnen  Felsarten :  Granit,  Hornblende-Gestein,  Serpentin  und  Gabbro, 
grünen  Schiefer,  grauen  Schiefer,  Kalkstein  und  Marmor,  Dolomit,  Gyps, 
Verrucano,  Quarzit  und  rothen  Sandstein.  Das  Auftreten  in  diesen  und 
jenen  Gegenden  und  Oertlichkeiten  werden  besprochen,  eigentümliche  Cha- 
raktere hervorgehoben.  Das,  dem  zweiten  Bande  von  Studer's  Werk 
beizugebende,  umfsssende  Ortsnamen  -  Register  dürfte  diesen  Abschnitt  für 
Gebirgswanderer  ganz  besonders  wichtig  machen.  Wir  können  hier  bei 
so  vielen  wissenswürdigen  Einzelheiten  nicht  verweilen.    Nur  wenige  Aus- 

Beim  Serpentin  und  Gabbro  (S.  317)  heisst  es:  „Die  Frage 
ist  nicht  entschieden,  ob  Serpentin  und  der  ihn  häufig  begleitende  Gabbro 
als  plutonisch  aus  dem  Innern  bervorgestiegene  Masse,  Ursache  des  Ue- 
bergangs  der  grauen  in  grüne  Schiefer  gewesen ,  oder  ob  umgekehrt  jene 
massigen  Gesteine  als  letzte  Stufe  metamorphischer  Umwandelung  der  Schie- 
fer betrachtet  werden  müssen."  Unbefaugene  Beurtbeilung  der  vorliegen- 
den Tbatsacben,  glaubt  der  Verf.,  müsse  der  letzten  Ansicht  den  Vorraog 
zuerkennen ,  er  gesteht  jedoch  offen  und  ehrlich  ein,  dass  man  sich  durch 


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Studer's  Geologie  der  Schwei». 


dieselbe  io  grössere  Schwierigkeiten  verwickelt  sähe,  als  durch  jene,  die 
lieh  auf  die  Grundlage  der  Centrai-Erscheinungen  stützen  kann. 

Wir  haben,  und  zu  wiederholten  Male  Gelegenheit  genommen,  uns 
über  den  in  neuester  Zeit  so  sehr  beliebt  gewordenen,  Metamorphismus 
auszusprechen.  Innerbalb  gewisser  Grenzen  erachten  auch  wir, 
weit  entfernt  geologische  Umwandlungen  abzuleugnen,  die  Lehre  als 
vollkommen  begründet;  aber  ihre  willkürliche  Ausdehnung  bleibt  bedenk- 
lich. Man  erlaubt  sich  nur  zu  oft  die  „Theorie"  auf  etwas  anzuwenden, 
das  nach  dem  gegenwärtigen  BegrifTe  unvereinbar  ist,  in  der  Hoffnung, 
es  „könne"  in  Zukunft  vereinbar  werden.  In  den  Alpen,  wo  sehr 
grossartige  Umwandlungen  nicht  bestritten  werden  dürfen,  vermag  man 
das  „Wie  und  Wodurch  der  Metamorphose u  oft  kaum  vermutungs- 
weise anzudeuten.    Dieses  gestanden  ernste,  tüchtige  Forscher  ein. 

Die  „grünen  Schiefer"  sind,  auf  ihrer  ersten  und  verbreitet- 
sten  Entwickelungs-Stufe,  grünlichgrau,  berg-  oder  dunkelgrüne  Thon- 
Schiefer,  mit  mehr  oder  weniger  Neigung  zu  schuppiger  oder  kristal- 
linisch blätteriger  Textur.  Die  „grauen  Schieferu  zeigen  sich  als 
graulichschwarze  Thonschiefer,  theils  stark,  theils  gar  nicht  aufbrau- 
send, auf  den  Flächen  oft  schimmernd  von,  enge  mit  der  Grundmasse 
verwachsenen  Glimmer-Blätteben  u.  s.  w.  Es  zerfallen  die  grauen  Schie- 
fer io :  ältere  Schiefer,  Anthracit-Schiefer,  jurassische  Schiefer  und  Flyscb. 

„Dem  grauen  Schiefer  untergeordnete  Gesteine,"  die 
„Endungs-Gesteine  der  nördlichen  CeDtralmasse,u  die 
„Quarzite  der  nördlichen  Zwischen-Bildung,u  „rothe  Sand- 
steine und  Verruca  do  des  Ostrandes, u  endlich  Verrucano 
und  rothe  Sandsteine  desSüdrandes  machen  den  Schluss.  lieber 
diese  Felsarten  ist  das  Weitere  im  Buche  nachzulesen. 

Im  zweiten  Abschnitt  des  Haupttheiles  handelt  unser  H  Verf.  die 
südliche  Nebenzone  der  Alpen  ab.  Es  kommen  zur  Sprache:  Val  Trom- 
pia,  Val  Seriana,  Val  Brembana,  Comersee  und  Brian  za, 
ao  wie  die  westliche  Gegend,  Bei  letzterer  wird  der  Porphyre  und 
Granite  gedacht,  der  altern  Kalk-  und  Dolomit-Gebirge,  der  jüngern  Kalk- 
Gebirge,  der  Flyscb-  und  Tertiär- Bildungen. 

Das  Aeussere  des  Buches  ist  in  jeder  Beziehung  sehr  anständig. 
Dem  Erscheinen  des  zweiten  Bandes,  welcher  die  nördlichen  Kalkalpen 
enthalten  soll,  den  Jura  and  das  Hügelland,  sehen  wir  mit  Verlangen 
entgegen. 


» 


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860  Des  Königs  Gedanken. 

Des  Königs  Gedanken  und  ein  Stuck  Geschichte  1816 — 1847.  Aus  den 
Papieren  eines  Mannes ,  der  mit  ihm  alt  geworden.  20  S.  in 
Duodez.    Stuttgart,  i849  bei  P.  Neff. 

Der  Bericht -Erstalter  ist  des  Glaubens  —  und  kaum  dürfte  ersieh 
irren  —  den  die  kleiue  Schrift ,  wovon  die  Rede  sein  soll ,  den  Lehern 
der  Jahrbücher,  und  mit  ihnen  vielen  Andern,  eben  so  unbekannt  geblie- 
ben, wie  dieses  bei  ihm,  dem  Referenten,  bis  vor  ganz  kurier  Zeit  der 
Fall  gewesen.  „Des  Königs  Gedanken"  verdienen  jedoch  gekannt  zu  sein, 
und  in  mehr  als  einer  Hinsicht.  Zum  Beweise  gestatten  wir  uns  die  Mit- 
theilung einiger  Stellen.    Die  „Widmung"  lautet  so: 
Jetzt,  wo  ihren  Gang  die  Geister  freier  denn  vor  Zeiten  gehn, 
Wo  die  Völker  wir  verwalten  und  die  Fürsten  feiern  seh'n 
Jetzt,  wo  Königsloh  Verratli  ist  an  des  Volkes  Majestät, 
Das  mir  theuer,  dessen  Herrschaft  doch  ibm  nicht  zu  Häupten  steht, 
Da,  die  ihm  zu  Füssen  sitzen ,  seine  Freunde  Schelme  sind 
Und  dich  an  der  Nase  führen,  gutes  Volk,  du  ewig  Kind, 
Wie  die  Zeit  auch  schnell  die  Saat  jettt,  Kraut  und  Unkraut  zeitigt  —  nein, 
Mündig  wird  die  Masse  nimmer,  Majestät  der  Michel  sein! 
Jetzt,  ihr  Wüstenlieder  wachet,  die  ihr  lang'  geschlafen,  auf, 
Könnt  ihr  auch  die  Welt  nicht  wenden,  lenkt  ihr  doch  die  Blicke  drauf 
Und  erweckt,  wüTs  Gott,  Vertrauen,  da  ihr  schwiegt  und  dann  erst  singt , 
Wo  das  Singen  keine  Kränze,  aber  Dornenkronen  bringt. 

Es  wurden  diese  Worte  geschrieben  am  4  August  1848;  aliein 
Hindernisse  bedauerlichen  Andenkens,  deren  Beseitigung  nicht  in  der  Macht 
des  Verfassers  stand,  verzögerten  den  Druck  bis  zum  1.  ApriV  im  Jahre 
des  Heils  ein  Tausend  acht  Hundert  und  neun  und  vierzig  „unserer  Er- 
rungenschaften im  zweiten.*4 

Unter  der  Ceberschrift  „Wegweiser"  lesen  wir: 
Es  sind  des  Königs  Gedanken, 
Ich  stehe  dafor  ein, 
Ich  sag'  es  unverhohlen, 
Ich  habe  sie  gestohlen, 
Aus  seines  Herzens  Schrein. 
Er  schloss  ihn  hin  und  wieder 
Wohl  auf,  das  hab'  ich  erpasst 
Und  nahm  von  den  Edelsteioen , 
Sie  sind  und  bleiben  die  seinen , 
Ich  habe  sie  nur  gefasst. 
Von  den  „Stationen"  heben  wir  die  dritte  hervor.  Hier  beUst  es: 
Man  hat  uns  viel  genommen 
Vom  Wesen  und  vom  Schein, 
Ob  zu  der  Völker  Frommen  — 
Ich  glaube  ja  und  nein. 


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Des  Königs  Gedanken. 


861 


Man  hört  es  oft  beklagen  — 

Mir  macht  es  keinen  Schmers. 
Ich  fühle  ruhig  schlagen 
Wie  sonst  mein  Fürstenherl. 

Gefallen  sind  die  Throne 
Im  Werth,  ich  weiss!  Wohlan, 
Hält  nicht  den  Mann  die  Krone, 
So  halte  sie  der  Mann. 

Nur  lasst's  ihn  auch  vollbringen, 
Lasst  Fürsten  Fürsten  sein, 
FCnr  sprecht  in  seinen  Dingen 
Nicht  unberufen  drein. 

Erspart  dem  Land  den  Jammer, 
Dehnt  nicht  die  Vollmscht  aus, 
Thut  nicht  als  sei  die  Kammer 
Auch  schon  das  ganze  Haus, 

Seht,  sonst  steht  zu  besorgen, 
Geht  die  Geduld  uns  aus, 
Wir  künden  heut'  oder  morgen 
Der  Kammer  nnd  schliefen  das  Haus. 

Das  aber  war  noch  selten 
Fürs  Land  ein  Erntefest, 
D'rum  lasst  den  König  gelten, 
Wie  er  euch  gelten  lasst . 

Wer  Verfasser  der  „Königs- Gedanken"  ist?  Diess  bleibt  unser 
Geheim niss.  Wir  kennen  ihn;  den  Lesern  genüge  die  Zusicherung:  dass 
sie  ei  mit  einem  Ehrenmanne  zu  thun  haben. 

v.  Leonhard. 


Begründung  eines  neuen  \erfahrens,  sämmtliche  Wurzeln  einer  höhern 
Gleichung  ohne  alle  Vorkenntnisse  der  höhern  Algebra  auf  dem 
mechanischen  Wege  schnell  und  sicher  zu  berechnen.  Wissen- 
schaftlich dargestellt,  durch  Beispiele  erläutert  und  für  die  Praxis 
bearbeitet  ton  Dr.  G.  A.  Jahn.  Leipzig.  Verlag  ton  Otto  Spa- 
mer. 1851.    (72  S.  in  8). 

Die  vorliegende  kleine  Schrift,  gewidmet  dem  Hrn.  Ober-Buchhalter 
Carl  Lichtenberger  in  Neunkircbea  bei  Saar  brück,  hat)  wie  ihr  aus- 
führlicher Titel  besagt,  sich  die  Aufgabe  gestellt,  neben  den  bis  jetzt  be- 
kannten, gewiss  nicht  zu  wenig  zahlreichen  Methoden  zur  annftherungs- 

i 

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862     Jahn:  Verfahren,  die  Wurzeln  höherer  Gleichung  zu  berechne!. 

weisen  Auflösung  der  höhern  Gleichungen  eine  neue  zu  erfinden,  die  als 
neueste  natürlich  auch  die  allerbequemste ,  sicherste  und  zweckmäßigste 
sein  muss,  da  sonst  begreiflicher  Weise  die  zu  ihrer  Auffindung  ver- 
wandte Mühe  verloren  gewesen  wäre.  Ungeachtet  „der  sonst  höchst  ver- 
dienstvollen'' Bemühungen  eines  Fourier,  I)  robisch  und  besonders 
Gräffe,  sii  mint  liehe  Wurzeln  einer  höhern  numerischen  Gleichung  auf- 
zufinden und  zu  berechnen,  sei  doch  der  theoretische  Theil  dem  prakti- 
schen dermalen  vorausgeeilt,  dass  sogar  Mathematiker  gar  manche  Un- 
bequemlichkeit fühlen,  wenn  sie  sich  mit  der  Auflösung  einer  hohem 
Gleichung  abgeben  wollen.  Dem  nun  gründlich  abzuhelfen,  und  also  eine 
lief  uod  allgemein  gefühlte  LUcke  auszufüllen,  ist  die  Absicht  des  Ver- 
fassers der  vorliegenden  Schrift.  Ob  es  ihm  gelungen  sei,  durch  seine 
neue  Auflösungsweise  das  Berechnen  saramtlicher  Wurzeln  einer  ge- 
gebenen höhern  numerischen  Gleichung  rein  elementar  und  in  Bezug  auf 
den  eigentlich  praktischen  Theil,  ohne  sich  um  irgeod  eine  theoretische 
Bücksicht  bekümmern  zu  brauchen,  völlig  mechanisch  zu  machen  —  sagt 
der  Verfasser  —  könne  nicht  die  Kritik,  sondern  nur  die  Erfahrung  der- 
jenigen Rechner  bestimmen,  welche  die  Wurzeln  einer  und  derselben 
Gleichung  sowohl  nach  einem  bisherigen,  als  auch  nach  seinem  Verfahren 
bestimmt  haben.  Obgleich  hiedurch  der  Verfasser  von  vorn  herein  gegen 
ein  theoretisches  Urtbeil  (die  „Kritik")  Einsprache  erhebt,  kann  sich  Re- 
ferent doch  nicht  versagen,  ein  paar  Worte,  weun  auch  nur  theoretisch, 
über  genannte  Schrift  hier  laut  werden  zu  lassen. 

Zuerst  muss  man  sich  darüber  verständigen,  was  mau  nach  dem 
dermaligen  Stande  der  Wissenschaften  von  einer  Methode  zur  genäherten 
Auflösung  der  numerischen  Gleichungen  fordern  darf.  Neben  einem  Me- 
chanismus, der  nicht  schwer  verständlich  und  leicht  zu  handhaben  ist, 
ist  nämlich  ein  wichtiges  Erforderniss  noch,  in  jedem  Stadium  der  Rech- 
nung genau  zu  wissen,  in  wie  weit  die  gefundene  Näherung  genau  ist, 
d.  h.  man  muss  eine  bestimmte  Grenze  für  den  begangenen  Fehler  anzu- 
ben  wissen.  Dass  dies  z.  B.  Fourier's  Methode  leistet,  ist  bekannt,  dass 
aber  namentlich  die  von  Horner  (wovon  unser  Buch  wohlweislich  kein 
Wort  sagt,  angegebene  Methode  in  vorzüglichem  Müsse  dasselbe  gleichfalls 
leistet,  ist  eben  so  bekannt.  Dass  aber  die  hier  vorgeschlagene  Methode, 
wenigstens  in  dem  Zustande,  in  dem  sie  in  vorliegender  Schrift  darge- 
stellt wird,  dies  nicht  leistet,  wird  man  sich  sehr  leicht  überzeugen,  wenn 
man  nur  flüchtig  die  gegebenen  Entwickelungen  Ubersiebt. 


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Nr.  55.  HEIDELBERGER 

JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR. 


t  V 


(Schluss.) 

Nachdem  im  ersten  Abschnitt  (gleich  im  §.  1.)  ein  unbewiesener 
Satz  aufgeführt  ist,  wird  der  eigentliche  Grundgedanke  der  neuesten  Auf- 
lösungsmethode sogleich  auseinander  gesetzt,  der  einfach  darin  besteht, 
eine  gegebene  Gleichung  des  n«*«  Grades  in  eine  des  zweiten  ond  eine 
des  n— 2lcn  Grades  zu  zerlegen,  wobei  dann  freilich  bei  der  Bestimmung 
der  Koeffizienten  dieser  zwei  Gleichungen  die  alte  Schwierigkeit  wieder- 
kehrt,  nämlich  eben  die  höhere  Gleichung  auflöseu  zu  können.  Dafür 
wird  nun  im  zweiten  Abschnitt  die  Annahme  gemacht,  dass  wenn  die 
zu  suchende  Gleichung  des  2ten  Grades  x2-\-Btx-{-B0—Q  ist,  die  Koef- 
fizienten Bj  und  B0  die  Form  hoben:  Bl=m(1-fbl),  Bjprm'QJ-j-bg), 
wo  m  ein  angenäherter  Werth  von  B,  ,  m'ß  ein  angenäherter  Werth 
tod  B0  ist,  den  man  zum  Voraus  kennen  muss.  Ein  von  da 
an  nicht  unbequemer  Mechanismus  lehrt  dann,  unter  diu-  Voraussetzung, 
dass  man  die  höhern  Dimensionen  von  b0  uud  hl  vernachlässigen  kann, 
die  Koeffizienten  der  Gleichungen  des  n— 2,en  Grade*  finden  und  das 
aus  diesen  Untersuchungen  sich  ergebende  Schema  wi.J  auf  die  Glei- 
chungen des  3l(n  bis  7,e»  Grades  speziell  angewendet.  Abgesehen  davon, 
dass  aus  den  im  Buche  gegebenen  Eutwickelungen  auch  durchaus  nicht 
hervorgeht,  io  wie  ferne  man  den  begangenen  Fehler  auch  nur  io  ziem- 
lich weiten  Umrissen  schätzen  kann;  abgesehen  ferner  davon,  dass  es 
Referenten  nicht  rect  einleuchten  will,  wozu  denn  die  io  §.  1  ver- 
langte Umformoog  einer  Gleichung  io  eine  solche,  die  lauter  Zeicheowech- 
sel  hat  uod  vollständig  ist,  nötbig  ist,  möchte  die  Bestimmung  von  m  und 

ß  gerade  das  Misslichste  der  ganzen  Arbeit  sein.    Zwar  ja  der  Verfasser 

M  M 

schlägt  im  dritten  Abschnitt  vor,  anzunehmen,  das  tn=  J,ß=:— 21 

Mam 

M 

oder  aoeh  m=MB_1ß=-^,  weoo  die  gegebeoe  Gleicbuog  ist  xa-|-MB_i 

xb— i_|_Mn_2x««— 2-f-  -|-M3x2-f-M1  x-f-M0^=0,  ohne  aber  diese  An- 
nahme irgeod  wie  weiter  [zu  begründen.  Ja  er  sagt  sogar  (S.  22),  dass 
dann  wohl  b0  und  b,  noch  grösser  als  1  sein  könnten,  und  doch  beruht 
seine  Methode  auf  der  Annahme,  b0  und  b,  seien  sehr  klein.  Dass  also 
hinsichtlich  der  eben  angeführten  Annahme  bedeutende  Anstände  obwalten, 
XLIY.  Jahrg.  6.  Doppelheft  55 


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864     Jahn:  Verfahren,  die  Warsöll  höherer  Gieicbing  sa  berechnen. 

unterliegt  keinem  Zweifel,  aod  es  wäre  vielleicht  zur  Beurteilung  des  so 

ausserordentlichen  Nutsens  dieser  neuen  Methode  dienlich  gewesen,  wenn 
in  den  8.  23  ff.  gelösten  Beispielen  die  „flüchtigen1*  Rechnungen,  die  zur 
Annahme  der  dortigen  Werthe  von  m  und  ß  geführt  haben,  ebenfalls 
mitgetheilt  wären.  Uebrigens  wüssten  wir  nicht,  in  wie  weit  gerade  die 
mitgeteilten  Beispiele  sollten  sur  Empfehlung  der  Metbode  dienen.  So 
werden  für  die  drei  Wurzeln  der  so  viel  als  Beispiel  gebrauchten  Glei- 
chung x8— 7x+7=0  gefunden  -f-  1356809,-3  048915,  1  692106, 
während  die  wahren  Wurselo  sind :  + 1-356895,— 3048917, 1  692021 
(Kluger»  Wörterbuch,  Supplemente,  Artikel  Gleichung  S.  568).  Daraus 
mag  die  Genauigkeit  der  neuen  Methode  beurtheiit  werdeo. 

Gleiches  mag  auch  von  der  zweiten  AMbeilung  gölten,  die  sich  die 
Aufgabe  stellt,  die  Wurzeln  der  höbern  Gleichungen  direkt  in  der  Form 
m+V^--n  heriuslellen  (bekanntlich  die  Rutherford'sche  Form).  Ge- 
nau dieselben  Vorwürfe  treffen  auch  diesen  Tbeil  und  wir  wollen  sie  des- 
wegen nicht  wiederholen. 

Soll  also  die  hier  dargestellte  Methode  einen  wissenschaftlichen  Werth 
und  damit  auch  eine  wahrhafte  Geltung  für  die  Praxis  (die  übrigens  von  der 
Wissenschaft  nicht  gar  weit  abseits  liegen  darf)  erlangen,  so  müssen  eine 
Reihe  höchst  wesentlicher  Verbesserungen  an  ihr  angebracht  werden,  na- 
mentlich muss  gezeigt  werden,  in  welcher  Weise  die  ersten  genäherten 
Werthe  leicht  zu  finden  sind ,  sodann  muss  ein  Merkmal  angegeben  sein, 
nach  dem  man  die  Genauigkeit  des  erhaltenen  Resultats  bestimmen  kann. 
Ohne  dies  ist  die  Methode  ungenau  und  darum,  bei  den  bekannten,  weit 
genauem  Methoden,  verwerflich. 


Der  Situotionskalkul.  Versuch  einer  arithmetischen  Darstellung  der  nie- 
dern  and  höhern  Geometrie  auf  Grund  einer  abstrakten  Auffas- 
sung der  räumlichen  Grössen,  Formen  und  Belegungen  ton  Her- 
mann Scheffler.  Mit  97  in  den  Text  eingedruckten  Holz- 
sehnilten, Braunschioeig ,  Druck  und  Verlag  ton  Friedrich  Vie- 
u>eg  und  Sohn.  1851  (A7K  *  404  S.  in  8.) 

An  die  namentlich  von  Gauss  angeregte  sogenannte  geometrische 
Bedeutung  der  imaginären  Zahlen  anknüpfend,  hat  der  Verfasser  des  vor- 
liegenden Buches  schon  1846  unter  dem  Titel:  „Ueber  das  Verhältnis! 
der  Arithmetik  zur  Geometrie,  insbesondere  Uber  die  geometrische  Be- 
deutung der  imaginären  Zahlen  von  H.  Sehe  ff!  er, tt  (Brauusch weif, 
Yerlag  der  Uofbuchhandlung  von  Eduard  Leibrock.)  ein  dem  Gegenstände 


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- 


Sehe  01er:  Sitoationskalkul. 


865 


des  vorliegenden  so  sehr  verwandtem  Werk  geschrieben,  dass  das  neue 
Buch  gewissermaßen  nur  als  Fortbildung  und  Entwicklung  der  Gedanken 
des  frühem  angesehen  werden  kann.   Die  wesentlichen  Grundsätze,  wenn 
auch  oft  minder  klar  und  bestimmt  ausgesprochen,  liegen  dem  frühem 
Und  dem  spätem  Bnche  zu  Grunde,  wofür  freilich  die  Eleganz  der  Ent- 
wicklung und  Ableitung  der  Sätze,  die  Ausdehnung  der  Grundprinzipien 
auf  die  mannigfaltigsten  geometrischen  Gestaltungen  dem  spätem  Werke 
einen  bedeutenden  Vorzug  vor  dem   frühem  einräumen.    Immerhin  aber 
soll  das  letztere  gelesen  werden ,  ehe  man  das  erstere  zur  Hand  nimmt, 
so  wie  es  auch  ziemlich  viele  Einzelheiten  enthüll,  die  in  dem  neuem 
fehlen.    Der  Fortschritt,  den  die  Ideen  des  Verfassers  bei  ihm  selbst  ge- 
macht, läset  sich  dadurch  ebenfalls  recht  anschaulich  auflassen,  da  in  dem 
frühem  manche  Punkte  sind,  die,  wie  der  Verfasser  in  der  Vorrede  zum 
vorliegenden  Buche  sagt,  noch  nicht  zum  völligen  Durchbrnche  gekom- 
men waren.    Es  schiene  desswegen  angemessen  zu  sein,  zuerst  das  frü- 
here Werk  zu  besprechen,  und  dann  erst  sich  zum  neuen  zu  wenden; 
allein  da,  wie  bereits  gesagt,  dieselben  Grundsätze  beiden  zum  Fundamente 
dienen  und  eine  blosse  Vergleicbung  der  etwaigen  Fortschritte  nicht  Zweck 
dieser  Anzeige  ist,  so  bat  Referent  es  vorgezogen,  bloss  das  spätere  Buch 
seiner  Betrachtung  in  diesen  Blättern  zu  unterziehen,  zumal  die  in  Frage 
stehende  neue  Methode  gerade  erst  hier  schärfer  ausgeprägt  erscheint. 
Wir  werden  dabei  einerseits  das  Wesen  dieser  Methode,  wie  es  im  vor- 
liegendem Buche  dargestellt  ist,  in  so  ferne  es  der  beschränkte  Raum 
einer  Anzeige  gestaltet,  wiederzugeben  suchen,  anderseits  Einzelheiten 
nur  berühren  und  dafür  auf  das  Buch  selbst  verweisen. 

An  jeder  mathematischen  Grösse  hat  man  zu  betrachten  die  Quan- 
tität (Vielheit  der  T heile),  die  Richtung  und  den  Ort  derselben. 
Data  man  die  Quantität  a  in  einem  gewissen  S  i  n  n  e  oder  in  einer  gewissen 
Richtung  entstanden  denken  soll,  wird  aritbmethisch  durch  eineu  beson- 
dern Koeffizienten,  den  Richtungskoeffizienten,  bezeichnet,  mit 
welchem  die  Quantität  a  zu  m  u  1 1  p  I  i  c  i  r  e  n  ist    In  wie  ferne  dies  mit 
Notwendigkeit  geschehen  müsse,  bat  der  Verfasser  in  dem  frühem  Werke 
darzuthun  gesucht  (§.  33  ff.),  allein  trotz  jenem  Nachweise  liegt  hier 
eine  Willkür  uuter,  die  nämlich  darin  besteht,  dass  man  die  Richtung 
durch  einen  Koeffizienten  (Faktor)  bezeichnet.  Nimmt  man  diese  willkür- 
liche Festsetzung  an ,  so  folgt  allerdings  die  geometrische  Bedeutung  der 
imaginären  Grosse  yZT\  von  selbst;  allein  gerade  wegen  jener  willkür- 
licben  Annahme  ist  diese  Bedeutung  keineswegs  über  alle  Zweifel  erho- 
ben.   Referent  will  ei  bedanken,  dass  man  Arithmetik  und  Geometrie 

55* 


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866 


Schettler:  Situationskalkul 


etwas  weiter  auseinander  halten  sollte,  da  dieselben  denn  doch  verschieden 

und  die  arithmetische  und  geometrische  Bedeutung  von  nicht 
geradezu  dasselbe  sind,  wenn  nämlich  die  geometrische  Bedentang  in  dem 
Sinne  aurgefasst  wird,  wie  unser  Buch  sie  gibt.  Wir  verweisen  als  Bei- 
spiel nur  auf  die  §§.  58 — 64  des  frühem  Buchs,  die  wahrlich  die  hier 
gemeinte  Bedeutung  der  imaginären  Grössen  kaum  empfehlenswert  ma- 
chen würden,  wenn  man  eben  damit  über  den  Kreis  hinaustreten  wollte, 
in  dem  sie  in  ihrem  vollen  Rechte  ist.  Angenommen  also,  die  Rich- 
tung werde  durch  einen  Koeffizienten  (Faktor)  angedeutet,  ao  ist  es 
leicht ,  denselben  zu  Gnden.  Von  einem  Punkte  aus  iu  einer  geraden  Linie, 
die  wir  die  primäre  Axe  heissen  wollen,  fortschreitend,  stellen  wir  die  p o- 
sitiveLinien  dar,  in  entgegengesetzter  Richtung  fort-  (oder  vielmehr  rück-) 
schreitend,  erhalten  wir  die  negativen  Linien.  Eine  negative  Linie  —  a  wird  aus 
der  positiven  a  (der  Quantität)  erhalten,  wenn  man  letztere  mit  - 1  moltiplizirf. 
Soll  aber  die  positive  Linie  a  in  die  negative  —  a  übergehen,  ohne  ihre 
Quantität  (absolute  Länge)  zu  ändern,  so  kann  diess,  da  alle  Uebergänge 
ihrer  Natur  nach  nur  stetig  sein  können,  nur  dadurch  geschehen,  da» 
a  In  einer  durch  die  primäre  Axe  gelegten  Ebene  sich  um  den  Null- 
punkt (Anfangspunkt  der  primären  Axe)  stetig  dreht,  bis  sie  in  die 
negative  Richtung  (Verlängerung)  der  primären  Axe  fällt.  Denken  wir 
uns  für  einen  Augenblick,  sie  stehe  durch  diese  Drehung  senkrecht  anf 
der  primären  Axe  und  lassen  wir  obige  Annahme  hinsichtlich  der  Mul- 
tiplikation mit  einem  Faktor  gelten,  so  sei  a  dieser  Faktor,  mitbin  a<z 
die  nach  Quantität  und  Richtung  ausgedrückte  Linie.  Setzt  man  die 
Drehung  um  weitere  90°  fort,  so  wird  aa  nothwendig  zu  aaa  =  aal 
geworden  sein,  da  die  Multiplikation  mit  a  einer  Drehung  von  90°  ent- 
spricht. Da  aber  die  gesammte  Drehung  180°  beträgt,  so  ist  die  nach 
Quantität  und  Richtung  ausgedrückte  Linie  a=( — l)a,  so  dasa  also 
aaa=(— l)a,  d.  h.  az~—1,  a=y"Z^  sein  mufs.  Daraus  folgt  also, 
dass  eine  Multiplikation  mit  V~\  einer  Drehung  von  90°  entpricbt,  wo 
V^— 1  definirt  ist  durch  (y^Z~j")a= — Wir  sehen  nun  hier  allerdings 
die  imaginäre  Einheit  y/  —\  zum  Vorschein  kommen  und  sehen  zugleich, 
dass  *V'~\  eine  Linie  =  a  bedeutet,  die  auf  der  primären  Axe  senk- 
recht steht;  allein,  wie  bereits  gesagt,  beruht  diess  Alles  nur  auf  der 
Annahme,  dass  die  Drehung  durch  Multiplikation  mit  einem  Faktor  ausge- 
drückt werde.  Diese  (erlaubte)  Annahme  einmal  gemacht,  ergiebt  sich 
das  Uebrige  mit  Nothwendigkeit,  ohne  dass  aber  daraus  folgt,  dass  es 
gerade  so  sein  müsse ,  oder  dass  y/~{  immer  eine  auf  -f-  1  senkrecht 
stehende  Richtung  bedeute,  am  wenigsten,  wenn  man  eine  derartige  ße- 


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Scheffler:  Silnationskalkul. 


86T 


Bedeutung  in   ein  Gebiet  tibertragen  wollte,  das  dem  hier  behandelten 
iil. 


Es  ist  nun  leicht  einzusehen,  dass  die  Grösse  wyf—  1  nach  Quan- 
tität und  Richtung  eine  Gerade  (=a)  darstellt,  die  durch  den  Nullpunkt 

gebt  und  sich  unter  dem  Winkel  —  gegen  die  positive  Richtung  der 

«   nv 

primären  Axe  neigt.    Das  die  Grösse  V—l— e  oder  allgemein 

r  m7iv/ "~i 

Q —  1  )m=e  hat  der  Verfasser  allerdings  in  dem  frühern  Werk 

nachgewiesen  (§.  45};  ohne  dass  wir  übrigens  jenen  Nachweis  unbe- 
dingt für  genügend  erklären  wollten,  da  man  auf  dem  Wege  der  gewöhn- 
lichen Algebra  weit  einfacher  zu  demselben  Ziele  gelangt  Somit  wollen 

wir  also  ( — l)n,=e  m7:V— 1 ' —cosnrn+sinmrcv^T^teenjSodassend- 


mitv''  | 

lieh  a  e  nach  Quantität  und  Richtung  eine  Linie  bezeichnet,  die  sss  a 

und  mit  der  primären  Axe  den  Winkel  mit  macht. 

Die  auf  der  primären  Axe  im  Mittelpunkte  senkrechte  Linie  soll  die 

sekundäre  Axe  heissen,  die  nach  der  einen  Seile  positiv,  nach  der  andern 

negativ  ist.    Eine  jede  in  ihr  liegende  Gerade  wird  durch  a/^i~ ae 

%    .   371  .  

  —  y — i 

2  oder  —ay/^i=e%  ausgedrückt,  je  nachdem  sie  nach 

der  positiven  oder  negativen  Seite  der  sekundären  Axe  gerichtet  ist.  Al- 
gemein möge  „e"1^-!  darch  (a)  bezeichnet  werden.    Hat  man  nun 

iwei  Linien  (a)=a  e*^1 ,  (b>=b  e^-1 ,  deren  Quantitäten  (ab- 
solute Längen)  also  a  und  b,  und  deren  Neigungen  gegen  die  primäre 
Axe  a  und  ß  seien,  nnd  will  dieselben  addiren,  so  heisst  dies  nichts 
Anderes,  als  eine  Linie  (c)  erzeugen,  die  vom  Mittelpunkte  beginnend 
in  einem  Punkt  endigt,  den  man  findet,  wenn  man  an  (a)  die  Grösse  (b) 
(also  nach  Quantität  und  Richtung)  ansetzt.  Nach  dieser  Erklärung 
folgt  dann  leicht,  dass  man  die  Summe  (a)+(b)=(c)  findet,  wenn 
man  zunächst  eine  Linie  a  unter  dem  Neigungswinkel  a  und  sodann  eine 
b  onter  dem  Neigungswinkel  ß,  beide  vom  Nullpunkt  aus,  zieht,  sodann 
im  Endpunkte  der  erstem  eine  der  zweiten  parallele,  gleich  gerichtete 
nnd  gleich  lange  zieht,  und  den  Endpunkt  dieser  letztern  mit  dem  Null- 
punkt verbindet.    Ist  also  c  die  Quantität,  f  die  Neigung  dioser  letetern 


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Schettler:  SituationskalkaL 


Daraus  schliesst  man  leicht,  dais  wenn  man  von  einem  Punkte  der 

Ebene  zu  einem  andern  übergeht,  auf  welchem  Wege  (durch  eine  ein- 
fache oder  gebrochene  Linie)  dies  auch  sei,  der  ganze  Weg,  d.  h.  die 
Summe  der  einzelnen  Linien,  unveränderlich  sei. 

Eine  Linie  von  einer  andern  subtrabiren  heissl  nur  die  Richtung  der 

zu  subtrahirenden  verkehren ,  so  dass  die  Subtraktion  a  e  —  b 

er  auf  die  Addition  von  ae  -f-b  er 


Gesetzt  nun,  man  wolle  die  in  der  primären  Axe  liegende  Gerade 

acos'p  und  die  in  der  sekundären  Axe  liegende  a  sin  <p  y^ZLl,  nach  der 

eben  gegebenen  Erklärung  dieses  Wortes,  addireo,  so  erhall  man,  wie 

man  leicht  sieht,  eine  Gerade  a,  die  sich  unter  dem  Winkel  <p  gegen 

<2v/°_~i  .   

die  primäre  Axe  neigt,  so  dass  also  ae  a  cos  cp-}-asin  Oy  —  1 

d.  h.  dass  man  jede  Linie  (a)   als  die  Summe  zweier  Linien  a cos cp  nnd 

a  sin  <p  ansehen  darf,  von  denen  die  erste  in  der  primären,  die  zweite  in  der 

sekundären  Axe  liegt.  Daraus  folgt  dann  leicht,  dass  ae  -f-be 

auch  gleich  ist  der  Summe  (a  cos  a  +  b  cos  ß)  -j-  (a  sin  a  -f-  b  sin ß) yf^X  und 


*(V— 1       ay^—  1       Öv/^— 1 
wenn  also  ce         =ae         -f-be  sein  soll,  man  haben  muss: 

c  cos  Y -f  -  c  sin         \  —  (a  cos  a +D  cos  ß)  -f-  Ca  s,n  a ~h  ^  sm  ß)  V— 1  • 
Solleu  zwei  Linien  einander  gleich  sein,  sowohl  in  Richtung  als 
Quantität,  so  muss  das  Primäre  und  Sekundäre  beider  gleich  sein,  d.  b. 
insu  muss  haben:  c.  cosY^rracosa-f-bcosß,  csinY=asina-}-bsmß, 
woraus  c  und  7  bestimmt  werden  können. 

Wir  sind  bei  diesen  Erläuterungen  allerdings  nicht  geradezu  dem 
Buche  gefolgt,  sondern  haben  (wie  dies  noch  mehrfach  geschehen  wird) 
die  Sache  dargestellt,  wie  sie  uns  im  Geiste  der  fraglichen  Methode 
zu  liegen  scheint;  man  wird  aber  daraus  leicht  entnehmen,  welche  Be- 
deutung der  Snmmirung  zweier  Linien  in  dem  hier  ausgesprochenen  Sinne 
gegeben  werden  muss,  wenn  man  sie  in  die  Sprache  der  gewöhnlichen 
analytischen  Geometrie  übertragen  will.  Die  Summe  eiuer  Reihe  zusam- 
menhängender Linien  ist  alsdann  eine  Linie,  deren  Projektionen  auf  zwei 
rechtwinkliche  Axen  gleich  sind  resp.  den  (algebraischen)  Summen  der 
Propektionen  des  ganzen  zusammenhängenden  Liniensystems.  Es  lasst  sieb 
keineswegs  Iäugnen,  dass  die  Darstellungsweise  unser*  Buches  eine  scharf- 
sinnige, das  Wesen  der  Sache  erfassende  ist,  und  dass  eben  desswegen 
dieselbe  sich  ausnehmend  empfiehlt. 

Es  lässt  sich  hieraus  nun  auch  leicht  entnehmen,  dass  eine  Drehung 


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Schettler:  Situationskalkul.  869 

der  Linie  ae^  um  einen  Winke!  ß  arithmetisch  dadurch  voll- 
zogen wird,  dass  man  aeÄV^  mit  e^^^"""*  multipliiirt,  wodurch  man 

ja  aev  rjY  erhält,  welche  Linie  sich  allerdings  unter  dem  Win- 
kel (a+ßJ  e*e«*en  die  pnmäre  Axe  neigt. 

Wir  ttbergeheu  das,  was  der  Verfasser  Uber  Multiplikation,  Division, 
Potenzirung,  Wurzelausziehuug  und  Exponentiation  sagt,  einerseits  da  die 
Resultate  bekannt  sind,  anderseits  eine  Hinweisnng  auf  das  Buch  genügen 
mag.  Sehr  interessant  ist  namenlich  die  dort  geführte  Untersuchung  über 
die  Vieldeutigkeit  der  Wurzeigrössen.  Bei  unserer,  schon  oben  ausge- 
sprochenen Ansicht  würdeu  wir  dergleichen  Untersuchungen  In  die  „Arith- 
metik14 verweisen  und  sie  also  hier  nicht  aufrühren,  zumal  ja  auch  im  Fol- 
genden keinerlei  Gebrauch  davon  gemacht  wird. 

Das  Gesagte  dient  nur  dazu,  Quantität  nnd  Richtung  einer  Geraden 
festzustellen ,  die  durch  den  Nullpunkt  geht.  Gerade  diese  letztere  Be- 
dingung aber  ist  es,  die  noch  aufgehoben  werden  muss,  um  eine  Gerade 
in  einer  Ebene  allgemein  betrachten  zu  können.  Denken  wir  uns 
eine  ihrer  Quantität  und  Richtung  nach  gegebene,  durch  den  Nullpunkt 

hende  Gerade  be^^""1  bewege  sich  parallel  mit  sich  selbst  längs  der 

ebenfalls  gegebenen  Geraden  a  *  hin,  bis  sie  deren  Endpunkt  er- 

reicht hat,  so  wird  dieselbe  dadurch  jede  beliebige  Lage  in  der  Ebene 
können  und  man  wird  also  die  gestellte  Aufgabe  in  völliger 


Allgemeinheit  gelöst  haben.  Die  Grösse  ae^  1  beisst  nun  der  Abstand 

der  Grösse  be^-1,  und  man  wird  also  im  Allgemeinen  unter  dieser 
Beziehnung  eine  Linie  (nach  Quantität  nnd  Richtung)  verstehen,  die  vom 

ßV*— 1 

Nullpunkte  zu  einem  bestimmten  Punkte  gezogen  ist.  Die  Linie  be 
bezeichnet  nun  der  Verfasser,  indem  er  andeutet,  dass  sie  den  Abstand 

ae  hat,  durch  ((b))~„(a)„-|-(b),  worin  also  das  zwischen  An- 

führungszeichen gesetzte  (a)  den  Abstand,  und  (b)  die  vom  Endpunkte 
von  (a)  aus,  nach  der  durch  ß  gegebenen  Richtung  gezogene  Gerade 
bedeutet.  Bezeichnet  man  mit  (c)  die  vom  Nullpunkte  nach  dem  End- 
punkte von  ((b))  gezogene  Gerade,  so  ist  offenbar  (c)=(a)-j-(D).  Dass 
man  in  ähnlicher  Weise  für  den  Abstand  ein  gebrochenes  Liniensystem 
wählen  kann,  ist  klar,  so  dass  etwa  allgemeiner: 

C(«J)>=»-K«>K"»)+WB+[(O+C«>K0]  «■  '•  * 


870  Scheffler:  Situntionskalkul 

Ueberhaupt  kann  jeder  beliebige  Zug,  der  stelig  durchlaufen  wird, 
in  dieser  Weise  dargestellt  werden,  wobei  es  sich  recht  wohl  er- 
eignen kann,  dass  ein  und  derselbe  Weg  mehrmals  und  in  verschiedenen 
Richtungen  durchlaufen  werden  kann.  Auch  verschiedene  Züge  lassen 
sich  dadurch  verbinden.  So  bedeutet  z.  B.  die  Formel:  „(OA)"  +  (AB) 
-f  (BC)  +  (CD)  +  (DE)  -f  „(EK)„  +  (HJ)  +  (JH),  das»  der  Ab- 
Itand  des  Anfangspunkts  A  des  Zuges  (AB)  +  (BC)  -f  (CD)  -f-  (DR) 
vom  Nullpunkte  sei  (OA) ;  dass  ferner  der  Anfangspunkt  K  des  Zuges 
(KJ)-j-(JH)  vom  Endpunkte  des  vorigen  Zuges,  nemlich  E,  den  Ab- 
stand (EK)  hohe  n.  s.  w.  Es  Irrten  also  bei  einem  linearen  Zuge  drei 
Blerkmole  auf,  die  einzeln  oder  zuspmmen  einer  Veränderung  fähig  sind: 
die  I,  (Inge,   der  Abstand  nnd  die  Richtung.    Angenommen  also 


man  habe  den  Zug  „(a)„  -f-  (b)  -j-  (c)  -j  (d)  —  „a  e  „  -|~be 

-|_  ceS^"~ 1  -f-de  ^V  \  so  werden  neue  Züge  daraus  ent- 
stehen, wenn  man  die  (absolute)  Länge  einer  Seite,  z.  B.  (c)  ändert, 
also  c  etwa  in  c,  übergehen  lägst,  oder  wenn  man  den  ganzen  Abstand 
fc(a)u  Ändert,  oder  wenn  die  Richtungen  einer  oder  mehrerer  Seit 
werden.  Diese  Betrachtung  ist  in  unserem  Buche  sehr  klar  und  at 
durch  Zeichnungen  unterstützt,  durchgeführt,  und  wir  enthalten  uns,  namentlich 

*  - 

des  letztern  Ilmstands  wegen,  darauf  weiter  einzugehen.  Wir  wollen 
nur  darauf  aufmerksam  machen,  wie  hieraus  höchst  einfach  der  bekannte 
Satz  von  der  Summe  der  Winkel  in  einem  Vieleck  folgt.  Man  denke 
sich  nämlich  eine  Gerade  in  der  primären  Axe,  deren  Richtungskoeffizient 

also  e  °V  —  1  jst  Wjr  nenmf n  ouf  derselben  ein  Stück  a  vom  Null- 
punkte aas,  und  drehen  den  Rest  um  den  Endpunkt  dieses  Stücks  um 
4eo  Wiukel  a,  so  dass  der  Richlungskoeffizient  des  gedrehten  Stücks 

e  ist.    Ganz  dasselbe  thun  wir  nun  auch  auf  dieser  Linie,  indem 

wir  auf  ihr  eiu  Stück  b  wühlen  und  den  Rest  noch  weiter  um  den 
Winkel  ß  drehen,  so  dass  der  Richlungskoeffizient  des  gedreheten  Stücks 
(a  -f  ß)  V'-Tf 

•  ist.    Fahren  wir  so  fort,  bis  endlich  ein  gedrehtesaStück 

iu  den  Nullpunkt  geht  und  drehen  dann  zum  letzten  Mal  um  den  Win- 
kel m  in  die  primäre  Axe  zurück,  so  hat  diese  den  RichlungskoefBzien- 

{ea  e  ,  der  gleich  e  aetn  mnss, 

wo  k  eine  positive  ganze  Zahl  ist.  Danach  hat  man  «+ß  +  .... 
+  OJ  =  2k7C.  Sind  einzelne  der  Winket  ß,...  negativ,  so  erhält  man 
ein  Vieleck  mit  einspringenden  Wiukeln;  im  Allgemeinen  sind  a,  ß,...o 


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Scheffler:  Siluntionsknlkul.  871 

die  Aussenwinkel  des  Vielecks.  Da  k  eine  ganze  Zahl  ist,  so  wird  also 
durch  eine  sehr  kleine  Verrückung  der  Seiten  die  Summe  cc  -j-  p  -f-  .  . . 
— j—  co  nicht  geändert,  da  eine  solche  Verrückung  auch  nur  eine  kleine 
Aenderung  in  jener  Summe  hervorbringen  könnte;  daraus  schliesst  man 
leicht,  dass  durch  eine  wiederholte  kleine  Verrückung,  d.  h.  durch  jede 
Verrückung,  jene  Summe  nicht  geändert  wird.  Durch  angemessene  Ver- 
rückuog  der  Seiten  kann  aber  jedes  Vieleck  in  ein  Dreieck  geändert 
werden,  und  dann  ist  die  Summe  a-j-ß-f-Y<3TC,  also  offenbar 
k=l,  d,  h.  die  Summe  der  Aussenwinkel  eines  Vielecks  r=2it. 


Die  Formel  „(ao^  ^"-f-*«^^  in  der  a,  a,  ß  konstant, 
z  veränderlich  stellt  offenbar  eine  Gerade  in  ihrer  ganzen  Ausdehnung 

dar,  die  durch  den  Endpunkt  von  ae  geht,  wenn  man  x  sowohl 

positive  als  negative  Werthe  beilegt.  Bezeichnet  man  mit  (r)  den  Ra- 
diusvector,  der  vom  Nullpunkte  nach  einem  beliebigen  Punkte  dieser  Ge- 
raden gezogen  ist,  so  stellt  (rj^ae^'^xe^^^  die  Gleich- 

oag  obiger  Geraden  dar.  Ganz  ebenso  wird  (r)=be^^  ^-j-ae^^  * 
worin  b,  ß,  a  konstant,  <p  veränderlich,  die  Gleicheng  eines  Kreises  dar- 
stellen, dessen  Halbmesser  =a  und  dessen  Mittelpunkt  im  Endpunkt  der 

Geraden  be^—1  liegt. 

"  '■      Sind  oKO^P^+xe^Cr,  ^-(-x,  e"'  ^ 

die  Gleichungen  zweier  Geraden,  so  wird  (r)— (r,)  ihren  Durchschnitts- 
punkt geben,  d.  h.  man  muss  haben: 

b  cos  ß  -|-  x  cos  ot~b,  cos  ß,  -f-  x,  cos  a, ,  b  sin  ß  -)-  x  sin  a=b,  sinß,  -f-*i  sinOj , 

  b,  sin(a, — ß,) — bsi»(aj — ß)       _  bsin(a-ß)-b,sin(a-ßj), 

sin(a, — a)  '    1  sin(a — a,) 

wodurch  nun  in  jeder  der  zwei  Linien  (r)  und  (r,)  der  fragliche  Durch- 
schniltspunkt  festgelegt  i*t.  Ganz  in  ähnlicher  Weise  wird  der  Durch- 
schnitt einer  Geraden  und  eiues  Kreises,  sowie  zweier  Kreise  bestimmt  ($.  8). 

Interessante  Betrachtungen  Uber  das  Verhältnis*  der  geometrischen 
Konstruktion  zur  arithmetischen  Rechnung,  über  eine  Reihe  der  elemen- 
taren Konstruktionen  der  Geometrie,  sowie  Uber  die  Konstruktion  der  Aus- 
drücke y^a¥,  V^ä*±b^  u.  s.  w.  bilden  den  Gegenstand  der  folgenden 
§§.,  auf  den  wir  aber  hier  nicht  weiter  eingehen  wollen,  da,  wenn  gleich 
höchst  lehrreich,  die  Resultate  keineswegs  neu  sind  nnd  ohne  Zeichnung 
die  Darstellung  begreiflicher  weise  sehr  schleppend  sein  müsste. 

Wenden  wir  uns  nun  zur  Betrachteng  krummer  Linien  in  einer 


woraus 


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Schettler :  Siiuatiomkalkol. 


Ebene,  so  werden  wir  uns  die  Entstehung 

machen,  wenn  wir  uns  dieselben  als  Polygone  von  unendlich  vielen, 
endlich  kleinen  Seiten  denken,  so  dass  sie  also  durch  einen  Punkt  be- 
schrieben werden,  der  stetig  fortschreitet,  aber  auch  stelig  dabei 
Richtung  ändert.  Bezeichnet  nun  ds  eine  der  unendlich  kleinen 
des  Polygons  (Kurve),  d<|»  die  unendlich  kleine  Drehung,  welche  der  er- 
setzende Punkt  machte  (d.  b.  der  Winkel,  den  diese  Seite  und  die  vor- 
hergehende mit  einander  machen),  so  wird  zwischen  ds  und  tty  ein  Ver- 
faältniss  statthaben  müssen,  das  in  der  Natur  der  entstehenden  Kurve  be- 
gründet ist,  und  das  eine  Funktion  des  Winkels  *},  f(0,  "in  muss,  so 

dass  man  haben  wird  ~j^=f(<|/).  Daraus  folgt,  dass  das  Element  ds,  nach 

Lange  und  Richtung  aufgefasst,  durch  ds  ~~X —{(jfifr^^ ~ 1  dar- 
gestellt werden  muss,  wo  <|>  der  Winkel  ist,  der  die  Richtung  des  Ele- 
ments mit  der  primären  Axe  macht.  Ist  a  e**  der  Abstsnd  der  Kurve, 
d.  h.  die  Länge  und  Richtung  der  vom  Nullpunkte  auf  denjenigen  Punkt 
gezogenen  Geraden,  in  dem  der  Bogen  s  anfängt  und  für  den  r{— iQ  ist, 
folgt  nach  dem  Frühern  leicht,  dass 

W=re      =»°  Vfc 

die  Gleichung  der  Kurve  ist,  worin  6  die  unabhängige  Verinder- 

liehe,  re  nach  Länge  und  Richtung  derRadiusvector  für  den  $  ent- 

sprechenden Punkt  ist. 

Dass  es  leicht  ist,  von  dem  hier  gewählten  natürlichen  Koor- 
dinatensystem zu  einein  der  gewöhnlichen  überzugehen,  liegt  auf  der  Hand. 
Will  man  z.  B.  zu  einem  rechtwinklickten  übergeben,  so  ist  x=rcos<p=acosct 

-f- (lOrOcosOrOd^,  y=rsiu9=asina-|-  |  »(t^sin^df,  woraus  r  und  9 
folgen.    Auch  ist  ds=f(»d<|/,  6x=l(ty  cos fdf,  dy=f(f)  sin  4)df ,  also 

mithin  fQ»)=^:r=  F*^Gx)  ]^  *  *'  W"  ^     ta^tlc^  anc^  ^er 

"  dVy 
dz3 

kel,  den  die  Tangente  in  dem  tf>  entsprechenden  Punkte  der  Kurve  mit 
der  primären  Axe  macht.    Demnach  ist  die  Gleichung  der  Tangente  in 


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^5 c \\ g fl*^ &r  •  ^5 1 tu fl 1 1  o  n  s  o  1  k q  * 


873 


dem  Punkte  der  Kurve,  der  zum  Winkel  <|>,  gehört:  [(Ol— »ae 

+  r'lf(+>^~^^+le*lV^=:7,  worin  t  die  unabhängige  Veraoder- 

liehe  ist.    Diese  Gleichung  kann  man  auch  darstellen  durch  (r)=acosa 

Die  Gleichung  der  auf  der  Tangente  senkrecht  stehenden  Normale 
Ut  mitbin  (r)=.ea^+jt^>tv^id++xe(+,+^V'^T. 

Würde  die  Grösse  \(  -  )  iu  allen  Punkten  der  Kurve  konstant  sein, 
also  z.  B.  vom  Punkte  ^  an  den  konstanten  Werth  (<|>,)  behalten,  so 
entstünde  ein  Kreis,  dessen  Halbmesser  )  wäre.  Dieser  Kreil  hätte 
also  in  dem  fraglichen  Punkte  dieselbe  Krümmung,  wie  die  Kurve  selbst, 
und  heisst  desslialb  der  Krttmmungskreis.  Der  Mittelpunkt  desselben 
liegt  auf  der  Normale  und  ist  somit  unschwer  zn  bestimmen. 

Das  bei  obigen  Betrachtungen  eingeführte  Koordinatensystem  ergab 
sich  unmittelbar  durch  die  Methode  selbst;  es  hat  den  Vortheil,  keinerlei 
der  Curve  fremde  Dinge  mit  einzuführen,  vielmehr  bloss  die  wesentlichen 
Merkmale  der  Elemente  selbst  in  Rechnung  zu  bringen.  Daher  bat  es 
der  Verfasser  mit  Recht  auch  das  natürliche  geheissen.  Eine  Um- 
setzung der  Gleichung  einer  Curve  in  die  verschiedenen  möglichen,  oder 
vielmehr  gebräuchlichen  Koordinatensysteme  lehrt  dann  §.  20, 
worüber  wir  auf  das  Buch  selbst  verweisen,  da  der  Gedankengang  ein 
einfacher  ist. 

Die  Diskussion  der  Gleichung  zwischen  natürlichen  Koordinaten  für 
besondere  Fülle  (Kreis,  Gerade,  Ellipse,  Hyperbel,  Parabel,  Zykloide,  lo- 
garitbmische  Spirale,  Kettenlinie) ,  so  wie  dio  Behandlung  einiger  Auf- 
gaben ,  wie  z.  B.  der  Durchschnitt  zweier  Curven  zu  finden,  Polygone 
ein-  und  umzuschrauben  u.  s.  w.  macheo  vertrauter  mit  der  Anwendung 
des  natürlichen  Koordinatensystems. 

Ein  Kurve  kann  aber  auch  erzeugt  gedacht  werden  dadurch,  dass  ein 
Linienzug  sich  bewegt,  indem  seine  einzelnen  Theile  sich  gesetzmässig 
Andern,  und  der  Weg  des  Endpuuktes  als  die  erzeugte  Curve  angenom- 
men  wird.     Denken  wir  uns  ein  aus  zwei  Geraden  bestehendes  System, 

welches  durch  xe  +  *e  dargestellt  werdeu  weg,  so 

können  in  demselben  x,  y,  yj,  &  als  veränderlich  angesehen  werden  und 
diese  vier  Grössen  bilden  dann  ein  zusammengesetztes  Koordi- 
natensystem.   Es  ist  leicht  einzusehen,  dass  alle  bisher  gebräuchli- 


874 


Schemer:  Siluationskalkul. 


eben  Koordinatensysteme  in  diesem  begriffen  sind.  Natürlich  müssen  x, 
y,  ij,  0  Functionen  einer  einzigen  Veränderlichen  sein.  Wir  wollen  ein 
einziges  Beispiel  (S.  143)  wühlen:  es  haude<t  sich  um  die  Glei- 
chung der  Zykloide.  Nehmen  wir  den  Mittelpunkt  des  erzeugenden 
Kreises  in  seiner  anfänglichen  Lage  als  Nullpunkt,  die  primäre  Axe  pa- 
rallel der  Geraden,  auf  der  der  Kreil  rollt  und  sei  x  das  Stück  der 
primären  Axe  vom  Nullpunkte  bis  zum  Mittelpunkte  des  rollenden  Kreises 
in  einer  spätem  Lage,  y=a  der  Halbmesser  des  erzeugenden  Kreises, 


Y  —  1 ,    worin  x   die   unabhängige  Veränderliche  ist.      In  ähnlicher 

Weise  werden  die  Epizykloide  und  Hypozykloide  betrachtet,  und  der  Zu- 
sammenhang zwischen  diesem  Koordinatensystem  und  dem  oben  betrach- 
teten natürlichen  angegeben. 

Dass  man  auch  mehrere  Gerade  in  dem  beweglichen  Zuge  anneh- 
men kann,  ist  klar  und  man  erhält  dadurch  weit  allgemeinere  zusammen- 
gesetzte Koordinatensysteme  (§.  24.).  Diese  Systeme  haben  den  we- 
sentlichen Vortheil,  dass  man  es  bei  jeder  einzelnen  Aufgabe  in  der 
Hand  bat,  sich  die  fUr  dieselbe  passenden  Koordinaten  zu  wählen.  Die 
Rückkehr  zu  einem  bekannten  ist  immer  leicht. 

Bis  daher  wurden  nur  Linien  in  einer  Ebene  betrachtet.  Wl 
man  aber  allgemeine  Linien  im  Raumo  betrachten  und  halten  wir  uns 
zunächst  an  die  geraden,  so  muss  zu  den  bis  jetzt  eingeführten  ein  neues 
Bestimmungselement  hinzutreten.  Insoferne  eine  Gerade  in  einer  Ebene 
liegt  und  durch  den  Nullpunkt  dieser  Ebene  geht,  reieht  es  hin,  Quanti- 
tät und  Richtung  zu  betrachten.  Die  Richtung  entspricht  einer  Dreh- 
ung um  die  primäre  Axe  in  der  fraglichen  Ebene  oder  vielmehr  einer 
DrehuLg  um  eine  auf  der  Ebene  im  Nullpunkte  senkrecht  stehende  Linie, 
welche  wir  die  Axe  der  fraglichen  Linie  beissen  wollen.  Denken  wir 
uns  durch  die  primäre  und  die  sekundäre  Axe  eine  Ebene  gelegt,  welche 
wir  die  primäre  Ebene  heissen  könnten,  und  errichten  auf  dieser  letztem 
in  ihrem  Nullpunkte  eine  Senkrechte,  so  soll  dieselbe  die  tertiäre 
Axe  heissen.  Zur  Abkürzung  wollen  wir  diese  Axen  auch  die  der  x, 
y,  z  heissen  (analog  der  Bezeichnung  bei  den  rechtwinkligen  Koordi- 
naten) und  die  durch  sie  gehenden  Ebenen  resp.  die  der  xy,  xi,  yi 
nennen.    Denken  wir  uns  nun  eine  Gerade  in  der  Ebene  der  xy,  so 


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Scheffler:  Siluationskalkul. 


875 


kann  diese,  die  wir  durch  den  Nullpunkt  gehen  lassen  wollen,  im  Räume 
jede  beliebige  Richtung  in  folgender  Weise  annehmen,  bei  der  wir  die 
fragliche  Linie  etwa  zuerst  in  der  Richtung  der  primären  Axe  denken 
wollen.  Wir  denken  uns,  wie  schon  gesagt,  eine  in  die  Richtung  der 
tertiären  Axe  fallende,  mit  der  Geraden  unabänderlich  verbundene,  also 
darauf  senkrecht  stehende  Gerade  von  derselben  (absoluten}  Länge; 
drehen  alsdann  das  System  dieser  beiden  Geraden  um  die  tertiäre  Axe 
um  den  Winkel  <p,  wobei  die  Gerade  in  der  Ebene  der  xy,  ihre  Axe 
in  der  tertiären  Axe  bleibt;  alsdann  drehen  wir  dieses  System  um  die 
primäre  Axe  um  den  Winkel  ,  wobei  die  Axe  der  Geraden  in  der 
Ebene  der  yz  bleibt  und  der  Winkel  ^  mit  der  tertiären  Axe  macht, 
während  die  durch  die  ursprüngliche  Gerade  und  die  primäre  Axe  ge- 
legte Ebene  mit  der  Ebene  der  xy  den  Winkel  <\>  einschliesst.  Offenbar 
bestimmen  nun  9  und  <]>  die  Lage  der  fraglichen  Geraden  vollständig  und 
man  kann,  wenn  man  9  und  sich  ändern  lässt,  diese  Gerade  in  alle 
möglichen  Lagen  bringen.  Offenbar  hätte  man  dasselbe  Resultat  auch 
auf  folgendem  umgekehrten  Wege  erhalten  können:  das  System  der  Ge- 
raden und  ihrer  Axen  werden  zuerst  um  die  primäre  Axe  um  den  Win- 
kel tp  gedreht,  d.  h.  die  Axe  der  Geraden  mache  den  Winkel  <p  mit 
der  tertiären  Axe,  wobei  die  Gerade  immer  noch  in  der  primären  Axe 
liegen  bleibt;  alsdann  drehe  man  die  Gerade  um  ihre  eigene  Axe  um 
den  Winkel  9.     Schon   früher  haben  wir  gesehen,  dass  die  Drehung 

einer  Geraden  um  ihre  Axe  durch  den  Koeffizienten  e  (?v^~1  angedeu- 
tet wurde;  die  Drehung  der  Axe  einer  Geraden  aber  um  die  primäre  Axe 
(die  im  Räume  unverrückbar  ist)  wird  analog  durch  einen  Koeffizienten 

e  zu  bezeichnen  sein,  wo  also  das  Zeichen -V  gerade  diese  Dre- 

hung besonders  hervorhebt.   Die  Grösse  e  1  ist  gleich  cos  ttV-f%  ein 

«rV-n,  worin  das  Zeichen  *+.  dem  Zeichen  — r  entgegensteht,  nnd  cos 
<|/,  sin  y,  den  cos  <], ,  sin  ^  analoge  Werthe  haben,  nur  dass  ~f-  und 

—  in  --f.  und  verwandelt  sind.  So  ist  f.  B.  cos  -f-  a^  =  -v- 
sin  a  n.  s.  w. 

Um  zu  unterscheiden,  heissen  wir  die  Drehung  um  die  tertiäre  Axe 
die  Dek  I  ination  (9),  die  um  die  primäre  Axe  die  Inklination 
und  stellen  eiue  nach  Quantität,  Deklination  und  Inklination  be- 

9V^—  1    *\>V  — H 
stimmte  Linie  durch  oe  '         e  T  dar. 

Betrachten  wir  nun  eine  in  der  primären  Axe  liegende  Linie  a, 


m  Scheffler:  Situatioaskalkul. 


and  behaften  sie  mit  dem  Inklinationskoefflzientea  cos  <p  .~\~'  sin  tj/\/^  — H, 
10  dess  sie  sn  a  [co*  <|>  .-(-'  »in  ?  1  ]  wird,  so  ist  blos  die  Axe  die- 
■er  Linie  geändert  worden,  die  Linie  selbst  bleibt,  wie  und  was  sie  ist. 
Betrachtet  man  also  bloss  Lage  und  Grösse  einer  Linie,  so  kann  man  bei 
primären  Linien  den  Inklinationskoeffizienten  füglich  weglassen.  Hat  man 
nun  zweitens  eine  in  der  sekundären  Axe  liegende  Linie  ay*^—  i  und  be- 
haftet dieselbe  mit  dem  laklinationtkoefliiienten  cos     .-{-•  ein    V — M, 


so  wird  die  Axe  dieser  Linie  sich  um  den  Winkel  in  der  Ebene  der 
yz  verrückl  haben  nnd  folglich  auch  die  Linie  selbst.  Diese  Linie  wird 
also  unter  einem  Winket  <}  sich  gegen  die  sekundäre  Axe  neigen,  und 
analog  dem  frühem,  wird  man  sie  auffassen  können  als  die  Summe 
zweier  1  inieu,  die  eine  a  cos  in  der  sekundären  Axe,  die  andere  asiuy 
in  der  tertiären.  Multipliiirt  man  aber  ayTT  mit  cos  $  sin 
V^Fi,  so  erhält  man  a  cos  ■  sin  <J>  V^M  y^— U  «od  da  die 

•  •  •  ■ 

hindurch  dargestellte  Linie  eine  wirkliche  Summirung  der  Linien,  nicht 
der  Axen  darstellt,  und  eine  solche  durch  dargestellt  wird,  so  folgt 
bieraas,  daes  man  durch  +  ersetzen  darf,  ferner  cos  <J>  und  sin  0/ 
durch  cos  <|<  und  sin  $  und  mithin  die  fragliche  Linie  darzustellen'  ist 
durch  a  cos  f  V~\  +  a  sin  u)  °"  Zeichen  y/^i 

bedeutet  also  die  Lage  in  der  tertiären  Axe. 

Betrachten  wir  nun  irgend  eine  in  der  Ebene  der  xy  liegende 

Gerade  ae  ,  so  kann  dieselbe  angesehen  werden,  als  die  Summe 

der  zwei  Geraden  a  cos  9  und  a  sin  9  yf— \  \  soll  diese  Gerade  eine 
Drehung  uv  um  die  primäre  Axe  machen ,  so  werden  die  zwei  a  cos  9 
und  0  sin  (p  \'—\  dieselbe  Drehung  machen  und  die  Summe  dieser  zwei 
wird  immer  noch  die  Gerade  in  der  neuen  Lage  sein.  Nun  liegt  aber 
acoscp  io  der  primären  Axe,  bei  einer  Drehung  'l  um  diese  letztere  än- 
dert sie  sich  also  nicht,  mithin  bleibt  a  coa  9  ungeäodert.  Die  Gerade 
n  sin  <pV^l  liegt  in  der  sekundären  Axe;  wie  wir  so  eben  gesehen, 
wird  tie  zu  a  sin  9  coa  \^~T+  8  "n  9  »in  +  V^~M  V~U  wovon 
der  erste  Theil  (a  sin  9  cos  io  der  sekundären,  der  zweite  (a  sin  9  sin 
<l )   in    der  tertiären  Axe  liegt.      Daraus    folgt,    dass    die  Gerade 

*e  ^  ' 1  durch  a  cos  9  -j-  a  8'D  9  COf  +  V^—i  +  a  sin  9  sin  *} 
ff  yf—X  dargestellt  werden  kann,  wovon  der  Theil  a  cos  9  io  der  primä- 
ren ,  a  sin  9  cos  ^  in  der  sekundären,  a  sin  9  sin  •}  in  der  tertiären 
Axe  liegt.  Eine  jede  Gerade  im  Räume,  wenn  man  bloss  aof  ihre  Lang© 
und  Richtung,  und  nicht  auf  ihre  Entstebungsweise  achtet,  kann  also 
durch  die  Summe  von  drei  nach  den  Hauptaxcn  liegenden  Geraden  an- 


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gesehen  werden.  Das»  dies  den  Frühem  vollkommen  analog  ist,  liegt 
vor  Augen;  acos<p,asin<pcos<|s  a  sin  <p  sin  <j>  sind  die  P  r  o  j  e  k  t  i  o  n  e  n  auf  die 
drei  Axen.    Sollen  zwei  so  dargestellte  Lioien  gleich  sein,  so  muss  das 

Primäre,  Sekundäre,  Tertiäre  gleich  sein,  d.  h.  aus  ae  ^^^e 
z=bt9iyr=ri  e*1^"7"1  folgt:  a  cos  (p  =  b  cosflpn  a  sin  <p  cos  ^  = 


b  sin  9,  cos<|>„  a  sin  9>in  «)  =  b  sin  9,  sin  fc,  woraus  a  =  b,  9  3=  9, , 
$  =  Wir  übergeben  die  „Grundoperationen"  ($.26.)  hier  aus  dem 
bereits  oben  angeführten  Grunde.  Was  die  Addition  übrigens  betrifft, 
10  geben  die  Linien  (a)  =  a  cos  9  -f-  a  sin  9  cos  <J>  y^Hi-J-a  sin 
9  sin  y^Tl  V^l  und  (a,)  =r  a,  cos  9,  -f-  a,  sin  <pt  cos  ^,  y/ZT\  -f- 
a,  sin  9,  sin  <J>i  V-H  V^— i  d»e  Summe :  a  cos  9  ai  cos  ¥1  4" 
(aj  sin  9,  cos  "f*  a  sin  ¥  C01  40  V— 1  +  (ai  8'°  ¥1  sin  ^1  +  • 
sin  9  sin  <J/)  y'-::T7  V^l,  wie  leicht  ersichtlich. 

Der  Koeffizient  e  e  kann  also ,  in  so  ferne  es  sich 

bloss  um  Länge  und  Richtung  einer  Geraden  handelt,  immer  durch  cos  9 
-f-  sin  9  cos  V"— 1  +sm  9  sin  <|>  y*-H  y^IHT  dargestellt  werden, 
und  heisst  letzterer  Ausdruck  desshalb  der  abgekürzte  Richtung s- 
Koeffizient.  Dass  bei  weitern  Drehungen  einer  mit  Deklination  und 
Inklination  versehenen  Geraden  genau  auf  die  einzelnen  Theile  geachtet 
werden  mnss,  ist  klar.  Wir  wollen  z.  B.  annehmen,  die  Gerade  a  cos  9 

-f-  a  sin  9  cos  <[>  V^i  +  a  «in  ?.  8»D  4*  V^-H  V—l  müsse  ciner 
Drehung  5  um  die  tertiäre  Axe  unterworfen  werden,  so  werden  bloss 
der  primäre  und  der  sekundäre  Theil  davon  berührt.  Der  primäre  geht 
Über  in  a  cos  9  (cos  3  -J-  sin  3  T)  =  a  cos  9  cos  3  -f-  a  cos  9 
ein  3  y/^i,  der  sekundäre  in  a  sin  9  cos  y/^i  (coa  3  +  8in  & 
y^— i)  =  a  sin  9  cos  <J>  cos  3  v^-^l  —  a  8,0  ¥  cos  4>  sin  3,  80  dass 
die  neue  Linie  dargestellt  wird  durch  a  (cos  9  cos  3  —  sin  9  cos  <|* 

ain  3)  4"  a  Ccos  9  «n  Ä  -f-  sin  9  cos  ^  cos  3)  \/— ^  H~  a  8'°  ¥  s*u  41 
'^H  y'Jrr.  Soll  nun  diese  Linie  noch  eine  Drehung  e  um  die  pri- 
märe Axe  erleiden,  so  werden  bloss  der  sekundäre  und  tertiäre  Theil 
davon  berührt  Der  sekundäre  geht  Über  in  (a  cos  9  sin  3  +  ein  9 
cos  ^  cos  3)  V^l.  (cos  e  -j-  sin  8  -m)  =  a  cos  9  sin  3  cos  8 
Y^ZT  -f-  a  cos  9  sin  3  sin  8  y^H-l  V^—l  +  a  sin  9  cos      cos  3 

coa  e  V^— 1  4"  ■  ,in  ¥  cos  4*  C08  ^  sm  8  — i«    Der  i«rtiMre 

wird  zu  a  ain  9  sin     y/~Ti  CC08  e  +  sin  e  y^TI)==  a  sin  9 

ain  4*  coa  8  y/^^Ft  y/^i —  •  «0  9  sin  ^  ain  e  v^—l»  80  da88 
endlich  nun  die  Linie  selbst  zu  a  (coa  9  cos  ö  —  sin  9  coa     liQ  ö) 


878  Schettler:  Sitoatiooskalkol. 

-}-  a  (cos  9  sio  i  cos  e  -f-  sio  9  cos  cos  3  cos  e  —  sio  9  sio  f 
sio  e)  V^~i  a  (c0*  ¥  "n  $  »in  t  -f-  sio  9  cos  $  cos  3  sio  e  -f- 
sio  9  sio  +  cos  e)  y/^Ti  y/^i  geworden  ist.  Mao  siebt  schon  hier- 
aas, welchen  Vortheil  die  io  Frage  stehende  Methode  gewahrt,  da  sie  die 
drei  Projektionen  der  neuen  Lage  der  Linie  so  leicht  ergiebt. 

Im  Obigen  worde  immer  oocb  angenommen,  die  Gerade  gebe 
dorch  den  Nullpunkt.  Will  mao  sieb  von  dieser  besebriokeodeo  Vor- 
aussetzung  frei  machen ,  so  geschieht  dies  wieder  io  derselbeo  Weise,  wie 
oben  bei  der  Betrachtoog  der  Geraden  io  der  Ebene.  Man  lässt  wieder 
die   anfänglich  durch  den  Nullpunkt  gehende  Gerade  parallel  mit  sich 

selbst  sich  längs  eioer  begränzten  Geradeo  ae  ay^~ !e  ^  ' 1  bewegen, 
so  dess  dann  allgemein  (o))  ~  n  CO  "  ~t~  00  w>e^er  die  oach  Quan- 
tität, Deklination,  Inklination  and  Abstand  gegebene  Gerade  bedeutet. 
Dass  man  beliebig  zusammenhangende  Linienzüge  in  ähnlicher  Weise  dar- 
stellen kano,  ist  einleuchtend,  sowie  auch,  dass  Lange,  Richtung  und  Ab- 
stand sich  beliebig  ändern  können  (§.  27  und  28).  Es  dürfte  vielleicht 
nicht  unpassend  sein,  zu  zeigen,  io  welch  eiofacher  Weise  die  bekannten 
Grundgleichungen  der  ebenen  Polygonomelrie  nach  der  hier  gegebenen 

Methode  abgeleitet  werden  können.     Seien  a,,  a3,  ,  an  die  von  links 

oach  rechts  herum  auf  einander  folgenden  Seiten  des  Poligoos;  a,,  a,, 
...  a„  die  in  derselben  Ordnung  auf  einander  folgenden  Neigungswinkel 
dieser  Seiten  gegen  einander  (a4  der  Winkel  zwischen  a,  und  a2  u.  s.  w. 
ond  diese  Winkel  immer  gegen  das  Innere  des  Polygons  gerechnet). 
Man  lege  nun  das  Polygon  so,  dass  die  letzte  Ecke  0  (io  der  at  ood 
an  zusammenflössen)  in  den  Nullpunkt,  die  Seite  a,  io  die  oegative  Seite 
der  primären  Axe  fallt.  Alsdann  lasse  mao  das  Polygoo  io  der  Richtung 
der  primären  Axe  sich  um  ol  fortbewegen,  so  bat  man  für  deo  End- 
punkt 0  die  Gleichung  (r )  =  a,.  Man  lasse  nun  das  ganze  Polygoo 
sich  um  die  tertiäre  Axe  drehen  (es  liegt  io  der  Ebene  der  xy;  die 
positive  Drehung  geschieht  von  der  primären  gegen  die  sekundäre  Axe) 
um  den  Wiokel  «  —  ,  so  erhält  mao  für  0  deo  Ausdruck  (r)  = 
(*-a)  V=i 

(ScMusm  folgt.) 


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Hr.  56.  HEIDELBERGER  1851. 

JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR. 


— 1   ■  ii  ■ 


Der  Situationskalkul.  Versuch  einer  arithmetischen  Darstellung  der 

dem  und  höhern  Geometrie  auf  Grund  einer  abstrakten  Auffas- 
sung der  räumlichen  Grössen,  Formen  und  Bewegungen  ton  Her- 
mann  Scheffle r.  Mit  97  in  den  Text  eingedruckten  üolt- 
schnilten.  Braunschweig ,  Druck  und  Verlag  von  Friedrich  Vie- 
weg  und  Sohn.  i85i.  QXIV  u.  404  S.  in  8.) 

(Schluss  von  Seile  676.) 
Nun   lasse   man  wieder   eine  Parallelbewegung  mit  der  primä- 
ren   Axe    um    a2    eintreten,   wodurch   man   für    0   erhält  (r)  sa 

82  H~ai  e^  1  »  a'sdann  drehe  man  wieder  um  den  Winkel 

tz — a,  um  die  tertiäre  Axe,  wodurch  für  0  erhalten  wird :  (r)  =  a3  o 

die  letzte  Drehung  r>— a„  geschehen  ist,  so  liegt  0  wieder  im  Nullpunkt 
und  man  hat  also: 

V-i  +  +  Bn  e  («-«.)  V-i  =0$ 

wahrend  nrc — (a,  -f-  <h  +  •••  +  °0  ==  2     8,80  ai  +  *2  +      +  •«^ 
— 2}  71  sein  muss.     Trennt  man  nun  das  Primäre  und  Sekundäre,  so 
erhält  man: 

8,-8,  cos  a,  +a3  cos   +  (-O"1  8« 

cos  (a,  +  a, +       + 8n_t)  =o, 

—  e2  sin  «j  -I-  a3  sin  (a,  +  «a)  —  -f-  (—1)  s. 

sin  (^  +  «2+  +  a„_i)=:o, 

welches  bekanntlich  die  verlangten  Grundgleichungen  sind.  In  ganz  ähn- 
licher Weise  werden  die  Bestimmungsgleicbungen  für  ein  Polyeder  abge- 
leitet, woraus  z.  B.  die  Grundformeln  der  sphärischen  Trigonometrie  fol- 
gen (S.  197.). 

Wie  bei  der  Bestimmungsweise  der  Curveo  in  der  Ebene  ein  na- 
türliches Koordinatensystem  zu  Grunde  gelegt  wurde,  so  geschieht  es 
auch  hier  bei  der  Bestimmung  der  Curven  im  Räume.  Denkt  man  sich 
nämlich  einen  Punkt  im  Baume  so  bewegt,  dass  er  stetig  fortschreitet, 
aber  auch  stetig  Deklination  und  Inklination  seiner  Bewegung  ändert,  so 
erhält  man  eine  Curve  im  Räume.  Ist  d  die  Deklination,  1  die  Inklina- 
XUY.  Jahrg.  6.  Doppelheft.  56 


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Schaffler:  Sitaationikalkal. 


tioa  kl  irgtnd  eiuem  Punkte  der  Curve,  da  die  folgende  (unendlich 
Mm)  Seil«  derselben,  so  werden  obige  Grössen  resp.  lieb  um  d6\  dl 


ds  ds 

ändern,  so  dass         Funktionen  ein  und  derselben  Grösse,  z.  B.  Ä  sind 
do  di 

(ebenso  gut  aber  etwa  auch  von  t,  s  oder  einer  neuen  unabhängig  Ver- 
änderlichen t).  Der  vollständige  Ausdruck  für  das  Element  ds  ist  dann: 
ds  [cos  6  +  sin  d  cos  t  yTi  -f  sin  3  sin  i  y^-fl  V^T)  =  ds 

•  7  eT  '  i  und  es  ist  leicht  einzusehen,  dass  die  Gleichung  der 
Curve  sein  wird: 

(r)  =  (cos  a  +  sin  a  cos  ßy^T  +  ß  V^TJ  V^T  +fj  ds(cos$ 

siu  i  cos  t  +  »"*  Ö  *io  t  V^—l  V— l) » 

wo  a  e  e  der  Abstand  des  Punktes  der  Curve  ist,  dem 

der  Bogen  s0  entspricht,  und  6*,  t  als  von  Fuuktionen  von  s  (oder 

gekehrt)  gegeben  sind  durch  ^=rF(3)=,  ^  F,  (i). 

Sind  in  dieser  Gleichung  8  und  i  konstant,  so  erhält  man 

Gerade;  sind  i  und       konstant,  so  erhält  man  einen  Kreis;  sind  o 

ds 

und  -r-  konstant,  eine  Schraubenlinie.    Die  Gerade  hat  keine 
dt 

mung,  sie  kann  daher  zur  Darstellung  der  Richtungen  gebraucht 
(Tangente) ;  der  Kreis  bat  gleiche  Krümmung  in  allen  seinen  Punkten, 
aber  keine  Torsion  (Biegung,  zweite  Krümmung),  er  eignet  »ich  da- 
her zur  Darstellung  voo  Krümmungen  (Krümrotmgskreie);  die  Schrauben- 
linie hat  in  allen  ihren  Punkten  gleiche  Krümmung  und  gleiche  Torsion; 
sie  eignet  sich  also  zur  Darstellung  von  Doppelkrümmungen  (Krümmungs- 
schraube). 

Die  folgenden  Untersuchungen  ($.  33.)  betreffe»  nun  die  Richtnogs- 
nnd  Kr ümmungs Verhältnisse  doppelt  gekrümmter  Kurve«;  nämlich  der 
Tangente,  Normale,  Krümmongskreis  und  Krümmungsebene.  Torsionswin- 
kels, Krümmungsschraube,  Evolvente,  der  Evoluten  u.  s.  w.  Wir  halten 
uns  dabei  nicht  auf,  sondern  machen  nur  an*  die  zweckmässige  Einfüh- 
rung der  Krümmungsschraube  aufmerksam,  was  bis  jetzt  gewöhnlich  nickt 
geschah,  wenn  gleich  schon  vielfach  darauf  aufmerksam  gemach«  wurde. 

Wie  in  der  Ebene  ein  zusammengesetztes  Koordinatensystem  sieb 
als  sehr  zweckdienlich  erwies,  so  auch  hier  ein  derartiges,  aus  drei  ia- 
sammenhäneeoden    Linien   bestehendes       R*    werden    «o    abgeleitet  die 


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8Bi 


Gleichungen  der  Schraubenlinie,  der  sphärischen  Fpi zykloide,  shärischen 
Hypozykloide,  sphärischen  Schraubenlinie,  Planetenspirale  (Kurve,  die  eis 
Punkt  einer  Kogel  beschreibt,  die  sieb  um  einen  Durchmesser  dreht,  der 
immer  dieselbe  Richtung  beibehält ,  Während  der  Mittelpunkt  der  Kogel 
den  Umfang  einer  Ellipse  durchlauft) .  ond  die  einer  Mondbahn.  De  ein 
derartiges  Koordinatensystem  alle  bisher  gebräuchlichen  omfasst,  so  ist 
die  dorch  dasselbe  gebotene  Koordioalenverwandlong  höchst  ellgemein. 

Zwei  Linienzüge  sind  identisch,  wenn  sie  allen  ihren  Tb  eilen 
aowohl  nach  Länge  ond  Richtung,  als  auch  nach  Abstand  und  Reihen- 
folge gleich  sind.  Daraus  ergeben  sich  eine  Reihe  Bedingungen  zwischen 
den  die  Curven  bestimmenden  Stücken,  die  nothwendig  erfüll!  sein  müs- 
sen (§.  35.).  Ist  man  im  Stande,  iwei  Raumgestalten  dadurch,  dass 
man  die  eine  in  irgend  welcher  Weise  bewegt  (dreht  oder  fortschreiten 
Hast)  cor  Identität  zu  bringen,  so  heissen  sie  kongruent  Das  Prin- 
oip  der  Kongruent,  in  dieser  Weise  aufgefasst,  giebt  ein  Mittel  an  die 
Hand,  manche  Aurgeben  sehr  leicht  zu  lösen  (§.  37.).  Als  Beispiet  ist 
die  Aufgabe  gelöst,  die  Entfernung  zweier  Geraden  im  Räume  zu  be- 
betimmen.  Das  System  der  zwei  Geraden  wird  kongruent  gesetzt  dem 
System  zweier  Linien,  von  denen  die  eine  in  der  primären  Are  liegt, 
die  andere  durch  die  tertiäre  Axe  geht  und  der  Ebene  der  xy  parallel 
hl.  Indem  man  dieses  letzte  System  eine  Drehong  um  die  tertiäre  Axe, 
sodann  eine  um  die  primfire  Axe  und  eine  nochmalige  um  die  tertiäre 
Axe  (wodurch  jede  Lage  erreicht  werden  kann)  und  endlich  eine  pi- 
rallele  Fortschreitung  machen  Itisst,  bringt  man  es  mit  dem  ersten  zur 
Kongruenz,  wodurch  der  Betrag  der  Drehungen  und  des  Fortschreitens 
bestimmt  werden.  Die  Entfernung  des  Nullpunkts  von  dem  Punkte,  in 
dem  die  zweite  die  tertiäre  Axe  durchschneidet,  ist  die  gesuchte  Ent- 
fernung der  zwei  Linien.  Die  bekannten  Lehrsfttze  in  Bezug  auf  die 
Dorschnittspunkte  einer  geradlinigen  und  einer  kreisförmigen  Transversale 
mit  einem  zusammenhangenden,  geschlossenen  Linienzuge  (Polygone),  in 
sehr  einfacher,  und  völlig  bestimmter  Weite  abgeleitet  ($.  38.),  bilden 
den  Sohlusa  dieses  Abschnitts. 

Betrachtet  man  nun  die  Flüchen,  als  Oerter  Yen  Funkten  und 
Linien,  so  braucht  man  jeweils  nur  in  den  Gleichungen  der  Linien  im 
Räume  zwei  unabhöngige  Veränderliche  einzuführen,  um  die  Gleichung 
des  Ortes,  d.  h  der  Fläche  zu  erhalten.    Lösst  man  in  der  Gleichung 

der  Geraden  (r)  =  rö  ?>^e  ♦V'1^  EUgleich  r  und  ?  ab 

gige  Veränderliche  gelten,  so  bat  man  die  Gleichung   der  Ebene; 

56* 


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882  Schettler: 


r  und  f  veränderlich,  so  erhält  man  eine  Kegelfläche; 
9  und  +  eine  Kugelfluche  a.  s.  w.  Dm  Prinzip  der 
es  schon  oben  ausgesprochen  worden,'  führt  auch  hier 
ganten  Auflösungen  (§.  41  u.  42).  Die  Gleichungen  einiger 
werden  daun  speciell  abgeleitet  Als  Beispiel  wollen  wir  die  Gleichung 
der  Rotationsflächen  ableiten.  Sei  (r)  =  i-f  y/-i-}-i  V-H 
die  Gleichung  einer  Curve  (in  der  x,  y,  z  Funktionen  einer  einzigen 
Yen. nder heben  sind),  die  sich  um  die  primäre  Axe  dreht.  Multiplizirt 
man  nun,  nach  der  früher  gegebenen  Vorschrift,  diese  Gleichung  mit 
cos  <|>  .-p  sin  <j*  V'—H»  so  erhalt  man: 

(r)  =  x  +  (y  co»  +  —  *  «io  40  V—i  +  (y  «°  +  +  * C0B  40 

als  Gleichung  der  entstandenen  Fläche,  worin  nun  ausser  der  frühern  un- 
abhängigen Veränderlichen  auch  noch  <|>  unabhängig  veränderlich  ist 
Wäre  (r)  ss  r  cos  9  -f-  r  sin  9  cos  <|/  -f-  r  sin  9  sin  4>  -H 

y/*~  1  die  Gleichung  der  erzeugenden  Curve,  so  braucht  man  blos  $  den 
Charakter  einer  unabhamriir  Veränderlichen  beizulegen  um  sofort  die 
Gleich uo^  der  Lindröhu U£&fltich6  zu  erholt  tu 

Wir  wollen  nicht  besonders  eingehen  auf  die  Untersuchungen  über 
die  Richtung*-  und  Krümmuogsverbältnisse  der  krummen  Oberflächen,  die 
von  S.  309  —  331  im  Garnen  deutlich  abgehandelt  sind.  Wir  bemer- 
ken nur,  dass  das  S,  323  und  324  Gesagte  bereits  schon  längst  von 
Poisson  gefunden  worden,  wie  denn  z.  B.  Coornot  in  dem  Traite  ele- 
mentare des  Fonctions  I.  pag.  474.  Dasselbe  sagt  Die  Ableitung  der 
zwei,  den  frühem  über  die  Transversalen  ähnlichen  Sätze  über  die 
Transversalebene  und  die  Transversalkugel,  ist  eben  so  einfach. 

Durch  Bewegung  eines  gebrochenen  (geradlinigen) 
laa^s  einer  leitenden  Linie  hin  entstehen  die  srebrochenen  Flachen 
Gleichung  sehr  leicht  aufzufinden  ist  Natürlich  können  die  einzelnen 
Seiten  des  Zuges  ungeändert  bleiben  (prismatische  Fläche),  oder  sie 
können  sieb  gleichförmig  ändern  (pyramidaliscbe  Fläche),  oder  der  Li- 
nienzug kann  sich  drehen  (Kanalfläche)  u.  s.  w.    Wir  woUen 


weise  nur  den  einfachsten  Fall  betrachten.  Seiae"^  1  e  der 
Abstand  des  Zuges,  dessen  (zusammenhängende)  Seiten  sind  .^e2'^  ' 
e  1  ,  s2  e   *  w       er*         ,  ,  so  wird  die  Formel: 

JM"-ii  t  » 


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Scheffler:  Situationskalkul. 


883 


eine  jede  der  Seilen  darstellen  können.  Soll  z.  B.  die  Seite  83  darge- 
stellt werden,  so  giebt  man  s,,  s2  ihre  konstanten  Wert  he,  setzt  für  s3 
eine  unabhängige  Veränderliche  z,  die  von  0  bis  s3  geht  und  schliesst 
obige  Formel  mit  diesem  Glied.    Bewegt  sich  nun  dieser  Linienzug  pa~ 

rallel  mit  sich  selbst  längs  der  Geraden  xe  T  Y  ejr  '  (worin  9 
und  <f>  konstant  sind)  so  ist  also  z.  B.  die  Gleichung  der  durch  s3  ent- 
stehenden Seitenfläche  des  Prismas :  , 

worin  x  und  z  die  unabhängigen  Veränderlichen  sind. 

Für  rechtwinkelige  Koordinaten  ist  die  Gleichung  irgend  einer 
Fläche  (r)=x  -|-  y  -+-  i/Tt  V^T,  worin  z  eine  Funktion 

von  x  und  y  ist,  so  dass*  es  immer  leicht  ist,  auf  diese  bekannte  Form 
zo  rück  zukommen. 

Die  Ausdehnung  der  festgestellten  Prinzipien  auf  die  Flächen,  als 
Grössen  aufgefasst,  scheint  uns  nicht  so  verständlich,  wie  das  Frühere, 
zumal  wir  kein  rechtes  Bedürfniss  dazu  einsehen  können.  Indessen  sind 
wir  weit  davon  entfernt,  desswegen  auf  das  im  vierten  Abschnitt  Be- 
bandelte einen  Tadel  werfen  zu  wollen.  Im  Gegentheil  ist  das  dort  Ge- 
sagte, z.  B.  über  Homogenität,  Berechnung  der  Flächen  u.  s.  w.  recht 
interessant.  Nur,  wie  gesagt,  scheint  uns  kein  Bedürfniss  obzuwalten, 
das  in  §.  49,  50  Behandelte  in  die  analytische  Geometrie  einzuführen. 

Lässt  man  in  der  Formel  x  +  y  V~i  +  *  V°-H  V—l  =  (0 
drei  unabhängige  Veränderliche  gelten,  so  stellt  dieselbe  jeden  möglichen 
Punkt  im  unendlichen  Räume  dar,  d.  h.  diesen  Raum  selbst.  Betrachtet 
man  aber  einen  begrönzten  Körper,  so  wird  er  am  besten  als  Ort 
einer  sich  bewegenden  Fläche  aufzufassen  sein.  Wählt  mau  z.  B.  die 
Formel  x+y  y/*Z{  =  (0,  in  der  x  von  — -  a  bis  +  a,  y  von  — 

in 


der  Ebene  der  xy  liegenden  Ellypse  dar.    Behaftet  man  das  zweite 

(sekundäre)  Glied  mit  dem  Iuklinatiooskoefßzienten  e  ,  so  stellt 

(r)  =  x  +  ycos  f  y/^~\  +y  sin  tp  y"=H  y/^\  die  Gleichung  des  Ro- 
tationsellipsoids dar  (des  Körpers),  das  durch  Drehung  der  Ellipsen- 
fläche um  die  primäre  Axe  entstanden  ist,  in  so  ferne  x,  y,  <j> 
gige  Veränderliche  sind,  und  worin  x  und  y  obigen  Bedingun 


Schettler:  Situationakalkul. 


sprechen.    Aehnlich  verfahrt  man  in  andern  Füllen.    Die  Berechnung  des 

Körperinhalts  (§.  55.)  bildet  den  Schlun  des  Werke«. 

Ein  „Anhang"  bandelt  kurz  von  der 
Gleichungen,  indem  die  erweiterten  Begriffe  der  Fnw*rcu, 
und  tertiären  Grossen  eingeführt  werden.  Referent  ist  übrigens  damit 
nicht  einverstanden,  da,  wie  er  schon  zu  Eingang  dieser  Anzeige  gesagt, 
es  ihm  nötbig  scheint,  rein  arithmetische  (algebraische)  Probleme  und 
rein  geometrische  aus  einander  tu  ballen,  und  er  also  keineswegs  ein 
Freund  davon  ist,  in  diese  rein  algebraische  Aufgabe  geometrische  An- 
schauungen verflochten  tu  sehen.  Allerdings  hat  man  dieses  schon  oft 
gethan,  und  die  ersten  Mebter  der  Wissenschaft  haben  oft  so  gehandelt, 
aber  man  ist  immer  wieder  davon  abgegangen,  indem  man  das  Bedtirf- 
niss  fühlte,  auf  rein  algebraischem  Wege  auch  solche  rein  algebraische 
Aufgaben  zu  lösen.  Algebra  und  Geometrie  wirkeo  auf  einander,  davon 
ist  gerade  unser  Buch  ein  glänzendes  Zeugniss;  allein  jede  dieser  Wis- 
senschaften bat  auch  wieder  ihr  eigenes  Feld,  das  man  am  besten  ihr 

allein  überlüsst.    So  wird  der  Verfasser  selbst  zugeben,  dass  3  ± 

—  _j-8jy^Zl  als  Wurzeln  von  x2  -f-  at  x  -f-  a2  =  o  keinen  rechtes 

Sinn  haben  wollen  (S.  401.),  trotz  der  Erklärung  auf  S.  402.  Auch 
ist  schwer  abzusehen,  wenn  man  auch  einen  Sinn  hineinzwängen  wollte, 
wozu  dies  nützen  könnte.  Wenn  der  Gleichung  vom  2ten  Grade 
Wurzeln  zugetheiit  werfen  (S.  403.),  so  ist  dies  arithmetisch 
mehr  verständlich.  Die  Arithmetik  kennt  das  Zeichen  V'~i ,  aber  nicht 
\  "  *1)  ihre  Operationen  fuhren  nicht  dazu,  es  gehört  der  Geometrie 
an,  wenn  sie  sich  eines  dem  arithmetischen  ähnlichen  Gewandes  bedie- 
nen will. 

Sind  wir  so  in  einigen  wenigen  Punkten  auch  nicht  vollkommen 
derselben  Meinung,  wie  der  geehrte  Verfasser  des  vorliegenden  Werkes, 
so  müssen  wir  dafür  aussprechen,  dass  ein  aufmerksames  Studium  seines 
Buches  uns  fortwährend  mit  Freude  erfüllt  hat.  Es  weht  in  demselben 
ein  Geist  der  Klarheit,  mathematischer  Bestimmtheil,  eine  leichte  Beweg- 
lichkeit in  den  Formelo,  die  gleichsam  in  fortwährendem  Fluss  begriffen 
sein  Buch  nur  mit  Vergnügen  zur  Hand  nahmen.  Wir 
mit  Ueberzengnng  dasselbe  für  eine  höchst  empfehlens- 
wert!» Erscheinung  in  der  mathematischen  Literatur  und  hoffen,  das«  die 
in  demselben  ausgesprochenen  Grundsätze  mehr  und 
werden.    Die  Form  selbst  kann  allerdings  auoh  noch 


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Yulliemin:  Chfflon. 


865 


wie  die«  der  Verfasser  bereit!  selbst  in  der  Vorrede  angedeutet;  die 
Sache,  des  Wesen  aber  wird,  hoffen  wir,  fruchtbringende  Wirkung  haben. 
Es  ist  eine  solche  Menge  neuer  und  den  Stempel  der  Fruchtbarkeit  an 
eich  tragender  Ideen  in  diesem  Buche  niedergelegt,  dass  man  sieh  unwill- 
likürl ic h  zu  c] c ro s c  1 1) ö n  hin^czo^cn  f II  1)1 1  j  so b &ld  md u  ojoo  bbcIi  nur  oljftjr- 
nach  liehe  Bekanntschaft  mit  demselben  gemaoht  hat-  Wir  haben  im  Obi- 
gen versucht,  von  einigen  der  Grundgedanken  eine  Lebersiebt  zu  geben, 
in  der  Weise  nämlich,  wie  wir  dieselben  selbst  aufgefasst  und  man  wird 
daraus  vielleicht  ersehen  können,  wie  leicht  und  bequem  die  in  diesem 
Buche  bebandelte  Metbode  Probleme  löst,  die  nach  den  gewöhnlichen 
Metboden  ganz  andern  Aufwand  von  Hiifsmitteln  erfordern. 

Dr.  .1.  Diesiger. 


CkULon.  Etüde  historiaue  var  L.  Vulliemin.  Lausanne.  BrideL  1851 

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334.  S.  8. 

Auch  die  Kerker,  besonders  die  sogebeissenen  Staatsgefting- 
■  isse,  haben  ihre  Geschichte  und  zwar  oft  eine  lehrreiche,  tief  ersehnt- 

die  stillen  Gedanken  und  Betrachtungen  schuldiger  wie  unschuldiger  Opfer 
der  Rechtspflege  oder  der  Gewalt  vernehmen,  sie  wurden  ein  schauerli- 
ches Zeugniss  bald  wider  die  Ruchlosigkeit,  bald  für  den  Adel  des 
Menschengeschlechts  aufstellen  und  den  Posaunen  des  jüngsten  Gerichts 
ahnlich  vor  dem  Weltrichter  ihr  letztes  Unheil  niederlegen,  dort  die  Ju- 
stiz ,  wenn  sie  mit  verbundenen  Augen  und  unparteiisch  strafte ,  durch 
den  Ebrenkranz  lohnen,  hier,  wenn  sie  aus  Leidenschaft,  Furcht  oder  Hoch* 
muth  bandelte,  der  gerechten  Wiedervergeltung  durch  das  ewig  brennende 
Höllenfeuer  der  Reue  Uberliefern.  Da  überdiess  die  Rechtspflege, 
besonders  die  peinliche,  in  mancher  Rücksicht  den  Spiegel  der  jewei- 
ligen Zeitbildung  darstellt,  so  kann  die  Geschichtsforschung  allerdings  aus 
den  Verbrechen  und  Strafen  feste  Beiträge  zur  Charakteristik  des  ange- 
hangen Jahrhunderts  oder  Menschenalters  schöpfen,  ein  Weg,  welchen 
man  bisher  jedoch  nur  selten  betreten  bat.  Wohl  ist  es  im  Allgemeinen 
geschoben,  eher  nicht  im  Besondera  und  mit  Bezug  auf  die  bervorra- 

i/endfin  Merkmale  und  Rpstrehuntren  eines  bestimmten  Zeitabschnitts  Denn 

•£  %WmW  PiWPSBl      ***  W  I  Bill  avaW       WM**      W^i«»***W«BMI1^WM      w  Bmmism?       uv<i*iiiihmvm      mmmwm  «  wwwvMiitMi't      mm  mm 

dieser  zeigt  eicht  nur  in  der  Civil-  und  Criminalstatistik  neben 
vielem  Gleichförmigen  eigentümlich  gefärbte  Straffälle,  sondern  liefert  auch 
in  den  sogeheisseneu  Staatsverbrechen  den  Wiederschein  der  in  dem  Zeit- 
alter arbeitenden  Kräfte.  UeberflU?eln  und  hemmen  sie  den  vorherrschen- 

W*m  mW         W  mymmmmmJwm       §w\mm  mm  m  rwi       mjm  -www  v  ■  •  ■      my  m-  m  mm  mm  mrm^mm—m  w  mm*  %W       mW  m  mm      w  ~mr  m  mmrmrmtm  m"wmm  m  mm 


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I 

«86 


Vulliemin:  Cbillon. 


den  Gang  der  regierenden  nnd  schaltenden  Gewalt,  so  entstehen  Con- 
flicte,  welehe  gewöhnlich  mit  dem  Fall  der  mehr  oder  weniger  verein- 
zelten nnd  daher  schwachem  Persönlichkeit  endigen,  den  vorlauten  oder 
vor  der  Zeil  Werktätigen  Vertreter  der  noch  unreifen  oder  ungelenken 
Richtnng  in  den  Maoern  des  Staatsgefängnjjses  begraben.  Die  unter- 
suchende und  richtende  Macht  begntlgt  sich  dabei  häufig  nur  mit  dem 
Schein  der  Schuld;  Aeusserungen ,  halbe  Werke  fasst  sie  als  vollendete 
ThaUachen  auf,  im  blinden  Zorn  oder  Schrecken,  stets  das  Gemein- 
wohl als  Triebfeder  des  leidenschaftlichen  Richtersprochs  vorschützend. 
Wie  durch  Geist  und  Charakterstärke  ausgezeichnete  Persönlichkeiten  trotz 
mancher  Flecken  und  Gebrechen  für  den  Kern  und  Strebepfeiler  ihres 
Jahrhunderts  bald  aus  politischen,  bald  aus  religiös-moralischen  Gründen 
mit  der  Freiheit  und  dem  Leben  einstanden,  das  ist  bekannt  genug,  aber 
keineswegs  hinlänglich  geprüft  und  dargestellt.  Der  Verfasser  des  vor- 
liegenden, durch  Gehalt  und  Form  ausgezeichneten  Buchs ,  gibt  für  die 
Verbindung  vorragender  Staatsgefangenen  mit  dem  jeweiligen  Geist  und 
Grundton  ihres  Zeitalten  ein  treffendes  Beispiel;  er  zeigt  wie  mehre  Be- 
rühmtheiten dea  Waadtlandischen  Staatsgefangnisses  Chi  Hob  im  innigen 
Zusammenhange  mit  den  bessern,  vorwärts  schreitenden  Bestrebungen  des 
jeweiligen  Jahrhunderts  kämpften,  fielen  und  litten;  er  dringt  die  innere, 
den  Kern  umfassende  Zeitgeschichte,  wie  sie  sich  in  grossartigen  Per- 
sönlichkeiten abspiegelt,  gleichsam  in  den  engen  Kerkermauern  des  alten, 
romantisch  gelegenen  Schlosses  zusammen  und  gibt  dabei  in  den  Anmer- 
kungen theils  die  Belege,  theils  die  weitern  Ausführungen  seiner  frischen, 
Natur  und  Menschheit  umfassenden  Lebensbilder.  Zuerst  tritt  der 
Graf  Wala  als  Gefangener  Chillons  (»30)  auf;  er  erscheint  als  wei- 
land Minister-General  Karls  des  Grossen,  verfolgt  nnd  gederan- 
thigt  durch  das  neue,  priesterlich-hochadelige  Regiment  und  Ka- 
binet Ludwigs  des  Frommen;  seio  unabhängiger,  trotziger  Charakter, 
welcher  den  Schlichen  und  Kniffen  der,  den  Kaiser  beherrschenden  Bi- 
schöfe und  Mönche  widerstrebt,  soll  durch  die  Staatshaft  in  einer 
damals  öden,  rauhen  Gegend  gebeugt,  zerknirscht  werden.  Allein  der 
Soldatenminister  bleibt  in  dem  Thurm  Chillon's  ungetfndert;  hat  er  gleich 
das  Schwert  mit  der  Mönchskutte,  den  Feldherrnstab  mit  dem  Krummstab 
des  Abts  von  Korbei  vertauscht,  seine  fromme,  unabhängige  Seele  trotzt 
den  Ränken  nnd  bigotten  Heucheleien,  welche  seit  der  Ankunft  der  Schwä- 
bischen Judith  in  wachsender  Stärke  am  Hofe  des  Kaisers  regieren; 
müde  fruchtlosen  Eifere  für  den  Frieden  und  das  Gleichgewicht  der  staat- 
lichen nnd  kirchlichen  Kräfte  zieht  er  sich  nach  vielfachen  Wechseln  als 


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Vullietain:  Chillon. 


887 


halber  Flüchtling:  in  die  Einsamkeit  des  Italinnischen  Klosters  Bobbio  zu- 
rück nod  stirbt  hier  nach  einer  glücklichen,  aber  kurz  dauernden  Frie- 
deosmission an  den  Vater  und  die  kämpfenden  Söhne  im  August  836  als 
Mönch.  Mehrere  gelehrte  Abschweifungen,  z.  B.  über  die  erst  dreissig 
Jahre  später  vollständiger  von  den  Bischöfen  redigirten  Kapitularien 
Karls  des  Grossen,  unterbrechen  den  wechselvollen,  bisweilen  abenteu- 
erlichen Lebensgang  des  Haupthelden  nnd  geben  helle  Einblicke  in  den 
Geist  des  Zeitalters.  —  Die  zweite  hervorspringende  Persönlichkeit, 
der  Tröger  des  geordneten,  auf  städtischen  und  ritterlichen  Corpora- 
tion en  fussenden  Lehenstaates  ist  der  thatkräflige ,  planvoll  ero- 
bernde und  den  Gewinnst  behutsam  einspeichernde  Graf  Peter  vonSa- 
voyen.  Unter  ihm,  welcher  den  grössten  Theil  des  Waadtlandea 
in  der  zweiten  Hälfte  des  dreizehnten  Jahrhunderts  besetzt  und  als  der 
glücklichste  Nebenbuhler  Habs  burgs  auftritt,  wird  Chillon  ein  pracht- 
volles, mit  Gemälden  und  Bildwerken  geschmücktes  Residenzschloss, 
ohne  jedoch  ganz  der  Bestimmung  des  Staatsgefängnisses  zu  ent- 
sagen. Dieser  anfangs  vorherrschende  Grundcharakter  kehrt  unter  dem 
dritten  Vertreter  einer  überwiegenden  Zeitrichtung  zurück.  Bonivard, 
in  Genf  und  Umgegend  Kampfer  für  die  kirchlich-sittliche  Re- 
formationsidee, macht  von  neuem  den  Kerker  Chillons  berühmt 
Mit  Sorgfalt  und  eindringender  Lebhaftigkeit  schildert  der  Verfasser  den 
stürmischen  Lebensgang,  die  Gedanken  und  Bestrebungen  des  freimüthigeo 
unerschütterlichen,  durch  keine  Leiden  und  Verfolgungen  gebeugten  Glau- 
bens- und  Freiheitshelden;  die  Kraft  Luthers  vereinigt  er  mit  dem 
praktischen  Vermögen  Zwing  Ii 's  und  der  dialektischen  Gabe  Chau- 
vin"*: im  unterirdischen,  schauerlichen  Gewölbe  des  Felsenschlosses  bleibt 
er  Jahre  lang  hell  von  Kopf,  stark  und  heiler  von  Gemüth,  wahrlich  eine 
seltene,  für  die  erschlaffte,  abgespannte  Gegenwart  doppelt  theure  und 
stählende  Erscheinung.  Viele  bisher  ungedruckte  Briefe,  Gedichte  und  Auf- 
sätze werden  dabei  tbeils  in  die  schöne  Darstellung  aufgenommen,  tbeils  in  den 
beigefügten  Belegen  milgetheilt,  andere  der  Gesammtausgabe  der  literari- 
schen Verlassenschaft  vorbehalten.  Möchte  der  ritterliche  Prior  von  St. 
Victor,  der  Geburt  nach  Savoyen,  dem  Leben  nach  Genf,  „dem  Ketzer- 
nezt,tt  angehörig,  bald  das  gebührende  Denkmal,  die  Sammlung  und 
Herausgabe  seiner  sämmtlichen  Schriften,  gewinnen!  — Denn  die  Urth eile 
Uber  Slaat,  Kirche,  Gesittung  nnd  andere  Gegenstände  der  theo- 
retischen und  praktischen  Politik  sind  meistens  treffend,  aus  reifem 
Nachdenken  und  gründlicher  Erfahrung  geschöpft.  So  äussert  sich  der 
Gefangene  von  Chillon  über  den  auch  damals  auftauchenden  Communis- 


8*8 


Vulüemin:  Chillon. 


mus  der  Wiedertäufer  und  anderer  Sektirer  etwa  folgend erat assen : 
„Wollen  wir  wie  Adam  leben,  so  müsste  es  ohne  Eigentbum  und  in 
voller  Gütergemeinschaft  gestliehen.  Aber  in  welchem  Weltlbeil  ausser 
Utopien  sind  denn  die  Sachau  so  gemeinschaftlich,  dass  du  sie  ohne  Er- 
laubnis* nehmen  könntest?  Gehst  du  in  die  neue  Welt,  wo  angeblich 
Gütergemeinschaft  herrscht,  so  wisse,  dass  man  dort  keinen  Fremden  u- 
lässt,  oboe  ihn  zu  fressen;  der  eine  Leib  verzehrt  die  andern...  Vom 
Naturrecht  darf  man  nicht  mehr  reden  ,•  Völker-  und  Staatsrecht 
haben  ihm  alles  Ansehen  genommen;  ja,  wenn  du  nur  von  der  Luft  le- 
ben und  ganz  nackt  gehen  wolltest,  könnte  es  nicht  ohne  weiteres  und 
straflos  geschehen.  Erstens  würde  man  dich  für  einen  Narren  und  zwar 
mit  Recht  halten;  die  kleinen  Kinder  würden  dir  nachlaufen  und  den 
Hinterbacken  stechen,  die  grossen  daneben  aus  Zeitvertreib  die  Peitsche 
geben,  kleine  Mücken  und  Tuiere  dich  stecheo,  grosse  verschlingen ;  denn 
die  Gewalt,  welche  Gott  einst  dem  Menschen  über  die  Tbiere  verlieb, 
besteht  nicht  mehr;  endlich  werden  dich  die  Leute  wie  in  der  neuen 
Welt  behandeln,  in  Knechtschaft  schleppen  und  sagen:  „ warum  will  der 
Lump  da  ohne  iu  arbeiten  leben  ?u  —  Und  daran  geschieht  dir  Recht 
(Vom  Ursprung  der  Sünde.  Jahr  1562.  S.  324).  An  einer  andern  Stelle 
(S.  161)  heisst  es:  Die  Barfttsser  bei  den  Papisten,  die  Wiedertäufer 
bei  uns,  den  Gegenpäpstlern  (papefigues),  haben  keinen  Singularis  für  das 
Besiltprooomen ;  sie  werden  also  nicht  sagen,  „mein  Mantel,  mein 
Quersack  (bisack),tt  sondern  unser  Mantel,  unser  Quersack, tt  aie  wer- 
den selbst  so  weit  herabsteigen,  dass  es  lautet:  „unser  Geldbeuteltf 
Kommt  aber  die  Rede  auf  den  Inhalt,  so  erfolgt  sogleich  Rückkehr  zum 
Singnlaris,  und  sie  werden  sprechen,  nicht:  „unser  Geld,-  sondern  „mein 
Geld."  Unsere  Mitgegenpäpstler,  die  Anabaptisten,  stellen  sich  nur 
als  sei  ihnen  alles  gemeinschaftlich;  fühlen  sie  sich  aber  als  die  Stärk- 
sten, dann  üben  sie  die  christliche  Liebe  nicht  passiv,  sondern  aktiv 
aus.  So  bandeln  auch  die  armen  Bettler  der  Mohamedaniscben  Religion, 
und  der  Spanische  Herr  von  Mooego,  welcher  da  spricht:  „Yo  soa 
ei  segaor  de  Monego,  chi  non  a  roba  se  aon  la  ruber  d.  h.  „Ich  bin 
der  Herr  von  Monego,  wer  keinen  Rock  hat,  dem  nehme  ich  keinen.11  ~ 
Dergleichen  Leute  wollen  kein  Ei  gen  th  um  besitzen,  sie  begnügen  sich 
mit  dem  fremden,  nehmen  lieber  Almosen,  denn  dass  sie  darum  biUea. 
So  sind  auch  unsere  Anabaptisten;  sie  wollen  zwar  eines  Andern  Gut  ge- 
meinschaftlich besilsen,  aber  kein  Gegenrecbt  anerkennen. —  Davon  gibt  uns 
der  König  von  Münster  in  Westphaien  ein  Beispiel.  Und  woher  stammt  dar 
Irrtbum  bei  diesen  armen  Leuten?  —  Woher  anders  als  weü  sie  sich 


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VulliemiD:  ChiUon. 


889 


nicht  nennen  wollen  Kinder  Adams  des  Sünders,  sondern  Adams  des  Ge- 
re c  Ii  t  e  d,  nicht  Erben  seiner  Sünde,  und  also  auch  seiner  Arbeit  (Strafe), 
sondern  Erben  seiner  Gerechtigkeit  und  folglich  des  Lohns  (loyer),  wel- 
chen er  durch  seine  Gerechtigkeit  zu  verdienen  glaubte.  Sie  irren  gröb- 
lich diese  armen  Thoren;  im  Glauben  einen  Fuss  aus  dem  Schlamm  zu 
ziehen,  gerethen  sie  mit  beiden  Beinen  hinein,  mit  dem  ganzen  Leibe 
bis  an  das  Kinn.** 

So  dachte  und  schrieb  der  Gefangene,  für  welchen  endlich  die 
Stunde  der  Befreiung  schlug;  am  ersten  Februar  1536  hatten  sich  6,000 
Berner  wider  den  welllichen  und  geistlichen  Despotismus  in  der  Waadt 
in  Marsch  gesetzt  und  die  Luft  mit  ihrem  Kriegsgesange  erfüllt.  „Der 
Bär,  lantete  er,  das  kluge  Thier,  hat  seine  Höhle  verlassen,  und  ziehl 
aus,  um  diejenigen  dem  Tode  zu  entreissen,  welche  die  Erde  preisgab. 
Neun  Jahre  lang  verfolgt  und  gehetzt,  hat  Genf  die  Stadt  unsern  Bund 
gesucht,  neun  Jahre  lang  hält  es  der  Herzog  (von  Savoyen),  der  neue 
Pharao,  unter  dem  Stock  gefangen  und  ohnmächtig.  Jetzt  naht  für  das 
arme  Israel  die  Stunde,  das  Bleer  zu  Uberschreiten.  In  diesem  Zeitalter 
der  Schmerzen  für  die  Kinder  Gottes,  der  Kämpfe  für  die  Armen  des  Geistes, 
hat  de  rBär,  der  Bar  allein,  sein  Herz  dem  Mitleiden  geöffnet.  Auf  also, 
muthigea  Thier,  und  Verderben  dem,  welcher  nicht  wie  du  die  Lügner 
und  Heuchler  befehden  will!"  (S.  171.). — Berns  Kriegszug  befreite 
fast  ohne  Blutvergießen  die  Wandt.  Genf  sicherte  die  Reformation  und 
dehnte  die  Marken  der  Eidgenossenschaft  bis  an  den  Jura  aus.  —  „Bo- 
nivard  lebt  er?tt  fragten  Genfer  und  Berner  nach  der  Uebergabe  Cbillons 
(30.  März);  man  stürzt  sich  ihm  entgegen  und  ruft:  Bonivard,  du  bist 
frei!  „Und  Genf?  —  Es  ist  auch  frei."  —  Thränen  im  Auge  verliess 
der  Gefangene  den  Kerker,  seine  neunjährige  Heimath,  sein  väterliches 
Dach  ,  welches  ihm  der  lange  Aufenthalt  thener  gemacht  hatte.  So  ge- 
wöhnt sich  der  arme  Mensch  an  Alles,  selbst  an  die  Knechtschaft.  — 

Der  vierte  Abschnitt  schildert  die  letzten  Zeiten  Cbillons,  zuerst 
das  Leben  und  Wesen  der  Bernischen  Oberherrlicbkcit  nach  ihren  Liebt- 
und  Schattenseiten,  der  halb  ritterlichen,  halb  bürgerlichen  Sitten  und  deren 
allmühlige  Umwandlung.  Dabei  wird  ein  wenig  bekanntes ,  romtntis  hea 
Abentheuer  eingeschaltet;  kurz  vor  dem  Bernerzug  kämpfen  im  Turnier 
die  Vermählten  und  Ebelosen;  jene  durch  den  Ritter  und  Herrn 
von  Blonay  vertreten,  siegen;  der  Hagestolzen  Kämpe,  der  Sire  von  Cor- 
saut  unterliegt  und  heirathet  darauf  das  arme  Fräulein  Yolonthe  von 
VilleUe,  eine  Seilenverwaadte  der  Blonay.  Diese  novellenartige,  streng 
geschichtliche  Erzählung  liefert  dem  romantischen  Dichter  einen  trefflichen 


890 


Vulliemin:  Chillon. 


Stoff,  gleich  wie  sie  klar  auf  der  andern  Seite  den  Geist  des  Jahrhun- 
derts abspiegelt.  Darnach  werden  die  Wechsel  und  Uebergünge  des- 
selben beschrieben,  Voltaire  und  Rousseau  als  Anwohner  des  Le- 
manersecs  inren  urunusaizen,  Leureo  uua  einuussreicnen  YTirKungen  oaca 
meisterhaft  entwickelt,  die  Ursachen  nnd  Wechsel  der  Helvetischen,  auf 
die  Waadt  zurückgreifenden  Revolution  mit  wenigen,  kernhaften  Zogen 
hervorgehoben  und  die  Gefangenen  erwähnt,  welche  hin  und  wieder  un- 
ter den  Schlägen  der  politischen  Stürme  für  längere  oder  kürzere  Zeit 
Chillon  bewohnen  müssen.  Meistens  geschah  es  in  ziemlicher  Gemäch- 
lichkeit; die  Lage  der  unfreiwilligen  Gäste  ist  komfortabel,  wie  der  Eng- 
länder sagt.  So  wollte  es  die  Zeit;  ihr  fehlte  der  blinde,  peinigende 
Hass ,  welcher  den  Prior  von  St.  Victor  Jahre  lang  zu  den  dunkeln  Ge- 
wölben des  Felsschlosses  venirthcilte.  Die  neuen  Staatsgefangenen  kön- 
nen sich  in  den  hellen,  wohnlichen  Räumen  des  Obergeschosses  ziemlich 
frei  bewegen,  einander  Gesellschaft  leisten  und  im  Hofe  ergehen.  —  Zu- 
letzt kommen  die  Besucher  Chili ons,  vor  allen  Lord  Byron,  dessen 
Aufenthalt  in  der  Nachbarschaft,  webmüthige  Schwärmerei  und  berühmtes 
Gedicht  —  der  Gefangene  von  Chillon  —  lebendig  und  anziehend  ge- 

Biuuucii  n  crueu.  ein  raisiuiiie  uc»  Driii&cnon  LMimcrs  unu  ucs  isuiucn 
Bonivard ,  Plane  des  Schlosses,  mehrere  schöne  Kupferstiche,  welche  Br- 
zng  haben  auf  Schloss  und  Umgegend,  geben  auch  in  artistischer  Rück- 
sicht dem  gründlich  und  trefflich  geschriebenen  Buche  bleibenden  Werth. 
Gewiss  wird  es  bald  eine  Teutscbe  oder  Englische  Uebersetzung  bekom- 
men; denn  in  ihm  sind  auf  eine  nicht  gar  häufige  Weise  das  Nützliche 
und  Anmutbige  niedergelegt. 


Bernhard  E  manu  ei  von  Rodt.  Lebensbild  eines  All-Berners  als  Soldat, 
Staatsdiener,  Geschichtsschreiber,  Zeilgenosse  und  Augenzeuge  der 
schweizerischen  Umwälzungen.  Geschildert  von  L.  Wur  st  emb  er- 
ger.   Mit  drei  Plänen.  Bern.  Huber.  iS5l  V.  273.  S.  8. 

Mehrmals  haben  sich  im  Laufe  des  achtzehnten  Jahrhunderts  und 
später,  als  ihre  Regierungs-  und  Corporationsmacht  schon  unterhöhlt  und 
gebrochen  war,  Bernische  Patrizier  auf  dem  Schlachtfelda  und  Gebiet  der 
liistoriseh-staatswirthscbaftlichen  Wissenschaften  ausgezeichnet.  Dort  glän- 
zen z.  B.  die  Erlach,  Graffenried  und  andere,  hier  die  Steiger, 
Tschar ner,  Wattenwyl,  von  Nuhnen  und  Andere.  Mancher 
trachtete  beide  Richtungen  zu  verbinden;  aus  dem  Kriege  heimgekehrt, 


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Wurstemberger:  E.  T.  Rodt. 


warf  er  sich  auf  die  Verwaltung:  uud  ihr  entsprecheude  Studien,  dereo 
Früchte  aus  Mangel  an  literarischer  Ruhmliebe  nicht  immer  der  Oeffent- 
licbkeit  übergeben  wurden.  So  sind  die  historisch  -  statistischen  Arbeiten 
Rysiners  auf  dem  Lehenarchiv,  die,  von  vielen  Urkunden  begleitete  Ber- 
nische uod  Helvetische  Revolutionsgeschichte  von  Mutachs  noch  onge- 
druckt.  Nicht  so  karg  mit  der  Veröffentlichung  seioes  prüfenden,  das 
Gefundene  darstellenden  Fleisses  war  Emanuel  von  Rodt,  welchem  ne- 
ben andern  Arbeiten  das  historische  Publikum  die  treffliche  Geschichte  des 
Berniscben  Kriegswesens  und  Karls  des  Kühnen  verdankt.  Auch  das 
biographische  Denkmal,  welches  hier  ein  ehemaliger,  würdiger  Freund, 
Amts-  und  Studiengenosse  dem  zu  früh  Verstorbenen  setzt ,  enthält  viele 
eigenbändig  geschriebene  Aufzeichnungen,  deren  Lücken  von  dem  kundi- 
gen Verfasser  des  Lebensbildes  ergänzt  und  zu  einem  anschaulichen, 
aicberlich  meistens  treuen  Gemälde  nicht  nur  des  Mannes,  sondern  auch 
grösserer  Zeitkreise  ausgefüllt  werden.  Letzteren  gehört  namentlich  der 
sonst  nirgends  richtig  dargestellte  Krieg  auf  Elba  im  Jahre  1801  an, 
besonders  die  Belagerung  von  Porto  Ferrajo.  Der  erste  Absshoitt  schil- 
dert die  Jugendzeit  und  ersten,  bei  der  Verteidigung  des  Schweizeri- 
schen Neutralitätsprinzips  sichtbar  gewordenen  MUittfrleistungen  Emanuels 
von  Rodt,  welcher  am  8.  November  1776  zu  Bern  geboren,  streng 
sittlich  und  nach  dem  Massstab  jener  Tage  auch  wissenschaftlich  erzogen, 
schon  als  Jüngling  drei,  später  stets  bewährte  Neigungen  kund  gab;  er 
hatte  entschiedene  Vorliebe  für  das  Studium  der  Geschichte,  des  Kriegs- 
wesens und  der  plastischen  Kunst. 

Die  erste  militärische  Erfahrung  wurde  1796  an  der  Baslerischen 
Grunze  gewonnen  und  benutzt,  um  den  Oesterreichischen  Sturm  auf  den 
Hü oinger  Brückenkopf  (in  der  Nacht  des  30.  November)  genau  zu  beo- 
bachten und,  wie  die  Miltheilungen  beweisen,  kunstgerecht  zu  beschrei- 
ben. Der  zweite  Abschnitt  schildert  den  heldenmüthigen ,  unglücklichen 
Krieg  Berns  mit  den  Franzosen  (1. —  5.  März  1798)  und  liefert  dafür 
die  treuen,  aus  dem  Leben  gegriffenen  Berichte  Rodts,  welcher  in  dem 
Graubolztreffen ,  neben  Neueneck  dem  Tbermopylengefecht  der  alten  Ber- 
ner, zwei  Geschütze  als  Lieutenant  befehligle.  Ein  genauer  Plan  veran- 
schaulicht das  Gefecht,  in  welchem  1000  schlecht  eingeübte,  zwieträch- 
tige Milizen  18,000  Franzosen  unter  Schauenburg  zwei  Stunden  lang 
die  Stirne  zu  zeigen  wagten  und  wie  Männer  stritten.  Trotz  der  Nieder- 
lage und  vielfacher,  meuterischer  Unordnung  kann  Bern  in  Bezug  auf 
opferbereite  Hingebung  den  fünften  März  noch  jetzt  als  einen  Ehrentag 
bc lr 0 ob loo^  so      cb cm  d  1 0  ^^^ttrd o  döF  u 0 tcrhobltcii  uod  0 b 6 d dco  0 


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892  WüTttemberger!  E.  v.  Rodt. 

publik  durch  Mannhaft  der  Verth  ei  diger  behaaptet  worden  ist.  Dm  an- 
erkannten selbst  die  Sieger  nicht  sowohl  durch  ihre,  den  Schate  und  da« 

*9     n/_LnllJ.      laApanrlan      TltA^ilh      m\ o      A  t%Wt  f\\x      JJa  A  n  m      Hirantririnni  nkrrarlnllslAn 

Aeugnaus  icerenuen  lnaien  bis  uuren  uie ,  utm  uireciurmm  BDgcsiaiietrn 
Amtsberichte  und  persönlichen  Urtheile.    Der  dritte  Abschnitt  führt  des 
Leser  in  die  Mitte  des  Prenssischen  Kriegsdienstes,  welchen  Rodt 
ans  tief  eingewurzelter  Neigung  und  aus  Hass  gegen  die  Unterdrücker 
seines  Vaterlandes  im  Sommer  nachsucht  und  in  Folge  gewichtiger  Ftr- 
sprache  als  Föhn  rieh,  bald  als  Lieutenant  im  Breslau  er  Regiment  Treuen- 
fels gewinnt.  So  mannichfaltige  Gebrechen  auch  das  damalige  Heerwesen 
der  Monarchie  darstellte,  enthielt  es  auch  treffliche  Einrichtungen,  welche 
nicht  gehörig  von  der  Kritik  nach  dem  Unglücksjahr  1306  gewürdigt 
sind.    „Auch  das  Loos  und  die  Behandlung  des  Soldaten,  heisst  es  S.  44 
m  Betreu  oes  auimerKsamen  Augenzeugen,  iana  er  wen  leicnier,  mensen- 
ltcher  und  günstiger,  als  er  sichs  vorgestellt  hatte.  Noch  in  seinen  leis- 
ten Lebenstagen  beschuldigte  er  den  Bischof  Eylert  (warum  blieb  er 
sieht  auf  dem  geistlichen  Steckenpferd,  dem  Kirchenrösslein?)  grosser 
Uebertrcibung  in  seinen  Beschreibungen  des  Elendos  dieser  Soldaten,  der 
Hörte  ihrer  Offiziere  und  der  Grausamkeit  der  preussischen  Militärstrafen,  die 
derselbe  in  seinen  Charakterfügen  Königs  Friedrich  Wilhelms  1(1.  so 
tragisch  (wie  Hiob)  ausmalet.    Im  Geg entheil  bezeugte  Rodt  mündlich 
und  in  seinen  nachgelassenen  Schriften  wiederholt,  er  habe  immer  an- 
gemessene Freundlichkeit  und  viele  Menschlichkeit  der  Offiziere  gegen  die 
Soldaten  wahrgenommen  und  selbst  die  Strafen,  z.  B.  das  verrufene  Gas- 
senlaufen, seien  weit  weniger  grausam  gewesen  als  das  brit tische 
(parlamentarisch  -  nii littirische  ?)  zu  Wasser  und    zu  Land  übliche  Peit- 
schen mit  der  „cat-of-nine-tailstt  (der  nennseh  winzigen  Katze).  Asch 
das  Aosreissen  sei  zu  seiner  Zeit  ziemlich  selten,  die  Lage  des  lässiges 
Soldaten  sehr  günstig  gewesen ;  von  je  drei  Tagen  habe  er  zwei  frei  ge- 
habt und  dadurch  Gelegenheit  gefunden,  in  Breslau  taglich  einen  halben, 
iü  Berlin  einen  vollen  Thaler  täglich  durch  Arbeiten  bei  den  Bürgers  ss 
erwerben.    Dazu  sei  mit  dem  1.  Junius  1799  eine  nicht  unbedeutende 
Solderhöhung  eingeführt  und  die  früher  üblich  gewesene  Brotanrechnong 
öDgescnani  woraen.  —  ine  uenauigKeu  aer  grossen  manoteroewegungeo, 
nesonaers  aer  neuere! ,  aui  aer  roisaamer  neersenau  unu  aer  Ann  lies 
gefeierter  Waffengeffchrten  Friedrichs  I!.,  Tempethofs,  Möllendorfs  snd  des 
jungem,  allein  unbezopften  Büchel  machten  auf  den  vorwärts  stre- 
benden Berner  den  tiefsten  Eindruck.    Dabei  wird  gelegenheitlich,  wss 
bisher  unbekannt  war,  gemeldet,  warum  der  zuletzt  erwähnte  General 
ein  unbezopftes  Privilegium  besass.  Rüchel  musste  nämlich  wegen  sein« 


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tt  uiBicinocrger .    c  t.  nuuv. 


von  jeher  schwachen  Haarwuchses  einen  falschen  Zopf  Ingen,  welchen 
ihm  einst  zu  Sanssouci  unter  den  Augen  des  grossen  Königs  ein  mut- 
williges Windspiel  rücklings  aurspringend  hinwegries  und  trotz  der  raschen 
Verfolgung  durch  den  Inhaber  zwischen  Stühlen  und  l  i  chen  umherlau- 
fend als  Siegesbeute  davontrug.  Lachend  dispensirte  Friedrich  RücheTn 
auf  immer  vom  Tragen  eines  Zopfes.  —  Wie  Herr  von  Kodt  aus  Sehn- 
sucht nach  Krieg  ungern  und  etwas  leichtfertig  aus  dem  dm  als  friedlich 
gesinnten  Preussischen  Dienst  in  den  Oesterreichisch  -  Englischen  eintrat 
(Frühling  1800),  hier  in  seinen  Erwartungen  durch  das  Missgescbick  der 
Kaiserlichen  und  andern  Umständen  getäuscht  mit  dem  Schweteerregttnent 
Wattenwyl  (früher  Roverea)  der  brittischcn  Fahne  folgte,  mancherlei 
Whrlichkeiten  zu  Wasser  und  zu  Land  bestand,  Porto  Ferrajo  auf  Elba 
gegen  die  Franzosen  vertheidigen  half  (Sommer  1801),  dann  in  Folge 
des  Friedeos  von  Amiens  anfangs  auf  Urlaub,  darnach  für  immer,  dem 
fremden  MilitSrwesen  entsagte  und  in  die  Heimath  zurückkehrte,  (Herbst 
180t),  *-  das  Alles  wird  in  den  Abschnitten  4 — 8  auf  eine  eben  so 
anziehende  als  lehrreiche  Weise  beschrieben.  Den  Kernpunkt  bildet  die 
schon  erwähnte  Belagerungsgeschichre  Porto  Ferrajo's,  welche  viele  bis- 
her unbekannte  Thatsachen  liefert  und  manche,  in  Französischen  und  an- 
derweitigen Berichten  niedergelegte  Irrtbümer  berichtigt.  Ein  Plan  der 
Stadt  und  eine  Karte  der  Insel  veranschaulichen  das  Dargestellte.  Auch 
die  nichtmilitfirischen  Reiseansflüge,  z.  B.  von  Malta  nach  Stcilien  bringen 
manches  Beachtenswert  he,  wodurch  Volk  und  Zeit  aufgehellt  werden.  Wel- 
chen Abstand  bildet  nicht  z.  B.  der  gastliehe,  hochgebildete  um]  beschei- 
dene Ritter  Landolina  in  Syrakus  von  der  Armuth  und  Unwissenheit  des 
lief  gesunkenen,  in  seinen  Trümmern  noch  ehrwürdigen  Vororts  der  Sike- 
Hschen  Dorier!  (S.  181).  Was  Göthe  von  jenem  trefflichen  Kennet 
des  Altcrthums  erzählt,  wird  hier  vollkommen  bestätigt.  Nicht  minder  an- 
stefcend  ist  die  Aetnareise  (Mai  1802).  „Rodt,  heisst  es  bündig,  von 
Roverea ,  Sohn,  (seinem  ermatteten  Reisegefährten)  ermahnt,  erklomm  den 
Hand  des  Höllenschlundes,  dessen  Abgrund  er  mit  Grausen  erblickte;  schwarze 
und  gelbliche  Qualmwoftren  von  erstickendem  Schwefeldampf  machten  das 
Weilen  auf  dieser  Hohe  fast  Uneusheltbar ;  das  Infernale  des  Anblicks  genoss 
der  Wanderer  in  vollen  Zügen ;  das  Himmlische  der  Aussicht  hingegen,  die  sich 
bei  hellem  Wetter  über  ganz  Sicilien  und  die  umliegenden  Festlande  und 
Inseln  erstreckt,  wurde  ibm  durch  Nebelte  wölke  im  Osten  und  Süden 
sehr  verkümmert.4*  (S.  183).  Man  begreift  jetzt  bei  dem  Aneinander 
der  Gegensätze,  des  Himmels  und  der  Hölle,  der  Fülle  und  Oede  den 
Aescbyleischen  Mythos  vom  begrabenen  Kies enunget hUm  Typboeus  und 


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Wursteraberger:  E.  v.  Rodt. 


auf  der  Koppe  hämmernde»  Hepbaistos,  man  sieht  ein,  wie  Lin- 
ter dem  Schwefelgewölk  halb  revolutionärer  Wirren  und  Dünste  nach  ge- 
reinigter Luft  die  reine  Aussicht  besserer  Zukunft  liegt.    Auch  Rodt 
musste  heimgekehrt  diese  Erfahrung  machen ;  sein  umdüsterter  Blick  konnte 
aber  nach  menschlichem  Loose  in  den  Zerwürfnissen,  halb  verschuldeter, 
halb  verhängnissvoller  Zuckungen  der  Schweizerischen  Heimath  das  noch 
ferne  Ziel  einer  verständigen  und  erträglichen  Wiedergeburt  nicht  ganz 
erkennen.    Festen  Charakters  und  nicht  gewohnt  gegen  seine  Ueberzeu- 
gung  zu  dienen,  zog  er  sich  nach  musterhafter  Verwaltung  des  Münster- 
thaies (Abschnitt  10)  bei  dem  Aufgang  einer  neuen  politischen  Welt 
(1830)  für  immer  in  die  Einsamkeit  des  häuslichen  und  literarischen  Le- 
bens zurück  (Abschnitt  11  n.  12).  Was  er  in  dem  letzten  Kreise  durch 
die  Geschichte  Karls  des  Kühnen,  des  Bernischen  Kriegswesens,  des  Twing- 
herrnstreits  und  andere  historische  Arbeiten  leistete,  bleibt  bei  kundigen 
Schweizern  und  Fremden  wohl  noch  viele  Jahre  lang  als  dauerndes  Denk- 
mal im  dankbarem  Gedächtnis«.  „Wem  übrigens,  bemerkt  nicht  ohne  Grund 
der  Biograph,  in  unserer  Zeit  ums  Geld  zu  tbun  ist,  der  tbut  besser 
Geschichten  zu  machen,  als  G e s  c h i c h  t e  zu  schreiben,  besonders  nicht 
diplomatisch -kritische,  noch  mit  Rodtischer  Gewissenhaftigkeit  „Tendenz* 
ist  die  Hauptsache,  auf  die  heutzutage  gesehen,  die  bezahlt  wird;  Wahr- 
heit aber  nur  Nebensache  bleibt  und  pedantischer  Obskurantismus  heisst; 
und  doch  konnte  der  ehrliche  Rodt  sich  seine  langweilige  Wahrheitsliebe 
nie  abgewöhnen."  —  Diese  etwas  scharfe  Herzensergiessueg  des  höchst 
acbtungswerlhen  Verfassers  schmeckt,  scheint  es,  nach  örtlicher  Partei- 
galle; denn  seines  Freundes  literarische  Arbeiten  haben  doch  innerhalb 
und  ausserhalb  Berns  ihre  gerechte  Anerkennung  gefunden  und  Niemanden 
ist  es  eingefallen,  dem  Sohn  einer  vielfach  beseitigten  Zeiteutwicklung  dess- 
halb  anklagende  Vorwürfe  zu  machen,  weil  er  ihr  etwa  in  seinen  Wün- 
schen, gewählten  Beschäftigungen  und  Verhältnissen  mehr  anhing  und 
huldigte,  als  einer  noch  gäbrenden,  unabgeschlossenen  und  häufig  uner- 
freulichen Gegenwart  Rodt  starb  am  16.  August  1848,  inmitten  ringsum 
aufgegangener  Stürme,  welche  er  schon  einmal  ab  junger  Mann  und  zwar 
in  weit  stärkerer  Macht  und  Nacbaaltigkeit  erfahren  hatte. 

15.  Nov.  Mortüm.  ♦ 

r 

*  ■ 


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Nr.  57.  HEIDELBERGER  1851. 

JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR. 


Hisloire  de  la  Confederation  Suis  sc,  par  Jean  de  Müller,  Gloutt- 
Blozheim  et  J.  Hottinger;  traduite  de  VAllemand  atec  des 
notes  noutelles  et  continuejusquä  nos  jours,  par  Charles  Mon- 
tier d  et  Louis  Vulliemin.  Tome  dix-huitihme  =  Charles 
Monnard.  Paris,  Ballimore,  editevr.  Geneve.  Cherbulie*,  libraire. 
1851.  8.  VIII.  544. 

Mit  diesem  Band,  welcher  bis  zum  Jahr  1815,  dem  Abschluss  dei 
neuen  ,  der  Mediationsakte  folgenden  Bundes  hinabreicht,  hat  das 
grosse,  nalionalbistorische  Werk  der  Schwei*  vorläufig  sein  Ziel  erreicht. 
Wenigen  Völkern  und  Ländern  Europas  ist  es  verliehen,  eine  so  umfas- 
sende, durch  Gründlichkeit,  Klarheit  der  Anordnung  und  Sprache  ausge- 
zeichnete Darstellung  der  Gesaiumtgeschicbte  zu  besitzen.  Und  die- 
ses Ergebniss  wurde  inmitten  vielfach  bewegter,  selbst  zwieträebtiger  Tage, 
und  stürmischer  Wirren  durch  die  Vaterlandsliebe,  den  rastlosen  Fleiss  und 
vor-  wie  rückwärts  blickenden  Scharfsinn  etlicher  Männer  und  Bürger  ge- 
wonnen. Was  Job.  Müller  1780  durch  die  Herausgabe  seiner  ersten 
Umrisse  begann,  haben  Vulliemin  und  Monnard  auf  würdige  Weise 
jetzt  beendigt.  Denn  abgerechnet  die,  von  Tillier  gut  beschriebene 
Restaurationszeit  (1815—1830),  gehört  die  fernere  Entwicklung 
noch  zu  sehr  den  Kämpfen  und  Bestrebungen  der  laufenden  Gegenwart 
an,  als  dass  sie  sich  zum  Gegenstand  einer  abgerundeten,  dem  grossen 
Gänsen  anheimfallenden  Historie  eignete. 

Denkschriften  und  Monographien  müssen  hier  als  Zeugnisse  der, 
gleichzeitigen  Beobachter  und  Mithandelnden  dem  künftigen  Geschichtsschrei- 
ber die  Bahn  ebnen  und  den  Boden  befestigen.  Wenn  nun  mit  gebüh- 
render Aufmerksamkeit  und  Anerkennung  das  bedeutsame  Unternehmen  in 
diesen  Blättern  verfolgt  -; J  und  genau,  selbst  hin  und  wieder  kritisch,  bespro- 
chen wurde,  so  kann  der  Abschluss  des  Werks  ohne  Beeinträchtigung 
warmer  Theilnahme  auf  Kürze  Anspruch  machen.  Denn  die  der  Media- 
tionszeit augehörigen  und  auch  benutzten  Schriften  Rovereas  und 
Tilliera**)  sind  einerseits  hinlänglich  erörtert  worden,  anderseits  ver- 
gönnen die  einzelnen,  übrigens  trefflich  ausgeführten  Abschnitte  für  die 


•)  Jahrg.  1842.  1846  und  1848. 
♦*)  Jahrg.  1847.  1848  und  1849. 

XUV.  Jahrg.  6.  Doppelheft   '  57 


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896         Monnard  et  VuHiemin!  Hialoire  de  la  confe^eration  Saisse. 

Oricntirung-  des  Lesers  nicht  leicht  Auszüge  oder  etwa  hier  oder  da  ent- 
gegenstehende Bemerkungen.  Die  kunstfertige  Geschicklichkeit,  den  Stoff 
angemessen  und  zwanglos  zu  gliedern,  (Organisationstalent)  wird  am  be- 
sten ans  dem  Inhalt,  erhellen  und  die  leichte  am  rechten  Ort  selbst  red- 
nerische Schreibart  des  Verfassers  in  etlichen  Bruchstücken  des  Nach- 
worts volle  Bewahrheitung  finden.  Die  erste  Abtheilung  (Sektion),  Ober- 
schrieben :  Begebenheiten  vor  dem  Russischen  Kriege,  Na- 
poleons Oberherrlichkeit  (Suprematie) ;u  gibt  im  ersten  Kapitel 
den  Charakter  und  die  Lage  des  Zeitatters  an;  im  zweiten  die 
innern  Schwierigkeiten  and  Unruhen,  namentlich  im  C.  Zürich 
(1804),  schildert  im  dritten  das  Verhält niss  der  Eidgenossenschaft 
znm  ersten  Consul,  spätem  Kaiser  Napoleon,  im  vierten  die  wach- 
sende Macht  desselben  und  im  fünften  die  zunehmende  Ab- 
hängigkeit der  Schweiz,  welche  ihren  Handel  zerstört,  ihre  Presse 
ünd  Bürgerschaft  von  der  Französischen  Polizei  überwacht  sehen  moss. 
Der  C.  T  essin  wird  sogar  militärisch  besetzt  und  trotz  der  dawider 
eingelegten  Verwahrung  Jahre  lang  nicht  geräumt.  Umsonst  feierte  msn 
auch  in  der  Eidgenossenschaft  mit  ungewöhnlichem  Prunk  die  Gebart  des 
Königs  von  Rom  (20.  Mfrz  1811),  umsonst  verherrlichten  die  Pfarrer 
heider  Bekenntnisse  wetteifernd  das  „g ebene d eie te  K in d*  and  an- 
erkannten die  Zeichen  der  beliebten  Vorsehung.  Aber  diese  rief  dem 
Welt  erobere  r  zuerst  in  Spanien,  darnach  in  Kussland  ein  entschie- 
denes „Halt!"  zu.  Darum  beschreibt  die  zweite  Abiheilung:  Abnahme 
und  Fall  Napoleons/  im  ersten  Capitel  mit  Recht  den  Rassische» 
Feldzug,  m  Leistungen  und  Verluste  der  dabei  gebrauchten  Schwei- 
zerregimenter,  welche  hauptsächlich  den  Rückzug  decken  and  bel- 
denmüthige,  besserer  Tage  würdige,  Tapferkeit  entwickeln,  schildert  das 
zweite  Capitel  die  Folgen  der  Leipziger  Schlacht  und  das  Ende  der 
Mediationsakte.  Die  dritte  Abteilung,  überschrieben:  „Bildunf  ei- 
nes neuen  Bundesvertrags/  entwickelt  im  ersten  Capitel  das  eid- 
genössische Zwischenregiment  (Interregnum),  im  zweiten  die 
konstitutionirenden  oder  Verfassunggebenden  Arbeite* 
and  Wirren;  hn  dritten  den  Wiener  Congress,  natürlich  zunächst 
im  Bezug  auf  die  Schweiz,  im  vierten  Waterloo  und  den  zweiten 
Pariser  Frieden.  Die  vierte  Abtheilong:  „Inneres  Leben%  schil- 
dert im  ersten  Capitel  das  Bundeswesen,  im  zweiten  die  Canton- 
V  er  waltung,  im  dritten  das  Geistes-  oder  Culturleben,  letzteres 
mehr  skizzenhaft  denn  ausführlich.  Ueberhaupt  sieht  man,  dass  ee  zum 
Schlnss  geht  Qa  doture!  la  clotaret),  wie  lioh  denn  auch  ein  ichöa 


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Monnard  et  Vulliemin:  Histoire  de  la  conftfderation  Suisie. 


gedachtes,  gefühltes  und  geschriebenes  Nachwort  an  die  Eidgenossen 
wendet  und  gleichsam  Ton  ihnen  Abschied  nimmt.  Vor  noch  drei  Jahren 
würde  man  die  Lehren  und  Rathschläge,  welche  der  Verfasser,  darin  ähn- 
lich Napoleon  gegenüber  der  Helretischen  Consulta  in  Paris,  seinen  Lands- 
leuten gibt,  hier  oder  da  für  eine  mürrische,  pedantische  Schulmeistern 
erklärt  haben;  jetzt  aber,  wo  so  viele  traumähnliche  Tauschungen  her- 
umirren,  wird  man  die  ernste,  väterliche  Mahnung  sicherlich  von  ihrem 
wahrhaften  Standpunkt  aus  betrachten  und  für  die  eine  oder  andere  Seite 
beherzigen.  „Die  Schweiz,  lautet  sie  stellenweise,  (S.  530)  soll  pflicht- 
müssig  weniger  die  Formen  als  den  Geist  der  Republik  und  Demokratie 
den  übrigen  Nationen  achtungswerth  machen.  Dieser  Geist  betrachtet  den 
Staat  als  die  gemeine  Sache  (res  pnblicaJ,  als  die  Sache  Aller; 
et  will  die  Vorherrschaft  des  Volks,  d.  h.  Aller,  folglich  das  Reich 
der  Freiheit,  in  welchem  sich  die  Kräfte  entwickeln,  die  Einsicht  erbebt 
nnd  das  Herz  erweitert.  Diesen  Geist  unter  allen  Formen  der  Regierung 
auszubreiten,  fordert  die  Mission  unserer  Republik.  Grosse  und  heilige 
Mission!  Die  Schweiz  wird  sie  erfüllen,  nicht  durch  geheime  Send- 
finge (Agenten;  nnd  revolutionäre  Propaganda,  nicht  durch  Feuerbrflnde, 
Welche  in  die  benachbarten  Staaten  geschlendert  werden,  sondern  durch 
das  Uebergewicht  des  Beispiels.  Möge  sie  Europa  ein  Leuchtturm,  nicht 
aber  ein  Feuerherd  seynl 

Dorch  Beachtung  fremder  Staatsrechte  wird  die  Schweiz  ihrem  eigenen 
Staatsrecht  Achtung  verschaffen,  auf  dem  Boden  des  guten  internationalen 
Rechts  grössere  Mittel  für  den  Schirm  ihrer  Unabhängigkeit  gewinnen,  als  Men- 
schen und  Völker  auf  dem  Boden  der  Ungerechtigheit.  —  Unabhän- 
gigkeit! — -  auch  sie  legt  dem  Bunde  Pflichten  auf.  Die  Schweiz  kann 
Sich  nicht  vereinsamen  fisoliren?  wie  eine  Insel,  welche  über  Weltmeer 
nnd  Schrankenlosigkeit  waltet.  Ein  kleines  Laud  von  Grossstaaten  umge- 
ben, ohne  andern  Seehafen  nnd  Ausgang  als  die  Nachbarn  erlauben,  hat 
Sie  die  letztern  nötbig  zum  Geben  und  Empfangen,  zur  Ausfuhr  eigener 
Erzeugnisse  und  zur  Ergänzung  des  Lebensbedarfs.    Sie  muss  also  auch 
Vom  politischen  Standpunkt  aus  betrachtet  gegenüber  andern  Staaten  kein 
verriegeltes  sondern  gesellschaftliches  Leben  führen,  gute  Nachbarsverbält- 
nisse  unterhalten,  ohne  sich  ihnen  zu  unterwerfen;  sie  muss  sich  selber 
echten,  um  durch  Achtung  die  Kraft  und  den  Willen  der  Mächte  zu  zü- 
geln; sie  muss  Unabhängigkeit  nnd  Vergesellschaftung  (Tassociatiun;  zn 
einigen  wissen.  —  Schweizer  schirmt  und  ehrt  eure  Volksthümlickeit  ohne 
fremde  Nationen  zn  kränken!  Wollt  ihr  stark  seyn  vor  den  Möchten, 
seid  es  durch  enre  Würde!  Entweihet  nicht  die  heiligen  Namen  derUn- 

57* 


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898  Monnard  et  Yulliemin:  Histoire  de  Ia  confederation  Suisse. 

abhangigkeit  and  Freiheit,  wie  man  stündlich  den  Namen  Gottes  miss- 
braucht! —  Spielt  nicht  mit  grossen  Gedanken  und  edlen  Gefühlen  1  — 
Würzet  nicht  eure  öffentlichen  Feste  durch  herausfordernde  Redensarten! 
Seid  fest  ohne  Hochmuth  und  fröhlich  ohne  Prahlerei!  Ahmt  nicht  nach 
die  armseligen  Hüter  eurer  Häuser,  welche  im  spröden,  hartnäckigen  Ge- 
belfer scheinbare  Stärke  niederlegen!  —  Unabhängig  ist  das  Volk, 
weiches  treu  seinen  Sitten,  Gesetzen  und  Charakterzügen,  stark  durch 
Eintracht  die  Beziehungen  zu  den  auswärtigen  Cabineten  nicht  abbricht, 
um  ihr  Lächeln  nicht  buhlt,  ihre  Ränke  abweist  und  sie  eben  so  wenig 
zu  Schiedsrichtern  seines  Looses  macht.  Drei  und  ein  halbes  Jahrhundert 
der  Abhängigkeit  haben  der  Schweiz  eine  theuer  bezahlte  Lehre  gege- 
ben, nicht  aber  das  Recht,  die  Könige  anzuklagen;  ein  Volk,  welches 
sich  nicht  selbst  sein  Schicksal  zu  machen  weiss,  darf  nicht  klagen,  wenn 
es  ihm  von  anderer  Seite  her  gemacht  wird.  Hoffentlich  werden  fortan 
die  Schweizerdinge  in  der  Schweiz  und  durch  das  Volk  der  Schweizer 
ihre  Wendung  bekommen. 

Die  Achtung  vor  dem  Rechte  Anderer,  die  edle,  ruhige  Haltung 
gegenüber  dem  Schirm  des  nationalen  Lebens  werden  die  Bedeutung 
der  Schweiz  im  Europäischen  Staaten  System  erhöhen.  Grosse 
Monarchen  haben  davon  bei  Europäischen  Krisen  Zeugniss  abgelegt  und 
werden  es  von  neuem  thun,  wenn  die  Eidgenossensehaft  durch  Theten 
den  Glauben  bewahrheitet,  dass  der  politische  Werth  eines  kleinen 
Staats  im  Verhältniss  zu  der  sittlichen  Tüchtigkeit  steht.  Die  Schweiz 
jr d  d&bcr  Dicht  d rti  13 c  1  s jj j c I  jener  ci  0 1 1 u L 0  folgen  ^  e I c h e  ä ii f  lb reo 
Pergamentbwefen  schlummern  und  die  Verdienste  ihrer  Ahnen,  die  Quelle 
ihres  Adels,  mit  Gleichgültigkeit  behandeln.  Statt  rückwärts  so  schauen 
und  sieb  zu  brüsten  mit  dem  Vergangenen,  wird  sie  die  Augen  auf  das 
richten,  was  ringsum  und  vor  ihr  liegt,  sich  vergesellschaften  mit  dem 
unaufschiebbaren  Werk  der  Gesittung  (CivilisationJ.  Die  grossen  geisti- 
gen und  staatsbürgerlichen  Bewegungen  gelten  a  11  e  n  Völkern ;  die  Schran- 
ken der  S  t  a  a  t  e  n  finden  sich  nicht  auf  dem  Gebiet  der  Geister.  Hier 
schätzt  man  die  Bedeutung  einer  Nation  nicht  nach  dem  Umfang  des  Rau- 
mes sondern  des  Geistes  ab;  hier  machen  kleine  Völker  den  Vor  schritt 
der  grössern  streitig;  Athen  hat  das  Reich  der  Perser  durch  den  Ruhm 
des  Gedankens  wie  auf  dem  Schlachtfelde  überwunden.  Die  kleine  Schweiz 
nimmt  in  der  Geschichte  der  Wissenschaften,  schönen  Künste  und  übrigen 
Gesittung  häufiger  einen  Ehrenplatz  ein,  als  mancher  Grossstaat.  In 
der  allgemeinen  Bewegung  zu  Gunsten  des  socialen  Fortschritts  sah  man 
die  Schweiz  oder  einzelne  Cantone  immer  in  der  Vorhat.    Die  Eidge- 


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Monnard  et  Volliemio:  Histoire  de  la  confe'deration  Suiase. 


nossenschaft  gab  in  der  neuern  Zeit  die  ersten  Beispiele  der  geregelten,  fried- 
lichen Demokratie,  das  erste  Mnsler  der  Kriegswissenschaft  und  spä- 
ter des  Land  weh  r  Systems,  welches  den  Pfalz  bleibender  Heere  ver- 
tritt.    In  der  Staatswirthschaft  haben   die  gewerblichen  Cantone, 
in  der  Praxis  die  Kühnheit  fremder  Theoretiker  ausgleichend,  durch  die 
Freiheit  aber  alle  Hemmnisse  gesiegt,  welche  andere  Staaten  ringsum  ihrer  Na- 
tionalindustrie entgegenstellten.    Die  Schweiz  hat  durch  ihr  Beispiel  die 
Herrschaft  des  Associ  ationsgeist es  zuerst  angekündigt.  Alles  ladet 
also  ein  zur  Besserung  der  socialen  Verhältnisse  nnd  zum  Gennss  dersel- 
ben.   Im  Sittlichkeitsprincip  der  Einzelnen  und  der  Völker  geht 
die  Pflichtfrage  der  Glücksfrage  voran;  jeoe  enthalt  den  Grund, 
diese  die  Wirkung;  aber  aus  dem  Glück,  wenn  es  sich  über  Alle  er- 
streckt, entspringen  auch  Pflichten  wie  für  die  Gesellschaft,  so  für 
die  Glieder  derselben.  Vergleichen  nun  die  Schweizer  das  Ganze  ih- 
rer Lage  mit  dem  anderer  Völker,  so  werden  sie  sich  überzeugen,  dass 
nur  wenige  eine  gleiche  Zahl  von  Bedingungen  der  Gemeinwohlfahrt  ver- 
einigen.   Die  centrale  Lage  setzt  das  Land  in  Berührung  mit  drei  gros- 
sen Nationalitäten,  der  Französischen,  Ilaliifnischen  und  Teutschen; 
bei  einer  mittlem,  gesunden  Temperatur  führt  die  Mannigfaltigkeit  des 
Himmelstrichs  innerhalb  weniger  Stunden  von  den  Pflanzen  Siciliens  zu 
denen  Lapplands;  reich  ist  das  Gewässer  der  Seen,  Ströme,  Flüsse,  Bäche, 
mineralischen  uud  warmen  Quellen;  man  findet  Ebenen  mit  Gelraide  be- 
deckt, kräuterreiche  Thäler,  vom  Weinstock  prangende  Hügel,  Gebirge 
mit  fetten  Matten,  adwechselnd  Wälle  und  Schmuck;  die  Schönheiten 
der  Natur  machen  das  bewundernde  Europa  und  Amerika  der  Schweis 
gewissermassen  zinspflichtig;  der  Boden  ist  fruchtbar  genug  um  die  Ar- 
beit zu  belohnen,  karg  gegen  die  Faulen;  der  Volksstamm  besitzt  Ge- 
sundheit, Kraft,  Feuer  für  die  Anstrengungen  des  Arms  und  Kopfes;  alle 
Art  des  Lebens  und  der  Werkt  hü  tigkeit  sieht  man  nebeneinander;  durch 
den  Handel  reich  gewordene  Städte,  Gewerblicbkeit,  deren  Gewebe  mit 
England  wetteifert,  welche  den  nackten  Neger  Brasiliens  bekleidet,  nach 
China  Seidenzeuge  führt,  Uhren  und  Juwelenarbeiten  in  beide  Welten  sen- 
det, ihnen  Eingang  zum  Serail  des  Grosstürken  verschafft;  Städte  und 
Dörfer  untermischt  für  die  Förderung  der  geistigen  Pflege  und  zwar  in 
grösserer  Zahl  als  anderswo;  beinahe  überall  tritt  uns  das  Bild  der  Wohl- 
habenheit entgegen ;  leicht  sind  die  Verbindung-  und  Fahrmittel,  muster- 
sterhaft  die  Strassen  bis  zum  Hochgebirge  hinauf ;  Volksbildung  ist,  so  zu 
sagen,  verbreitet  bis  zu  den  letzten  Hütten;  man  kennt  Pflege  der  Wis- 
senschaften, literarischen  Ruhm ,  militärische  Einrichtungen  nnd  Tapferkeit, 


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900         Monnard  et  Vulliemin:  Hktoire  de  U  confederauon  Seisse. 

ein  unsichtbares  Heer,  weichet  auf  den  ersten  Ruf  geschult,  so  Manus- 
zucht  und  Ordnung  gewöhnt  aus  dem  Boden  emporsteigt;  man  bat  wach- 
same Behörden  in  den  Cantonen,  und  waebseedo  Bundeieinheit  (Union;; 
das  öffentliche  Leben  gedeiht,  mit  Beihülfe  schwacher  Steuern  werden 
gemeinnützige  Werke  geschaffen;  das,  vom  Volk  gezahlte  Geld  dient 
der  Wohlfahrt  des  Volks;  deo  massigen  Amlsgehalt  ergänzt  die  Pflicht- 
treue; hohe  Obrigkeiten  umgibt  die  Achtung  ihrer  einfachen  Würde;  es 
gibt  keine  geldsuchtigen  Beamten;  keine  amtliche  Bestechung,  kerne  Hof- 
pracht, keine  Prinzenausstaltiing;  statt  des  Pompes  und  der  Hoheit  gilt 
im  öffentlichen  Leben  die  Freiheit  und  als  Vater  und  Beschirmer  der  Frei- 
heit jener  Gott,  welchen  alles  Volk  anbetet  in  deu  herrlichen  Tempeln 
der  Stidte,  in  den  weissen  Kirchen  der  Dörfer,  den  ländlichen  Capellen 
der  Feisahhänge,  unter  dem  Dache  des  Reichen  end  Armen,  in  den  Sa- 
lons und  Aelplerhütten.  So  ist  die  Schwei».  Und  weicher  Schweizer 
sollte  nicht  mit  gerührtem  Danke  ausrufe«:  „Das  Land,  welches  uns  Gott 
der  Herr  schenkte,  ist  gut."    (Deuter.  I,  25  ). 

Nachdem  darauf  der  Verfasser  gezeigt  hat,  wie  trotz  vieler  betrü- 
bender Ereignisse,  Fehler  und  Missgriffe  die  Eidgenossenschaft  im  18.  und 
19.  Jahrhunde  rt  wirkliche  Fortschritte  in  der  Gesittung  und  im  Staate  ge- 
macht bat,  schliesst  er  also:  „Die  Ordnung  der  Jahreszeiten  findet  sich 
in  dem  langen  Völkerjahr  wieder.  Vor  der  Erndte  Arbeit  und  Aus- 
fssat,  vor  dem  Korn  und  der  Weintraube  das  Düngen.  Wie  der  Ab- 
all  (Jcs  rebuts)  der  stofflichen  Natur  Felder  und  Weinberge  düngt,  eben 
so  macht  nach  dem  göttlichen  Haushaltsgeselz  der  Abfall  des  sittlichen  Lebens 
den  Boden  der  Menschheit  fruchtbar  ;  er  häuft  eich  an  und  verfault  ;  nach- 
her kennt  man  ihn  nicht  mehr  wieder  in  den  Blumen,  Erndtee  und  Früch- 
ten des  Herbstes. 

Glücklicherweise  leben  die  Völker  nicht  in  der,  von  Menschen  ein- 
gerichteten Ordnung,  sondern  in  derjenigen  des  Weltschöpfers.  Die  Vor- 
sehung regiert  die  Gesellschaft  durch  Gesetze,  welche  weder  der  wan- 
delbaren Rath«  noch  der  gleich  Meer  es  fluten  umhergetriebenen  Menge  zur 
Bestätigung  vorliegen.  Das  ist  der  Grund  patriotischer  Hoffnung,  welche 
nicht  zu  Schanden  werden  lässt. 

Gewisie  Menschen,  welchen  daran  gelegen  ist,  den  Stachel  dieses 
Glaubens  zu  brechen,  werden  für  den  Sieg  ihrer  Unordnung  diese  gött- 
liche Ordnung  längnen.  Volk  ,  sie  werden  dir  sagen ,  dass  du  allein  ihr 
Gott  bist;  wenn  du  sprichst,  werden  sie  schreien:  „Stimme  eines  Gottes 
und  nicht  eines  Menschen!"  —  Hüte  dich,  dass  nicht  in  dem  Augenblick 
ein  unsichtbarer  Engel  Gottes  dich  treffe,  fall*  du  nicht  Gott  die  Ehre  gibst! 


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v.  Sinner:  Bibliographie  der  Schweiiergeschichte.  901 

(Apostelgeschichte  XII,  22.  23.).  Hüte  dich  Volk,  ,dass  man  dich  nicht 
durch  dich  selber  truoken  mache!  Trunkenheit  ist  eine  schlimme  Ratbge- 
btrin;  in  der  Trunkenheit  schwankt  man. 

Zwei  Gattungen  Menschen  werden  vor  dir  erscheinen ;  Etliche  wer- 
den dir  mit  liebreicher  Strenge  deine  Schwächen  und  Gefahren  enthüllen; 
dies  sind  deine  Freunde;  Andere,  weit  zahlreicher,  werden  dich  be- 
räuchern und  herabbringen,  das  sind  deine  Schmeichler.  Alle  Sou- 
veräne haben  ihre  Schmeichler,  insonderheit  das  königliche  Volk,  dessen 
Höflinge  mit  Grobheit  kriechen  und  ihre  Stimme  anstrengen,  um  in  lob- 
hündeln.  — 

0  Schweizervolk,  demüthige  dich,  aber  erniedrige  dich  nicht! 
Steige  herab  von  den  Höhen  des  Stolzes,  aber  nicht  hinein  in  den  Schlämmt 
Wachse  an,  indem  du  dich  beugst  vor  dem  einzigen  Wesen,  von  wel- 
chem alle  Grösse  ausgebt!  Die  Freiheit  selbst,  die  mächtigste  der  irdi- 
schen Mächte,  ist  auf  dem  strahlenden  Thron  der  Alpengipfel  nur  dann 
unerschütterlich,  wenn  sie  sich  als  Tochter  Gottes  anerkennte 

Können  anch  hin  und  wieder  die  Farben  dieses  vortrefflichen  Schluss- 
worts etwas  zu  grell  und  düster  aufgetragen  seyn,  ungewöhnliche  Zeiten 
fordern  auch  eiue,  vom  Herkömmlichen  abweichende  Mahnung.  Wer  da 
stehet,  sehe  zu,  dass  er  nicht  falle  1  Und  Mass  zu  halten,  ist  in  allen 
Dingen  gut. 


Bibliographie  der  Schweizer  geschickte,  oder  systematisches  und  theilweis* 
beurteilendes  Verzeichnis*  der  seil  1796  bis  1851  über  die  Ge- 
schichte der  Schweiz  von  ihren  Anfängen  an  bis  1798  erschiene- 
nen Bücher.  Ein  Versuch  ton  Dr.  G.  R.  Ludwig  ton  Sinn  er  9 
früher  Unterbibliothekar  der  Universität  in  Poris.  Zürich,  Fr 
Schulthess,  Bern,  Stämpflische  Verlagsbuchhandlung.  1851.  8.  X.  292. 

Der  als  Pbilolog  rühmlichst  bekannte  Verfasser  zeigt  sich  in  dem 
vorstehend eti  Werk  auch  als  Kenner  und  Forscher  seiner  vateriündischen 
Geschichte;  er  liefert  den  Freunden  derselben  in  und  ausserhalb  der  Schwei* 
ein  längst  vermisstes  bibliographisches  Handbuch,  welches  sieb  der 
berühmten  Arbeit  G.  F.  von  Hallers  anscbliesst,  für  die' Jahre  1840— 
1845  die  trefflichen  Uebersichten  G.  Ney  er 's  von  Knonau  im  Archiv 
der  geschichtforschenden  Gesellschaft  (B.  1.  2.  4.  und  6)  benutzt,  in 
allen  übrigen  Theilen  aber  mit  geringen  Ausnahmen  durchaus  selbständig 
auftritt  und  für  sich  Bahn  bricht.  Diess  ist  um  so  anerkenaenswerther, 
je  grössere  Hulfsmi  ttel  dem  Vorgflnger  zu  Gebote  standen ;  derselbe  { Hai- 


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•  •  •  •  $m  a 

yu*  T.  Dinner:  DiDiiograpnie  aer  scnwcizergcscnjcnic. 

ler)  hatte  zwei  gelehrte  Revisoren  nnd  62  Collaboratoren ,  dabei  in  der 
Aufzählung  Rücksicht  auf  noch  ungedrnckte  Handschriften,  indess  der  Fort- 
setzer allein  dem  gesteckten  Ziel  zusteuert  und  nur  die  erschienenen  Hand- 
schriften d.  b.  die  gedruckten  Bücher,  aufnimmt  Q\\  dennoch  aber,  wie 
er  bescheiden  sagt,  auf  Vollständigkeit  keinen  Anspruch  machen 
will.  Andererseits  erscheinen  aber  auch  die  Umstände  wieder  günstiger; 
es  herrschen  seit  etwa  zwanzig  Jahren  in  der  Eidgenossenschaft  0 äf- 
fen tlichkeit  und  regere,  trotz  der  politischen  Bestrebungen  und  theil- 
weisen  Wirren  allgemeiner  verbreitete  Empfänglichkeit  für  das  vater- 
ländisch e  Geschichtsstudium.  Die  frühere  Geheimthuerei  ist  gänzlich 
gefallen;  Archive  der  Staaten  und  Sammlungen  der  Einzelbürger  sind  je- 
dem bewährten  Freund  und  Liebhaber  der  Geschichte  leicht  zugänglich, 
viele  seltene  Quellen  durch  die  Presse  veröffentlicht ,  viele  dunkle  oder 
bestrittene  Punkte  für  und  dawider  durch  die  Kritik  geprüft,  für  rein 
wissenschaftliche  oder  populäre  Zwecke  in  der  mannichfaltigsten  Art 
beleuchtet  und  dargestellt  worden.  Die  allgemeine  geschichtforschende 
Gesellschaft  und  eine  Reihe  von  historischen  Vereinen  erhalten  dabei  ohne 
Staatskosten  durch  eigene  Beiträge  an  Fleiss,  Forschnng,  Kunstvermö- 
•  gen  und  Geld  das  Studium  im  ununterbrochenen  FIuss  und  damit  auch 
das  Publikum  oder  die  Lesewelt.  Wie  ganz  anders  war  das  in  den  Ta- 
gen Hallers  und  Johann*»  von  Müller,  des  ersten,  gemeinschweizeri- 
seben  Geschichtschreibers!  Alles  lag  unter  Schloss  und  Riegel,  ängstlich 
überwacht  und  wie  ein  Palladium  gegenüber  der  Oeffentlichkeit  gehütet. 
Der  arme  Pfarrer  Was  er  musste  seinen  literarischen  Fürwitz  in  Zürich 
mit  dem  Leben  zahlen,  Müller  den  ersten  Abriss  seiner  Schweizerge- 
sebichte  in  Bern  als  Stadt  Boston  erscheinen  lassen  (1780)  und  dabei 
in  der  Vorbemerkung  folgendcrmassen  warnen:  „Die  Besitzer  der  unge- 
druckten Urkunden  bitten  sehr  verschwiegen  zu  bleiben,  denn  wohl  eher  haben 
ein  Bürgermeister  und  Rath,  in  diesem  18.  Jahrhundert,  mitten  in  Europa, 
vor  den  Augen  gesitteter  Nationen,  einen  gelehrten  Mann  auf  den  Arg- 
wohn einer  bösen  Absicht  mit  einem  alten  Brief  alsobald  hinzurichten  keine 
Scheu  getragen;  in  lang  beschirmte  Dunkelheit  Staaten  nnd  Minister  vor 
deo  Augen  der  Welt,  bis  die  Gerechtigkeit  die  Muse  der  Historie  ihr  zum 
Beistand  aufgerufen."  (S.  3  in  diesem  Buche).  —  Verbälfoissmgssig  war 
in  engen  Gefolge  der  Heimlichkeit  die  T  h  e  i  I  n  a  h  m  e  am  vaterlän- 
dischen Geschichtsstudium  nur  gering;  die  regierenden  Herrn  tbaten  nicht 
nur  nichts  dafür,  sondern  erschwerten  nnd  verkümmerten  auch  den  Ge- 
brauch der  Qnellen;  ebenso  strenge  war  die  Censur;  sie  märzte  ans, 


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v.  Sinner:  Bibliographie  der  Schweizergeschichte,  903 

- 

mit  einem  Verbot  drein.  ..Zwei  Berner  Landvögte,  erzählt  z.  B.  Zim- 
mermann aas  Brugg,  haben  im  Jahre  1758  über  meine  Schrift  vom 
Nationalstolz  also  abgeurtheilt :  Erster  Landvogt  blätterte  in  dem  Buche, 
legte  es  weg,  runzeile  die  Augeobraanen  und  sprach:  „Nous  voulons  de 
Tobeissance  et  pas  de  la  science."  Zweiter  Landvogt  las  das  Buch  durch 
und  sagte:  „ce  docteur  Zimmermann  est  un  homme  remuant  et  (lange- 
reux;  il  faut  lui  faire  mettre  bas  sa  plume!tt  —  Buchhändler  zahlten  so 
schlecht  und  das  Publikum  kaufte  so  wenig,  dass  Job.  von  Müller, 
etwa  auf  den  Ertrag  seiner  Schweizergeschichte  angewiesen,  für 
den  Tag  beiläufig  neun  Kreuzer  Renten  gehabt  hätte  (S.  2  bei  von  Sinn  er). 
Diese  Gleichgültigkeit  und  Knauserei  bestehen  seit  langem  nicht 
mehr;  Regierungen  und  Vereine  fördern  nach  Kräften  die  wis- 
senschaftliche und  populäre  Kenntniss  der  Landesgeschichte; 
fttr  sie  werden  in  den  ungünstigen  Tagen  der  Gegenwart  besonders  von 
Privatmännern  und  Gesellschaften  bedeutende  Summen  verwendet,  höhere 
und  untere  Schulen  mit  dem  nothwendigsten  historischen  Geräthe  ausge- 
stattet, die  Archive  untersucht,  die  Urkunden  vollständig  oder  in  Auszü- 
gen und  Uebersiehten  (Regesien])  veröffentlicht,  schwierige  Abschnitte  von 
neuem  geprüft  und  vielfach  aufgehellt,  von  reichen  Bürgern  Sammlungen, 
seltene  Bücher  und  Handschriften,  bisweilen  auch  ansehnliche  Geldbeiträge 
dem  historischen  Studium  gewidmet.  Wie  sehr  sich  dieses  nun,  zunächst 
für  die  Landesgeschichte  seit  etwa  zwei  Menschenaltern  erweitert 
und  vervollkommnet  hat,  erhellt  am  Besten  aus  der  vorliegenden  Biblio- 
graphie. Sie  zeichnet  sich  ähnlichen  Schriften  anderer  Völker  und  Zei- 
ten gegenüber  zuerst  aus  durch  eine  logisch-systematische  Glie- 
derung, welche  den  unbehülflichen,  reicheu  und  mannichfaltigen  Stoff  auf 
bestimmte  Arten  des  Gemeinschaftlichen  und  Angehörigen  zu- 
rücktuführen trachtet  und  dadurch  deu  Gebrauch  natürlich  sehr  erleich- 
tert. Das  erste  Buch  handelt  von  der  allgemeinen  oder  bündischen 
Schweizergeschichte,  bespricht  im  ersten  Kapitel  theils  die  früheren  Ge- 
schichtsschreiber vor  1786,  vor  allem  den  eigentlichen  Begründer  der  eid- 
genössischen Universalbistorie,  Job.  von  Müller,  theils  später  erschie- 
nene kürzere  Geschichten,  welche  als  Hand-,  Schul-  und  Lesebücher  ge- 
nau aufgezählt  und  bier  und  da  kritisch  gewürdigt  werden.  Das  zweite 
Kapitel  erörtert  einzelne  Hauptepochen  bis  auf  die  Reformation,  z.  B. 
die  Römer  zeit,  die  Anfänge  der  Eidgenossenschaft,  die  Burgunder- 
kriege, den  Schwabenkrieg  und  die  Mailänder  Feldzüge.  Die  Abschnitte7 
„Biographien  und  Ritterburgenu  bilden  gewissermassen  den  Ue- 
bergang  aus  der  allgemeinen  Geschichte  zur  kantonalen.  Diese 


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904  v.  Sinner:  BiblioffrsDbie  der  Schweizerffeschicbte. 

„besondere  Geschichte  der  22  Kantone"  überschrieben,  ist  Ge- 
genstand des  zweiten  Buchs,  welches  in  zwei  und  zwanzig  Kapiteln 
den  sehr  zerstreuten  und  verwickelten  Stoff  ordnend  und  gruppirend  durch- 
mustert. Dabei  wird  auch  mit  Recht  auf  einen  löblichen  Literaiorcweig 
Bücksiebt  genommen,  auf  die  in  vieleu  Kantonen  seit  langem  üblichen 
Neujahrsblatter.  Sie  behandeln  aut  eine  oft  sehr  gehaltvolle  und 
anziehende  Weise  Gegenstände  der  allgemeinen  oder  kantonalen  Schwei- 
zergesebichte  für  die  Belehrung  des  Volks  and  der  reifern  Jugend.  Diess 
gilt  von  Zürich  (S.  50—58),  Winterthur,  Bern  (S.  64—66), 
Zug,  Freiburg,  Luzern,  Basel,  St.  Gallen,  Aargau,  Thur- 
gau.  Einzelne  Gesellschaften  (Korporationen),  wie  in  Zürich,  gin- 
gen und  gehen  dabei  mit  ihrem  Beispiel  voran;  Kupferstiche  und  Bilder, 
oft  kunstgerecht,  erläutern  in  der  Regel  die  Erzählung,  welche  eine  edle 
oder  beldenmüthige  That  zum  Nacheifer,  ein  schlechtes  oder  verbrecheri- 
sches Ereigniss  zur  Warnung  des  Lesers  darstellt.  Diesen  guten  Braach 
könnte  man  auch  in  Teutschland  statt  der  meistens  elenden  Musen- 
almanache mit  ihrem  faulen,  unerquicklichen  Inhalt  zum  Frommen  des 
Volks  und  der  Jugend  einführen.  Denn  wozu  nützt,  wenn  nicht  ein  Ken 
darin  liegt,  der  ganze  ästhetisch-poetische  Kram?  Er  ist  höch- 
stens wie  der  gefeierte*)  Meister  H ei n e  pikant,  reizt  und  schwächt  die 
Nerven: 

,.Scbön  ui ic hei,  deine  Gaben  sind  gar  an  wunderbar. 

Du  krächzest  wie  die  Raben  und  hälut  dich  für  den  Aar."  — 

Das  dritte  Buch  handelt  von  den  biatorischen  Sammlungen 
und  zwar  so,  dass  in  dem  ersten  Kapitel  die  von  Privatmännern 
herausgegebenen  von  Füssli's  Schweizerischem  Museum  an  (1793 — 
1796)  bis  zu  H.  Schreibers  (zu  Freiburg  im  Breisgau)  Taschenbuch 
für  Geschiente  und  Alterthümer  in  SüddeuUcbland  (1839-  1846)  genau 
bezeichnet,  nach  Zweck  und  Leistung  kritisch  beurtheilt  worden.  Lehr- 
reich ist  dabei  besonders  die  Nachricht  vom  Solotburner  Wochenblatt 
(S.  142  —  144),  welches  in  den  Jahren  1810  bis  1834  ein  eigentlicher 
Codex  diplomaticus  der  Scbweizergescbichte  wurde;  es  enthielt 
im  buntesten  Gemenge  mit  literarisch  -  belletriatisclien  Aufsätzen  und  ge- 
wöhnlichen Markt-  oder  Wochenartikeln  Uber  3000  Urkunden,  welche  „von 
Uberall  her  (namentlich,  kann  man  hinzusetzen,  den  Berniscben  Ar- 
chiven) Scher  er  sammelte  und  I,  Uthi  dem  Druck  ubergab. u  Ein  vor- 
treffliche?, von  Albr.  Tscharner  in  Bero  gefertigtes  Inhaltsregister  über 


•)  Siehe  z.  B.  Aug.b.  A.  Zeil.  Nr.  316  Beil. 


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y.  Sinner:  Bibliographie  der  Schweizergeschichte  905 


die  25  jetzt  seltenen  Bande  des  Wochenblattes  wartet  seit  mehre- 
ren  Jahren  auf  Veröffentlichung.  Die  etwas  wunderliche  Art,  Urkun- 
den, oft  von  schlagender  Wichtigkeit,  neben  allerlei  Anzeigen  des  bür- 
gerlich-haushälterischen Lebens  gleichsam  unbemerkt  einzuschmuggeln,  bat 
ihren  erklärenden  Hauptgrund  in  der  Geschlossenheit  der  meisten  eidge- 
nössischen Staatsarchive  vor  dem,  das  öffentliche  Wesen  be- 
günstigenden Wende-  und  Scheidejabr  1830. —Das  zweite  Kapitel  be- 
sprich! die  von  historischen  Gesellschaften  herausgegebenen  Samm- 
lungen; eilf  an  der  Zahl,  beginnen  sie  mit  dem  schweizerischen  Ge- 
ich i  cht  forsch  er;  Bern  1812 — 1847  (13  Bünde)  und  schliessen  mit 
den  Abhandlungen  des  historischen  Vereins  des  Kantons  Bern  (1648 
—  1851).  Von  den  Anhängen  endlich  gibt  der  erste  ein  Verzeichnis« 
der  gedruckten  Kataloge  der  verschiedenen  Schweizerbibliotheken  mit 
Rücksicht  auf  die  darüber  gelegenbeillich  in  Teutschen  Werken  nie- 
dergelegten Nachrichten;  der  zweite  Anhang  liefert  die  Inhaltsangabe 
der  in  Schweizerischen  Zeitschriften  zerstreuten  Aufsätze,  welche 
zwar  nicht  die  Geschichte  der  Schweiz  berühren,  jedoch 
theils  geschichtlich,  theils  literarisch  wichtig  sind.  (S. 
255—262).  Streng  gefasst,  stehet  diese,  übrigens  lehrreiche  und  den 
Gang  des  historischen  Studiums  in  der  Schweiz  erläuternde  Nachricht  nicht 
an  ihrem  rechten  Platz ;  denn  für  ihn  gilt  ja  nur  die  eidgenössische  oder 
anf  den  Kanton  und  die  einzelne  Stadt  bezügliche  Richtung.  —  Hehrere 
Nachtrüge,  unter  denen  sich  auch  eine  Anzeige  der  in  den  Heidelberger 
Jahrbüchern  gelieferten  Schweizerkritiken  befindet,  schliessen  das 
b  i  b  I  i  o  g  ra  p  h  i  s  c  h  e  Werk.  Dasselbe  besitzt  als  zweites  empfehlendes 
Merkmal  in  einem  hohen  Grade  die  Vollständigkeit;  nur  sehr  sel- 
ten wird  man  etwas  vermissen;  so  fehlt  z.  B.  S.  30  für  den  Burgun- 
derkrieg Huguenin's  histoire  de  la  guerre  de  Lorraine  etc.  Metz 
1837;  für  Granbünden,  Ulysses  von  Salis,  Fragmente  zur  Staats- 
geschichte Veitlins  u.  s.  w.  2  Bünde.  1792  8,  wobei  allfällig  noch 
auf  Zschokke's  Prometheus  I.  verwiesen  werden  könnte;  für  Neuen- 
burg (S.  119  ff.)  Guinaud's  fragments  de  Thistoire  de  Neuchat el.  8. 
u.s.w.  Auch  die  kritisch  prüfenden  Anmerkungen,  welche  einen  drit- 
ten Vorzug  des  Buchs  bilden,  wird  der  Leser  gerne  durchgehen,  auch 
wenn  sie,  wie  z.  B.  gegenüber  der  Teilgeschichte  (S.  26 — 28), 
auf  neuere  Hypothesen  ein  zu  starkes  Gewicht  legen  sollten.  Ebenso  ver- 
hält es  sieb  mit  den  angeblichen  Souveränetötsrechten  der  Habs- 
burger in  den  Walds tütten,  obschon  einzelne  Besitz-  und  Le- 
hensberrlichkeiten  keinem  Zweifel  unterliegen.    (S.  die  Jahrbü- 


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906  r.  Sinner:  Bibliographie  der  Schweizergeschichte. 


ober  1846.  Nr.  26  S.  411  Aber  Johannes  von  Vi  dring  Zeugnis*  za 
Gäulen  der  Reichiunmittelbarkeit).  —  Als  Mangel  and  Schat- 
tenseite mnss  mau  es  dagegen  betrachten,  wenn  der  kundige  Verfas- 
ser nicht  nur  die  Reformation,  sondc-m  auch  die  kirchen-  und 
s  taatsreebtliobe  Entwicklung  ausgeschlossen  und  somit  auf  die  reiche, 
dahin  einschlagende  Literatur  verzichtet  hat.    Einzelnes  wird  zwar  er- 
wähnt,  aber  gelegen  heil!  ich  und  ungenügend.    Das  vortreffliche  Hand- 
buch des  Staatsrechts  von  Dr.  L.  S  n  e  1 1 ,  die  Recbtsgeschichte  Berns  von 
Stettier,  Zürichs  von  Bluntschli,  des  Cantons  Glan»  von  Blumer, 
Luzerns  von  Segesser,  welches  allerdings  S.  71  kurz  besprochen  wird, 
die  staatsrechtlichen  Kirchenverhaltnisse  der  Schweizerischen  Eidge- 
nossen, Germanien  1816;  die  pragmalische  Erzählung  der  kirchlichen 
Ereignisse  in  der  katholischen  Schweiz,  von  Dr.L.  Snell,  Glück  und 
Dr.  Henne.    Mannheim.  1850.  2  Bünde;  —  diese  und  andere  für  un- 
sere Tage  insonderheit  wichtigen  Schriften  werden  ungern  vermisst  Ein 
Nachtrag  mag  aber  leicht  den  kirchen-  und  staatsrechtlichen 
Literaturstoff  einschalten  und  dadurch  die  gelungene  Bibliographie  der 
Schweizergeschichte  vervollständigen  können.     Einen  freilich  wesentlich 
verschiedenen,  mit  dem  Alten  jedoch  eng  verbundenen  Kreis  bildet  die 
neuere,  etwa  durch  das  Jahr  1798  eingeführte  Entwicklung  der  Schweiz; 
dennoch  ist  es  vielleicht  aus  vielfachen  Gründen  wünschbar,  dass  auch  bald 
die  sogenannte  H  e I  v et  ik  (1798  — 1803)  ihren  bibliographischen, 
auch  auf  Nsnuscripte  zurückgehenden  Nachweis  durch  die  kundige  Hand 
des  H.  Verf.  gewinne.    Jedenfalls  wird  ihm  das  Publikum  in-   und  aus- 
serhalb der  Eidgenossenschaft  für  die  treffliche  Ausfüllung  einer  fühlbaren 
Lücke  verpflichtet  und  dankbar  bleiben. 

Schliesslich  benutzt  der  Unterzeichnete  diesen  Anlass,  einen  von  ihm 
begangenen  bibliographischen  Irrthum  zu  berichtigen.  Die  (anonyme  )  Ver- 
fasserin der  unlängst  erschienen,  lesenswerten  Erinnerungen  ans 
Paris  (Jahrbücher  1851  Nr.  28  S.  445  sqq.)  ist  nicht,  wie  es  dort  ge- 
mutbmasst  wurde,  eine  bereits  gestorbene  Frau  Dr.  Hertz,  sondern  eine 
noch  lebende  Dame,  welche  aus  Familienrücksichten  anonym  bleiben  wilL 

17.  Nov.  Kortilm. 


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Ci  i n tä  n Ii  c  i* »  Die  Eiur£^0chftft*  15  d»  HL 


Die  Bürgschaft  nach  gemeinem  Cmlrecht.  Historisch-dogmatisch  dar- 
gestellt ton  Dr.  Wilh.  Girtanner,  Professor  des  Rechts  und  Bei- 
sitzer des  Schövvenstuhls  zu  Jena.    II.  Dogmatische  Abtheiluno* 

1851 

Mit  dem  vorliegenden  dritten  Heft  ist  dieses  Werk  nunmehr  vollen- 
det und  legt  uns  somit  die  Verpflichtung  anf,  die  begonnene  Anzeige  desselben 
fortzusetzen.    Vorweg  jedoch  schulden  wir  dem  Hrn.  Verf.  eine  Replik. 

Wir  halten  in  unserer  früheren  Anzeige  Nr.  27  S.  421  es  beiläufig 

als  Widerspruch  bezeichnet,  wenn  der  Verf.  in  der  speziellen  Erörterung 

der  Frage,  ob  nach  röm.  Rechte  das  Fortbestehen  der  Bürgschaft  von 

dem  der  Hauptschuld  abhängig  sei,  Cap.  V.  S.  79  ff.,  zu  dem  Resultat 

kommt,  dass  diese  Abhängigkeit  für  die  Fidejussio  nur  bei  der  Confusio 

anerkannt  sei,  dagegen  in  Cap.  VI.  S.  91  ff.,  wo  er  nur  das  Vorhergehende 

resumirt,  sich  dahin  äussert:  „Als  sich  in  Folge  der  Lex  Furie  die  neuen 

Formen  der  Fidejussio  und  des  Mandats  ausbildeten,  so  gestaltete  sich 
folgender  Rechtszustand :  es  bestanden  drei  Stipulationsformeo  u.  f.  w. 

zum  Zwecke  der  Verbürgung  etc.;  die  [Fidejussio  sicherte  nur  gegen 
die  Gefahr,  die  auf  dem  (Nicht)  Können  oder  Wollen  des  Hauptschuld- 
oera  beruhte."  Der  Verf.  meint  (Nachträge  S.  565),  dem  aufmerk- 
samen Leser  hätte  nicht  entgehen  können,  dass  S.  92  von  der  Zeit  die 
Rede  sei,  „wo  die  Fidejussio  erst  entstand, u  wogegen  sich  dia 
Erörterung  S.  79  ff.  auf  „die  spätere  Entwicklung«"  durch  „die  i p It- 
ter n  Juristen"  beziehe.  Wir  in  unserer  Interpretation  gingen  von  der 
unleugbaren  Tbatsache  aus,  dass  zu  Anfang  des  Cap.  VI.  p.  90—92  nur  das 
Frühere  recapitulirt  werden  sollte.  Wenn  nun  hier  Verf.  sagte:  „ei  ge- 
staltete sich  folgender  Rechtszustand i;,  und  nicht  hinzufügte,  dieser  höbe 
sich  später  verändert,  so  war  der  Leser  berechtigt,  zu  verstehen,  er  habe 
noch  bis  zum  Ende  der  vorher  speziell  besprochenen  Zeit,  d.  b.  bis  auf 
Papinian  und  Paulus  herab  fortgedauert.  Tbat  diess  der  Leser,  so  kam 
ar  auf  einen  Widerspruch  gegen  das  Vorhergehende,  tbat  er  es  nicht, 
so  stiess  er  auf  zwei  andere  Missstände.  Erstens  nämlich  hat  der  Verf. 
zuvor  nirgends  behauptet,  dass  die  Fidejussio  zur  Zeit  ihrer  Ent- 
stehung hinsichts  ihrer  Fortdauer  von  der  Hauptschuld  abhing.  Denn 
die  allein  in  Betracht  kommeode  Auseinandersetzung  S.  79  ff.  betrifft  ja, 
wie  er  selbst  sagt,  „nur  die  spätere  Entwicklung."  Also  muss  man 
nunmehr  dem  Verf.  vorwerfen  auf  S.  92  ganz  ex  abrupto  in  seinem  He- 
mma von  einer  Zeit  zu  sprechen,  von  der  im  Frühen  gar  nicht  die  Reda 


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908 


Girtaner :  Die  Bürgschaft.  Bd.  IL 


war;  von  der  Zeit  aber,  die  im  Früheren  behandelt  ist,  in  seiner  Za- 
gammenfassung nicht  xu  sprechen.  Zweitens  aber  ist  die  unvorbereitete  and 
unbewiesene  epodictiscbe  Behauptung,  die  Fidejustio  sei  ursprüg- 
lich in  ihrem  Fortbestehen  von  der  Hauptschuld  ab  ha**  ig  gewesen ,  in 
der  Tbat  uoerweislich.  Höchstens  hatte  der  Verf.  eine  derartige  Yer- 
muthung  aufstellen  dürfen.  Also  war  dem  Leser  nur  die  Wahl  gelassen 
zwischen  zwei  Auslegungen,  deren  jede  ihre  Bedenken  hatte.  Die  unsrige 
will  uns  noch  immer,  nach  dem  Prinzip  in  dobiis  benigniora,  die  in  ab- 
stracto richtigere  scheinen.  Allein  in  concreto  hat  sie  sich  irrig  erwie- 
sen, und  wird  sieh  hoffentlich  zugleich  gezeigt  heben,  dass  wirklich  res 
dubia  vorlag  und  der  Irrende  in  solchem  Fat!  folglich  noch  nicht  das 
Pradicat  des  Unaufmerksamen  Seitens  des  Verf.  verdiente,  dem  frei- 
lich znr  Interpretation  der  eigenen  Worte  geheime  Quellen  zu  Gebote  standen. 

Die  dogmatische  Abtheilnng  unsers  Werks,  zu  der  wir  uns  jetzt 
wenden,  zeichnet  sich  durch  Gründlichkeit  und  Schärfe,  sowie  durch  einen 
Reichthum  au  neuen  Gedanken  aus,  von  denen  auch  die,  welche  vielleicht 
schliesslich  nicht  eis  haltbar  befunden  würden,  doch  als  bedeutende  und 
fruchtbare  Anregung  schwieriger  Fragen  zu  betrachten  sein  werden.  Wir 
heben  im  Folgenden  aus  der  dogmatischen  Darstellung  der  Bürgschaft 
diejenigen  Punkte  hervor,  die  uns  in  irgend  einer  Rücksicht  besonders 
bemerkenswert!!  erscheinen. 

Die  Bürgschaft  bestimmt  der  Verf  (Kap.  1.)  afs  die  vertragsmäs- 
aige  Obligation,  welche  Jemand  gegen  einen  Gläubiger  ausdrücklich  dabin 
eingebt,  für  dessen  Forderung  neben  dem  Schuldner  einstehen  zu  wollen. 
In  der  ausdrücklichen  Hervorhebung  des  accessorischen  Verhältnisses  je- 
her Obligation  zur  Hauptschuld,  und  zwar  einer  Hervorhebung  bei  der 
Eingehung  dem  Gläubiger  gegenüber,  findet  der  Verf.  mit  Recht  das 
Kennzeichen,  wodurch  sich  die  Bürgschaft  von  der  Obligation  unterschei- 
det, die  Mos  materiell  eine  Verpflichtung  für  fremde  Schuld  enthalt,  wie 
z.  B.  wenn  sich  Zwei  aus  einem  Darlehen  solidarisch  verpflichten,  das 
nur  Einer  wirklich  empfängt.  Die  Dogmengeschichte  zeigt,  dass  die 
Doctrin  über  diesen  Punct  noch  in  neuester  Zeit  nicht  feststeht,  obschoa 
sie  sich  seit  Mitte  des  vor.  Jahrb.  zu  'der  Ansicht  des  Verf.  hinneigt.  — 
Die  Bedeutung  der  Verbürgung  „ab  Selbstschuldneru  wird  aus  den  Ele- 
menten, dass  diese  1.  eine  Verbürgung,  aber  2.  in  der  Art  der  Haftung 
der  Verpflichtung  eines  Hauptschuldners  Sbnlich  sein  soll,  befriedigend 
entwickelt.  Nur  musste  der  Verf.  im  Ausdruck  genauer  sein.  Er  stellt 
S.  320  afs  mögliche  Interpretation  der  Verbürgung  „als  Selbstschuldner* 
hin,  dass  man  Hiebt  als  Barge,  sondern  als  principaler  Ne- 


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Girtanner:  Die  Bürgschaft.  Bd.  II. 


909 


ben Schuldner  eintreten  wolle.  S.  321  billigt  er  diese  Auslegung 
and  setzt  hinzu:  „wie  ein  Hauptschuldner  haften  zu  wollen,  spricht  die 
Absicht  aus,  nicht  als  gewöhnlicher  Bürge  zu  intercediren.u  —  Hin- 
siehts  des  Princips  des  Set.  Vellejanum  (Kap.  2.)  schüesst  sich  der  Verf. 
Windscheid  an,  von  dem  er  jedoch  abweicht,  insofern  er  auch  bei  der 
mtercessio  donandi  aniuio  dem  Set.  Anwendung  gestattet.  —  Die  ErÖr- 
terang  Uber  das  Verhältniss  der  Formvorschriften  der  L.  23  €.  ht.  und 
der  Antfa.  Si  qua  mul.  zu  den  Ausnahmen  des  Set.  ist  eine  sehr  gründ- 
liche zu  nennen.  —  Von  besonderm  Interesse  ist  Kap.  3,  wo  auf  Grund 
der  Dogmengeschichte  gezeigt  wird,  dass  im  henligen  Recht  Fidejussio 
und  Constitutum  nicht  mehr  zu  unterscheiden  seien,  weil  sich  weder  ver- 
schiedene Formen  der  Eingehung,  noch  verschiedene  Wirkungen  derselben 
mehr  unterscheiden  lassen.  Im  Ganzen  schliesse  sich  die  heutige  Bürg- 
schaft der  Fidejussio  an,  habe  jedoch  alle  Eigentümlichkeiten  dfeser  ab- 
gestreift, die  auf  rein  römischen  formellen  Beziehungen  ruhten.  —  Gut 
sind  die  mehr  casuistischen  Erörterungen  über  die  Haftung  des  Bürgen  für 
vertragsmäßige  Zinsen,  und  über  die  Bürgschaft  für  Schuldverhältnisse, 
welche  eine  Reihe  successiv  entstehender  Verbindlichkeiten  omflassen,  z.  B. 
Bürgschaft  für  Pachter  oder  Kassenbeamten.  —  Die  Auffassung  des  Verf. 
von  der  Natur  des  Correalrerhültnisses  (Cap.  4)  scheint  uns  klarer  und 
richtiger  als  die  gewöhnliche,  die  sich  begnügt  hervorzuheben,  dass  plu- 
res  rei  ejusdem  obKgationis  sind.  Diess  ist  weder  so  ohne  Weiterei 
verständlich,  noch  genügt  es  um  die  Wirkungen  der  Correalitüt,  z.  B.  dass 
lit.  eont.  und  constitutum  mit  einem  Correus  (L.  10  D.  de  const.  pec.)  die 
übrigen  befreit  zu  erklären.  Die  völlige  Befreiung  dieser  lässt  sich  nicht 
I*  erklaren,  dass  die  eine  Obligation  durch  lit.  cont.  oder  constitutum 
gänzlich  aufgehoben  sei.  Dass  Constitutum  liess  die  ursprüngliche  Obl. 
unverändert  bestehen  —  Diess  ist  anerkannt  —  nach  der  lit.  cont.  aber 
dauerte  eine  naturalis  obligatio  fort,  und  eine  Solche  musste  also  für 
alle  correi  noch  bestehen.  Die  Ansicht  des  Verf.  ist  nun  diese  (und 
zwar  sprechen  wir  zunächst  nur  vom  passiven  Correalverhältniss,  von  dein 
die  Anwendung  auf  das  active  leicht  zu  machen  ist) :  Die  Bedeutung  des 
Correafverhältnisses  liegt  darin,  dass  Jemand  die  Wahl  hat,  Einen  von 
Mehreren  als  ausschliessliches  Subject  eines  bestimmten  Obligationsver- 
hältnisses  zu  behandeln.  Kein  Correus  ist  gegenwärtig  Subject  dessel- 
ben, jeder  hat  die  besondere,  obsebon  gegen  die  übrigen  nur  ei e c- 
t i v  coneurrirende  Verpflichtung,  es  nach  Wahl  des  Gläubigers  aus- 
schliesslich und  definitiv  zu  werden.  Ist  es  einer  geworden,  so 
scheiden  die  andern  ganz  aus.    Also  so  lange  die  Corre alitat  besteht: 


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910  Girtanner:  Die  Bürgschaft  Bd.  II. 

mehrere  gesonderte  electiv  concurrirende  Verpflichtungen  (plarei  rei)  für 
einen  und  denselben  Obügationsiuualt  als  Subject  vermöge  der  Wahl  des 
Gläubigers  einzutreten  (ejusdem  obligationis)  ;  dagegen  Aufhören  des  Cor- 
realverhältnisses,  sobald  die  Wahl  getroffen,  mithin  der  Zweck  des  Ver- 
hältnisses erfüllt  ist.  Nach  dieser  Auffassung  erklärt  sich  danu  leicht,  wa- 
rum Iii.  cont.  and  constitutum  mit  einem  correus  die  andere  befreit.  Ii 
beiden  liegt  die  Wahl  des  Gläubigers.  Wir  bedauern,  dass  diese  Auffas- 
sung S.  400  durch  die  Bemerkung  getrübt  wird,  der  Zweck  und  zu- 
gleich Grund  des  Entstehens  wie  des  Bestehens  der  Correalitit  sei 
nicht  ein  Werthobjekt,  sondern  eine  gewisse  Obligation  ins  Ver- 
mögen des  Gläubigers  zu  bringen.    Hiernach  liesse  sich  nicht  verstehen, 
wie  und  wozu  einer  schon  bestehenden  Obligation  eine  andere  als  cor- 
real  hinzutreten  kann.    Diess  erschiene  rein  überflüssig,  da  die  Obligation 
schon  im  Vermögen  des  Gläubigers  ist.    Vielmehr  ist  die  Wahl  de» 
Gläubigers  der  Zweck  des  Correalnexus  und  das  ist  wohl  begreiflich,  dass 
der  Gl.  nachdem  er  schon  Einen  hat,  der  verpflichtet  ist,  sich  als  Schuld- 
ner eines  bestimmten  Obligationsinhalts  behandeln  zu  lassen,  noch  Hehrere 
dergleichen  zur  Auswahl  zu  haben  wünscht.    Der  Verf.  bleibt  sich  auch 
im  Ausdruck  nicht  treu.  Er  sagt  S.  403  von  der  Bürgschaft,  die  er  dock 
als  correal  betrachtet,  ihr  „Zweck"  sei,  „das  Object  der  Hauptschuld 
ins  Vermögen  des  Gl.  zu  bringend    Freilich  konnte  er  sich  hier  nicht 
anders  ausdrücken,  aber  eben  damit  bestätigt  sich  unsere  vorige  Bemer- 
kung. —  Während  der  Verf.  im  ersten  Heft  S.  40  u.  83  noch  der  An- 
ficht war,  dass  der  correus  für  das  Vergeben  seines  Mitschuldners  hafte, 
bekennt  er  S.  404  ff.,  dass  dieser  Satz  der  Natur  des  Cor  real  Verhältnis- 
ses widerspreche  und  sucht  die  L.  18  D.  de  duobus  reis  (alterius  factum 
alteri  quoque  nocet)  dadurch  zu  beseitigen,  dass  er  die  Möglichkeit  zeigt, 
das  factum  von  einer  blossen  Verausserung  des  Gegenstands  der  Obliga- 
tionen zu  verstehen.    Den  Satz,  dass  der  Bürge  in  dubio  für  Verzugs- 
linsen hafte,  leitet  er  mit  Recht  aus  der  accessorischcn  Natur  der  Bürgschaft 
ab,  nachdem  er  gezeigt,  dass  die  betreffenden  Quellenstellen  für  das  heu- 
tige Recht  nicht  entscheidend  sind.    Nur  hätten  wir  gewünscht,  dass  er 
nicht  gesagt  hätte,  die  Haftung  des  Bürgen  sei  nach  bona  fides  zu 
beurlheilen  und  erstrecke  sich  demnach  von  selbst  auf  jene  Zinsen. 

(Schluu  folgt.) 


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Hr.  58.  HEIDELBERGER  1851. 

JAHRBOGHER  DER  LITERATUR. 


Girtannen  Die  Bürgschaft  Bd.  II. 

(Schluss.) 

Cap.  V  handelt  von  den  Benedeien.  Die  Exceptionsnatur  des  ben.  excuss. 
wird  gegen  einige  Neuere  mit  guten  Gründen  vertheidigt.  Dass  dieses 
Benef.  nach  Nor.  4  auch  dem  Constituenten  zukomme,  ist  gewiss  die  rich- 
tige Interpretation.  Der  Nov.  4  ist  Überhaupt  grosse  Sorgfalt  gewidmet. 
In  der  Darstellung  des  benef.  divisioois  ist  die  gründliche  und  neue  In- 
terpretation der  L.  48  §.  1  D.  b.  t.  hervorzuheben.  S.  468  ff.  wird  bewie- 
sen, dass  die  gewöhnliche  Lehre,  wonach  der  Gläubiger  unbedingt  zur 
Klagencession  verpflichtet  ist,  also  wenn  er  keine  oder  keine  wirksame 
Klage  cediren  kann,  dem  Bürgen  eine  peremtorische  Einrede  zusteht,  we- 
der im  römischen  Recht  noch  im  deutschen  Gewohnheitsrecht,  noch  im 
praktischen  Bedürfnis*  begründet  ist.  —  In  Cap.  VI.,  welches  von  der 
Befreiung  des  Bürgen  handelt ,  können  wir  auf  eine  gute  Bemerkung  ge- 
gen WolfT^S.  477)  über  die  Befreiung  durch  die  Untergang  des  Objects  der 
Hauptschuld,  auf  die  Ansicht  Uber  die  Wirkung  des  heutigen  Erlassver- 
trags (S.  481),  auf  die  Erörterung  der  exc.  excuss.  in  ihrer  perempto- 
rischen Wirkung  und  der  Befreiung  des  Bürgen  durch  Confusio  mit  dem 
Schuldner  (S.  483  ff.)  nur  eben  hinweisen.  Die  Frage,  ob  der  Untergang 
der  Hauptschuld  nothwendig  den  der  Bürgschaft  nach  sich  ziehe,  die,  wie 
früher  erwähnt,  schon  im  ersten  Buche  mehr  rechtsgeschicbtlich  besprochen 
war,  findet  S.  495  ff.  eine  nochmalige  scharfsinnige  Erwägung  vom  Stand- 
punet  des  heutigen  Rechts.  Der  Unterschied  der  dinglischen  Accession 
von  der  accessorischcn  Obligation,  die  Unmöglichkeit  aus  diesem  letzten 
Begriff  Consequenzen  abzuleiten,  weil  er  gar  kein  sclbstständiger  nnd  in 
•ich  bestimmter  ist,  die  Unzulässigkeit  der  Behauptung  a  priori  die  Barg- 
schaft könne  nur  als  Accession  bestehen,  wird  vorerst  treffend  hervor- 
gehoben. Hierauf  wird  untersucht,  ob  im  positiven  Recht  Bestimmungen 
vorliegen,  welche  nur  durch  den  Satz,  dass  die  Bürgschaft  nach  Unter- 
gang der  Hauptschuld  uicht  fortbestehen  könne,  sich  erklären  lassen.  Im 
ersten  Buch  waren  dem  Verf.  zwei  solcher  Fälle  übrig  geblieben:  1.  der 
der  Confusio  zwischen  Hauptschuldner  und  Gläubiger,  wo  der  Bürge, 
2.  der  der  Confusio  zwischen  Hauptschuldner  und  Bürge,  wo  der  After- 
bürge befreit  werden  soll.  Jetzt  wird  gezeigt,  dass  nur  die  zweite  Ent- 
scheidung als  Conseqnenz  jenes  Princips  aufzufassen,  für  unser  heutiges 
XUV.  Jahrg.  6.  Doppelheft.  58 


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Girl  anner:  Die  Burgschaft  Bd.  IL 


Recht  ober  aus  mehreren  Gründen  za  verwerfen  sei.  Was  den  ersten 
Fall  betrifft,  so  hebt  der  Verf.  die  gewöhnlich  nicht  beachtete  römische 

InfTuciiiiiin  ilan  4  /irifncin  nie  7oKliin(T  Kar vnr  \vn  Hann  riip  A nfh#»hii nsx  fiftf 
J\  11  II M.tS  11  HJf    UC1     \_vFU l U 3 Iii    P 1 3    /Jö III U II ^     iici  tim,     Trv»    uuiiii    ui«  nuiuvuuu^  uv> 

Bürgschaft  durch  Confusio  nicht  mehr  als  Consequenz  der  blossen  Aufhe- 
bung der  Hauptschuld,  sondern  der  Erfüll uog  ihres  Zweckes  durch 
Befriedigung  des  Glüubigers  erscheint.  Die  ganze  Ausführung  ist 
eben  so  neu  als  gelungen.  Beiläufig  wird  in  polemischer  Richtung  ge- 
gen Ihering  die  Notwendigkeit,  eine  Forldauer  der  Persönlichkeit  des  Erb- 
lassers im  Erben  anzunehmen  mit  t*i fügen  Gründen  vertheidigU  Minsichts 
des  zweiten  Falles  ^Befreiung  des  AfterbUrgen  durch  Confusio  zwischen 
Schuldner  und  Bürgen}  wird  zuvörderst  passend  bemerkt,  dass  allerdings 
zur  Zeit  des  Africanus,  von  dem  jene  Entscheidung  (L.  38  §.  5  D.  46 
3.)  herrührt,  zu  einer  Zeit,  wo  noch  die  aufhebende  Wirkung  der  lit. 
cont,  auf  das  Correalverhältniss  bestand  und  vor  Einführung  des  benef. 
excuss.  der  Afterbürge  durch  die  Confusio  benachtheiligt  und  diese  eia 
Grund  werden  konnte,  denselben  in  jenem  Falle  für  befreit  zu  erklären, 
dass  aber  für  das  heutige  Recht  dieser  Grund  nicht  mehr  bestehe.  Sodaan 
bebe  die  Entscheidung  des  Africanus  jedenfalls  für  uns  keine  Geltung  mehr, 
weil  nach  beutigem  Recht  die  mit  einer  Afterbürgschaft  verknüpfte  Bürg- 
schaft im  Fall  der  Confusio  als  die  plenior  obligatio  gegenüber  der  Haupt- 
schuld zu  betrachten,  also  deren  Forldauer  und  somit  auch  die  der  After- 
bürgsebaft  zu  behaupten  sei.  Wolle  man  die  L.  38  cit.  den  zahlreichen 
das  entgegengesetzte  Princip  enthaltenden  andern  Eatscheidungen  gegen- 
über nicht  als  Ueberbleibsel  eines  veralteten  Standpunkts  ignoriren,  so 
könne  sie  doch  nur  als  singulare  Ausnahme  des  Princips  der  Un- 
abhängigkeit des  Forlbestands  der  Bürgschaft  von  dem  der  Hauptschuld 
stehen  bleiben.  —  Verdienstlich  ist  es,  dass  der  Verf.  die  gewöhnliche 
Lehre,  wonach  dem  Bürgen  alle  Exceptionen  des  Hauptschuldners  zustehen, 
dahin  beschränkt:  es  stehen  ihm  als  reine  Wirkung  der  Bürgschaft,  ab- 
gesehen von  sonstigen  Umstünden»  nur  diejenigen  Exceptionen  zu,  welche 
schon  bei  Eingebung  der  B.  begründet  sind  und  die  Hauptschuld  auch 
ihrem  naturalen  Bestandtheil  nach  vernichten.  In  allen  übrigen  Fallen, 
sagt  der  Verf.  S.  516,  hat  der  Bürge  eine  Einrede  des  Hauptschuldners 
nur  mittelst  eines  Umstanden,  der  für  all«  Correi  befreiead  wirkt  (Urtbeü, 
Eid)  oder  vermöge  des  ben.  excuss ,  wenn  der  Gl.  die  Einrede  des  Schuld- 
ners selbst  verschuldet ,  oder  in  Folge  des  Regressverhailnisses.  Wir  soll- 
ten meinen,  die  Exceptionen,  die  auf  einem  für  alle  Correi  befreienden 
Umstand  ruhen,  seien  keine  Exceptionen  aus  der  Person  des  Hauptschuld- 
ners.   Sagt  doch  der  Verf.  selbst  S.  547:  „iei  «ine  Exc.  gegen  den 


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Girlanncr:  Die  Bürgschaft  Bd.  H.  913 

objektiven  Bestand  der  Correalschuld  gerichtet,  so  steht  sie  jedem  Cor- 
reelschuldner  aus  eigener  Person  zu.'  Wir  sehen  bierin  eine  authentisch« 
Berichtigung.  Ferner  verschafft  auch  das  henef.  ordinis  dem  Bürgen  keine 
exe.  des  Hauptschuldners.    Hat  z.  B.  dieser  mit  dem  Gläubiger  ein  pa- 
ctum de  non  pet.  geschlossen,  so  genügt  dem  Borgen  zu  seinem  Schutz 
die  exe'  excuss.,  da  sich  der  Gläubiger  die  Excussion  selbst  unmöglich  ge- 
macht hat.    Keineswegs  aber  ist  der  Bürge  in  der  Lage  die  exc.  pacti 
ans  der  Person  des  Schuldners  zu  gebrauchen.    Factisch  kommt  sie  ihm 
freilieh  zn  Gute,  allein  wenn  der  Verf.  diess  sagen  wollte,  so  war  sein« 
Bemerkung  im  obigen  Zusammenhange  nicht  am  Platze.  —  Die  Frage, 
wie  es  komme,  dass  das  Regressverbältniss   die  Ausdehnung  der  Kxcep- 
tionen  des  Hauptschuldners  auf  den  Bürgen  bewirke,  wird  S.  51 6 ff.  in 
folgender  Weise  beantwortet.    Weder  zur  a.  mandati  noch  zur  a.  negot. 
gest.  contraria  ist  Zahl  ung  Seitens  des  Bürgen  notbwendig.  Die  Ausfüh- 
rung des  Mandats,  die  neg.  gest.  liegt  schon  in  der  Uebernahme  der  Bürg* 
schaft  und  diese  ist  für  sich  allein  ein  hinreichender  Nachtheil,  um  darauf 
hin  den  Hauptschuldner  belangen  zu  dürren,  er  solle  so  weit  es  Ihm  mög- 
lich den  Bürgen  in  den  Stand  setzen,  jn  dem  er  ohne  die  Bürgschaft  ?ein 
würde.    Diess  geschieht  aber  namentlich  dadurch,  dass  er  dem  beklag- 
ten Bürgen  seine  exceptiones  abtritt.    Hierin  liegt  also  nur  eine  Anwen- 
dung des  Princips,  welches  dazu  geführt  hatte,  in  gewissen  Fällen  eine 
Klage  des  Bürgen  auf  Befreiung  vor  der  Zahlung  zuzulassen.  Wie  aber 
die  aetiones  so  wurden  auch  die  exceptiones  unmittelbar  ntiliter  dem  ge- 
geben, der  anf  Cession  derselben  klagen  konnte.  So  weit  der  Verf.  Man 
sieht,  er  hat  den  Zusammenhang  des  Regressverbaltnisses  und  der  Aus- 
dehnung der  Exceptionen  des  Hauptschnldners  auf  den  Bürgen  streng  ju- 
ristisch dedeciren  wollen.    Der  Angel-  und,  unsers  Erachtens,  zugleich 
wunde  Punct  dieser  Auffassung  ist  die  Cession  der  Exceptionen.  Wir  be- 
greifen nicht,  wie  die  ans   einem  obligatorischen  Verhältnis*  entsprin- 
gende Exceptio  zum  Gebrauch  gegen  ein  anderes  abgetreten  werden 
könne.  Die  Coropensation  des  Cessionars  mit  der  cedirten  Forderung  ge- 
gen eine  Klage  des  Cessus  ist  eine  nur  scheinbare  Ausnahme.  In  der  That 
entspringt  die  exc.  comp,  nicht  aus  dem  Rechtverhältnis  auf  dem  die  Klage 
des  Cessus  beruht.  Leider  hat  sich  der  Verf.  nicht  darüber  ausgesprochen, 
wie  er  sich  jene  Cession  denkt.    Hat  er  vielleicht  im  Sinne  gehabt,  dass 
der  Hauptschuldner  sich  vom  beklagten  Bürgen  zum  Procurator  bestellen 
lassen  könnte?    Aber  dann  bleibt  dieselbe  Schwierigkeit.  Hat  er  an  die 
Cession  der  naturales  obligat,  gedacht?    Allein  erstens  gehen  nicht  alle 
hier  in  Betracht  kommenden  Exceptionen  aus  nat.  obl.  hervor,  s. B.  die 

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Girtanner:  Die  Bürgschaft  Bd.  IL 


exc.  Set.  Maced.,  zweitens  besteht  auch  bei  den  übrigen  die  gleiche  Schwie- 
rigkeit. Hätte  auch  der  Schuldner  dem  Bürgen  sein  Recht  aus  einem  mit 
dem  Gläubiger  geschlossenen  pect,  de  non  pet.  cedirt,  wie  konnte  nun 
der  Bttrge  dem  klagenden  Gläubiger  entgegenhalten,  er  begehe  einen 
dolus  gegen  ihn,  indem  er  sein  dem  Schuldner  gegebenes  Verspre- 
chen verletze?  Wir  glauben  der  Verf.  hätte  besser  gethan,  auf  eine 
streng  juristische  Ableitung  des  fraglichen  Verhältnisses  zu  verzichten  und 
die  praetitebe  Bedeutung  desselben  zu  betonen,  wobei  dann  die 
Klagen  des  Bürgen  auf  Befreiung  ror  der  Zahlung  immer  noch  einen  gu- 
ten Vergleichungspunct  dargeboten  haben  würden.  —  Hinsichls  der  Resti- 
tution scheidet  der  Verf.  streng  zwei  Fälle:  1.  wo  der  Hauplscbuldner 
restiloirt  ist  und  der  Bürge  mittelst  fiugirter  Cession  der  Restitution  eine 
JExceplion  hat,  wenn  er  a)  an  sich  regress berechtigt  und  b)  der  Schuld- 
ner nicht  gegen  seinen  Regress  restituirt  ist,  2.  wo  der  Bürge,  mit  Rück- 
sicht auf  die  dem  Uauptschulduer  bereits  ertheilte  Restitution,  eine  solche 
aus  eigener  Person  erlangen  kann ,  vorausgesetzt ,  dass  er  sich  bei  Ein- 
gebung der  Bürgschaft  in  entschuldbarem  Irrthum  hinsichtlich  des  Resti- 
totionsgrunds  befand.  —  Bemerkenswerth  sind  die  Erörterung  der  Frage, 
wenn  und  warum  der  Bürge  vor  der  Zahlung  auf  Befreiung  klagen  kann 
und  die  Untersuchung,  ob  die  Cession  der  Klage  des  Gläubigers  behufs 
des  Regresses  noch  nach  der  Zahlung  möglich.  Der  Verf.  bejaht  diess 
auch  für  den  Fall,  wo  bei  der  Zahlung  kein  Vorbehalt  wegen  der  Ces- 
sion gemacht  ist.  Diesen  Vorbehalt  hatte  er  noch  im  1.  Heft  S.  98  für 
nötbig  gehalten  und  demnach  als  stillschweigende  Voraussetzung  in  die 
L.  3G  D.  Ii.  t.  hineiniuterpretirt.  Wir  billigen  diese  Meinungsäaderung. 
Allein  der  Verf.  sagt  nur,  die  Zahlung  verhindere  die  spätere  Cession 
Dicht,  ob  letztere  dann  noch  erzwungen  werden  könne,  darüber  schweig! 
er.  Und  doch  heisst  es  in  L.  36  cit.:  actiones  praestare  tenetur.  Wir 
hätten  hier  näheres  Eingeben  erwartet.  —  Treffend  wird  unter  Berufung 
auf  die  älteren  Practiker  ausgeführt,  dass  der  Verzicht  auf  das  ben.  ced. 
ad.  den  Bürgen  vom  Cessionsanspruch  nach  Befriedigung  de-  Gl.  nicht 
ausschliessen  könne.  —  Das  Cap.  VII  erörtert  das  Verhaltniss  des  Bür- 
gen zum  Hauptschuldner,  das  Mandat,  qualif.  and  die  Wirkungen  der  cor- 
realen  Intercession  im  Gegensatz  zu  denen  der  Bürgschaft.  Es  war  uns 
erwünscht  hier  Aufklärung  darüber  zu  finden,  dass  Verf.  die  Nov.  99  nicht 
auf  eigentliche  Bürgen  bezieht.  Er  hatte  im  1.  Heft  S.  132  wiederholt 
das  von  diesem  Gesetz  normirte  Verhaltniss  als  „Bürgschaft-  bezeichnet 
und  dadurch  für  den  Leser  seine  übrigens  so  verdienstliche  Auflassung 
der  Nov.  etwas  verdunkelt.  -  Dar  Anhang  antbäU  eine  Krttk  des  gel- 


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Conrtin:  Kultur  der  Orchideen.  915 

tenden  gemeinen  Rechts  vom  practischen  Standpunkt  aas  mit  Berücksich- 
tigung der  drei  grossen  neueren  Gesetzgebungen.  In  den  Nachträgen  fin- 
den sich  lesenswerthe  polemische  Erörterungen  gegen  Rudorff  bezüglich 
der  manus  injectio  aus  der  a.  depensi  nnd  der  seitlichen  Beschränkung  der 
Haftung  der  sponsores  und  Tide  promissores  nach  der  Lex  Furia  und  ge- 
gen Huschke  in  Betreff  der  Lex  antiqua  in  Nro.  4. 

Die  Darstellung  des  dogmatischen  Theils  würden  gewiss  Viele  mit 
ans  kürzer  finden,  wenn  sie  länger  wäre.  Klarheit  ist  die  erste  Tagend 
des  Schriftstellers,  denn  ars  longa,  Tita  brevis.  Neben  diesem  zeitrau- 
benden Lakonismus  macht  sich  zuweilen  ein  Mangel  an  Schärfe  des  Aas« 
dracks  bemerklieb,  wovon  wir  oben  einige  Beispiele  vorführen  konnten. 

Es  haben  sich  in's  dritte  Heft  wieder  mehrere  ärgerliche  Druck- 
fehler eingeschlichen,  die  wir  im  Interesse  des  Verf.  wie  des  Lesers  hier- 
mit denunciren  wollen.  S.  337  Z.  6  v.  o.  st.  der  Verbürgung  I.  die. 
S.  357  Z.  8  v.  o.  nach  c.  25  C.  ht.  fehlt:  halten.  S.  437  Z.  14  o. 
st.  nur  eine  solche  peremtorische  Einrede  I.  nur  eine  solche,  der  eine  per- 
emptorische Einr.  entgegensteht.  S.  492  Z.  6  v.  o.  st.  die  eintretende 
Confusio  der  Bürgschaft  1.  bei  eintretender  Coufusio  die  B.  S.  524  Z.  5 
v.  o.  st.  welchen  der  Gläubiger  l  welcher  den  Gl.  S.  531  Note  2  st 
liberemus  I.  liberemur.    S.  540  Z.  2  v.  o.  st.  anerkennen  1.  ankommen. 

Schliesslich  sagen  wir  dem  Hrn.  Verf.  unsern  Dank  für  die  Beleh- 
rung und  Anregung,  die  uns  aus  seinem  gründlichen  und  gedankenreichen 
Werke  geworden,  das  entschieden  berufen  ist,  unter  allen  neuern  Mono- 
graphien eine  ausgezeichnete  Stelle  einzunehmen. 

E.  v.  Stockmar. 


Praktische  Anweisung  zur  Cultur  der  tropischen  Orchideen  nebst  einem 
monatlichen  Kalender  und  einer  alphabetischen  Beschreibung  ton 
über  1000  Genera  und  Species  derselben,  von  J.  C.  Lyons.  Nach 
der  drillen  englischen  Auflage  übersetzt  und  mit  eigenen  Zusä- 
tzen versehen  von  Albert  Court  in,  Kunstgärtner,  Mitarbeiter 
mehrerer  englischen  Gartenzeitungen  und  Mitglied(e)  der  Sociit6 
aVhorticulture  de  la  Gironde  in  Bordeaux.  Stuttgart.  E.  Schwei- 
zerbarCsche  Verlagshandlung  und  Druckerei.  1851.  (8)  212  S. 

Die  Zucht  der  Orchideen,  einer  durch  Schönheit  and  sonderbaren 
Bau  der  Blüthen  besonders  ausgezeichneten  Pflanzenfamilie,  hat  nicht  bloss 
ein  grosses  Interesse  für  den  Gürtner  und  Blumenfreund,  sondern  ist  auch 
für  den  wissenschaftlichen  Botaniker  von  nicht  geringer  Wichtigkeit,  weil 


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916 


Courtiii :  Kultur  der  Orchideen. 


dieser  durch  sie  in  den  Stand  gesellt  wird,  den  Bao  der  BlUtheoiheile  and 
hauptsächlich  der  Befrucbtungsorgaoe,  welcher  bei  diesen  Pflanzen  leichter 
als  bei  denen  der  meisten  übrigen  Pbaneroganien-Familiea,  an  getrockne- 
ten Exemplaren  unkenntlich  wird,  zu  beobachten,  was  für  die  Bestimmung 
und  systematische  Anordnung  der  Gattungen  und  Arten  von  grösstem  Vor- 
theil und  zugleich  auch  für  die  Morphologie  von  bedeutendem  Gewion  ist 
Da  die  Kultur  dieser  Familie,  deren  zahlreichste  und  schönste  Repräsen- 
tanten in  den  Tropenlandern  wachsen ,  in  neuerer  Zeit  hauptsächlich  in 
England  auf  eiuen  hohen  Grad  der  Vervollkommnung  gebracht  worden, 
so  liess  sioh  erwarten,  dass  ganz  besonders  von  einem  dortigen  erfahre- 
nen OrchideenzOchter,  wie  es  der  Verfasser  ist,  eine  gute  Anleitung  über 
diesen  Gegeustand  geliefert  werden  könne.  Es  war  daher  ein  verdienst- 
liebes  Unteruehmeu,  seine  Schrift  io  die  deutsche  Sprache  zu  übertragen. 
Der  Uebersetzer,  welcher  selbst  in  London,  so  wie  in  Bordeaux,  mehrere 
Jahre  das  Orchideenhaus  unter  seiner  Pflege  hatte,  kennt  die  Kuttar  die- 
ser Gewächse  aus  eigener  Erfahrung,  und  war  im  Stande  Manches  zu  er- 
gänzen und  so  das  Werk  für  den  deutschen  Leser  brauchbarer  zu  machen, 
indem  er  auf  die  Unterschiede  in  den  klimatischen  Verhältnissen  Englands 
»od  Deutschlands  Rücksicht  nahm. 

In  der  Einleitung  (S.  3—6)  wird  zuerst  das  Geschichtliche  der 
Einführung  tropischer  Orchideen  in  England  milgetheilt.  Hiernach  waren 
im  iahre  1800  im  Garten  zu  Kiew,  welcher  damals  schon  eine  der  reich- 
sten Pflanzensammlungen  enthielt,  nur  ungefähr  24  Orchideen  vorhanden. 
Erst  später,  nachdem  man  sich  genauere  Kunde  aber  ihr  Wachsthum  und 
das  Klima  ihr«  Vaterlandes  verschafft  hatte,  lernte  man  sie  besser  kul- 
tiviren,  und  der  Erste,  welcher  die  Orchideenzucht  mit  gutem  Erfolge  betrieb, 
war  William  Cattley,  dem  zu  Ehren  die  schöne  Gattung  Cattleya  von 
Lindley  benannt  wurde.  Ihm  folgten  bald  mehrere  Liebhaber  und  Han- 
delsgärtner nach.  Von  einigen  derselben  wurden  Reisende  nach  verschie- 
denen Tropeuliindern  geschickt,  um  dort  lebende  Orchideen  für  die  Gär- 
(  ten  zu  sammeln.  Dadurch  vermehrte  sich  fortwährend  uichl  nur  die  Zahl 
der  Arleu  in  den  englischen  Gärten,  sondern  auch  die  Kenntniss  der  Ver- 
hältnisse, in  welchen  sie  in  ihrer  ITeimath  leben  uud  welche  ihnen  zu  einer 
gedeihlichen  Kultur  in  den  Glashäusern,  so  viel  wie  möglich,  ebenfalls 
verschafft  werden  müssen. 

Nachdem  der  Verfasser  (S.  7  u.  8)  Über  die  Schwierigkeiten  ge- 
sprochen, die  sich  ihm  anfangs  bei  der  Zucht  dieser  Gewächse  entgegen» 
stellten,  und  dabei  Uber  die  geringe  wissenschaftliche  Ausbildung  der  mei- 
sten Gärtttet  Klagt»  geführt,  wogegen  der  Uebersetzer  (S.  8—10)  die 


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Courtin:  Kultur  der  Orchideen.  «17 

Kunslgörtner-Gehülfen  —  in  Betracht  ihrer  meist  sehr  kümmerlichen  Gehalte, 
die  ihnen  die  Anschaffung  wissenschaftlicher  Bücher  unmöglich  macht  — 
zu  rech  (fertig  en  sucht,  erwähnt  der  Verf.  (S.  10)  auch  dea  Uebelstan- 
des,  dass  von  den  Handelsgürtnern  so  häufig  eine  und  dieselbe  Speciea 
unter  verschiedenen  Namen  verkauft  wird4),  und  geht  hierauf  (S.  11) 
zu  dem  von  ihm  als  zweckmässig  befundenen  Verfahren  bei  der  Kultur 
der  tropischen  Orchideen  Über.  S.  11 — 22  bildet  er,  nach  dem  verschie- 
denen natürlichen  Vorkommen  dieser  Gewächse,  mehrere  Abtheilungen,  um 
darnach  die  Behandlung  derselben  möglichst  naturgemass  einzurichten,  und 
gibt  dafür  die  allgemeinen  Kegeln  an,  wobei  er  manche  beherzigungs- 
werthe  Bemerkungen  und  Winke  Ober  die  Fflanzenkultur  iu  Glashäusern 
überhaupt  einstreut.  Dann  folgt  (S.  23  -  26)  die  genauere  Beschreibung 
des  Orchideenhauses,  mit  beigefügtem  Gruudriss  und  Durchschnitt  dessel- 
ben. Es  werden  (S.  26 — 44)  Vorschriften  über  das  zeitweise  Verse- 
tzen der  Pflanzen,  mit  Angabe  der  passenden  Erdarten,  der  anzuwenden- 
den Töpfe,  Hängkörbe,  Holzbiöcke  u.  s.  w.  mitgetheilt.  Zugleich  wird  (S. 
32  u.  33)  eine  zweckmässige  Erfindung  des  Verfassers  besprochen  und 
zur  allgemeinen  Anwendung  empfohlen,  um  die  den  Pflanzen  schädlichen 
Insekten  abzuhalten,  nämlich  Näpfe  aus  Töpfererde  mit  einer  säulenförmi- 
gen Erhöhung  in  der  Mitte,  auf  welche  man  die  Eichenäste  mit  den  da- 
ran sitzenden  Luftorchideen  oder  die  Töpfe  mit  den  Erdorchideen  stellt 
und  dann  den  übrigen  Raum  des  Napfes  mit  Wasser  anfüllt.  Er  nennt 
diese  durch  Abbildungen  versinnlichte  Vorrichtung  oniscamyntische 
Näpfe  von  ovtoxoc  (Kellerrassel)  und  otfi6vü>  (abwehren,  abhalten)*). 
Von  den  anzuwendenden  Holzkörbchen  und  Gestellen  aus  Holistäbcben 
werden  gleichfalls  Beschreibungen  und  Abbildungen  mitgetheilt.  Bei  die- 
ser Gelegenheit  wird  (S.  38)  vor  den  früher  vom  Verfasser  selbst  em- 
pfohlenen Körbchen  aus  Zinkdraht  gewarnt,  weil  er  später  an  einer  Pflanze 
von  Stanhopea  grandiflora  die  Erfahrung  «machte,  dass  dieselbe  nicht,  wie 
sonst,  ihre  Wurzeln  durch  das  im  Körbchen  befindliche  Moos  heraustrieb, 


*)  Die  überhaupt  in  den  Handelsgärten  nicht  selten  vorkommende  Ver- 
wechslung der  Pflanzennamcn  scheint  zwar  tum  Theil  von  der  Unachtsamkeit 
der  Gärtner  oder  von  deren  Unkenntnis*  der  Synonyme  herzurühren,  beruht  aber 
doch  hauptsächlich  auf  dem  vom  Verfasser  gerügten  Mangel  an  wissenschaftli- 
cher Ausbildung  und  der  daraus  folgenden  Unfähigkeit  der  meisten  Handelsgart- 
ner,  die  Bestimmung  irgend  einer  Pflanze  zu  prüfen  und  nöthigen  Falles  selbst 
vorzunehmen.    (Anm.  d.  Rer.) 

**)  In  der  Lebersetzung  ist  (S.  33  u.  34)  das  Wort  unrichtig  onysen- 
my ntisch  geschrieben.    (Anm.  d.  Ref.) 


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Coortin:  Kultur  der  Orchideen. 


und  es  sich  bei  nSherer  Untersuchung  zeigte,  dass  die  Wurzeln  da,  wo 
sie  den  Zinkdraht  berührt  hatten,  vertrocknet  oder  wie  verbrannt  waren. 
So  viel  dem  Referenten  bekannt,  ist  dieser  schädliche  Einfluss  des  metal- 

* 

tischen  Zinks  auf  die  Pflanzen  früher  noch  nicht  beobachtet,  und  es  möchte 
nicht  ohne  Interesse  für  die  Biologie  der  Gewächse  seyn,  die  Wirkung 
dieses  Metalles  auf  das  Pdanzenleben  weiter  zu  verfolgen. 

Um  das  im  hohen  Sommer,  wahrend  der  heissen  Tageszeilen,  not- 
wendig werdende  Beschatten  der  Glashäuser  zu  erleichtern*  wird  (S.  45) 
Yon  dem  Uebersetzer  die  zn  diesem  Zwecke  in  England  fast  allgemein 
angewandte  Metbode  beschrieben  und  durch  Abbildungen  verdeutlicht. 
Nachdem  alsdann  noch  vom  Verfasser  (S.  44 — 50)  im  Auszuge  aus  Bate- 
ina n 's  Werk  über  „Orchideen  von  Mexico  und  Guatemala"  die  wich- 
tigsten, bei  der  Zucht  der  Orchideen  überhaupt  zu  befolgenden  Regeln 
mitgetbeitt  worden,  wobei  auch  (S.  46 — 48)  die  Mittel  zur  Vertilgung 
der  schädlichen  Insekten  und  Schnecken  angeführt  sind,  gibt  derselbe  (S. 
51 — 62),  in  Form  eines  Kalenders,  eine  praktische  Auleitnng  über  die 
in  jedem  Monate  des  Jahres  nöthigcn  Verrichtungen,  so  weit  nämlich  die- 
ses Überhaupt  möglich  ist,  da  immer  auch  unvorhergesehene  Fälle  eintre- 
ten können,  welche  eine  Abänderung  des  Verfahrens  nöthig  machen,  die 
sich  jedoch  einem  denkenden  Orchideenzüchter  jo  nach  den  besondern 
Verhältnissen,  unter  denen  er  kultivirt,  schon  von  selbst  ergebe! 
werden. 

In  dem  nun  (S.  63—212)  folgenden  Kataloge  tropischer  Orchi- 
deen, welcher  den  grössern  Theil  (über  des  Buches  einnimmt,  sind 
die  Gattungen  und  Arten,  die  letztern  mit  ihren  Synonymen  versehen,  in 
alphabetischer  Ordnung  aufgeführt,  wie  es  hier  allerdings  am  zweckmis- 
sigsten  erscheint.  Bei  den  Gattungsnamen,  welchen  die  Autoritit ,  meist 
nebst  der  Etymologie  beigefügt  ist,  wird  zugleich  angegeben,  ob  die  dazu 
gehörigen  Arten  Erd-  oder  Luftorchideen' sind ;  dagegen  wird  der  Gat- 
tungscharakter nicht  mitgetheilt.  Auch  den  einzelnen  Arten  ist  kein  spe- 
cific her  Charakter  oder  eine  eigentliche  Beschreibung,  wie  der  Titel  könnte 
vermutben  lassen,  beigegeben ;  doch  wird  die  Farbe  der  Blütbe,  oft  auch 
die  Gestalt  der  Honiglippe  beschrieben;  nur  hie  und  da  werden  Über 
Stengel,  Blätter,  Blüthenstand  u.  s.  w.  Andeutungen  gegeben;  dagegen 
ist  bei  den  Arten,  mit  wenigen  Ausnahmen,  das  Vaterland  genannt.  Am 
Schlüsse  einer  jeden  Gattung  folgen  dann  noch  Bemerkungen  verschiede- 
ner Art,  hauptsächlich  aber  die  Kultur  betreffend,  wenn  diese  nicht 
schon  bei  einzelnen  Species  erklärt  wurde.  Die  seit  dem  Erscheinen  der 
dritten  englischen  Auflage  neu  eingeführten  Orchideen,  sind  von  dem  Ue- 


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Courtin:  Kultur  her  Orchideen.  919 

bersetzer,  so  weit  sie  ihm  bekannt  waren,  ebenfalls  aufgenommen  und, 
um  sie  als  solche  zu  unterscheiden,  mit  einem  N  bezeichnet  worden» 

Es  wäre  nur  zu  wünschen,  dass  Überall  auch  bei  den  Arten  die 
Autorität  angegeben  wäre,  welche  jedoch  bei  einer  ziemlich  grossen  An- 
zahl derselben  fehlt.  Der  Uebersetzer  hat  dagegen  versucht  die  Mehr- 
zahl der  Triviatoamen  zu  verdeutschen,  eine  Mühe,  die  er  sich  vielleicht 
besser  erspart  halle,  da  ihm  hier  die  üeberselzung  nicht  immer  zum  Be- 
sten gelungen  ist  und  die  Verdeutschung  ohnehin  bei  den  Gattungsnamen 
fehlt,  wo  sie  schon  der  Consequenz  wegen  nun  gleichfalls  gegeben  wer- 
den  sollte. 

Als  Beispiele  von  unrichtiger  üeberselzung  der  Trivialnamen  mögen 
folgende  dienen:  S.  66  Aerides  tessellahtm,  scheckich  statt  gewürfelt 
(wie  es  in  andern  Fällen  auch  wirklich  gegeben  ist);  S.  67.  Angraecum 
artneniaevm  opricolfarbig  statt  aprikosengclb  (ebenso  S.  128.  Fpi- 
dendrum  armeniaevm  und  S.  140.  Eria  armeniaca);  S.  71.  Aporum  sinua- 
fum,  gebogen  stall  gebuchtet  oder  buchtig;  S.  75.  Bifrenaria  vitel- 
lina,  cigeUarbig  (!)  statt  dottergelb;  S.  80.  Brassatola  elegans,  elegant 
statt  zierlich  (ebenso  S.  144.  Fernandezia  elegans')',  S.  86.  Calanthe 
furcata,  gelblicht  statt  gabelig  oder  gegabelt:  S.  100.  Cleisosloma 
ionosmum,  innosmatthnlich  statt  veilcbenduftend;  $.102.  Caelia  fu- 
liginosa,  schmutzig  statt  russbraun;  S.  107.  Cycnoches  chloranthum, 
blassblüthig  statt  grünblüthig;  S.  112.  Cyrtopodium  punetatnm  ge- 
fleckt (wie  noch  an  mehreren  andereu  Stellen)  statt  punktirt  oder  ge- 
tüpfelt*); S.  115.  Dendrobium  candidum,  milchweiss  statt  r  e  i  n  w  e  is s ; 
S  119.  D.  heterocarpum,  versebiedensamig  statt  verschiedenfrüch- 
tig;  S.  124.  D.  triadenium,  zu  13  stehend  statt  drei  drüsig;  S.  131. 
Epidendrum  diotum,  im  Freien  wachsend  statt  zweiohrig;  S.  132.  E. 
gracile,  graeiös  statt  schlank  (wie  es  an  andern  Stellen  z.  B.  S.  .76. 
bei  Bletia  und  S.  145.  bei  Galeandra  pracilis  richtig  übersetzt  ist),  S.  133. 
E.  lacertinum,  zerrissen,  ist  jedenfalls  unrichtig  Ubersetzt  und  heisst  ent- 
weder ei  d  ecbsengrü  n,  eidechsen  farbig  (von  lacerta)  oder  flei- 
schig, kraft  voll  (von  lacertus)-,  S.  134.  E.litidum,  blass  stall  lei- 
chenfarbig  oder  in  diesem  Falle  auch  missfarbig;  S.  137.  E.  se- 
cundum,  seitenblütliig,  statt  einseits  wendig  (ist  S.  128.  bei  Dendro- 
bium secundum  durch  „einerseits wendig",  S.  196.  hei  Rodriguezia  secunda 
aber  wirklieb  durch  „einseitswendig"  übersetzt);  S.- 143.  Eriopsis  ruti- 


*j  Der  Unterschied  zwischen  punclatus  und  maetdattts  war  um  so  mehr 
festzuhalten,  als  das  letztere  überall  richtig  durch  gefleckt  übersetzt  wurde. j 


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820 


Coortin:  Kultur  der  Orchideen. 


dobulkon  (soll  heissen  rhytidobolbos),  rathknollig'  statt  runzelknollig; 
S.  16^.  Mormode$  lentiginosa,  linsenarlig,  ferner  S.  193.  Promenaea  len- 
tiginosa^ gesprengelt  statt  aonimenprossig;  S.  1C9.  Keottia  pudica 
keisch  statt  verschämt;  S.  177.  Oncidium  flabellifervm,  peitschentra- 
gend statt  f  a  c  b  e  1 1  r  a  g  e  n  d ;  S.  1 82.  0.  spacelatum  (soll  heissen  spka- 
celahtni),  ausgedörrt  statt  brandfleckig;  S.  191.  Pleurothallis  ophdo- 
cephalus  (muss  heissen  Ophiocephalus  oder  ophiocephala)^  Schneckenkopf  st. 
Schlangenkopf  oder  schlangen  köpfig;  S.  193.  Ponthieta  petio- 
lata  blumenslielig  statt  blattstielig;  S.  193.  Prescoltia  planlaginea  pla- 
tanenblätterig statt  wege trittblättrig;  S.  194.  Renanthera  araeh- 
nites ,  spinnengewebeähnlich  statt  spinnenblütbig;  S.  197.  Saccola- 
bium  minialum ,  klein  statt  mennigrote 

Auch  an  Schreib-  und  Druckfehlern  ist  der  Katalog  nicht  arm.  Fol- 
gende fielen  dem  Refer.  beim  Durchlesen  der  Namen  vorzüglich  auf.  S.  65. 
Aeranthvs  st.  Aera  n  Ihus;  ebenda«.  Aerides  tesselatum  st.  Aerides  tes- 
aellatum;  S.  66.  Calanthe  nobile  st.  C.  nobilis;  S.  92.  u.  93.  stehen 
bei  Myanthus  alle  adjekliveu  Trivialuamen  mit  geschlechtsloser  Endung, 
bis  auf  M.  fimbriatus,  siud  also  alle  mit  Ausnahme  des  letiten  und  des  M. 
JNaso  und  M.  Trulla,  mit  männlicher  Enduog  zu  schreiben;  S.  102.  steh 
Catlia  fuliginosum  statt  fuliginosa;  S.  115.  Dendrobium  cala  forme  st. 
calamiforme,  und  das.  D.  cannaliculatum  st.  canaiiculatum;  S.  119. 
D.  inacrostachivm  st.  m  a  c  r  o  s  t  a  c  h  y  u  m  ;  S.  1 27.  bei  Dinema  paleacevm 
steht  sireublätterig  statt  spreublättrig;  S.  130.  Epidendrum  cepefomte 
st.  cepaeforme;  S.  137.  E.  sentella  at.  Scutella;  S.  157.  Lipa- 
ris  ßüosa  st.  foliosa;  S.  158.  Luisia  Guadich.  st.  Gaudieb.  (d.  h. 
Gaudichaud)  ;  S.  1 00.  Masdetallia  in  fr  nein  st.  i  n  f  r  a  c  t  a ;  eben  das.  bei 
Maxiilaria  acicularis  siebt  nudelformig  statt  nadelfürmig;  S.  161.  Jf. 
cueulata  st.  cucullata;  S.  162.  M.  galeate  st.  galeata;  S.  183  bei 
Oncidium  urophyllum  steht  schwarzblölterig  st.  schwanzblättrig;  S. 
185.  Otochilus  fusca  st.  fuscum;  S.  198.  Sarcanthus  terrcdifolius  at. 
teretifolius;  S.  209.  Vanda  multiflorum  st.  multiflora. 

Erwünscht  und  nütslicb  wäre  die  Angabe  der  Prosodie,  wenigstens 
bei  den  Gattungsnamen,  gewesen,  da  gegen  die  richtige  Aussprache  der- 
selben, zumal  von  den  der  lateinischen  und  griechischen  Sprache  minder 
Kundigen  so  häufig  gesündigt  wird. 

Die  hier  gerjigten  Mängel  betreffen  jedoch,  wie  gesagt,  nnr  die 
Nomenklatur  des  Kataloges,  und  es  bleibt  dabei  der  Werth  dieser  Schrift 
in  Bezug  auf  ihren  übrigen  Inhalt  unbeanstandet.  Sie  verdient  darum  in 
Deutschland,  wo  wir  noch  keine  so  umfassende  Anleitung  zor  Orchideen- 


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Tischendorf :  Synopsis  E  van  gel  i  ca.  Mi 

sucht  besitzen,  wohl  die  allgemeine  Beachtung  besonder«  von  Seiten  der 
Gärtner  und  Blumenfreunde,  welche  sich  durch  eine  glückliebe  Betreibung 
der  Kultur  den  belohnenden  Genuss,  den  sie  darbietet,  zu  verschaffen  wün- 
schen. Die  typographische  Ausstattung  des  Buches  ist  durchaus  lobens- 
wert. ©.  W.  BUcliofT. 


Synopsis  Er  angehe  a ,  ex  quatuor  evangeliis  ordine  chronologieo  concin- 
narit,  praelexlo  brevi  commenlarii  ülustratit,  ad  antiquos  testet 
opposito  apparalu  critico  recensuU  Constantinns  Tischen- 
dorf. Ups.  iS5l.  LXVI.  *  202  pp. 

Im  Vorwort  zu  dieser  neuen  chronologisch-harmonislischen  Anord- 
nung der  Evangelien  hebt  der  gelehrte  Hr.  Verf.  p.  VIII,  im  Hinblick 
auf  die  destruktive  Tcndeuz  '  unserer  Zeit,  nicht  allein  die  in  der  That 
kanm  zu  überschätzende  Wichtigkeit  seiner  Aufgabe,  und  seiuen  eigenen 
gläubigen  Standpunkt  hervor,  soudern  er  erregt  auch  in  Betreff  seiner 
Arbeit  Erwartungen,  die  sein  weitverbreiteter  Ruf  und  seine  langjährigen 
Forschungen  auf  dem  Gebiete  der  neuteslamentlichen  Textkritik  wohl  ge- 
eignet sind  aufs  höchste  zu  steigern.  Wer  sollte  beim  Lesen  der  ange- 
führten Stelle  nicht  glauben,  dass  es  den  strengen,  von  der  Ueberzeugung: 
die  geschichtliche  Folge  der  in  den  Evangelien  erzählten  Begebenheiten 
sei  herstellbar,  geleiteten  Studien  des  Verf.  über  seinen  Gegenstand  ge- 
lungen wäre,  das  grosse  Rüthsei,  welches  die  christliche  Welt  von  Ta- 
tian  bis  auf  Wi eseler  uud  Stroud  beschäftigte,  wenn  nicht  zu  lö- 
sen, doch  der  Lösung  nahe  zu  bringen?  Um  so  mehr  wird  man  sich 
bei  einer  Prüfung  des  Buches  in  seinen  Erwartungen  getäuscht  finden.  Es 
vermeidet  zwar  einige  der  Fehler,  in  die  Wiesel  er  (an  dessen  im  All- 
gemeinen sehr  von  ihm  gerühmtes  chronologisches  System  der  Yerf.  sich 
anscbliesst)  verfallen  ist;  verlullt  aber  in  weit  zahlreichere  Irrthümer  zu- 
rück, welche  dieser  schon  vermieden  hatte.  Verglichen  mit  dem  Werke 
des  Letzteren,  bezeichnet  es  einen  entschiedenen  Rückschritt  in  der  Wis- 
senschaft. Seinen  apologetischen  Zweck  zur  Wiederherstellung  des  so 
tief  erschütterten  Glaubens  an  die  historische  Grundlage  der  Evangelien 
beizutragen,  verfehlt  es  nicht  bloss,  es  dürfte  sogar,  wenn  ihm  wirklich 
(was  jedoch  augenscheinlich  nicht  der  Fall  ist)  tiefere  chronologis  h-har- 
monistische  Studien  zu  Grunde  lügen,  von  den  Gegnern  als  ein  neuer 
glänzender  Triumph  für  ihre  Sache  betrachtet  werden. 

Werfen  wir,  um  dieses  Unheil  zu  rechtfertigen,  zuvörderst  einen 


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Tischendorf:  Synopsis  Evangelien. 

Blick  auf  ein  paar  Zeitabschnitte  der  allgemeinen  Anordnung  des  Verf. 
Br  setzt  zwischen  das  erste  Passahfest  um  30.  März  781  o.  c,  welche« 
der  Herr  als  Lehrer  zu  Jerusalem  feierte  §.  22.  und  seine  nächste  An- 
wesenheit daselbst  am  Purimfeste  19.  Marz  782  u.  c,  §.  28.,  also  in 
das  Intervall  fast  eines  ganzen  Jahres,  bloss  das  erste  kurze  Wir- 
ken Jesu  in  Judäa,  seine  Rückreise  durch  Samarien  nach  Galiläa  noch  in 
der  Höbe  des  Sommers,  Job.  4,  35.  und,  um  den  bleibenden  Zeitraum 
von  mindestens  neun  Monaten  auszufüllen,  die  isolirte  Heilung  des 
königlichen  Beamten  zu  Capernaum  §.  27.    Zwar  ist  vielfach  bestritten 
worden,  ob  der  erslere  Theil  der  gedachten  Stelle  Job.  4,  35.  sprüch- 
wörtlich (vgl.  Matth.  16,  2)  und  der  letztere  chronologisch,  oder  ob 
der  erstere  chronologisch  und  der  lettlere  sinnbildlich  zu  fassen  sei;  dock 
kann  auch  nicht  einmal  ein  vernünftiger  Zweifel  darüber  obwalten. 
Denn  1)  lösst  sich  nicht  annehmen,  dass  der  Herr  sich  im  tiefsten  Win- 
ter, „welcher  sich  durch  fast  ununterbrochenen  Sturzregen 
charakterisirt  und  einige  Wochen  lang  auch  in  Schnee  übergeht0 
(Winer,  R.W.  Art.  Witterung)  in  der  unmittelbaren  Nähe  einer 
Stadt  anf  freiem  Felde  niedergelassen  und  seine  Jünger  um  Speise  in 
io  den  Ort  geschickt  habe,  und  2)  sind  die  Worte  des  Textes  idou,  Xej© 
ujiTv,  inapate  touc  6  cp&otXjioo;  Ofiiov  xat  deaaaads  :a;  x0*" 
p«c,  8Tt  Xeuxat  etat  Trpoc  dsptajiov  ijöij,  im  Gegensatz  zu 
dem  o'ox  öfjtei;  Xljste,  Sei  Ixt  TSTpajiTjvo;  fort  xat  6  &spiaji6;  !p- 
Xerat;  an  sich  entscheidend.    Oder  könnte  etwa  Jemand  glauben,  Jesus 
babe,  als  er  von  der  freien  Natur  umgeben,  seine  Jünger  aufforderte,  um 
sich  zu  schauen  und  ihre  Blicke  über  die  goldenen  im  Sonnenschein  wo- 
geoden  Korngefilde  schweifen  zu  lassen,  schneebedeckte  Aecker 
oder  kahle  Stoppelfelder  vor  Augen  gehabt?!    Sollte  nicht 
eben  die  sie  umgebeude  Wirklichkeit  (und  richtig  bemerkt  der  Verf. 
p.  XXVII.  maior  orationi  vis  accedit  si  ipsum  anni  tempus  conveniebat, 
freilich  nicht  proverbio  wie  er  irrig  hinzufügt,  sondern  den  Worten 
des  Herrn)  den  Jüngern  das  Bild  eines  geistigen  Erntefeldes  darstel- 
len, in  das  sie,  nachdem  es  von  Andern  beackert  und  bestellt 
worden  war,  als  gewählte  Schnitter  geschickt  werden  sollten?  Der 
echt-sprüchwörtliche  hoffend-tröstliehe  Charakter  der  Wrorte:   „Nach  vier 
Monden  (natürlich  nach  der  Aussaat)  kömmt  die  Erntett  ist  unverkennbar, 
und  was  Wiesel  er  daran  zu  bekritteln  findet,  entspringt  einzig  und  al- 
lein aus  chronologischer  Noth  und  Verlegenheit. 

Dass  in  den  folgenden  Zeitabschnftten  die  Begebenheiten  um  desto 
mehr  zusammengedrängt  werden  müssen,  ist  Selbstverstand.    Der  erste 


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Tischendorf:  Synopsis  Evangelica. 


begreift  dal  Intervall  vom  Purimfeste  19.  Marz  782  u.  c.  §.  28.  bis 
zu  dem  oaßßaiov  ößUTep6icp(i)Töv  (Luk.  6,  i.)  9.  April  782  u.  c.  $.  38 
=  21  Tagen.  Davon  brachte  der  Herr  mehrere  Tage  in  Jerusalem  zu 
(Job.  5,  1—47).    Während  der  übrigen  Zeit  soll  er  nun  auf  seiner 
Rückreise  nach  Galiläa  in  Nazareth  gelehrt  §.  29.,  diese  Stadt 
verlassen  und  seinen  Wohnsitz  in  Capernaum  aufgeschlagen 
$.  30.,  hier  viefach  gewirkt  §.  31—32,  und  seine  erste  Rund- 
reise durch  Galiläa  unternommen  haben  $.  34.  ja,  nach  seiner 
Rückkehr  aufs  neue  thätig  in  Capernaum  gewesen  sein  §.  35 — 37. 
Und  alles  Dicss  in  etwa  14  T  a  g  e  n  1  Doch  gehen  wir  weiter.  Der  näch- 
ste Zeitraum  reicht  von  dem  oaßßaxov  ätorsp.  9.  April  782  u.  c.  $.  38 
bis  zur  Speisung  der  5000  (nach  dem  Verf.)  am  Abend  des  17.  AprH 
782  ii.  c.  $.  59.*,  umfasst  also  8  Tage.    In  dieser  Einen  Woche 
lässt  der  Verf.  den  Herrn  zuvörderst  am  zweiten  Tage  die  verdorrte 
Hand  heilen  §.  39,  am  dritten  die  Zwölfe  wühlen,  die  Bergpredigt 
halten  und  dem  gicbtbrücbigen  Knecht  des  Hauptmanns  die  Gesundheit  wie- 
dergeben §.  40—42,  am  vierten  nach  Nain  gehen  und  den  Sohn  der 
Wiltwe  erwecken  §.44,  die  Abgeordneten  des  Täufers  empfangen  §.  44 
bei  Simon  (zu  Bethanien)  gesalbt  werden      45,  und  von  dort  Uber- 
haupt am  fünften  Tage  (so  dass  nur  noch  vier  Tage  flbrig  sind)  $.46 
eine  grosse  Rundreise,  auf  der  Jesus  jede  Stadt,  jedes  Dorf 
besucht,  (Luk.  8,  1.)  durch  Galiläa  antreten;  dann  $  47—48  in 
Capernaum  zurück  sein  (Matth.  13,  1);  dort  $.49— 50  in  Parabeln  lehren, 
$.51  —  52  den  Sturm  auf  dem  Galiläischen  Meer  beschwichtigend  eine  Au  s- 
fluchtzudenGadarenernmachen;  $.  53  bei  seiner  Rückkehr  das 
blutflussige  Weib  heilen  und  die  Tochter  des  Jairus  kTs  Leben  zurückrufen, 
§.  54  wiederum  zu  Nazareth  auf  einer  neuen  Rundreise  durch 
Galiläa  $.  55  lehren,  $.  56  die  Zwölfe  aussenden  und  nach 
ihrer  Rückkehr  (unmittelbar  nach  dem  Tode  des  Tiufers)  $.  57  — 
58,  von  Capernaum  nach  Bethsaida  übersetzen,  um  dort  $.  59  die 
5000  zu  speisen.  —  In  neun  Monaten  eine  einzige  Heilung, 
an  etwa  einem  einzigen  Tage  dagegen  drei  Rundreisen  durch 
ganz  Galiläa!! 

Eine  ähnliche  Behandlung  karakterisirt  die  ganze  chronologische  An« 
Ordnung  des  Verf.  in  ihren  allgemeinen  Zügen.  Nicht  minder  unglück- 
lich ist  er  in  der  Bestimmung  einzelner  Daten.  Er  mochte  z.  B.  die  Ge- 
burt des  Herrn,  welche  Wieseler  als  am  wahrscheinlichsten  in  deo 
Februar  750  u.  c.  setzt  (wirklich  fand  sie  um  die  Zeit  des  18.  Marz 
itatt)  noch  Uber  den  erst  er  en  Zeitpunkt  Linausschieben,  weil  er  die 


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924 


Tischendorf:  Synopsis  Evangelica. 


Unmöglichkeit,  dass  die  Darstellung  des  Kindes  im  Tempel  nach  der 
Ankunft  der  Magier  und  der  Flucht  nach  Aegypten  gefallen  sei,  für  s  a  1 1- 
s am  erwiesen  bell  p.  XVI.  XXII.    Wie  wenig  begründe!   diese  fast 
allgemeine  Ansicht  ist,  möge  hier  kurz  angedeutet  werden.  Die  Annahme, 
dass  die  Magier  am  Tage  der  Beschneidung  zn  Bethlehem  eintra- 
fen, bat  Manches  für,  und  jedenfalls  Nichts  gegen  sich.  Die  Flucht  durfte 
dann,  das  obige  Datum  für  die  Geburt  angenommen,  am  27.  Mors,  der 
Kindermord,  wegen  der  Mühe  Bethlehems  und  der  ungeduldigen  ,  reizba- 
ren Stimmung  des  kranken  Herod,  am  28.  oder  29.  März  stattgefunden 
haben,  also  gleichzeitig  mit  der  Hinrichtung  Antipaters  (vier  Tage  vor 
dem  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  am  2.  April  erfolgten  Tode  des  Kö- 
nigs),  wie  denn  auch  die  Nachricht  beider  Blutthateu  gleichzeitig 
nach  Rom  gelangte  (M aerob.  Saturn.  2,  2).    Nach  welchem  Tbeile 
Aegyptens  Joseph  sieb  wandte,  wird  von  den  Evangelisten  nicht  ge- 
sagt Vermutbuch  überschritt  er  bloss  die  Grenze.    Diese  bildete  „der 
Bacb   Aegyptens/   C'^'O  *?ru ,  obnweit  Rhinokolora,   dem  heutigen 
EI  arisch,  einige  zwanzig  geograph.  Meilen  von  Jerusalem  entfernt. 
Wir  haben  die  Flucht  Joseph's  also  höchstens  auf  eine  Wocben- 
reise  zu  schaUen.    Dies  führt  uns  bis  zum  3.  April.    Die  Nachricht 
von  dem  Tode  Herod's  musste  er  spätestens  gegen  Mitte  dessel- 
ben Monats  erhalten.  Nehmen  wir  dann  für  den  Rückweg,  (den  er  nach 
einem  viersebntagigen  Aufenthalt  in  Aegypten,  wo  ihn  nichts  fesselte, 
wilhrend  Alles  ihn  nach  der  Heimat  zurücktrieb,  unverzüglich  angetreten 
haben  wird),  eine  neue  Wochenreise  an,  so  traf  er  noch  vier  bis  fünf 
Tage  vor  Ablauf  der  Reinigungsfrist  wieder  an  der  israelitischen  Grenze 
ein.  Da  er  hier  jedoch  hörte,  dass  Archelaus  an  seines  Vaters  Statt  aber 
Judüa  herrsche,  so  fürchtete  er  sieb  IxcT  diceXdetv,  von  dort  (der 
Grenze)  weiterzureis  en  (nicht  nach  dort  hin  (Bethlehem)  zu- 
rückgehen, wie  man  gewöhnlich  irrtümlicherweise  erklärt)  bis  Gott 
ihm  im  Traume  den  bestimmten  Befehl  dazu  gab  —  Weiterreisen, 
natürlich  nicht  nach  Bethlehem,  sondern  nach  seinem  Wohnort  Naza- 
reth,  nicht  durch  Peräa,  wo  er  nichts  zu  befürchten  hatte,  sondern 
über  Jerusalem,  wo  die  gesetzliche  Pflicht  des  Reini- 
gungsopfers zu  erfüllen  war.  Dagegen  wendet  u.  A.  Wieseler 
ein  (und  ihm  stimmt  der  Verf.  bei):  1)  dass  die  geschilderten 
Begebenheiten  sich  nicht  denkbarorweise  innerhalb  ei« 
nes  vieraiglagigen  Zeitraums  hatten  ereignen  können. — 
Oben  ist  das  Gegentheil  klar  nachgewiesen.  2)  Dass  dem  mosaischen 
Gesott  zufolge  die  Wöchnerin  die  ganze  Reinigungsseil 


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Tiichendorf:  Synopsis  Evangelien. 


925 


zu  Hause  bleiben  musste.  —  Man  übersieht,  dass  Maria  dieser 
Verpflichtung  durch  den  ausdrücklichen  Befehl  Go tt es  entbunden 
ward  (Matth.  2,  13.  19.  22).  4)  Dass  es  nicht  denkbar  sei, 
die  Eltern  Jesu  wären  nach  Jerusalem  zurückgekehrt, 
weil  sie  die  Nachstellung  des  Archelaus  zu  fürchten  hat' 
ten.  —  Aufs  neue  übersiebt  man,  dass  ein  gottgesandter  Traum  den 
Joseph  dieser  Befürchtung  enthob  (Matth.  2,  22.)  Uebrigens 
hatte  Archelaus  auch  bereits  seine  Reise  nach  Rom  angetreten.  4)  Dass 
die  Erzählung  bei  Matthäus  eine  Kette  chronologisch-* 
untrennbarer  Begebenheiten  bildet  —  als  ob  zwischen  die 
Ankunft  Joseph's  an  der  südlichen  Grenze  Palästina^  und  an  seinem 
nördlich-galilaischen  Wohnort  Nazareth  nicht  eben  —  die  Reise 
und  das  was  sich  auf  ihr  zutrug  fiele?!  Andrerseits  erheben  sieb  gegen 
die  Anordnung  des  Verf.,  welcher  mit  Wie  sei  er  die  Darstellung  im 
Tempel  §.  10  der  Flucht  §.11  vorangehen  lösst,  unüberwindliche  Schwie- 
rigkeiten, unter  denen  es  genüge  hervorzuheben,  dass  Lnkas  in  bestimm- 
ten Worten  sagt:  xal  oj;  h^Xeoav  Slut/zt.  ib.  xara'tov  vöjxov  xüptou, 
üTteate^av  *U  tJjv  raXtXatav  sie  rcöXtv  ^airaöv  NaCap^;  denn  man  würde 
doch  wohl  nicht  etwa  die  Rückkehr  nach  Bethlehem  und  die  Flucht 
nach  Aegypten  als  einen  „Umweg"  von  Jerusalem  nach  Nazareth  be- 
trachten wollen?  Keine  andere  Erklärung  aber  dürfte  dem  Verf.  übrig 
bleiben. 

Mit  Wiesel  er  setzt  derselbe  den  Auftritt  des  Täufers  in  d.  J.  7  SO 
u.  c,  weil  er  noch  annimmt,  dass  das  entsprechende  jüdische  Sabbat- 
jahr sich  vom  Herbst  779  bis  dahin  780  u.  c.  erstreckte,  obschon  Ref. 
glaubt,  durch  eine  eingehende  Untersuchung  (Ueber  den  altjüd.  Cal.  &  180 
— 294)  den  Irrlhum  dieser  Annahme  über  jeden  Zweifel  erhoben  und 
das  folgende  Jahr  Herbst  780  bis  dahin  781  u.  e.  als  jenes  Sabbetjahr 
nachgewiesen  zu  haben.  Doch  abgesehen  hievon,  läset  sich  auoh  nnr  mit 
einem  Scheine  von  Vernunft  glauben,  dass  Johannes  den  ganzen  Win- 
ter hindurch  getauft  habe?  Und  eben  im  tiefsten  Winter, 
nemlich  gegen  Ende  des  Jahres  hätte  nach  dem  Verf.  die  Taufe  des 
Herrn  stattgefunden !  Dabei  setzt  er  sie  in  d.  J.  780  n.  c.  und  den  Auf- 
tritt Johannes1  sechs  Monate  früher,  während  beide  Ereignisse  nach  Luk. 
3,  1.  doch  offenbar  dem  15.  Regieruugsjahr  des  Tiberius  angehören.  Der 
Verf.  zählt  dies  nach  römischer  Sitte  vom  19.  August  781  bis  dabin 
782  u.  c.  Ref.  hat  hingegen  (a.  a.  0.  S.  342  f.)  gezeigt,  dass,  nach 
jüdischer  Zählungsweise  fremder  Regierungsjahre,  Lu- 
kas es  vom  1.  Thischri  780  bis  dahin  781  u.  e.  rechnete.    Die  Taufe 


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926  Tischendorf:  Synopsis  Evangelien 

Jesu  (voa  dem  Auftritt  des  Täufers  nur  durch  wenige  Wochen  getrennt) 
fiel  in  die  erstere  Hälfte  dej  Monats  Februar  781   u.  c.    Dies  muiste 
a )  46  volle  Jahre  nach  der  Epoche  der  herodianischen  Tempelreslaura- 
tion  sein,  Job.  5,  20.    Ref.  bat  dafür  den  1.  Nisan  d.  J.  735  a.  c. 
nachgewiesen  (a.  a.  0.  S.  253  ff).    Dazu  46  volle  Jabre  bis  zum  Pas- 
sah,  15  Nisan  gezählt,  und  sie  fuhren  uns  richtig  an  das  Passah  d.  J. 
781  o.  c.    Ferner  stand  b)  Jesus  damals  im  Alter  von  „ungefähr  30 
Jahren"  Luk.  3,  23.  d.  b.  da  nach  jüdischer  Zahlungs weise 
diese  30  Jahre  notwendigerweise  für  vollendete  Jahre  genommen 
werden  müssen,  (welches  hier  jedoch  auch  aus  sonstigen  Gründen  der 
Fall  ist),  so  würo  der  Herr  Uber  30  aber  unter  31  Jabre  gewesen. 
Und  wirklieb,  im  Adar  750  u.  c.  geboren,  war  dies  sein  Alter  im 
Scbebat  781  u.  c.    Es  herrscht  hier  also  die  vollkommen- 
ste chronologische  Ueboreinstimmung.     Dagegen  nimmt  der 
Verf.  mit  Wiesel  er,  um  das  15.  Jahr  Tiber's  nach  römischer  Rech- 
nungsweise  herauszubringen,  zu  der  verzweifelten  Annahme  seine  Zuflucht, 
dass  Lukas  zur  Epoche  der  Weihe  Jesu  zu  seinem  heiligen  Lehr- 
amt  die  —  nach  dem  Verf.  ein  ganzes  Jahr  später  fallende 
Gefangennahme  des  Täufers  gemacht  habe!!   Er  kehrt  zu  der 
irrigen  Hypothese  zurück,  dass  der  Herr  sein  letztes  Passahmabi  nicht  am 
gesetzlichen  15.  Nisan,  sondern,  im  Widerspruch  mit  den  Synoptikern,  ei- 
nen Tag  früher  ass,  (wogegen  man  des  Ref.  Aufsatz,  Cbronological  harmony 
of  the  Gospels  in  dem  Journal  of  Sacred  Li  Iura  Iure  for  July  1850  p.  75 
—  106  vergleiche),  und  glaubt  noch,  in  Betreff  der  Salbung  und  der 
Reinigung  des  Tempels,  den  Schwierigkeiten  dieser  evangelischen  Ab- 
schnitte, durch  eine  Verdoppelung  beider  Begebenheiten  ausweichen 
zu  können.  Freilich  ist  er,  was  die  letztere  betrifft,  einigermassen  dem 
Zweifel  anheimgegeben,  doch  weiss  er  sich  p.  XXIII  mit  den  Worten  zu 
trösten:  „si  res  eadem  est,  vix  dubiuui  est  quin  maior  sit  Jo- 
hanni  quam  Ulis  (Synoplicis)  fides.«  (!) 

Wir  glauben  durch  diese  Proben  den  Leser  hinreichend  in  Stand 
gesetzt  zu  haben,  sich  Uber  den  ehr  onologisch-apo logische  n  Werth 
der  Schrift  ein  Urtheil  zu  bilden.  Andrerseits  ist  der  Gehalt  des  dem  Texte 
hinzugefügten  kritischen  Apparats  anerkannt,  und  der  letztere  verleibt  dem 
Buche  eine  Brauchbarkeit,  welche  ihm  den  Vorzug  vor  den  bisher  er- 
schienenen gleichartigen  Zusammenstellungen  zu  sichern  geeignet  ist. 

John.  Guiupacli. 


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Jh.  59.  HEIDELBERGER  1851. 

JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR. 

I 

Kurze  Anzeigen. 

Taschentuch  der  wichtigsten  Enltcickelungs- Momente  der  Erde  und  ihrer  Bewohner. 
Von  Dr.  G.  Herbst.  Mit  swei  Holzschnitten.  176  8.  in  kl.  Duodez,  Weimar 
bei  Hoffmann  und  Sohn,  1850. 

Ein  Beitrag  zur  Verallgemeinerung  des  geologischen  Wissens,  den  wir  gleich 
allen  Schriften  dieser  Art,  willkommen  heissen,  in  sofern  uus  solche  aus  eben- 
bürtiger Hand  geboten  werden,  wie  dies  beim  Verf.  der  Fall.  Pen  Anlass  ga- 
ben Vorlesungen  in  Weimar  gehalten;  Herr  Herbst  schlug,  nach  unserer  Ue- 
berzeugung,  ganz  den  richtigen  Weg  ein,  und  die  Leser  der  Jahrbücher  werden 
dem  Referenten  einige  Erfahrung  in  der  Sache  nicht  abstreiten  können  und  wol- 
len. Um  seinen  Stoff  leichler  zugänglich  zu  machen,  wählte  der  Verf.  die  un- 
gezwungene Briefform.  So  bespricht  erz.  B.  im  ersten  der  neun  Briefe:  die  Urstoffe 
der  Erde;  Chemismus  und  Verdichtung  der  Materie;  den  glühendflüssigen  Zustand 
des  Erdballs;  Bewegung  und  Dunsthülle  der  Erde;  ihre  Form;  Vertheilung  der 
Materie  in  derselben;  Dichtigkeit,'  derselben;  erste  Erstarrungs-Rinde;  Erscheinen 
des  Wassers;  erste  ftiederschlags-Rinde  u.  s.  w.  In  den  folgenden  Briefen  kom- 
men Erd-Temperatur,  die  Bewohner  der  Erde,  der  Erd-Magnetismus  und  andere 
wichtige  und  interessante  Gegenstände  zur  Sprache.  Zwei  Briefe  sind  den  Ver- 
hältnissen des  Thüringer  Waldgebirges  gewidmet,  und  am  Schlüsse  findet  man  eine 
Uebersicht  der  Schichten-  und  Gestein-Folge  in  Deutschland. 
Wir  wünschen  dem  kleinen  Buche  recht  viele  Leser. 


Anleitung  mr  Gestein-  und  Bodenkunde,  oder  das  Wichtigste  aus  der  Mineralogie 
und  Geognosie  für  gebildete  Leser  aller  Stände,  insbesondere  für  Landscir- 
tke,  Forstmänner  und  Bautechniker.  Von  Fr.  X.  M.  Zippt,  Professor  am 
ständischen  technischen  Institute  zu  Prag  ff.  s.  tf.  XXVII  und  396  S.  in  8. 
Prag,  Calvesche  Buchhandlung,  1896. 

Von  den  vier  Abschnitten,  in  welche  vorliegende  „Anleitung  —  deren 
Zweck  der  Titel  sehr  bestimmt  ausspricht  —  zerfällt,  enthält  der  erste  die  geo- 
gnoslischen,  mineralogischen  und  chemischen  Vorbegriffe,  der  zweite  schildert 
die  Mineralien  der  Gebirgs-Gesteine  nach  ihren  physikalischen  und  chemischen 
Eigenschaften,  im  dritten  werden  die  Felsarten  selbst  besprochen,  und  im  vier- 
ten Abschnitt  die  wechselseitigen  Verhältnisse  der  Gcbirgsmassen  in  der  Zusam- 
mensetzung der  Erdrinde.  Man  darf  nicht  aus  dem  Auge  verlieren,  dass  der,  im 
Vorwort  mit  allzugrosscr  Bescheidenheit  von  sich  selbst  urtheilende  Verf.  —  dem 
wir,  namentlich  über  Böhmen,  sein  Vaterland,  die  werthvollsten  Aufschlüsse  in 
mineralogisch -geologischer  Hinsicht  verdanken  —  für  Leser  schrieb,  die  we- 
nige oder  keine  Vorkenntnisse  jener  Natur- Wissenschaften  besitzen,  welche  als 
erste  Elemente  der  Geognosie  zum  Yerständniss  derselben  unentbehrlich  sind,  die 
aber  dennoch  den  Wunsch  hegen,  das  Bedürfniss  fühlen,  sich  von  den  mannig- 
XUV.  Jahrg.  6.  Doppelheft.  59 


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Karre  Aiteelg**. 


faltigen  materiellen  Dingen,  womit  sie  ihr  Lebens-Beruf  mehr  oder  minder  bäafig 
in  Berührung'  bringt ,  Kenntnisse  zn  erwerben.  Sin  streng  wissenschaftliches  aed 
systematiftcbe«  Werk  ist  mitbin  niebt  zu  erwarten;  ein  solches  müssie  in  dieser 

and  jener  Beziehung  allerdings  vollständiger  seyn,  Manches  enthalten,  was  über- 
gangen werden  kannte ,  indem  es  für  den  praktischen  Zweck  entbehrlich,  auch 
wäre  eine  andere  Anordnung  erforderlich  geweseu.  Wir  achten  uns  überzeugt, 
dass  das  Zippe 'sehe  Bach  Landwirthen,  Forstmännern  und  Baulechnikero  na- 
mentlich solchen,  die  Böhmen  bewohnen,  erspriessliche  Dienste  leisten  werde. 


memotre  sur  les  ircmoieinems  ae  lerre  exe  ta  pmtnsute  uaitque  per  jg.  rtrrey. 
Prof essettr  u  Xu  feiculte  de  JHjon.  145  p.  tn  4.  Bntxelles ,  1849. 

Wir  hatten  schon  früher  Veranlassung  in  diesen  Blättern  die  Verdienste 
zu  rühmen,  welche  der  Verf.  sich  dadurch  erwirbt,  dass  er,  mit  unermüdli- 
chem Fleisse  und  aus  zuverlässigsten  Quellen  schöpfend,  die  Zeitgeschichte  der 
Boden  -  Erschütterungen  verfolgt.  Aus  dieser  —  der  K.  Akademie  von  Belgien 
im  Jahr  i$47  Yörgelcgten,  und  im  XXVI.  Bande  der  Mem.  couronnes  et  Mcm. 
des  Savanls  ürangers  enthaltenen  —  Abhandlung  ist  zu  ersehen,  dass  auf  der 
Italischen  Halbinsel  vom  vierten  Jahrhundert  christlicher  Zeit-Rechnung  bis  1813 
im  Ganzen  ein  Tausend  (unfundachtzig  Erdbeben  wahrgenommen  wurden,  und 
davon  traten  828  im  XVIII.  u.  XIX.  Jahrhundert  ein.  Wie  in  andern  Gegenden 
Europa'* ,  mit  denen  Perrey  sich  beschäftigte ,  ereigneten  sich  auch  in  Italien 
die  meisten  Katastrophen  während  des  Winters. 


Documenis  sur  les  tremblements  de  fem  ou  Mexujue  tl  dans  t Amerigue  ctniralr. 
Pur  A.  Perrey.  (Besonderer  Abdruck  ans  den  Annalcs  dt  Us  Socitfe  J" Kam- 
Uttum  des  Vosges.  Tome  VI.)  37  p.  in  8.  Epinal;  1848. 

Das  Verzeichnis«  der  Erschütterungen,  in  welchem  auch  andere  vulka- 
nische Phänomene  eine  Stelle  fanden,  mit  1519  beginnend,  geht  bis  zum  Jahre 
1847.  Di«  Zahl  der  Brdbeben  an  und  für  sich,  beträgt  siebenundsechzig.  Eil 
Vorwalten  derselben  während  der  Winter-  oder  Hcrbstzeis  bat  sieb  nicht  ergeben. 

frofic«  sur  les  caracieres  dt  XArcose  dans  les  Vosges.  Par  M.  Delesse.  Ingenieur 
des  Mines.  20  p.  in  8.  Genete,  chet  F.  Rambos;  1848. 

Der  Ausdruck  Arcose,  —  welcher,  im  Vorbeigeben  gesagt,  nicht  wenige 
Missdeutungen  und  Missgrifle  veranlasste  —  wurde,  wie  bekannt,  zuerst  von 
AI.  Brongniart  angewendet.  Mit  dem  Gestein«  wie  solches  in  den  Vogescn 
auftritt,  mit  seinen  mannigfaltigen  Verhältnissen  und  Beziehungen  beschäftigten 
sich  früher  und  später  Voltz,  Rozet,  Thirria,  Hogard,  Puton,  Elie 
de  Beaumont  u.  A.  Unser  Verf.,  dem  wir  hier  nicht  in  den  aufgezählten  ein- 
zelnen interessanten  Erscheinungen  folgen  können,  gelangle  zum  Resultat:  Ar- 
cose aey  ein  metamorphischer  Sandstein,  wesentlich  zusammengesetzt  aus  Quarz- 
Theilen  and  aas  Feldspatb-  (Orthoklas-)  Kry stallen. 


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Korso  Anzeigen 


939 


Das  Leuchten  des  Meeres  an  der  Küste  bei  Ostende  ton  Dr«  L.  V et  hag he,  Ober- 
Chirurg  am  städtischen  Hospital,  prakt.  ArU  zu  Ostende  u.  s.  so.  19  S. 
in  8.  Bonn;  1847. 

Enthält  manche,  keineswegs  uninteressante  Wahrnehmungen. 


Verseichniss  dei'  im  Rostocker  aeademiseken  Museum  befindlichen  Versteinerungen 
aus  dem  Sternberger  Gestein.  Von  Dr.  H.  Karsten.  42  S.  in  8.  Rostock, 
bei  Adler' s  Erben;  1849.  *       .  ..  •  m 

Die,  im  vorliegenden  „Rectorata-Programaa"  cur  Sprach«  gebrachten  Ter- 
tiär-Versteinerungen, bekannt  unter  dem  Namen  „Sternberger  Kuchen",  waren 
bereits  zu  einer  Zeit ,  als  man  die  tertiäre  Formation  in  Deutschland,  nur  sehr 
ungenügend  ontersucht  hatte,  Gegenstand  der  Aufmerksamkeit  unserer  ersten 
Geologen  gewesen.  Die  Sammlung  des  Museums  au  Rostock  wurde  in  den  leta- 
len Jahren,  in  dieser  Abtheilung  zumal,  ao  ansehnlich  bereichert,  daas  die  Vor-» 
öffentlichung  eines  Verzeichnisses  der  darin  enthaltenen  Arten  jener  fosailen  Koste 
nur  erwünscht  seyn  kann.  Die  Angaben  sind  folgende:  Zoo  p  h  y  ten  :  Lunu- 
Iites  radiata  Lam.  und  L.  Mamillntn  n.  ap. ;  Glauconorae  hezjgona ,  v.  Münst. 
—  Radiarien:  Echinus  pusillus,  v.  Münst. ;  Eehinoneus  ovetus,  v.  Munal.; 
Cidaris?  —  Forasninifercn:  ftodosaria  clegans,  intermittens  und  radicularis, 
v.  Münst.  und  Köm.;  Lingulina  ovata,  oblonge,  oblique,  ensiformis  und  co- 
neala,  desgl.;  Plenularia  arcuata,  intermedia  und  Gladius  Phil.,  PI.  incurva,  n, 
ap.;  Pol) morphina  regularis,  v.  Münst.,  P.  obacura  uud  cyUndroides  Hü  in.,  P. 
subdepressa,  v.  Munal.;  P.  communis,  d'Orb.;  P.  crasaatina,  v.  Münst.,  P, 
apicaeformis,  Röm. ,  P.  globosa,  v.  Münst.  und  P.  clavata,  Hüm.  Bulimina 
cylindriea.  Röm.  Rotalia aubtorluosa  und  comica,  Horn.  Planulina  osnabrugenaia, 
v.  Maust.,  Robulina  aubnodosa,  v.  Münst.  friste!  laria  osnabrugeoaia,  v. 
Münst.  Cr.  elegans,  n.  ap.,  Cr.  subcoatata,  v.  Munsl.  und  Cr.  ovalis  n.  .ap« 
IVonionina  glabra  und  coslata ,  Röm.  Triloculina  oblonge,  d'Orb.,  Tr.  ©rbicu- 
laria,  Rom.,  Tr.  carinata  und  anguata,  Phil.  Quiequelocoüoe  secans  u.  Q.  ovata, 
Röm.  —  Ptoropodon:  Creaeia  vaginella,  Rang,  und  Cr.  Daudinii?  -r-  Ga- 
steropoden:  Denlnlium  clephantinum ,  deutalis,  entalis  und  atrioium,  L.,  P. 
multistrialum,  aubslriatum  und  strungulatum,  D es  h. ;  Pateila  semistriata,  v.  M  ü  nat., 
P.  compresaiuscula  n.  ap.?  Colyptraen  vulgaris ,  Phil.  Bullaen  punctata,  Phil, 
und  sinoata,  n  ap.  Bulla  ügnaria,  L.,  B.  striata,  Brug,,  utriculus  und  ovulata, 
Broc,  B.  lineaia  und  relusa  Phil,  cylindriea  nnd  truncatula,  Brug.,  B.  con- 
voluta,  Broc.  Bullina  lajonkairiana,  Bast.,  apricina,  Phil.  Kissoa  ovulum,  gra- 
nulum,  sculpta,  unidentata,  interrupta,  simplez  und  elongata,  Phil.,  R.  punctata, 
n.  ap.,  inlerstincta,  Mont.?  Eulima  subulata,  Risso;  nitida,  Lam.,  Scillae, 
Scnccbi,  affinis/quadristriata,  leunisii  undacicula,  Phil.,  Niso  terebellata,  Bronn; 
Chemnilzia  elegantissima ,  tcrebellum,  Kochii,  elongata  und  pallida,  Phil.,  Ch. 
laevia,  n.  sp,  Natica  glaucinoides  und  hemiclaosa,  Sow.,  Sordida,  Swatns.  Si- 
garatua  canaliculatus,  Sow.,  Tornatella  tornatilia,  L.  und  elongata,  Sow.,  Ver- 
nichs intortus,  Lam.  Sealaria  rudis,  Phil.  Delpbinula  carinata,  Ph  il.  und  aol- 
cata,  n.  sp.,  Trochus  criapua,  König,  und  acrutarius,  Phil.  Turnte  II»  commu- 
nis, Phil.  Pieurotoma  sobdentata,  doraata,  flexooaa,  cingillala,  belgico,  subcana- 
ciculata  und  subdenticulala,  v.  Münst.,  Tl.  selyaü  und  regularis,  de  Kon;  PL 

59* 


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030  Karze  Anzeigen. 

Waterkey nii,  Nyst.,  PI.  acabra,  Volgeri,  obeta,  Hausmanni  und  Vauguelini, 
Canccllaria  evulsa  und  berolinensis,  Beyr.,  elongata  Nyst,?  und  elegant,  n.fp. 
Fuscus  Deshayetii,  de  Kon.,  mullitulcatus,  Nyst.,  elatior,  Beyr.,  alveolatui, 
Sow.  und  luneburgenaii,  Phil.  Fasciolaria  fusiformis,  Phil.  Pyrula  elegans, 
clathrala  und  reticulata,  Larn.  Murex  (Typhi«)  tubifer  und  horridus,  Bronn, 
M.  vaginatns,  Phil,  und  pentagonua,  n.  tp.  Tritonium  corrugatum,  Larn.  and 
tortuosum,  Phil.  Chenopus  pea  carbonis.  Caasidaria  depresta,  L  t.  Bach.  Cts- 
•is  megapolitana,  Beyr.  und  liaeata,  n.  ep.,  Buccinum  semiatriatum,  costulauun 
nnd  asperulum,  Brocc,  B.  reticulatum  L.  Terebra  faacata  Brocc,  striata 
und  pusilla,  n.  tp.  Mitra  scrobiculata,  De  fr.,  colnmbellaria,  Scac.  und  hdstata, 
n.  ap.  Ringicula  striata,  Phil.  Ancillaria  aubulala,  Larn.  Conus  deperditos,  Brug., 
antediluvianus,  Deah.  —  Acephalen  :ISolenensit,  L.  nnd  compretaut,  Gold  f. 
Panopaea  intermedia,  Sow.  Mactra  solida,  L.  und  triangula,  Gold  f.  CorbuJa 
cofpidata,  Bronn,  nncleoa  und  rugosa,  Larn.,  rotundata,  Sow.  Teilina  rostra- 
tina,  Deab.  und  elliptica,  Brocc.  Lncina  uncinata,  Deah.  and  morum  Lara. 
Aaiarte  pygmea  und  laevigata,  v.l  Münat.,  A.  conceutrica,  Gold  f.  Cyrena 
trigona,  Deah.,  Cythere«  erycina  und  laevigata,  Larn.,  coneaU  nnd  aulcataria, 
Deah.  Venus  umbonaria  ,  Agasa.  Cardinrn  turgidurn  und  cingulalttin,  Goldf. 
•triatolun,  Brocc,  papiUosom,  Goldf.,  pulchelluro,  Phil.  Cardita  ecalaris, 
Goldf.  Area  diluvii  nnd  barbatula,  Lim.,  didyma,  Brocc.  Pectonculus  pul v ina- 
tut, Larn.  und  minutnt,  Phil.  Nucula  glaberrima  und  pygmaea,  Munal.,  striata 
und  margaritacea,  Lam.,  fragilia,  Deah.,  laevigata,  Sow. ,  comt  Goldf.  und 
mionta,  Brocc.',  Mytilua  aericeut,  Goldf.  Pecten  cancellaius,  Goldf.,  biAdot 
und  aemittriatut,  v.  Müntt.,  plebejus,  Lam.  —  Cirripeden:  Baianus  aulcatut, 
Lam.  nnd  atellarit,  Bronn.  —  Craataceen:  Cytberma  acrobiculata,  Müllen  n. 
anguttata,  ▼.  Manat.,  1.  ninearia,  Horn.  —  Fische.  Zahne  von:  Notidanus 
primigenina,  Corax  priatiodontoa  und  appendiculatut,  Oiyibina  hattalit,  Lamna 
elegant,  craaaidena,  Hopei,  acuüatima  und  contortidena ,  Ag.  und  Corax  affinia 
MOnat 

Der  Verf.  behalt  aich  im  Einreinen  spatere  Berichtigungen  und  Ergän- 
aungen  vor,  da  ihm,  wie  er  aelbst  getteht,  nicht  alle  literarischen  Hülfamittel 
n  Gebote  standen ,  deren  Vergleichang  wünachenswerth  gewesen  wire.  Die 
„Sternberger  Kuchen,"  deren  Vorkommen  jetat  sehr  selten  geworden,  finden 
aich  mit  mancherlei,  andere  Petrefactcn  enthaltenden,  Geachieben  untermengt, 


Veber  die  Fortschritte  der  Geognotie  im  Gebiete  der  Sedimentär -Formationen  seit 
Werner' s  Tode.  Vortrag,  gehalten  am  Wernerfeste  zu  Freiberg  den  25.  Sep- 
. iember  1850  von  C.  Fr.  Naumann ,  Professor  an  der  Universität  Leip- 
zig. 30  S.  in  8.  Freiberg,  bei  Cra*  und  Gerlach.  1851. 

Wer  atimmt  nicht  dem  würdigen  Verf.  bei,  wenn  er  tagt:  jüngere  Ge- 
schlechter  hatten  dankbar  der  Verdienste  ihrer  Altvordern  zu  gedenken,  und  hier 
gilt  ea  einem  Manne,  dessen  Leben  und  Wirken  twar  der  Vergangenheit  ange- 
hört, aber  noch  bis  in  die  Jetztzeit  teinen  aegenreieben  Einfluaa  bewährt.  Mit 
lebhaftem  Interesse,  keineswegs  ohne  mannigfaltigste  Belehrung  werden  Fach- 


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miliner  Herrn  Naumann  auf  der  „flüchtigen"  Wanderung  durch  die  Reibe  der 
Sediment-Formationen  folgen.  „Die  Geologie  det  Jahres  1850  ist  eine  ganz  an- 
dere, weit  reichere  Wissenschaft,  als  jene  erste,  Ton  Werner  und  seinen  Zeit- 
Genossen  gegründet.  Der  von  ihnen  gepflanzte  Baum  ist  herangewachsen,  treibt 
aeine  Wurzeln  immer  liefer  in  den  festen  Boden  der  Erfahrung.  Aber  fem  sey 
es  von  uns,  über  dem  Anstaunen  des  stattlichen  Baumes  der  Gegenwart,  Aber 
der  Freude  an  seinen  Fruchten,  die  Ninner  zu  vergessen ,  welche  ihn  einst  ge- 
pflanzt und  gepflegt.* 

Wir  bedauern,  dass  des  Leipziger  Geologen  Rede  sich  nicht  zu  einem  Aus* 
zuge  eignet.  Die  kleine  Schrift  darf  in  keiner  Büchersammlung  eines  Fachman- 
nes fehlen.  v.  Leonhard. 


Bibliolheca  Scriptorum  Graecorum  et  Romanorum  Teubntriana. 

Es  ist  über  diese  Sammlung  neuer  Ausgaben  Griechischer  wie  Lateini- 
scher Classiker  bereits  in  diesen  Jahrbüchern  2.  Heft  p.  291  ff.  Bericht  erstattet, 
dort  auch  der  Standpunkt  und  die  Tendenz  des  ganzen  Unternehmens  bezeich- 
net, und  das,  was  in  dieser  Sammlung  damals  erschienen  war,  im  Einzelnen  an- 
gegeben worden.  Inzwischen  hat  das  Unternehmen,  wie  wir  von  manchen  Or- 
ten her  vernommen  haben,  den  Eingang  in  manche  unserer  Bildungsanstalten 
gefunden,  und  da  es  sich  hier  bereits  bewährt  bat,  so  dürfen  wir  auch  sicher 
erwarten,  dass  eine  immer  weitere  Verbreitung,  wie  wir  sie  von  Herzen  und  im 
Interesse  der  Schule  wünschen,  nicht  ausbleiben  werde.  Ebenso  haben  aber  auch 
die  Herausgeber  wie  der  Verleger  ihrerseits  Alles  gethan,  was  au  rascher  Fort- 
führung und  Vollendung  der  angefangenen  Theile  des  grossen  Ganzen  notbig 
war,  ohne  hiebey  in  Irgend  Etwas  den  Forderungen  zu  vergeben,  welche  an 
einen  Jeden  von  ihnen  hinsichtlich  der  Behandlung  des  Textes  nach  den  im 
Allgemeinen  aufgestellten  Grundsätzen,  in  der  Vorlage  eines  durchaus  correc- 
ten  Textes  gestellt  sind.  Die  typographische  Auaführung,  lässt  in  der  Tbat 
kaum  Etwas  an  wünschen  übrig,  und  erleichtert  bei  dam  so  beispiellos  niedrig 
gestellten  Preise  die  Anschaffung  zumal  da,  wo  man  auch,  wie  billig,  auf  einen  die 
Angcn  nicht  angreifenden  Druck,  auf  gutes  Papier  und  deutliche  Lettern,  eini- 
gen Werth  legt.  Wir  haben  jetzt  hier  nur  die  weiteren  Fortsetzungen  der  schon 
früher  am  a.  0.  besprochenen  Bände  anzuzeigen  und  beziehen  uns,  da  diese  Fort- 
setzungen ganz  in  derselben  Weise,  wie  die  früher  angezeigten,  bearbeitet  sind, 
und  auch  in  ihrer  äussern  Form  ihnen  völlig  gleich  stehen,  auf  das  dort  im  All- 
gemeinen Bemerkte.    Von  Griechischen  Autoren  sind  erschienen: 

1.  Demosthenis  orationes  cx  recensione  Guilielmi  D  indorfii..  Vol.  HL  Ora- 

tiones  XLl — LX1.  Prooemut.  Epistolae.  Editxo  secunda  corrtetior.  Lipsiae 
sumplibus  et  typis  B.  G.  Teubneri.  MDCCCLl.  445  S.  8. 

2.  Tkucydidis  de  belle  Peloponnesiaco  libii  octo.  Rccoynovil  G  o  dof r  edus  Böhm*, 

Vol.  IL  Lib.  V—VUL  Lipsiae  etc.  IV  u.  301  S.  8. 
3»  Plaionxs  dialogi  secundum  Thrasylii  teiralogias  dispositi.  Ex  recognUione  Ca~ 

roli  Frideriei  Hermanni.  Lipsiae  etc.  Fol.  /.  XXXU  und  503  S. 

Vol.  IL  XXVI  und  382  S.  8. 
4.  Arriani  de  txptditumt  Alexandrien  Septem.  Recoynotii  Robertus  Gtitr. 

Lipsiae  etc.  VlU.  und  328  S.  8. 


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Die  Ausgaben  des  Dcmogthenes  und  Thucydides  sind  mit  diesen 
beiden  Bauden  vollendet;  beiden  Autoren  ist  ein  sorgfältiger  Index  rerum,  über 
die  in  diesen  Schriftstellern  vorkommenden  Sachen  und  Personen  beigefugt,  und 
damit  auch  für  diejenigen  gesorgt,  welche  diese  Ausgaben  zum  Nachschlagen 
bei  ihren  gelehrten  Studien  oder  bei  ihrer  Privallektüre  gebrauchen  wollen,  woto 
allerdings  diese  Ausgaben  sich  sehr  gut  eignen.  Die  Stellen ,  in  weichen  der 
Herausgeber  des  Tbueydides  sich  Etwas  Besonderes  bei  d«*r  Gestaltung  des 
Textes  glaubte  erlauben  zu  können,  sind  auf  dem  vorgesetzten  Blatte  der  Vor- 
rede angegeben;  hier  bat  derselbe  auch  seine  Ansicht  über  den  Werth  der  Va- 
ticanischen  Handschrift  hinsichtlich  der  beiden  leisten  Bücher  ausgesprochen  und 
zwar  zu  Gunsten  dieser  Handschrift,  der  er  einen  hohen  Werth  beilegt  und  der 
er  daher  auch  insbesondere  bei  der  Gestaltung  des  Textes  dieser  Bücher  ge- 
folgt ist. 

Was  Plato  betrifft,  so  haben  wir  bereits  in  der  früheren  Anzeige  S.  297 
bey  dem  Erscheinen  des  ersten  Heftes  oder  der  ersten  Abtbeilung  des  er- 
sten Volumen,  worin  die  auch  früher  meist  miteinander  verbundenen  Stucke 
Eutbyphre,  Apologie  Socratis,  Crito  und  Phaedo  enthalten  waren,  auf  den  Cha- 
rakter dieser  neuen  Ausgabe  und  der  darin  zu  erwartenden  genauen  Revision 
de*  Textes  im  Allgemeinen  hingewiesen,  Ea  liegen  nnn  anch  die  beiden  andern 
Abthemsngon  des  ersten  Volumen  vor.  welche,  nnd  zwar  mit  fortlaufender  Sei- 
tensahl, jedoch  auch  so,  dass  jede  der  beiden  Abtheilungen  anch  besonders  ab- 
gegeben werden  kann,  wie  es  der  Bedarf  der  Schale  oder  akademischer  Vor- 
lesungen erheischt,  den  Cratylus  und  Theaetet,  dann  den  Sophisten  und  Politiens 
enthalten;  dann  das  zweite  Volumen,  welches  ganz  der  früheren  Ankündigung 
gemäss  ebenfalls  in  drei  Abtheilungen  die  folgenden  Stücke  enthalt:  IV.  Far- 
menides,  Philebus;  Vi  Symposium ,  Phädros;  VI.  Alethmdes  I.  und  II.,  Hippsr- 
ohuf,  Ernsten,  Theages;  indem,  was  die  Reihenfolge  der  einzelnen  Platonischen 
Schriften  betrifft,  die  latralogische  Ordnung  des  Thrasyllns,  der  auch  Stephanna 
folgte  in  seiner  Ausgabe  (deren  Seitenzahl  am  Rande  beigefügt  ist),  zur  Norm 
genommen  ist,  was  man,  namentlich  im  Hinblick  auf  andere  Anordnungen,  was 
sie  In  def  neuesten  Zeit  In  Vorschlag  gebracht  worden  sind,  schon  um  des  prak- 
tischen  Bedürfnisses  willen,  billigen  wird.  Einem  jeden  Volumen  geht  eine  Prä- 
ratio  voraus,  in  welcher  der  Heranageber  mit  eben  ao  grosser  Genauigkeit  wie 
Gewissenhaftigkeit  diejenigen  Stellen  besprochen  hat,  in  welchen  er  bey  der 
Gestaltung  des  Textes  von  seinen  nächsten  Vorgängern  (seit  Bekker)  abweichen 

Vit    miitann    — |a_l. |_        I?_    L»nn    Uiar      tarn  ninnn    1,1/-.  -Dan   |)„r,r|,i    j.L..    A»m  -  

zvu  iiiuBst-ii  giauuit?.    ß3  liaiin  uitr,  yvu  wir  tiiitn  i>iu>mii  uiTimi  uoer  uas  neue 

Unternehmen  zu  geben  haben,  dem  Niemand,  der  es  näher  geprüft,  seine  An- 
erkennung versagen  wird ,  nicht  der  Ort  seyn,  in  das  Einzelne  dieser  kritischen 
Rechenschaftsablage,  wofür  man  dem  Herausgeber  höchst  dankbar  seyn  muss, 
einzugehen  und  ao  zu  sagen,  eine  Kritik  der  Kritik  zu  geben;  wohl  aber  wird  der 
gairae  Standpunkt  des  Herausgebers  bey  dieser  Revision  des  Textes  etwas  näher 
anzugeben  seyn.  Bey  dem  bisherigen  Schwanken  in  der  kritischen  Behandlung 
Oes  icx»"3  unq  Qcni  luniuiiTrn  ifinii^ci  eines  lesicB-f  ui™  manwcntiouiig  in  strciii" 
gen  Fällen  bietenden  Principa  war  des  Bemühen  des  Herausgebers  vor  Allem 
dabin  gerichtet,  eine  feste  Basis  zu  gewinnen  nnd  auf  dieser  dann  mit  grösserer 

oicnernci»  seine  nevisiun  zu  ncgiunen.     i7ii.Bc  iesic  nnsia  nuiimu  nur  uuren  a«t 

Zurückgehen  auf  die  erweislich  älteste,  schriftliche  Überlieferung  des  Platoni- 


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Korso  Anzeigen. 


»eben  Textes  gewonnen  werden,  ganz  in  der  Webe,  wie  man  dai  ja  anch  bey 
anderen  Autoren,  Lateinischen  wie  Griechischen  (man  denke  an  Demorthe- 
nes,  wie  an  Uvina  und  Tacitus,  um  nur  diese  au  nennen),  diess  mit  gutem  Grunde 
ui  thun  unternommen  hat.  AU  diese  Grundlage  erscheint  nun  für  den  grossem 
Theil  der  Platonischen  Schriften  —  die  sechs  ersten  Tetralogien  des  Thrasyllu* 
(für  die  übrigen  grösseren  Schriften :  die  Politeie,  den  Tiraaus  und  die  Gesetze, 
leistet  die  Pariser  Handschrift  das  Gleiche)  die  im  Jahre  896  geschriebene  Gar- 
ke'sche  oder  Bodlejaniscbe  Handschrift,  deren  hoben  Werth  noch  die  Züricher 
Herausgeber  anerkannt  haben;  jedoch  mit  Ausscheidung  der  von  einer  z weiten 
jüngern  Hand  angebrachten  Correcturen,  die  selbst  da,  wo  sie  mit  andern  Les- 
arten in  Uebereinstimmung  sich  fanden,  nur  mit  grosser  Vorsicht  bebandelt  wur- 
den; „  prima  ro  vero  ejusdem  manum  (wir  lassen  hier  lieber  den  Herausgeber  selbst 
reden)  ila  pro  fundamento  habui,  ut  quidqoid  ejus  scribi  a  Piatone  potuisse  vi- 
deretur,  etiam  in  pari  aliarum  lectionum  honitate  unice  tnerer,  quas  autem  emeo- 
dationes  flagitaret,  non  vulgatae  magis  auetoritate  eeteroramve  codieam  »uffra- 
giis  quam  eo  judicio  regerem,  ut  quaeque  proxime  ad  illios  vesiigia  accederet: 
poatremo  si  quid  in  aliia  exstaret,  quo  Bodl.  careret,  oplione  data  Semper  pro- 
nior  ad  illorum  interpolationem  quam  ad  hujus  mutilationem  statuendam  essem  (p,  v).w 
Die  consequente  Durchführung  dieser  Grundsalze,  die  allgemeine  Anwen- 
dung eines  festen,  mit  aller  Bestimmtheit  hingestellten  Principe  in  allen  einzelnen 
Fällen,  und  die  hiedurch  bedingte  Aufnahme  oder  Verwerfung  eiser  Leaart  ist 
es  daher,  was  insbesondere  das  Charakteristische  dieser  neuen  Textesrevision 
aasmacht,  welche  insofern  allerdings  auch  von  der  zuletzt  (in  Zürich)  erschie- 
nenen Ausgabe  des  Plato  sich  unterscheidet,  als  in  dieser  xwar  jene  Hand- 
schrift alle  Bedeutung,  die  sie  verdient,  gefunden  und  als  eines  der  Hauptmit- 
tel der  Wiederherstellung  des  Textes  in  fehlerheften  oder  verdorbenen  Stellen 
anerkannt,  aber  nicht  als  Grundlage-  des  Textes  selbst  betrachtet  worden,  mit*« 
bin  auch  da,  wo  die  Vulgata  genügend  und  gut  erschien,  nicht  an  der  ausschliess- 
lichen Geltung  und  Berücksichtigung  gelangt  ist,  welche  sie  anzusprechen  hat, 
wenn  sie  als  die  älteste,  der  Urschrift  am  nächsten  kommende  schriftliche  Ue- 
berlieferung  des  Platonischen  Textes  anerkannt  ist.  Bey  diesem  Festhalten  na 
dem  Ältesten  Document  des  Textes  und  bey  der  strengen  Conseqoena  dea  kriti- 
tiseben  Verfahrens  in  Bezug  auf  dieselbe  kam  dann  aber  auch  dem  Herausgeber 
wohl  eine  grössere  Freiheit  an  denjenigen  Orten  au ,  wo  ein  offenbares  Ver- 
derbnis« der  Handschrift  und  damit  auch  die  Notwendigkeit  einer  Heilung  eines 
Textes  vorlag,  der  für  Schulen  oder  akademische  Vorlesungen  zunächst  bestimmt, 
den  Charakter  möglichster  Correctheit  erhalten  muss.  Und  wenn  diese  IS'oth- 
wendigkeit  bis  zur  Aufnahme  von  solchen  Lesarten  führte,  die  nicht  anf  hand- 
schriftlicher Grundlage  beruhen,  sondern  als  glückliche  Verbesserung  offenbarer 
Verderbnisse  oder  Unrichtigkeiten  gelten  können,  so  glauben  wir  nicht,  dass  dea 
mit  Plato's  Denk-  und  Sprechweise  so  vertrauten  Verfasser  ein  Tadel  treffen 
kann,  den  schon  die  grosse  Vorsicht  und  Umsicht,  mit  der  er  in  allen  solchen 
Fällen  unabweislicher  Aeoderung  verfuhr,  entfernen  muss.  Pa  jede  solche  Aen- 
derung  gewissenhaft  angemerkt,  und  so  weit  es  in  der  Kürze,  bey  dem  sehr 
beschränkten  Baume  möglich  war,  auch  begründet  ist,  so  wird  Jeder  mit  leich- 
ter Mühe,  wenn  er  in  die  jedem  Bande  vorgesetzte  Fraefalio  einen  Blick  wirft, 
davon  sich  überzeugen  können. 


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Karze  Anzeigen. 


Bey  der  Ausgabe  des  Arrianus  hielt  sich  der  Herausgeber  Im  Ganzen 

an  den  von  Smtenii  in  feiner  Ausgabe  von  1849  gelieferten  Text,  der  unter 
den  bisher  bekannt  gewordenen  allerdings  als  der  der  urkundlichen  Ueberlie- 
fernng  am  nächsten  stehende  zu  betrachten  war ;  da,  wo  er  von  demselben  ab- 
gehen zu  müssen  glaubte,  sey  es  in  Zurückführung  der  handschriftlichen  Leaart 
oder  in  Aufnahme  einer  für  nothwendig  erachteten  Verbesserung,  bat  er  es  nicht 
ohne  sorgfältige  Prüfung  gethan,  auch  die  betreffenden  Stellen  in  der  Vorrede 
angegeben,  in  welcher  er  im  Allgemeinen  über  das  von  ihm  befolgte  Verfah- 
ren in  folgender  Weise  sich  ausgesprochen  hat:  In  Universum  eam  in  hac  edi- 
tione  tenuimus  rationem,  ot  contra  codicum  fidem  nihil  novandum  polaremos, 
nisi  si  extrema  necessitas ;  nbi  tarnen  codicum  scriptura  vel  aperte  corrupta  vel 
a  certissimo  Arriaoi  loquendi  usu  prorsns  aliena  esse  videretor,  probabilem  emen- 
dationem  malae  ac  viciosae  fectioni  praeferre  et  in  textnm  rocipere  non  dubita- 
remua,  nncos  autem,  quibus  recentissimam  potissimum  Kriigeri  editionem  ahnn- 
dare  videmus,  quoniam  bis  non  tarn  lironum  quam  criti**ornm  commodis  consul- 
tum  existimabamus,  locis  tantum  mnxime  dubiis  adhihcremus,  in  lectionum  de- 
niqiic  discrepantia,  praesertim  quod  ad  verborum  spectat  ordinem,  optimo  Pa- 
risiuo  codici  c  litera  insignito  plnrimum  tribueremus  auctoritatis,  ita  tarnen,  ut 
si  reliqui  librt  meliora  eflcrre  vidcrentur,  non  raeca  illius  superstitione  horurn 
acriptoram  contemneremu*.  Diesen  Grundsätzen  ist  der  Herausgeber  durchweg 
treu  geblieben,  und  es  ist  eben  dadurch  gelungen,  in  dieser  Ausgabe  einen  sol- 
chen correcten  Text  zu  geben,  wie  er  den  Zwecken  des  Ganzen  entspricht.  In 
der  Interpunction  hat  er,  mit  wenigen  Ausnahmen,  sich  gleichfalls  an  den  oben 
erwähnten  Vorgänger  gehalten;  überdem  Ist  dem  Texte  ein  genaues  Namen- 
und  Sachregister  beigefügt,  ähnlich  denen,  die  wir  oben  bey  Demosthenes  und 
Thucydides  erwähnt  haben ;  hey  den  Orts-,  Gebirgs-  und  Ffnssnamen  sind  auch 
die  neuem  Benennungen  in  Klammern  beigesetzt;  das  Ganze  mit  möglichster 
Raumersparniss  und  mit  kleinen,  aber  sehr  netten  und  deutlichen  Lettern  gedreckt 

Von  Lateinischen  Schriftstellern  sind  folgende  Ausgaben  anzufahren: 
f.  Tifi  Lies  ab  urbe  condifa  tibri.  Recognotit  With.  Weissenborn.  Part  IF. 

Liber  XXXI— XXXV III.  Lipsiae  etc.  MDCCCLI.  XXIV  und  375  S.  ParsV. 

Liber  XXXIX-XLV.  Efitom.  Üb.  XLVI-CXL.  Lipsiae  etc.  XXIVn.319  S.8. 

2.  C.  Cornelii  Taciti  Opera  quae  supersunl.  Ex  recognitione  Caroti  Hat- 

mii.  Tornus  posterior^  historias  et  Itbros  tninores  continens.  Lipsiae  ttc> 
MDCCCLI.  XVIII  und  320  S.  in  8. 

3.  M.  Tullii  Ciceronis  scripta  qme  mansentnl  omnia.  Recognovit  Reinkol- 

dus  Klott.  Parlis  1.  Vol.  II.  continens  libros  de  oratore  qvattuor ,  B  rü- 
hmt, Oraloreins  Topica,  de  partttione  oratoria  dialogum,  de  optimo  geners 
oratorwn  Prooemium.  Lipsiae  etc.  MDCCL1.  XVI  «?.  398  8.  in  8. 

4.  T.  Macci  Piauli  comoeduie.  Ex  recognitione  Alf  redt  Fleckeiseni.  To* 

TnUS    MM .    SlSlTfUllUut      tiUl  CnMCS    IsVl  CVilQffzTll     l  5Cl/CIOIM7f»     OflCHHT7l  CUTtUrlCnJ* 

Lipsiae  etc.  272  S.  in  8. 

5.  D.  Junii  Juvenalis  Libri  V.  Recensuit  Adolphus  II aeck  ermann.  Lip- 

siae etc.  XXV  und  105  S.  in  8. 

6.  M  Vellei  Pater culi  ex  historiae  Romanae  ad  M.  Vmicium  cos.  libris  d*h 

bus  auae  vuversunt     Recensuit  et  verum  in  die  cm  locuvlelissimum  adxxii 
Fridericus  üaase,  Pro/.  Vratislav.  Lipsiae  elc.  Vi  «.  124  8.  in  8. 


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I 

Korea  Anzeigen. 


935 


Was  zuerst  Li  v  ins  betrifft,  dessen  Ausgabe  mit  diesen  beiden  Theilen 

geschlossen  ist,  so  können  wir  uns  füglich  auf  das  in  der  früheren  Anzeige  S. 
301  ff.  Ober  die  drei  ersten  Theile  Bemerkte  beziehen ,  indem  der  Herausgeber 
diese  beyden,  den  Schtuss  des  Ganzen  bringenden  Theile  ganz  gleichmässig  be- 
handelt und  in  der  dem  Texte  jedes  Theils  vorausgestellten  Praefatio  mit  glei- 
cher Sorgfalt  alle  die  Stellen  aufgeführt  und,  soweit  es  die  Kürze  des  Raumes 
erlaubte,  auch  näher  besprochen  hat,  in  welchen  er  glaubte  von  der  bisheri- 
gen Lesart  abgehen  zu  müssen.  Bey  diesem  Streben,  den  Text  auf  seine  ur- 
knnd'iche  Gestalt,  nach  Massgabe  der  ältesten  Documente ,  die  wir  noch  von 
den  einzelnen  Theilen  des  umfangreichen  Werkes  besitzen,  zurückzuführen,  ward 
inzwischen  auch  Alles  das  berücksichtigt,  was  von  andern  Gelehrten  xur  Bes- 
serung des  Textes  in  den  letzten  Jahren  vorgebracht  worden  War,  von  Al- 
em  dem  aber  ein  umsichtiger  Gebrauch  gemacht,  und  auf  die  Redeweise 
nnd  den  Sprachgebrauch  des  Schriftstellers  stets  die  gehörige  Rücksicht  genom- 
men. Und  auf  diesem  Wege  ist  es  dem  Herausgeber  gelungen,  einen  Text  des 
Livins  vorzulegen,  der  für  den  Schulgebrauch  wie  für  die  Privatstudien  be- 
sonders geeignet,  empfohlen  werden  kann.  Am  Schlüsse  des  Livianischen 
Textes,  so  weil  wir  ihn  besitzen,  sind  noch  die  Ep  itomae  sammtlicher  Bücher 
mit  kleinerer  Schrift  gedruckt,  beigefügt. 

Die  Ausgabe  des  Tacitus  erscheint  mit  diesem  zweiten  Bande,  wel- 
cher die  Historien,  die  Germania  und  den  Agricola ,  sowie  den  (für  uns  we- 
nigstens immer  mehr  zweifelhaft  gewordenen)  Dialopus  du  oratoribua  sammt  ei- 
nem mit  kleinerer  Schrift  gedruckten  Index  historicus  über  sämmtlichc  Schriften 
des  Tacitus  enthalt,  geschlossen.  Wir  haben  schon  in  der  früheren  Anzeige  den 
Charakter  dieser  neuen  Textrevision  von  Seiten  eines  mit  Tacitus  so  vertrauten 
Gelehrten  angegeben  und  haben  diesen  auch  in  diesem  zweiten  Theile  bewährt 
gefunden.  Die  kritischen  Bemerkungen,  welche  diesem  Bande  über  einzelne 
Stellen  der  darin  enthaltenen  Schriften  vorangestellt  sind ,  geben  hinreichendes 
Zeugniss,  wie  der  Herausgeber  bey  seinem  kritischen  Verfahren  auch  Alles  das 
beachtet  hat,  was  irgend  wie  von  andern  Gelehrten  für  die  Berichtigung  ein- 
zelner Stellen  des  Textes  hier  und  dort  bemerkt  worden  ist. 

Vol.  II.  des  Cicero  enthält  den  Rest  der  rhetorischen  Schriften,  bey 
welchen,  wie  bey  den  im  ersten  Vol.  enthalteneu ,  die  «weite  Ausgabe  der 
Opera  Ciccronis  von  Orclli  und  Baiter  die  Grundlage  abgeben  musste.  Das»  aber 
mit  dieser  Grundlage,  wie  wir  sie  den  dankenswerten  Bemühungen  beider  Män- 
ner allerdings  verdanken,  die  Tcxteskrilik  dieser  Schriften  keineswegs  abge- 
schlossen ist,  weiss  Jeder,  der  mit  diesen  Schriften  nur  einigermassen  sich  be- 
schäftigt hat;  im  Gegcntheil,  bey  der  bekannten  Beschaffenheit  der  Quellen,  wel-» 
che  eben  diese  Grundlage  bilden,  und  der  keineswegs  genügenden  handschrift- 
lichen Ueberliefcrung,  bleibt  einem  Herausgeber,  der  nicht  blos  die  Aufgabe  bat, 
den  Test  in  einer  diesen  Quellen  adäquaten  Form ,  als  Grundlage  weiterer  For- 
schung, sondern  in  einer  möglichst  correcten  und  lesbaren  Gestalt,  auf  diese 
Grundlage  hin  zu  liefern,  noch  gar  Manches  zu  thun  übrig,  da  die  Zahl  der  ver- 
dorbenen, einer  Heilung  oder  Besserung  bedürftigen  Stellen  auch  so  noch  nicht 
gering  ist.  Dieser  Aufgabe  nun  hat  sieh  der  Herausgeber  in  einer  Weise  un- 
terzogen, die  uns  aufs  ^eue  gezeigt  hat,  dass  er  zur  Lösung  einer  solchen  Auf- 
gabe auch  gewiss  berufen  war.    Wenn  die  conservative  Richtung  im  Allge- 


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93* 


Korso  Anzeigen. 


meinen  gewiss  den  vorherrschenden  Charakter  feiner  Kritik  bilde»,  00  ist 
mit  die  bey  offenbaren  Verderbnissen  notwendige  Verbesserung  nicht 
wiesen;  diese  aber  schliesst  sieb  «rann  möglichst  au  die  urkundliche  lieber  lie- 
fe rung  an,  unter  sorgfältiger  Beachtung  des  Cicerooiscben  Sprachgebrauch«, 
man  es  von  einem  solchen  Kenner  Ciceronischer  Rede  nicht  anders 
konnte.  Gleiche  Beachtung  ist  aber  auch  Allem  dem  an  Theil 
Andere  in  neuer  und  neuester  Zeit  für  die  Bessergestalteng  des  Textes  vorge- 
bracht hatten.  In  Bezug  auf  alle  derartige 
leitete  ihn  im  Allgemeinen  bey  der  von  ihm 
satz:  „Ut  quae  optimoruai 
certe  a  libroruro  testimoniis  non  Velde  discrepare,  si  senieoliae  loci  et 
Ciceroniano  convenirent,  reeiperem,  in  cetcris  autem  locis,  in  quibos 
gravior  olim  corroplela  versata  esse  videretor,  libroruro  potios  vestigia  premerem 
octorum  coniecttiras  vel  nrobabiliorei  consectarer  "  Belege  dieses  Ver- 
im  Einseinen  wird  man  in  der  Vorrede  niedergelegt  finden,  in 
namentlich  eine  Anzahl  solcher  Stelleo,  in  welchen  die  Kritik  des 
auf  andere,  von  seinen  Vorgängern  abweichende  Wege  geführt  ward, 
besprochen  und  die  vorgenommene  Verbesserung  begründet  wird. 

Ueber  die  neue  Recension  des  Plan  tos,  von  welcher  der  »weite 
in  mäßigem  Umfang  vorliegt,  ist  schon  in  der  früheren  Anzeige  das  Nü thige 
merkt  worden,  worauf  wir  uns  hier  um  so  eher  beziehen,  als  die 
handlong  der  in  diesem  Bande  enthaltenen  Stücke  durchaus  gleichförmig 
gefallen  ist   Am  Schlüsse  eines  jeden  Stückes  ist  ein 
Metra  mit  Angabe  der  betreffenden  Verse 
finden  wird. 

luve  na  Iis,  dessen  Satiren,  wenn  auch  vielleicht 

MJ/>/tVi  *  J  r  ]  I  auf  I  nivAfoif-i»«Mi  rf*lrt->nr\  t«  n  A  AfLlfirt  urap^An 
uotn  jcupniaiia  hui  univcrsiiaieii  gcitrsvn  unu  crHittri  wcriicn 

hier  in  der  Ausg.be  eine«  Gelehrtes,  der  die  Beweise  «einer 
die.  dieses  dem  Verelende«,  .o  menohe  ! 

reit«  mehrfach  vorgelegt  und  allerdings  bewiesen  hat,  wiejbekannt  und 
mit  diesem  Dichter  überhaupt  geworden  ist, 


der  Sprache,  auch  der  Kritiker  wohl  zu  berücksichügen  hat.  Denn 
auch  in  neuester  Zeit  in  dem  schon  von  Pithöos  benutzten,  jetzt 
gesogenen  und  zu  der  jüngsten  Ausgabe  desJuvenaJis  (von  O.Jahn)  auch  wie- 
der verglichenen  Codes  Budensis  —  Alontepessulanus  (Montpellier)  diejenige 
Ueberlieferung  des  Textes  anerkannt  hat,  welche  der  Urschrift  am  nächsten 
so  ist  doch  diese  Ueberlieferung  nicht  von  der  Art ,  dass  sie  über  alle 

lerwarts  erhoben  werden  könnte.  Hier  tritt  also  das  Geschäft  des  Kritikers  eis, 
der  ohne  die  oben  erwähnte  genauere  Kunde  der  ganzen  Denk-  und  Redeweise 
des  Dichters,  ja  ohne  antiquarisch-  historische  Studien  ausgedehnter  Art,  seine 
zu  lösen  nicht  im  Stande  seyn  wird.  Diese  wird  ihn  lehren,  in  man- 
-allen  mit  der  Vorsicht  zu  verfahren,  die  gerade  bey  dii 
ter  von  Manchen  ausser  Acht  gelassen  wordeo  ist. 
kein  Tedel  der  Art  treffen  können:  er  hat  vielmehr 


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Kurie  Anzeigen. 


•37 


ältesten  handschriftlichen  Ueberliefernng  ihr  Recht  widerfuhren  lassen  nad  sieb 
bestrebt,  einen  correcten,  der  handschriftlichen  Grundlage  möglichst  sich  an** 
nähernden  Text  zu  liefern.  Die  nähere  Begründung  dieses  Textes  wird  man 
dann  in  der  mit  deutscher  Uebersetzung  und  deutschen  Anmerkungen  ausgestat- 
teten Bearbeitung  dieses  Dichters,  von  welcher  1847  der  erste  Band  erschien, 
so  wie  in  den  seitdem  erschienenen  umfassenden  Commentaren  einzelner  Sati- 
ren in  den  Snpplementbänden  der  von  Klotz  und  Dietsch  herausgegebenen  Jahr« 
bücber  der  Philologie  zu  suchen  haben,  da  der  Herausgeber  in  der  Präfatio  nur 
kurz  die  Hnuptänderungen,  die  er  im  Texte  vorgenommen,  angibt  und  die  Gründe 
für  Beibehaltung  der  Vulgata  meist  nur  andenten  konnte,  indem  er  die  ausführ- 
lichere Begründung  einer  andern  Gelegenheit  vorbehält. 

Die  schwierige  Aufgabe,  welche  dem  Herausgeber  des  Vcllejus  Pa- 
le reu  Ins  bey  dem  Mangel  urkundlicher  Ueberlieferung  und  dem  mangelhaften 
nnd  lückenhaften  Zustande  dessen,  was  wir  von  diesem  Autor  noch  besitzen, 
zugefallen  ist,  wenn  er  anders  seine  Aufgabe  gewissenhaft  lösen  will,  ist  hier 
in  der  Weise  gelöset  worden,  die  mit  dem  Zwecke  und  der  Tendenz  des  gan- 
zen Unternehmens  in  Einklang  steht.  Einen  so  weit  als  möglieh  lesbaren  nad 
verstandlichen  Text  zu  geben,  war  hiernach  allerdings  die  nächste  Pflicht,  die 
es  auch  kaum  gestatten  konnte,  offenbare  Verderbnisse  dos  Textes  unbeachtet  zu 
lassen  oder  der  Edilio  prineeps  blindlings  zu  folgen:  der  Herausg.  war  also  auf  den 
Weg  der  Verbesserung  hingewiesen,  den  er  jedoch  mit  grosser  Vorsicht  einge- 
schlagen bat.  Wo  nun  eine  solche  Aenderung  im  Texte  vorzunehmen  war,  hat 
er  nicht  unterlassen,  diess  durch  einen  veränderten,  cursiven  Druck  der  Worte 
im  Texte  selbst  anzudeuten,  und  eben  so  die  von  ihm  versuchten  Ergänzungen 
durch  die  gleiche  Schrift,  so  wie  eckige  Klammern  bemerklich  zu  machen:  nnd 
wenn  er  Manches,  was  in  der  Edilio  Prineeps  steht,  und  hiernach  wohl  aach 
in  der  Murbacher  Handschrift  vorkam,  aber  den  gerechten  Verdacht  eines  Glos- 
sem's  an  sich  trägt,  nicht  aus  dem  Texte  liess,  aber  das  Einschiebsel  durch  die 
beigesetzten  Klammern  andeutete,  so  wird  man  seiner  Gewissenhaftigkeit  wahr- 
haftig keinen  Vorwurf  darüber  machen  wollen.  Auch  in  der  Interpunction  wie 
selbst  in  der  Orthographie  wird  man  im  Ganzen  dem  Herausgeber  alle  Gerech- 
tigkeit widerfahren  lassen  müssen.  Ein  genaues  liegister  (Berum  index),  wel- 
ches dem  Abdrucke  den  Textes  folgt,  bildet  eine  branchbare  Zugabe, 


•  ■ 

Zur  Erklärung  des  Horas.  Einleitungen  in  die  einzelnen  Gedichte  nebst  er- 
klärendem Register  der  Eigennamen  von  Fei.  S  eb.  Feldbausch.  Erstes 
Bändchen.  Oden  und  Knuden.  Heidelberg.  Akademische  Verlaasbuchhand- 
lang  von  C.  F.  Winter.  1851.  XV 111  u.  135  S.  in  gr.  8. 

Diese  Schrift  bat  einen  praktischen  Zweck:  sie  ist  bestimmt  für  die  Schule, 
zunächst  für  den  mündlichen  Unterricht,  den  sie  fördern  und  unterstützen  soll, 
indem  sie  dem  Schüler  dasjenige  mittheilt,  was  bey  diesem  Unterricht  als  Grund- 
lage dienen,  mithin  auch  demselben  vorausgeben  soll;  sie  ist  zugleich  die  Fracht 
vierjähriger  Studien  and  einer  reichen  Erfahrung,  welche  dem  Verfasser  es  sris 
zweckmässig  erscheinen  liess.  die  Einleitungen,  die  er  bey  der  Leetüre  der  Hör a  tischen 
Gedichte  seinen  Schülern  in  die  Hände  zu  geben  pflegte,  um  sie  dadurch  einzurühren 
in  den  Inhalt  und  die  Tendenz  jedes  einzelnen  Gedichtes,  dadurch  aber  dessen  rieh- 


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938  Karze  Anzeigen. 


tige  Auffassung  vorzubereiten,  in  einer  diesem  Zwecke  entsprechenden  F< 

▼eröffentlichen  und  damit  zu  einem  Gemeingut  tn  machen,  das,  wir 
erwarten  es  auch,  in  weiteren  Kreisen  seine  Verbreitung  finden  and  der 
Horazischen  Gedichte,  anregend  und  fordernd,  zur  Seite  gehen  wird.  So 
es  ans  auch  an  Ausgaben  der  Horazischen  Gedichte,  mit  und  ohne  NoU 
die  Schule  wie  für  den  gelehrten  Bedarf  hergerichtet  und  zugeschnitten 


Weise  in  die  Leetüre  der  Horazischen  Gedichte  einfuhren  and 
während  dieser  Leetüre  zur*  Seite  stehen .  sie  auf  die  Hauptpunkte .  am 
die  sich  Inhalt  und  Tendenz  des  Gedichtes,  uud  damit  auch 
dreht,  hinweisen  und  überhaupt  mit  Allem  dem,  was  der 
Kruft  nun  einmal  nicht  zu  finden  vermsg,  bekannt  tünchen  sim  < 
ben  mit  gelehrtem  Apparat  zu  überschütten,  oder  für  ihn 
i,  welcher  des  eigenen  Nachdenkens  and 
sligkeit  jeder  Art  einladet.  Denn  anregend  und 
Forschung  und  tieferem  Eingehen  anleitend  soll  ein  solches  Hülfsmiltel  seyn, 
anders  seine  Zwecke  erreichen  und  den  mündlichen  Unterricht 
soll.  Dass  ein  so  erfshrener  Schulmann,  wie  der  Verf. 

lass  alle  die  andern  Rücksichten,  welche  bey 
m  «-«»rderung  des  mündlichen  Unterrichts  bestimmten  Buches  in 
trftcli \  kotTimcn^  i^Ijc ii  so  LjcoIjqc  litt>l^  und  überhaupt  nir^ontJ^^  im  Cjsmpn 
im  Einzelnen ,  der  bemerkte  Zweck  aus  dem  Auge  verloren  werde.  Und  man 


dem  Zu  Viel  wie  dem  Zu  Wenig  ist  er  in  keiner  Weise 
;  was  er  aber  gibt,  tragt  den 


ren  soll.  Bey  dem  hier  und  dort  selbst  massenhaft  angereicherten  Apparat,  den 
die  gelehrte  Forschung  unserer  wie  der  früheren  Tage  für  die  Erklärung  des 
Horath»  zusammengebracht  hat,  galt  es  vor  Allem,  dasjenige 
len,  was  für  den  Zweck  der  Scholauslegung  zunächst  als  Einleitung  und 
führung  nothwendig  erscheinen  konnte,  dieses  dann  aber  in  möglichster  Ge- 
drängtheit und  Bestimmtheit,  als  das  Ergcbniss  der  bisherigen  Forschungen  ror- 
zulegen,  auf  diese  Weise  irrigen  Pfaden  der  Auslegung  von  vornherein  zu  ent- 
gegnen nnd  jedes  Schwanken  der  Meinungen  selbst  da  abzuschneiden,  wo  die 
Ansichten  der  gelehrten  Ausleger  vielfach  auseinandergehen, 
die  ganze 

Lieder  zu  erseblieasen  und  in 

'i  )• 

zu  erwecken.  Diese 


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Kurie  Anzeigen.  939 

der  Schüler  näher  [kennen  so  lernen,  und  dann  auch  am  ersten  die  Mittel  der 
Abhülfe  su  finden.  Die  umfassende  Bekanntschaft  mit  Allem  dem,  was  die 
Horazische  Literatur  der  lesten  Jahrzehnte  so  gut  wie  der  früheren  Periode 
hervorgebracht  hat,  leuchtet  überall  durch,  auch  ohne  dass  in  sahireichen  diä- 
ten —  die  in  einem  solchen  Buche  nicht  gut  angebracht  waren  —  die  sicht- 
baren Beweise  davon  vorlagen:  nur  die  Stellen  der  alten  Autoren,  die  der  Schü- 
ler selbt  nachsehen  und  nachzuschlagen  im  Stande  ist,  sind  mit  aller  Sorgfalt 
angeführt;  Polemik  aber,  zu  der  es  bey  der  Erklärung  der  Horasischen  Gedichte 
and  der  hier  oft  so  fühlbaren  und  störenden  Divergenz  der  Ansichten  der  gelehr- 
ten Ausleger  an  Veranlassung  auch  nicht  fehlt,  ist  fern  gehalten,  wie  es  die  Be- 
stimmung der  Schrift  mit  sich  brachte;  und  da,  wo  die  Anführung  verschiede- 
ner Ansichten  über  die  Auffassung  einer  Ode  nicht  zu  umgehen  war,  ist  diess 
in  einer  Weise  geschehen,  die  mit  Entfernung  aller  Persönlichkeit  den  Schüler 
gleich  darauf  hinweist,  nur  die  Sache  selbst  und  den  Gedanken  ins  Auge  zu 
fassen.  Wenn  daher,  um  wenigstens  Ein  Beispiel  anzuführen,  von  den  Peerlkamp- 
seben  Phantasien  in  der  Regel  Umgang  genommen  wird,  so  wird  man,  im  Hin- 
blicke auf  Zweck  und  Tendenz  des  Ganzen,  diess  vollkommen  billigen  müssen. 

Der  Verfasser  beginnt  seine  Schrift,  wie  natürlich,  mit  „Notizen  über  das 
Leben  und  die  Dichtungen  des  Horazu,  denen  eine  allgemeine  Einleitung  zu  den 
Oden,  mit  einer  Ucbersicht  der  Versmasse ,  welche  in  diesen  jOden  vorkommen, 
nachfolgt.  In  gedrängter  Kürze,  aber  in  möglichst  bestimmter  Form  der  Fas- 
sung wird  hier  Alles  dasjenige  mitgetlieiit,  was  mit  Sicherheit  und  Bestimmtheit 
über  das  Leben  des  Dichters  zunächst  aus  dessen  eigenen  Aeusserungen  sich  er- 
gibt, weshalb  auch  die  betreffenden  Stellen  angeführt  werden,  jeder  weitere  ge- 
lehrte Appanit  aber  weggefallen  ist.  Man  wird  hier  (um  auch  hier  wenigstens 
Einen  Punkt  zu  erwähnen)  insbesondere  das  Verhiltniss  des  Dichters  zu  Au- 
gustus  in  einer  eben  so  richtigen  nnd  wahren  als  präeisen  und  klaren  Passung 
dargestellt  sehen,  was  allerdings  schwierig  war.  Auf  diese  allgemeine  Ein- 
leitung folgt  die  in  die  einzelnen  Oden  speciell  einleitende  Erklärung  in  dar 
Art  und  Weise,  dass  in  einzelnen  mit  Nummern  bezeichneten  Absätzen  oder  Pa- 
ragraphen zuerst  über  Veranlassung  und  Bestimmung  der  Ode  gehandelt,  also 
auch  über  die  Anrede  oder  Dedication  das  NOthige  bemerkt  und  die  erforder- 
lichen Personnlnoli/.cn  mitgetheilt,  die  historischen  Punkte  angegeben  werden, 
endlich  auch  da1,  wo  solches  möglich  ist,  die  Zeit  der  Abfassung  des  Gedichts 
bezeichnet  wird;  dann  kommt  die  Angabe  des  Thema's  der  Ode,  des  in  der- 
selben  hindurchgeführten  Gedankens,  mit  den  nöthigen  Bemerkungen  über  die 
Art  nnd  Weise,  wie  derselbe  hindurchgeführt  ist,  also  über  den  innern  Znsam- 
menhang des  Gedichts,  den  Ideengang  u.  s.  w.  Einzelne  für  die  Erklärung  be- 
sonders schwierige  oder  durch  das  Schwanken  der  Lesart  nicht  sicher  gestellte 
Verse  oder  Worte  werden  am  Schlüsse  noch  besonders  bezeichnet,  um  die  Auf- 
merksamkeit des  Schülers  auf  dieselben  zu  richten  und  so  der  mündlichen  Ver- 
handlung noch  mehr  Reiz  zu  verleihen.  In  dieser  Weise  werden  in  diesem  Bändelten 
die  4  Bücher  Oden  nebst  denEpoden,  über  welche 'sehr  zweckmässig  eine  besondere 
Einleitung,  welche  die  bey  diesen  Gedichten  zu  beachtenden  allgemeinen  Punkte 
feststellt,  durchgangen;  nor  die  überaus  gedrängte  Sprache,  die  musterhafte  Pri- 
ciston  des  Ausdruckes  konnte,  boy  dem  ernsten  Streben  überall  nur  auf  daa  We- 
sentliche sieb  zu  beschränken  und  die  Tendenz  des  Ganzen  unverrückt  im  Auga  . 


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940 


Kurie  Anzeigen. 


sn  behalten,  es  möglich  machen,  auf  den  verhältnismässig  geringen  Kaum  die- 
ses Bändchens  die  gtsammte  Erklärung  dieser  fünf  Bücher  Horazischer  Dich- 
tungen zusammenzudrängen.  Der  Schüler,  der  durch  diese  Erklärung  in  die 
Leetüre  eines  jeden  Gedichtes  eingeführt  ist,  wird  dann  auch  desto  besser  alle 
diejenigen  Gegenstände,  welche  der  mündlichen  Erklärung  and  Discussion  vor- 
behalten bleiben  müssen,  au  erfassen  im  Stande  seyn;  er  wird  das  Ganse  schnel- 
ler begreifen  und  in  Wesen  nnd  Geist  dieser  Poesien,  im  Ganzen  wie  im  Ein- 
zelnen, desto  leichter  eindringen,  ohne  dasi  der  Gründlichkeit  des  Studiums  ir- 
gend ein  Eintrag  geschieht,  sondern  dieselbe  vielmehr  gefördert  wird.  Aus  die- 
sem Grunde  wünschen  wir  das  auch  in  seinem  Aeossern  wohl  ausgestattete  und 
durch  correcten  Druck  sich  empfehlende  Buch  in  den  Händen  recht  vu-ler  Schü- 
ler zu  sehen  und  hoffen  weitere  Verbreitung  desselben  aller  Orten ,  wo  noch 
Liebe  zum  Studium  der  Alten  den  zerstörenden  Zeitrichtungen  nicht  zum  Opfer 
gebracht  worden  ist.  Das  zweite  Bündchen  mit  den  Satiren  nnd  Episteln  be- 
findet sich  bereits  Unter  der  Presse  und  dürfte  seiner  baldigen  VoMeodnng  ent- 
gegensehen; demselben  wird  auch  ein  erklärendes  Register  der  in  den  Hecasi- 
tehen  Gedichten  vorkommenden  Eigennamen  beigefügt  seyn,  in  weiches  zugleich 
alle  die  mythologischen,  geographischen  oder  historischen  Notizen  aufgenommen 
sind,  welche  dem  Schüler  nothwendig  zum  Verständnis»  sind,  und  so  bey  der 
mündlichen  Erklärung  übergangen  oder  doch  nnr  kurz  berührt  werden  dürften. 


Prolegomena  in  CalUmachi  Amu>v  Fragmente.    Scripsit  Dr.  Ollo  Herrn.  EL 
Schneider.    Gotha  iS51.   (Programm).  Druck  der  Engelhard-Reycher- 
Hofbuchdruckaü.    18  S.  gr.  4. 

,  die  sich  in 

\%Ült    darf  wohl  ala 

Uswlj    Uql  i    Y¥  HUI  «IS 


der 

im  Wege 


Es  ist 


Pfnde 

*» I *> fr i* n /•  h f» f  I  ■  In  1» | vfin  jIj*ti 
»•"(j'*VUCt     I/rVUllfl      T^sTM      U  V  II 


nnd  doch  ist  von 


d  h. 
wird:  das 


das  ausdrücklich,  als  aus 


gien 


des  Callüuacbus  als  ein 

für  ein  episches,  in 


Lit.  IL  p.  1036)  hatte  richtig 


die  Ai'tt«  in 


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Kon«  AauifM. 


tern  Zeit,  insbesondere  den  feiehrten  Grammatikern  citirt  werden.    Unser  Ver- 
fasser geht,  wie  man  siebt,  noch  einen  Schrill  weiler  und  da  Callimachus;  in 
diesem  Werke,  wie  man  aus  dem  Gedichte  der  Anthologie  Palat.  VII,  42  ersieht, 
sich  im  Traume  ron  Lybien  aus  m»ch  dem  Helicon  versetzt,  dorl  mit  den  Mu- 
sen verkehrt,  und  not  da/,  was  er  von  diesen  vernommen,  mittheilt,  so  schliesst 
der  Verlesser  weiter  daraus,  dass  Callimachus  dieses  Gedicht  in  Libyen  (also 
in  seiner  Heimalh  Cyrene)  und  nicht  in  Aegypleu,  (Alexandria)  und  damit  also 
euch  nicht  in  späteren  Jahren,  sondern  in  seiner  Jugend  gedichtet  habe.  Wir 
wollen  diesen  Scbluss  nicht  geradezu  abweisen,  wiewohl  wir  glauben,  dass  eine 
solche  Einkleidung  des  Gedichts  eben  so  gut  von  dem  Dichter  zu  Alexandria 
wie  zu  Cyrene  gewählt  werden  konnte,  überdem  auch  der  gelehrte  Inhalt  der 
Afria  doeh  im  Ganzen  uns  mehr  auf  eine  Abfassung  in  dem  gelehrten  Alexen- 
dria,  wohin  Callimachus  schon  früher  gekommen  war,  und  wo  ihm  alle  Schätze 
mythischer  Erudition  zu  Gebote  standen,  führt.   Was  aber  die  vom  Verf.  hier 
ausgesprochene  Ansicht  über  den  wahren  Bestand  der  Ai'ua  betrifft,  so  wird 
man  allerdings  staunen,  wenn  man  sieht,  wie  ein  angeblich  dem  dritten  Buch 
4er  Ai'rta  entnommener  Vers,  in  deT  Thal  als  ein  der  Elegie  Kuottton,  entnom- 
menes Bruchstück  erscheint.  Dieses  und  Anderes,  was  der  Verfasser  zu  Begrün- 
dang seiner  Behauptung  anfuhrt,  mag  in  der  gründlichen  und  scharfsinnigen  Er-  * 
örterung  selbst  nachgelesen  werden,  namentlich  auch  die  Behandlung  der  Stelle 
des  Propertius  II,  34  (III,  32),  31  sq.,  in  welcher  die  somnia  Callimachi  auf 
diese  dem  Dichter  im  Traume  von  den  Musen  eingegebenen  Elegien,  also  auf 
die  AtTta  bezogen  werden;  hier  wollen  wir  nur  bemerken,  dass,  hat  man  ein- 
mal diese  Ansicht  über  die  Aftm  angenommen,  dann  auch  eher  Raum  gewon- 
nen ist,  um  viele  einzelne  Bruchstücke,  die  ohne  nähere  Bezeichnung  der  Quel- 
len vorkommen,  in  diesem  Corpus  der  Elegien  unterzubringen,  wenn  auch  gleich, 
wie  diese  der  Verf.  selbst  an  mehreren  Beispielen  gezeigt,  grosse  Vorsicht  dabei  „ 
anzuwenden  ist.  Die  schwierige  Frage,  wie  diese  Fragmente  zu  ordnen  und  was 
denn  eigentlich  Inhalt  und  Gegenstand  der  einzelnen  Theile,  d.  h.  der  vier  Bü- 
cher der  AI' na  gewesen,  sucht  der  Verf.  dadurch  zu  beantworten,  dass  er,  so 
weit  als  diess  nur  immer  bey  dem  geringen  Umfang  und  der  geringen  Zahl  der 
Fragmente  möglich  ist,  im  Allgemeinen  die  Gegenstände  ermittelt,  welche  in 
diesen  Fragmenten  behandelt  werden  und  dann  dieselben  von  einander  nach 
Gruppen  scheidet.  Aus  dieser  schwierigen,  aber  mit  Vorsicht  bey  einem  so  dun- 
keln Gegenstand  geführten  Untersuchung  glaubt  der  Verl.  immerhin  mit  einiger 
Wahrscheinlichkeit  das  Resultat  zu  gewinnen,  dass  im  ersten  Buche  der  Aitta  oder 
vielleicht  auch  erst  im  dritten  (obwohl  diess  minder  wahrscheinlich  bedünkt)  von 
den  Agonen  die  Rede  gewesen,  im  zweiten  die  xosjstc  enthalten,  im  vierten  aber 
von  den  Veranlassungen  zu  den  religiösen  Gebräuchen  gebandelt  worden  wsry 
im  dritten  wären  dann,  so  wird  weiler  vermulhet,  die  ErGnder  von  Dingen,  die 
dem  menschlichen  Leben  nutzlich  und  erspriesslich  sind,  gefeiert  wordeu  (S.  6). 
Aber  mit  diesem  ellgemeinen  bloss  mutmasslichen  Ergcbniss  begnügt  sich  der 
Verfasser  nicht,  er  sucht  einen  festeren  Boden  zu  gewinnen  und  auf  diesem  dann 
nein  Gebäude  mit  mehr  Sicherheit  nach  seinen  einzelnen  Bestandteilen  aufzu- 
führen. Diesen  Boden  findet  er  nun  in  den  Fabeln,  welche  den  Schluss  des  un- 
ter dem  Namen  eines  Hyginus  auf  uns  gekommenen  Fabelbuches  bilden  und  als 
besondere  Abschnitte  desselben  mit  den  Kümmern  273-277  bezeichnet  sind. 


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942  Kurze  Anzeigen 

Er  weist  hier  nach,  dass  eap.  274  aus  Commentaren  und  Glossen  des  Virgil 
zusammengesetzt  ist  und  der  Erklärung  dieses  Dichters  angehört,  mithin  auszu- 
scheiden war  ,  dass  «her  cnp.  275  und  276  zusammen  gehören,  so  dass  die  drei 
Abschnitte,  die  wir  auf  diese  Weise  gewinnen,  der  erste  (273)  von  den  Spielen, 
der  zweite  (275  276)  von  Städtegröndern,  der  dritte  (277)  von  den  Erfinden 
handelt,  wir  also  hier  dieselben  Gegenstände  finden,  welche  Callimachus  in  den 
drei  Büchern  der  Ai'tia  nach  des  Verfassers  Annahme,  gemäss  den  Sparen  der 
Fragmente,  behandelt  hatte.     So  erscheint  dem  Verfasser  der  Inhalt 
Capitel  des  Hyginus  seinem  Wesen  nach  —  wenn  auch  Einiges  ans 
ten  noch  hinzugekommen  —  aus  Callimachu«  entnommen  und  so  ge 
ten  den  Gesammtinhalt  und  Bestand  der  verlornen  Ai'-na  darzulegen,  so 
dann  als  die  weitere  Aufgabe  der  gelehrten  Forschung  erscl 
diesen  Abschnitten  des  Hyginus  auch  den  Inhalt  der  Aittot  im 
nach  ihren  einzelnen  Gesängen  oder  Theilen  möglichst  genau  und 
mittein.  Das  Wagestück  eines  solchen  Versuches  hat  nun  der 
ser  unternommen;  er  versucht  es  in  dieser  Schrift  die 
sten  Buchs  der  Ätna  des  Callimachus  —  vierzehn 
vierzehn  in  dem  erwähnten  Abschnitt  des  Hyginus 
teln  und  darnach  auch  Ihren  muthmasslichen  Inhalt  zu 
die  verschiedentlich  auf  uns  gekommenen  Bruchstücke 
gereiht  werden,  wohin  sie  nach  des  Verfassers  Annahme  wohl  gehören  dürf- 
ten.   Wir  können  hier  nicht  in  das  Detail  dieses  Versuches,  der  «einer  Natur 
nach  manches  Problematische  noch  enthält,  eingehen,  glauben  aber  doch  un- 
sern  Lesern  die  Versicherung  geben  zu  können,  dass  der  Verfasser  bey 
seinen  Combinationen  mit  einer  Vorsicht  zu  Werke  gegangen,  f 
UebergrifTen,  wie  wir  sie  auf  derartigen  Gebieten  schon  erlebt 
und  der  Schrift  den  Charakter  der  Gründlichkeit,  die  tie  in  allen 
anzusprechen  hat,  erhalten  hat.  Darum  wünschen  wir 
dieser  Forschungen  und  Vollendung  der  noch  fehlend 
es  eben  so  sehr  im  Hinblick  auf  Call imac hus,  wie  aelbst  auf  Hyginnl, 
dessen  Fabelbuch  es  wahrhaftig  verdient,  dass  ihm  eine  grössere  Aufmerksam- 
keit, eben  so  wohl  in  Bezug  auf  seinen  Inhalt ,  wie  in  Bezug  auf  die  Form,  in 
der  es  auf  uns  gekommen  ist  —  eine  mehrfach  ei 
Theil  werde,  und,  was  den  erstem  Funkt  betrifft, 
forscht  uud  näher  bestimmt  würden,  aus  welchen  der  Inhalt 
diese  aber  nur  in  den  Dichtern,  insbesondere  dei 
chen  sind,  glaubt  Ref.  wohl  nachweisen  und  selbst  < 
nisse  erhörten  zu  können.  Hat  man  aber  die  Quellen  nur 
telt,  so  wird  auch  der  Zusammenhang  des  Ganzen,  so  wi 
selben  sich  eher  ermitteln  lassen;  es  wird  sich  dann  der 
von  dem  Beiwerke,  dass  Gott  weiss  wie  hinzugefügt  worden  —  wir 
zuuächst  an  die  von  Nr.  221  an  folgenden  Abschnitte  —  ausscheid» 
wahre,  jetzt  durch  manche  Einschiebsel,  wie  es  scheint,  gestörte 
ursprünglichen  Bestandes  auch  eher  herstellen  lassen,  da  wir  nicht 
der  Verfasser  des  Fabclbuchs  in  Anordnung  des  Inhalts  nach 
Princip  verfahren  und  einem  in  dem  Inhalt  und  in 
begründeten  Gange  gefolgt  sey,  dessen  Wiederherst 

der  Kritik  seyo  mui»,  die  freilich  hier  noch  manche  Auigthe^a  fit»  j* 


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Nr.  60. 


HEIDELBERGER 


1851. 


JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR. 


Excerptorum  ex  Plinii  Secundi  naturalis  historiae  libro  XXXV  Tarticula  L 
Commentario  critico  et  exegetico  inslruxit,  Germanico  sermonc  inlerprelatus 
est  J.  Chr.  Elster,  phil.  Dr..  et  gymn.  Conrector.  Hehnstadt.  1851.  4. 
(Programm)  31  S. 

Wenn  uns  auch  jetxl  endlich  die  Aussicht  eröffnet  ist,  einen  urkundlich 
getreuen  Text  des  Plioius  und  damit  zugleich  eine  sichere  Grundlage  für  alle 
weiteren  Forschungen  zu  gewinnen,  die  an  den  Inhalt  des  in  alle  Zweige  un- 
aerer  Alterthumskunde  einschlagenden  Werkes  sich  knüpfen,  so  wird  doch  das 
volle  Verständniss  dieses  Schriftstellers  bei  dem  gewaltigen  Umfang  und  dem  vielsei- 
tigen Inhalt  der  Historia  naturalis  nur  nach  und  nach  durch  eine  Reihe  von 
einzelnen  Beiträgen  angebahnt  werden  können,  wie  sie  bisher  in  nicht  sehr  gros- 
ser Zahl  erschienen  sind.  Darum  glauben  wir  auf  diesen  Beitrag,  welcher  auf 
die  sechs  ersten  Capitel  des  XXXV  Buchs  sich  bezieht  und  ausser  dem  lateini- 
schen Texte  eine  diesem  gegenüberstehende  deutsche  Ucbersetzung  nebst  einer 
Annotalio  bringt,  welche  in  diesen  Abschnitten  die  sprachlichen  wie  die  sach- 
lichen Punkte  berücksichtigt,  mit  allem  Recht  hier  aufmerksam  machen  zu  dür- 
fen und  daran  auch  den  Wunsch  zu  knüpfen,  noch  öfters  derartige  Beiträge  hier 
anfuhren  zn  können.  Was  zuerst  den  Text  betrifft,  so  ist  dieser  hier  nach  dem 
von  Sillig  in  der  Teubnerischen  Ausgabe  (Leipzig  1836)  gelieferten  abgedruckt, 
mit  nur  wenigen  Veränderungen,  wobei  wir  allerdings  es  zu  bedauern  haben, 
dass  die  von  demselben  Gelehrten  im  Jahre  1849  als  Probe  des  Ganzen  gelie- 
ferte Separataosgabe  des  fünf  und  dreißigsten  Buches  (s.  diese  Jahrb.  1849. 
p.  506  ff.)  von  dem  Verf.  nicht  gehörig  berücksichtigt  werden  konnte,  da  sie 
ihm  erst  zu  Gesicht  kam,  als  der  Druck  seiner  Arbeit  —  eines  an  ehie  bestimmt« 
Zeit  des  Erscheinens  gebundenen  Programmes  —  bereits  begonnen  hatte.  Im 
Ganzen  hält  sich  der  Verfasser  an  die  herkömmliche  Vnlgata,  ohne  den  Einfal- 
len mancher  Gelehrten  grössere  Rücksicht  zn  zollen,  als  die  einer  angemessenen 
Widerlegung,  während  er  in  Aufnahme  eigener  Verbesserungsvorschläge  höchst 
vorsichtig  und  selbst  zurückhaltend  ist,  was  man  im  Allgemeinen  nur  billigen 
kann,  wiewohl  allerdings  es  an  Stellen  nicht  fehlt,  in  welchen  die  von  Sillig, 
zunächst  auf  handschriftlicher  Grundlage,  aufgenommene  Lesart  unbedingt  den 
Vorzug  verdienen  dürfte.  Die  Anuotatio  sucht  mit  aller  Sorgfalt  und  Genauig- 
keit die  sprachlich  oder  sachlich  schwierigen  Punkte  in  das  gehörige  Licht  zu 
setzen  und  zeigt  uns  hier  bald,  wie  vertraut  der  Verfasser  mit  seinem  Schrift- 
steller durch  vieljährige  Leetüre  und  eifriges  Studium  geworden  ist,  und  wie 
ihm  auch  aus  der  neuern  Literatur  nichts  entgangen  ist,  was  zur  Aufhellung 
einzelner  Stellen  dienen  konnte.  So  wird  z.  B.,  um  einen  Beleg  unserer  Be- 
hauptung hier  zu  geben,  in  der  schwierigen  Stelle  des  Plinius  C.  II  §.  11  über 


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(Schluss.) 


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944  Karze  Anzogen» 

ton,  dann  aber  die  in  der  Thal  nicht  unpassende  Bemerkung  hmzulugt:  „res  per 

se  incerta,  in  dies  fit  incerlior,  tot  hominum  doctissimorum  sententüs  inter  sc 
pugnanilDUS.  uer  Ten.  ginuui  jeaematis  ^„noc  pro  ceno  siniui  esse  Yiacmr  jy 
msn  dürfe  Varro's  Erfindung  weht  se  auffassen,  als  habe  er  zuerst  irgend  ein 
Mittel  der  Vervielfältigung  von  Bilderu  selbst  erfunden,  da  er  ja  gar  kein  Künst- 
ler gewesen:  es  bleibe  daher  nur  übrig  anzunehmen,  dass  Yarro  die  von  ei- 
nem andern  (Künstler)  gemachte  Erfindung  zuerst  auf  Bücher  angewendet,  diese 
Erfindung  aber  habe  Plinins  selbst  wohl  kaum  gekannt.  Wir  gestehen,  dass  wir 
uns  mit  dieser  Auffassung  der  Stelle  des  Plinius,  welche  dem  Yarro  ausdrücklich 
ein  „benignissimum  inventum"  zuschreibt  und  denselben  als  „inventor  mnneris 
etiam  diis  invidiosi"  o.  s.  w.  bezeichnet,  keineswegs  befreunden  können,  selbst 
dann,  wenn  wir  annehmen  wollten,  dass  Plinius  keine  nähere  Kenntniss  dieser 
Erfindung  gehabt,  (was  wir  bezweifele)  so  unklar  auch  des  PKnius  Angabe  übet 
diese  Erfindung  ist  und  insbesondere  der  den  bemerkten  Worten  (inventor  m. 
et.  if.  i.)  angehängte  Satz :  „quando  immortalitatem  non  solnm  dedit  verum  etiam 
in  omnes  terras  misit,  nt  praesentes  esse  et  nbique  cludi  (eredi)  possent"  in  sei- 
ner üeberschwenglichkeit  eben  so  unbestimmt  und  unklar  für  denjenigen  gehal- 
ten ist,  dem  es  wahrhaft  um  Sinn  und  Bedeutung  dieser  Steile  zu  thnn  ist 
Wenn  wir  hier  cludi  gegeben  haben,  so  sind  wir  (mit  Sillig)  der  Lesart 
der  alteren  Handschriften  gefolgt;  wir  denken  auch  mit  diesem  Herausgeber 
an  Verschluss  oder  Aufbewahrung  der  Imagines  in  Kapseln  oder  in  Irgend 
Etwas  Aehnlichem;  credi,  was  erweislich  Lesart  der  jüngeren  und  schlechte- 
ren Handschriften  ist,  wird  von  nnserm  Verfasser  vorgezogen  und  demgemiss 
die  ganze  Stelle  fblgendermassen  übersetzt:  „sondern  sie  auch  in  aHe  Lender 
entsandle,  so  dass  an  ihre  Allgegenwart  geglaubt  werden  konnte."  Wir  können 
ans  von  der  Richtigkeit  eineT  solchen  Lesart,  die  einen  solchen  Sinn  geben  soll, 
nimmermehr  überzeugen. 


Badlttche  Programme  des  Schuljahr*  18*1. 

Wir  begianea  diesen  Bericht,  hinsichtlich  dessen  wir  uns  auf  die  wieder- 
holt in  diesen  Blättern,  zuletzt  noch  Jahrg.  1850  p.  935  abgegebene  Erklärung 
beziehen,  sait  dem  Lyceum  zu  Carlsruhe,  dessen  Programm,  die  folgende 
wissenschaftliche  Abhandlung  beigegeben  ist: 

De  junclarum  in  prtenndo  mammm  origine  indo-germanica  et  um  inter  jAainws 
Christianos  adscito  quatstkmem  indici  ketumum  in  Lyeeo  CaroUrukenn  — 
hatoarwn  adjvnxit  Carolas  Fridericui  Vierordt  Cum  tabula  Is- 
tkographica.  CaroUruhae  fypis  G.  Bramumi  typogrupk«  mm*  MDCCCU 
43  S.  in  er.  8. 

Der  Gegenstand  dieser  Erörterung  ist  aus  dem  Kreise  der  christlichen  AI- 
terthüraer  entnommen ;  er  schien  dem  Verf.  einer  näheren  Erörterung  schon  ans 
dem  Grunde  würdig,  weil  er  in  den  diesem  Zweig  der  christlichen  Wissenscfcall 
angehörigen  Schriften  diese  völlig  vermisste  und  hier  nlhere  Aufkrärun*  ver- 
geblich suchte.  Die  christliche  Sitte  des  Zusammenschlagens  der  Hände  bei  de« 
Gebel  ist  es,  deren  Ursprung  darum  der  Yerf.  nachzuweisen  Yenudrt:  er  geht 


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945. 


desshalb  in  die  vorchristliche  Welt  zurück  und  sacht,  so  weil  eis  möglich,  zu 
zeigen,  in  welcher  Art  and  Weise  die  Hände  bei  dem  Gebet  gehalten  worden 
und  so  ge wissermasscn  ihren  Antheil  an  der  heiligen  Handlung  bezeugt;  es  ist 
auch,  am  dies  anschaulich  zu  machen,  eine  lithographische  Tafel  beigerügt,  auf 
welcher  Abbildungen  der  bei  dem  liebet  in  verschiedener  Weise  zusammenge- 
echlungenen  Hände  gegeben  werden.  Nach  des  Verf.  Ansicht  kommt  das  Zn- 
sammenfalten beider  Hände  bei  dem  Gebete,  wie  diees  jetzt  bei  uns  allgemeine 
Sitte  geworden,  zuerst  bei  den  alten  Germanen  vor,  welche  diese  Sitte  über 
die  andern  Theile  Europa's,  in  welche  sie  nach  und  nach  eindrangen,  ausge- 
breitet, jedoch  keineswegs  selbst  erfunden,  sondern  aus  ihrem  Stammland  Asien 
mitgebracht  haben,  also  lange  Zeit  vor  ihrer  Bekehrung  zum  Christenthum.  In 
Asien,  auf  indischen  Denkmalen  glaubt  der  Verf.  zuerst  das  Zusammenschla- 
gen der  Hände  wahrgenommen  zu  haben,  und  da  nuo  —  so  wird  weiter  an- 
genommen, Indien  das  Vater laad  der  Germanen  ist,  so  haben  diese  aus  Indien 
diese  Sitte  mitgebracht  nach  Europa  und  durch  diesen  Welttheil  weiter  verbret- 
tet: die  ganze  Sitte  erscheint  hiernach  in  ihrem  Ursprung  als  eine  indische, 
somit  heidnische,  auf  das  Christenthum  später  fibertragen.  Dass  bei  einer 
solchen  Argumentation  Bedenken  jeder  Art  für  den,  der  auf  dem  Standpunkt  der 
Kritik  steht,  nicht  ausbleiben  können,  wird  sich  der  Verf.  selbst  nicht  verheh- 
len; man  wird  es  daher  auch  dem  Ref.  nicht  verargen,  wenn  er  sich  nicht  ent- 
schlicssen  kann,  dem  Verf.  auf  der  weiten  Roiso  nach  Indien  za  folgen,  weil 
ihm  dazu  alle  Mittel  abgehen  und  aller  sicherer  Grund  und  Boden  fehlt,  den 
einige  an  Indischen  Denkmalen  (ans  ganz  ungewisser  Zeit)  befindliche  Karyati- 
den mit  zusammengelegten  Hinden  eben  so  wenig  zn  bieten  vermögen,  als 
die  in  dieser  Schrift  angeführten  Stellen  des  Ammianus  Marcellinus  (XVI,  12), 
oder  gar  des  Tacitus  (in  der  Germania  cp.  39),  worin  sich  eben  so  wenig  Etwa» 
von  dem  entdecken  lässt,  was  datans  erwiesen  werden  soll.  Sicher  ist  et 
allerdings,  dass  die  heidnische  Sitte  des  Ausstreckens  der  Hände  bei  dem  Ge- 
bet (s.  die  Wach  Weisungen  bei  C.  Hermann:  Gottesdienstl.  Alterthümer  d.  Grie- 
chen §.  21  not.  10)  auch  auf  die  ersten  Christen  überging;  diess  zeigen  uns, 
um  von  Anderem  nicht  zu  reden,  die  von  Bellermann  aus  den  Katakomben  Nea- 
pel's  bekannt  gemachten  Darstellungen,  welche  in  eine  sehr  frühe  Zeit  hinauf- 
reichen; diess  zeigen  noch  die  zahlreichen,  betend  dargestellten  Flgureu  anf  der 
prachtvollen  Dalmatica  Pabst's  Leo  III.  (795-816),  welche  die  Kaiser  bei  der 
Krönung  in  der  Peterskirche  zu  Rom  anlegten,  einem  Werke  byzantinischer 
Kunst;  das  zeigen  noch  gar  manche  andere  bildliche  Darstellungen,  die  wir  hier 
nicht  weiter  verfolgen  wollen;  aber  wie  diese  Sitte  schon  frühe  in  einem  höheren, 
Meieren  cnnsiiicnen  diene  geueuici  waru,  aas  senen  wir  scnon.aus  aen  w orten  aes 
Augustinus,  die  unlängst  auch  Lassaulx  in  seinem  schonen  Programm  über  die 
Gebete  der  Griechen  und  Römer  S.  11—13  benutzt  hat;  eben  so  wie  auch  das 
Zusammenfalten  der  Hände  in  einem  vom  Verf.  S.  26  mitgetheilten  Schreiben 
des  Pabstes  Nicolaus  I.  ans  dem  Jahre  866  in  einem  höheren  Sinne  als  Zeichen 
der  Denrath  aufgefasst  wird.  Wie  nahe  es  aber  lag,  von  dem  blossen  Ausstre- 
cken der  Hunde  bei  dem  Gebete  auch  zu  einer  Vereinigung  und  Verbindung 
derselben  zn  schreiten  und  dadurch  der  ganzen  heiligen  Handlung  eine  noch 

höhere  Bedeutung  auch  äusserlich  zn  geben,  ja  vielleicht  selbst  dadurch  einen 

_  —       _  _  .   .  _    _   _     _  _ 


wird 


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Karze  Anzeigen. 


and  so  »weifein  wir  aach  nicht,  dass  es  dem  Verf.  bei  einem  tieferen  Eingeben 
in  die  kirchlich-liturgische  Literatur  der  früheren  christlichen  Jahrhunderte  ge- 
lingen werde,  daraus  den  Ursprung  und  die  Verbreitung  einer  Sitte  nachzuwei- 
sen, die  wir  un«  nicht  entschließen  können,  von  den  Gestaden  des  indischen 
Oceans  herzuleiten,  die  wir  aber  viel  lieber,  als  eine  ficht  christliche  anerkannt 
sehen  möchten.  Das  von  der  französischen  Regierung  grossartig  (durch  Be- 
willigung eines  Credits  von  180,814  Francs)  unterstützte  Werk  des  Herrn  »Per- 
ret  über  die  Katakomben.  Roms,  welches  die  darin  befindlichen,  der  Mehrzahl 
nach  bis  jetzt  unbekannten  bildlichen  Darstellungen,  die  grossen  Theils  bis  in 
das  dritte  und  vierte  Jahrhundert  zurückgehen,  zum  andern  Theil  aber  den  nächst 
folgenden  Jahrhunderten  angehören,  in  einer  Reihe  von  Abbildungen!  mit  erklä- 
rendem Texte  liefern  soll,  dürfte  dann  wohl  auch  einen  Beitrag  znr  Lösung  die- 
ser Frage  erwarten  lassen,  du  jedenfalls,  noch  dem,  was  bis  jetzt  schon  verlau- 
tet ist,  betende  Personen  mehrfach,  und  aus  verschiedenen  Perioden  in  diesen 
Darstellungen  vorkommen. 

In  Constanz  erschien: 
Die  polilische  Ansicht  des  römischen  Geschichtschreibers  Tit.  Linus,  eine  histori- 
sche Abhandlung  wn  Fr.  X.  Frühe,  Lehramtspraktikant.  Constanz  185t. 
Druck  von  Joe.  Stadler.  52  p.  in  gr.  8.  (Motto:  Fructmn  studiorum  ein- 

Wpt/i   t>t  fi/lhiir  ti)i lep iti  nvntnx  Ä.pcpI    /tum  f*L  t v>) iitp  ct>pc  »•*/   pl       mint.  ftiT.ftv 

.    et  audere  non  dedecet.    Quinct.  XII,  6.) 

Wenn  der  Gegenstand  dieser  Abhandlung  ein  allgemein  anziehender  ge- 
nannt werden  kann,  so  wird  diess  auch  von  der  Behandlung,  welche  demselben 
hier  zu  Theil  geworden,  in  gleichem  Grade  gelten  können,  man  mag  auf  den 
wohlgeordneten  Inhalt  der  Schrift  sehen,  wie  auf  die  passende  Form,  durch 
welche  der  Inhalt  auch  für  ein  grösseres  Publikum  zuganglich  geworden  ist. 
Den  Inhalt  hat  der  Verfasser  aus  der  unmittelbarsten  Quelle,  aus  den  Schriften 
des  Livius,  denen  er  zu  diesem  Zweck]  ein  sorgfältiges  Studium  gewidmet  hat, 
genommen,  und  es  ist  ihm,  obwohl  Livius  nirgends  ex  professo  über  seine  po- 
litischen Ansichten  sich  ausspricht,  doch  gelungen,  aus  einzelnen ,  hier  und  dort 
bei  dieser  oder  jener  Gelegenheit  niedergelegten  Aeusserungen,  in  Verbindung 
mit  einer  richtigen  Erkenntniss  und  Würdigung  des  Geistes,  der  das  ganze  Werk 
dnrehweht,  ein  Resultat  zu  gewinnen,  das,  wenn  man  das  Unbefriedigende  der 
Quellen,  die  jetzt  nicht  mehr  in  ihrer  Vollständigkeit  fliessen,  sondern  nur  einem 
kleinen  Theile  nach,  und  die  Schwierigkeit,  die  eigene  Ansicht  des  Geschieh i- 

arhr»ihera  herauaxiifinrlen  und  nicht  mit  den  Anftichtan  der  von  ihm  redend  ein« 

Dvlil  Wll/Vl  SW     SJV1  (lUJItUIIUUVll      UUU      ■  ■•  V  U  V      Stil*      \*  \*  U      *  &&WIWI1IVU      \M  \,  ■  W  U      IM1U      •  w       \*  u  VW 

geführten  Fartciin;inner  zu  verwechseln ,  erwägt  ,  wohl  als  befriedigend  aner-* 
kannt  werden  dürfte.  Der  Verf.  hat  die  Darstellung  der  politischen  Ansichten 
des  Livius  ganz  gut  eingeleitet  durch  eine  Betrachtung  der  gesammten  Persön- 
lichkeit des  Mannes,  der  die  Schwächen  und  Gebrechen  seiner  Zeit  mit  klarem 
Blick  erkannte  and  doch  dabei  so  sehr  Patriot  und  Römer  ist.  dass  ihm  Horn 
über  Allem  steht,!  »°d  dessen  Verherrlichung  seinen  Griffel  geleitet  hat;  der 
Verfasser  schildert  den  Charakter  des  Livius ,  wie  dessen  Beruf  und  Befähi- 
gung  zur  Geschichtschreibung,  er  legt  uns  Tendenz  und  Zweck  des  umfassenden 
Werkes  vor,  das  eben  durch  eine  solche  Tendenz  einen  Eindruck  auf  die  Mit- 
welt ausüben  and  vielleicht  dadurch  zur  Besserung  der  Zustände,  oder  doch  zur 
*  .  J 


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Vermeidung:  einer  Wiederkehr  der  kaum  glücklich  überwundenen  Revolutions- 
periode  führen,  jedenfalls  dazu  mitwirken  sollte. 

Nach  Erörterung  dieser  Vorfrage  bespricht  der  Verfasser  die  Ansicht  des 
Livius  über  die  Monarchie,  er  zeigt  aus  einer  Reihe  von  Acusserungen  des  Ge- 
sebichtschreibers,  dass  derselbe  keineswegs  für  einen  Anhinger  der  Monarchie, 
(zumal  einer  solchen,  an  welche  der  Römer  seit  Jahrhunderten  bei  dem  Worte  rex 
und  regnum  denken  mochte)  angesehen  werden  kann,  „man  werde,  sagt  der 
Verfasser  S.  28  weder  eine  unbedingte,  noch  eine  bedingte  Monarchie  als  die- 

Nebe  gehabt  hätte."  Wir  zweifeln  nicht  an  der  Richtigkeit  dieses  aus  bestimm- 
ten Aeusserungen  des  Livius  hervorgehenden  Satzes,  und  glauben  selbst  damit 
die  ehrende  Rücksicht  auf  Augustus,  die  in  der  Stelle  IV,  20  offenbar  ausge- 
sprochen ist  —  er  nennt  ihn  templorum  omnium  conditorem  aut  restitutorem  — 
vereinigen  zu  können,  da  ja  zu  der  Zeit,  als  Livius  schrieb,  die  republikani- 
schen Formen  der  früheren  Zeit  so  ziemlich  noch  bestanden,  von  einer  Monar- 
chie oder  einem  Königthum,  wie  es  Livius  und  die  Römer  früher  überhaupt  auf- 
gefasst  hatten,  damals  noch  keine  Rede  war,  wenn  auch  gleich  die  Sache 
in  der  militärischen  Dictatur  eines  Einzelnen  vorhanden  war.  Wären  die  spä- 
teren Theile  des  Litauischen  Werkes  noch  vorhanden,  so  würden  wir  wohl 
eher  im  Stande  sein,  die  Ansicht  des  Livius  über  das  Principal  des  Augustus  zu 
erfahren;  dass  aber  Livius  nicht  ungünstig  darüber  geurtheilt  hat,  dass  er  in 
ähnlicher  Weise,  wie  ein  Horatius  und  selbst  wie  ein  Tacitus,  darüber  sich  aus- 
gesprochen, ungeachtet  aller  seiner  Vorliebe  für  die  ältere  römische  Aristokratie, 
möchten  wir  wohl  aus  Manchem  vermuthen,  und  für  diese  Vermuthung  selbst 
eine  Stelle  aus  dem  Schluss  der  Episode  über  Alexander  den  Grossen  im  nenn- 
ten Buche  cp.  19  anführen:  „absit  invidio  verbo  et  civilis  bella  si- 
leant,  nunquam  ab  cquite  hoste,  nunquam  a  pedite,  nunquam  aperta  acie,  nun- 
quam aequis  utique  nunquam  nostris  locis  laboravimus;  equidem  sagittas  saltus 
impeditos  avia  commeatibus  loca  gravis  armis  miles  timere  potest:  mille  acies 
graviores  quam  Macedonum  atque  Alezandri  avertit  avertetque,  modo  aitper- 
petuus  hujus  qua  vivimus  pacis  amor  et  civilis  cura  co  ncordiae." 
Wie  hier  die  Beziehung  auf  die  Parther  und  die  Kämpfe  der  Römer  mit  densel- 
ben unter  der  Regierung  des  Augustus  (vgl.  Hör.  Od.  IL,  13,  17)  unverkennbar 
ist,  so  ist  auf  der  andern  Seite  aus  den  Schlussworten  ebenso  sehr  der  Wunsch 
nach  ruhigen  geordneten  Zuständen,  wie  die  Regierung  des  Augustus  sie  ge- 
bracht hatte,  also  auch  nach  einer  ungestörten,  ruhigen  Fortdauer  dieser  Regie- 
rung, mithin  einer  Billigung  derselben  zu  erkennen. 

Die  nächste  Frage  des  Verfassers  betrifft  (S.  28  f!.)]  die  Ansicht  des  Li- 
vius von  der  Volksherrschaft.  Diese  ist  aber  in  so  manchen  Stellen  und  so  klar 
ausgesprochen,  dass  man  darüber  eben  so  wenig  bei  Livius,  wie  bei  dem  in 
Tielem,  ja  mehr  als  man  gewöhnlich  glaubt,  Geistesverwandten  Tacitus  zwei- 
feln kann.  Livius  verwirft  das  Regiment  der  Massen  wie  deren  Theilnahme  am 
"Regiment  oder  ihren  Einfluss  darauf,  und  darum  betrachtet  er  selbst  die  Tri- 
bunen, wie  kaum  anders  zu  erwarten,  in  einem  ungünstigen  Lichte,  von  einer 
ähnlichen  Ansicht  und  einer  Betrachtung  seiner  und  demnächst  verflossenen  Zeit 
bestimmt,  von  der  auch  Tacitus  geleitet,  die  Griechen  geradezu  „turbatores  ple- 
bis"  (Ann.  III,  30)  genannt  hat. 


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Zn]e t it  wird  die  Ansicht  du  Li v ins  ober  die  römische  Aristokratie  (S.  39 IT.) 
besprochen  und  auch  hier  am  einer  Reihe  von  Stellen  freieigt,  dats  Liriii«,  wenn 
er  auch  hier  und  dort  die  Fehler  dieser»  Rom  Jahrhunderte  lang  regierenden 
nnd  zur  Weltherrschaft  führenden  Aristokratie  nicht  verschweigt,  doch  in  Gan- 

•  on    ole    iVif    i.nrmrtr   Rniviinrlarur    urwl    I  n|,,.J,,„.    «Mnkaint      A  a  d  j    ttr    ikra    mit  k'rift 

icii  his  iiir  Würmer  ucHuiiucrer  unti  Luurcuiiti  cni  nenn,  un»s  oi  uirv  un»  01  <ui 

gepaarte  Weisheit  und  Einsicht  bei  jeder  Gelegenheit  hervorhebt  und  ihr  die 
Dsuer  ^Qd  das  Wschslhum  der  römischen  Herrschaft  vorzugsweise  zuschreibt. 
Ihn  aber  darum,  wie  ein  berühmter  Forscher  romischer  Geschichte  unserer  Zeit 
behauptet,  für  partheiisch  und  ungerecht  geradezu  auszugeben,  halten  wir  in  der 
That  für  um  so  ungerechter,  ab  diese  Vorliebe  des  IM»  für  die  altere  rö- 

miftPriA  A riiitnk rafif»  in  Hpn  VurkÜIniMpn  Rnrn  s  fi#»t IiaI  he&rrün  \vl  und  von  sc inftf 

iilivt/iirj    f»  Il3l''ivinllvv    iu    Uvll     »  vi  Uu  I  HIIMvIl    HU IU  »    pvI  i'3t    uvj^l  uuuti    tiiivJ     '"u  sir^a 

lieh  ist» 

In  Mannheim  erschien: 
Der  philosophische  UtUerrichl  auf  der  Mittelschule;  ein  pädagogisches  Volum 
von  Otto  Deimling.    Mannheim.    Buchdruckerei  von  Kaufmann.  185t. 
42  S.  in  gr.  8. 

Der  Unterzeichnete  hat  über  den  hier  zur  Sprache  gebrachten  Gegenstand 
schon  früher  bei  Gelegenheit  einer  denselben  Gegenstand  behandelnden  Schrift 
des  Hrn.  Oberschulrath  Metzler  au  Weilburg  sich  in  diesen  Blättern  (Jahrg.  1848 
p.  501  ff,)  ausgesprochen  -,  er  ist  auch  in  dieser  Ansicht  durch  alle  seitdem  ge- 
machten Erfahrungen  nur  bestärkt  und  su  der  Ueberzeugung  geführt  worden, 
dass  die  auf  den  badischen  Lvceen  in  den  beiden  obersten  Jabrescursen  dem 

-mmm^*  mm  vm       mm  mm  mm  ■  »-»  *-*  mm  v  ■  m      tw  J       ms  w  mm       *  ■*      m.»      mm       mw  mmm\mm^m  mm  mmm  mw  mmmM  mm     mw^mm  m  ^  v  w  mm  \m  -m*  mr  - 

philosophischen  Unterricht  durch  den  Schulplan  zugewiesene  Zeit  besser  au  an- 
dern Gegenständen  verwendet  werden  dürfte,  überhaupt  der  sogenannte  philo- 
sophische  Unterricht  auf  das  Maass  zurückzuführen  sei,  das  ihm  an  woblorga- 
msirteu  preußischen  Gymnasien  zugewiesen  ist. 

In  verliegender  Schrift  ist  diese,  gewiss  wichtige  Frage  von  neuem  um 
Gegenstand  einer  umfassenden  Behandlung  gemacht,  und  zwar  zuerst  von  dem 
humanistisch-pädagogischen,  dann  von  dem  cncyclopadischen  Gesichtspunkte  aus, 
wobei  Logik  und  Psychologie  insbesondere  berücksichtigt  wird  und  drittens  vom 
propädeutisch-hodegetischen  Gesichtspunkte  ;  der  Verf.  gelangt  auf  diesem  Wege 
au  dem  Resultat,  dass  die  Logik  als  besondere  Disciplin  eingeben,  der  deutsche 
Unterricht  dagegen  erweitert  werde  in  der  Art  und  Weise,  dass  in  jeder  Oaase 
mindestens  vier  Stunden  diesem  Untcrrichuceirenstande  zmreleffL  mithin  anch  im 

m*m,m*m  ™wmw  m     mmr  mw       m  m  mn*  mrmm  mm  mm  v*  •         mm  •     mw  mm    ■         m^  mm  mr^f  m  m  m  v  iiiwa      (%  •  »*      mm  m*  u  m^  mp*  wmj      m  ■  ■  ■  mt  mm  m  m  m      mm^m^r  mm  • 

vorletzten  Jahrescurse  die  für  den  piülosophischen  Unterrieht  angesetzten  Lehr- 
stun deu  zum  Deutschen  geschlagen  würden,  oder  (wird  hinzugesetzt)  wo  das 
nicht  angehe,  soll  der  logische  Unterriebt  von  einem  besonderen  Lehrer  und  in 
besonderen  Stunden,  aber  in  genauem  Anschluss  an  den  rhetorischen  Unterricht 
nnd  im  Einverstandniss  mit  dem  Lehrer  des  Deutschen  erlheilt  werden.  Im  letz- 
ten Jahrescurse  soll  dann  in  den  bisher  diesem  Unterricbtszweig  zugewiesenen 
drei  Stunden  Psychologie  und  Hodegetik  nebst  Einleitung  in  die  Philosophie  ge- 
lehrt werden,  der  rhetorische  Unterricht  aber  fortwährend  seine  Beziehung  zur 
Logik  aufrecht  erhalten. 

In  Freiburg  erschien: 
CuraeJTheocrileae.   Particula  altera,  continens  notas  crilicas  atque  exegetx- 


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$49 


cos,  quibus  Idylüi  XV  loci  aliquot  difftciliorcs  cxplicanlur  et  ah  Diti  Co* 
Ihofrtdi  Hernumni  inatrsionibus  doclis  (quas  cmjtdurtu  tocant)  defendun- 
tur.  (Theocriteorum  studiorwn,  quat  hujue  opusculi  auetor  inde  ab  OHM 
MDCCCXXiV  ad  hone  diem  usque  jam  publkaut,  quaeque  ad  interpre- 
tanda Idyllia  I.  II.  XI  et  XV  spectant,  fasciculus  ssptimus).  Pro* 
qramma  quod  lycei  Friburgensis  coUegarum  nomine  propotuü  F  ranciscus 
Weissgerber.  Friburgi  Rrisigaviae.  In  offxcina  Wanoteriana.  1851. 
35  S.  in  gr.  8. 

Zunächst  schliesst  sich  dieses  Programm  (als  Particula  altera)  an  das  im 
Jahre  1848  zu  Rastadt  von  demselben  Verfasser  gelieferte,  auch  in  diesen  Blät- 
tern (Jahrgg.  1848  p.  937  sq.)  erwähnte  Programm  an.  Es  werden  die  in  der 
fünfzehnten  Idylle  Theocrits  vorkommenden  Eigennamen,  so  wie  die  Bedeutung 
derselben  besprochen;  dann  folgen  die  Annotationes  zu  einzelnen  Versen  uud 
Stellen  dieser  Idylle,  welche  bald  kurzer,  bald  ausfuhrlicher  gehalten  sind  «od» 
wie  diess  auf  dem  umfassenden  Titel  auch  angedeutet  ist,  theilweise  die  beson- 
dere Aufgabe  haben,  die  von  Gottfried  Hermann  verschiedentlich  gemachten 
Verbesserungsvorschlage,  zu  denen  die  dermalige  Gestalt  dieses  Idylls  allerdings 
mann  ichfache  Gelegenheit  bietet,  als  unpassend  abzuweisen.  Aus  dem  Vorwort 
ersehen  wir,  dass  der  Verfasser  mit  einer  deutschen  Uebersetzung  der  'Apo-ovcxac 
oroiXstades  Nicomachus  von  Gerasa,  beschäftigt  ist,  deren  baldige  Bekantmachung 

♦ 

In  Bruchsal  erschien: 
Veber  SophocUs  Antigone  Vers  904—913.  (Von  dem  Director,  Scherm).  Buch* 

druckerey  von  Malsch  und  Vogel.  1851  42  S.  in  gr.  8. 

Dio  Verse,  welche  den  Gegenstand  dieser  Erörterung  bilden,  sind  in  der 
neuesten  Zeit  mehrfach,  insbesondere  von  Seiten  ihrer  Achtheit  oder  Unachtheit 
besprochen  worden;  der  Verf.  trägt  kein  Bedenken  sich  der  Ansicht  derjenigen 
anzuschließen,  welche  diese  Verse  für  uoächt  halten:  er  sucht,  da  äussere 
Gründe,  auf  welche  eine  solche  Behauptung  sich  stützen  konnte,  kaum  vorlie- 
gen, diesen  Beweis  der  Unachtheit  aus  inneren  Gründen  zu  liefern,  wornach 
diese  Verse,  zumal  vom  ästhetischen  Standpunkt  aus,  für  verwerflich  gellen  müs- 
sen, da  ihr  Inhalt  mit  dem  Charakter  der  Hauptperson  des  ganzen  Stücks,  mit 
der  Antigone,  wie  selbst  mit  den  Zwecken  und  der  Tendenz  des  Stückes  im 
Widerspruch  stehe  und  in  dieser  Hinsicht  sogar  unnatürlich  und  widersinnig 
erscheine:  der  Verf.  bat,  um  diess  noch  anschaulicher  zu  machen,  eine  genaue 
Auseinandersetzung  des  Ganges,  den  der  Dichter  in  diesem  Stücke  befolgt,  so 
wie  des  Charakters,  in  dem  er  die  Antigone,  die  Hauptperson,  durchweg  er- 
scheinen lasst,  der  speciellen  Erörterung  vorausgeschickt,  und  so  dieselbe  auch 
von  allgemeiner  Seite  aus  zu  begründen  gesucht.  Auf  diesem  Wege  gelangt  er 
zu  dem  Resultat,  dass  diese  Verse,  da  sie  von  Sopbocles  selbst  nicht  herrühren 
könnten,  eher  wohl  bei  einer  späteren  Ueberarbeitung,  etwa  bei  einer  wieder- 
holten Aufführung  des  Stückes  eingefügt  worden  seien.  Wenn  Manche  in  der 
AehnJichkeit  dieser  Verse  mit  der  Aeusserung,  welche  Hero dolus  III,  119  dem 
Weibe  des  Persers  Intaphernes  in  den  Mund  legt,  einen  wenigstens  indireclen 
Beweis  für  die  Aochtheit  jener  Verse  haben  finden  wollen,  so  glaubt  der  Ver- 
fasser, dass  aus  der  Stelle  des  Herodotus  an  und  für  sich  Nichts  in  dieser  Sache, 
es  sei  für  oder  wider  die  Aecbtbeit  der  sophocleischen  Verse  sich  beweisen 


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lasse  ,  UDcruein  sei  oie  /vcnniicnKcii  Deiner  ^»tncii  ciue  niiur  ausacrutue ,  Dl  Ol 
In  den  Worten  Hegende,  keine  innere  und  darum  auch  wahre.  Was  Hcrodolus 
betrifft,  so  ist  es  Ref.  keinem  Zwcitcl  unterworfen ,  tlsiss  dio  betreffende ,  hier 
in  Frage  stehende  Stelle  für  eine  von  denjenigen  anzusehen  ist,  in  welchen  das 
sophistische  Element,  das  bei  diesem  Schriftsteller  in  manchen  andern  Siel- 

an  Ein  Beispiel)  an  die  Gespräche  über  die  verschiedenen  Staatsformen,  oder  an 
die  Solonischen  Gespräche  I,  30  ff.  sich  in  ähnlicher  Weise  geltend  macht,  wie 
in  so  vielen  andern  Stellen  das  gnomologisrhe,  und  dass  von  diesem  Standpunkt 
ans  das  Urtheil  gegeben  werden  muss.  In  wie  weit  nun  Aebnliches  anch  bei 
Sophocles  stattgefunden,  ist  eine  Frage ,  die  wohl  auch  im  vorliegenden  Falle 
in  Erwägung  genommen  werden  dürfte,  aumal  wenn  wir  des  Verbiltnisa  berück- 
sichtigen, in  welchem  beide  Männer,  Hcrodolus  und  Sophocles,  schon  der  Zeit 

nnch    9ti  pinnrwlpr  apetanrlnn  hnhikn   fe    mnim»  f 'nmnii^nt  nl    t\t*  vifn  At  »rrintic  Iis» 

1 1  et  l»  II      KU     ClllnllUl'I     eC>9lrlllLlvIi     1 1  tl  kß  L  II     \  9  •     lULI  III..     \UllfIIILIIlt1l*     llv     »  1 1  n    C%   01  #1 1)  1 13  XI  C~* 

Todoti  §.  5  oder  p.  387  T.  IV),  oder  an  das  Freundschaftsverhältnis*  denken, 
In  welchem  beide  Männer  zu  einander  gestanden  haben  sollen,  wie  diess  von 
A.  Schöll  in  seinem  Werke  über  Sophocles  (Frankfurt  1842)  am  ausführlich- 
sten dargestellt  worden  ist.  Zwar  hat  auch  dieser  Gelehrte  die  fraglichen  Verse 
der  Antigone  Tür  einen  späteren  Zusats  erklärt,  jedoch  darin  lebhaften  Wider- 

Snrnrh  von   m»l  rpr  >n  Si-ilpn  nrfahr#»n     inalwaonHAr**  von  YVilMrhpl    nnrli  H/»,«*>n 

|l|  U  v  II      V  VIS     SIS V I IS  Vm  vll     Üvlvvll      VI  lOUl  Vil  <|      1*M9W\*&\MWB  U6IL      *  WM       *  •  S»**ö»»  I  ■      1^      1 1  tm  \*  IS     U  v99  V  i# 

Ansicht  Sophocles  jene  Worte  aus  persönlicher  Rücksicht  für  seinen  Freund  He- 
rodot  der  Antigonc  in  den  Mund  gelegt  hnt,  so  dass  also  eine  Abhängigkeit  der 
sophocleischen  Stelle  von  der  Erzählung  des  Geschichtschrcibers  stattfinde  (s. 
Jahrbb.  für  Philol.  und  Pädagogik  Bd  XL1X  p.  256  sq.  und  vgl.  die  von  Witx- 
scjiel  besorgte  Ausgabe  der  Antigone,  I.cipzigl1847.  S.  25  sq.)  In  ähnlichem  Sinne 
haben  sich  andere  Gelehrte  ausgesprochen,  und  die  herodoteisehe  Aeusserung 
geradezu  als  die  Quelle  der  sophocleischen  Stelle  bezeichnet,  so  z.  B.  von  Hoff 
in  der  umfassenden  diesem  Gegenstand  gewidmeten  Erörterung  in  der  Schrift 
de  mytho  Helenae  Euripideae  (Lugduni  Batav.  1843  8.)  p,  38—  49.  Fr.  Schultz 
De  vita  Sophoclis  (Berolin.  1836  8J  p.  140  ff.  Fr.  Ritter  Didymi  Opuscc.  p.  6. 
n.  A.  Wollte  man  nun  dieser  Ansicht  unbedingt  seinen  Beifall  schenken,  so 
wäre  damit  noch  keineswegs  die  Acchtheit  der  sophocleischen  Stelle  bewiesen, 
indem  die  letztere  gerade  dann  um  so  eher  für  ein  spateres  Einschiebsel  gelten 
Itönnte,  als  die  erste  Aufführung  der  Antigone  (441  a.  Chr.)  in  eine  Zeit  lallt, 
wo  das  herodoteisehe  Werk,  ausser  etwa  in  einzelnen,  von  (ferodotus  vor  seiner 
Heise  nach  Thunum  (444  a.  Chr.)  vorgelesenen  Theilcn,  in  seinem  Ganzen  noch 
gar  nicht  zur  allgemeinen  Kunde  der  Hellenen  des  Mutterlandes  hatte  gelangen 
kennen,  was  naeh  unserer  Ueberzeugnng  erst  nach  dem  Tode  des  bis  an  sein 
Lebensende  unermüdet  thfitigen  und  an  seinem  Werke  (das  darum  auch  in  man- 
chen Parthien  unvollendet  auf  uns  gekommen)  fortarbeitenden  Herodotos,  er- 
folgen konnte,  also  nach  408,  wenn  unsere  Ansicht  die  richtige  ist,  (s.  Jahrbb. 
T.  Philolog.  und  Pädsg.  LVI.  p.  11)  oder  doch  mindestens  einige  Zeit  nach  dem 
Jahre  424  a.  Chr.  Ucbrigens  wird  man  doch  auch  nicht  die  Möglichkeit  in  Abrede 
stellen  können,  dass  der  Dichter  so  gut  wie  der  Geschichtschreiber,  unabhängig  von 
Einander,  eine  solche  Sentenz  wie  sie  in  beiden  Stellen  enthalten  ist,  in  seine 
"Darstellung  eingeflochten,  die  bei  der  onlfiugbaren  Geistesverwandtschrift  beider 
Männer,  ihrer  in  Manchem  gleichmässig  hervortretenden  sophistischen  Richtung 


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und  ihrem  Streben  nach  Gnomologie]  doch  nicht  so  gar  ferne  lag,  um  von 
der  Hand  gewiesen  au  werden.  Die  Aufnahme  solcher  Spruche,  die,  wie  wir 
glauben,  in  der  hellenischen  Welt  damals  ziemlich  verbreitet  waren,  in  die  historische 
Erzählung  wie  in  die  Poesie,  dürfte  darum  nicht  allzu  befremdlich  erscheinen,  zumal 
wenn  wir  die  'Wirkung  erwägen ,  welche  der  Historiker  wie  der  Dichter  damit 
bei  seinem  Publikum  hervorzubringen  beabsichtigte.  Ob  und  in  wie  weit  dadurch 
die  Schwierigkeiten  beseitigt  werden,  welche  für  die  sophocleischen  Verse  nach 
der  Ausführung  des  Verfassers  zunächst  vom  ästhetischen  Standpunkt  aus,  von 
dem  Charakter  und  der  ganzen  Lage  und  Stimmung  der  Anügone  aus,  sich  er- 
heben, wollen  wir  der  weiteren  Prüfung  des  Verfassers  anheimstellen. 

In  Donaueschingen  erschien: 
De  poesis  Latinae  rhythmis  et  rimis,  praeeipue  monachorum.  Libellus  conscriptus 
per  Christ.  Tkeopkil.  Schuck,  magistrum  trilinguem  ad  föntet  Danu- 
bitios.    (Mit  dem  Motto:  püdjioc  uirpo'j  naTijp  xcu  xavwv).  Douaueschingcn. 
MDCCCLI.  50  S.  in  8. 

P.  I  dieser  Schrift  handelt  von  den  rythmiseben  Gedichten  der  alten  Rö- 
mer nnd  spricht  hier  auch  von  den  Rücksichten,  welche  in  Bezug  auf  Rythmus) 
in  den  sogenannten  Parisosen,  Antilheten,  Parechesen  nnd  Paronomasien  auch 
bei  der  Prosa,  namentlich  bei  den  Rednern  Eingang  gefunden;  die  Verse,  wie 
sie  daher  auch  mehrfach  bei  Prosaisten  vorkommen,  werden  zuletzt  besprochen. 
P.  II  handelt  von  den  gereimten  Gedichten  der  alten  Römer,  wobei  zuerst  die 
Annominatio,  die  A  Mite  ratio  und  Assonantia  zur  Sprache  kommt  nnd  im  Einzel- 
nen aas  Beispielen  römischer  Dichter  nachgewiesen  wird ;  dann  wird  gezeigt, 
wie  von  da  zu  dem  Gleichlaut  der  Endsylben,  zu  dem  ojxoiore/.e'jTov  oder  dem 
Reime  allerdings  kein  grosser  Sprung  mehr  | vorhanden  war.  Solche  gleich* 
lautende  Ausgänge  werden  dann  zahlreich  ans  Versen  der  besten  römischen 
Dichter,  insbesondere  hexametrischen  nnd  pentaraelrischen,  nachgewiesen.  P.  III. 
handelt  (S.  38—50)  von  den  Rythmen  des  Mittelalters. 

In  Offenburg  erschien: 
Historisches  Register  zu  Caesar.    Von  Lehramtspraktikanten  Rapp.  Fortsetzung 
und  Schluss.    S.  95—115. 

Das  in  dem  vorjährigen  Programme  begonnene  alphabetische  Register 
über  die  in  Cfisars  Schriften  vorkommenden  Namen  von  Personen,  das  dort  bis 
zum  Ende  des  Buchstabens  E  geführt  war,  wird  hier  zum  Schlüsse  gebracht  nnd 
da  die  Seitenzahl  sich  an  die  des  früher  gelieferten  Theiles  anschliesst,  so  wer- 
den sich  nun  beide  Theile  gut  zu  einem  Ganzen  vereinigen  und  bei  der  Lectflro 
des  Caesar  gebrauchen  lassen ,  um  so  mehr ,  als  bei  jedem  Eigennamen  nicht 
blos  die  Stellen ,  in  wcMien  derselbe  vorkommt,  sondern  auch  der  Inhalt  jeder 
Stelle  und  die  Beziehung  des  Kamens  in  derselben  bemerkt  wird. 

Chr.  Baelir. 


1.  Leitfaden  beim  eisten  Unterricht  in  der  Geschichte  in  vorzugsweise  biographi- 
scher Behandlung  und  mit  besonderer  Berücksichtigung  der  deutschen  Ge- 
schichte.   Von  Dr.  Joseph  Beck,  Grossher  sogl.  badischen  Gek.  Hofrath. 
Sechste,  verbesserte  und  vermehrte  Auflage.    Karlsruhe,  Druck  und  Verlag 
der  Q.  Braun  sehen  Uoj Buchhandlung.  1851.  XIV  u.  146  S.  gr.  8. 

■  .  r  *< 


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Knie  Anzeigen. 


Tabellen  zur  leichten  U eher  sieht' der  allgemeinen  Geschichte  und 
Anhäng  tu  jedem  Lehrbuche  der  Geschichte.  Von  Dr.  Joseph 
Beck,  Grossherzogl.  Bad.  Geh.  Hofrath.  In  sechs  Blättern.  Dritte  durchaus 
verbesserte  und  vermehrte  Auflage.  Hannover,  hn  Verlage  der  Hahn' sehen 
Hofbuchhandlung.  1850.   In  Folio. 

I  Diese  Schrift  ist  Tür  den  ersten  Cursus  des  Unterrichtes  in  der  Geschichte 
ict,  welcher  natnr-  und  s  ach  gemäss  biographisch,  sowie  der  zweite 
'ethnographisch  nnd  derdrilte  oni versal historisch  tu  behandeln 
Die  Zweckmässigkeit  einer  solchen  Verkeilung  des  historischen  Stoffes  wurde 
auch  von  der  obersten  Sehulbehörde  des  Gross  berzogthu  ms  Baden  anerkannt  nad 
in  den  Schulplan  aufgenommen.  Auf  diese  Weise  wird  bei  dem  fortschreitenden 
Gange  des  Unterrichts  der  Schüler  ron  Stufe  zu  Stufe  fortgeführt;  das  geschicht- 
liche Wissen  wird  in  ihm  immer  ergänzt  und  verYollständtgt.  .Mit  einem  Worte, 
es  wird  durch  den  gesammten  Unterricht  hindurch  nach  einem  zusammenhän- 
genden, wohlverstandenen  und  mi:  Sicherheit  festgehaltenen  Plane  verfahren,  und 
der  Unterricht  selbst  geht  allmählig  in  eine  Anleitung  zum  eigenen  selbstständi- 
gen Studium  über. 

i  Indem  nun  der  durch  seine  philosophischen  und  geschichtlichen  Schriften 
rühmlich  bekannte  Herr  Verfasser  diesen  ersten  Cursus  vorzugsweise  biographisch 
behandelt,  geschieht  dieses  nicht  so,  dass  die  Biographien  zusammenhanglos 
oder  nach  einem  historischer  Entwicklung  fremden  Principe,  also  dasa  etwa 
eine  Semiramis  neben  Maria  Theresia  u.  s.  w.  zu  stehen  käme,  zu- 
sammengestellt sind.  Vielmehr  erscheinen  die  geschilderten  Personen  als  das 
hervorragenden  Repräsentanten  ihrer  Periode  und  als  Träger  ihrer  Zeit  und  wer- 
den durch  den  Zusammenhang  mit  dieser  verständlich  nnd  belehrend.  Es  sind 
darin  stets  die  verbindenden  Mitteiglieder  festgehalten,  so  daas  der  Schüler  mit 
4«.  wichtigsten  Thatsacben,  welche  den  Entwicklungsgang  der  Menschheit  be- 
gründen, in  ihrem  gegenseitigen  Zusammenhange  bekannt  wird.  Ueber  die  Be- 
handlung des  historischen  Stoffes  selbst  gibt  der  Herr  Verfasser  in  der  Vorrede 
&.  VII— IX  sehr  zweckmässige  Winke.  Wir  verweisen  daher  auf  dieselbe  nad 
fügen  nur  noch  bei,  dass  sich  der  Herr  Verfssser  bemüht  hat,  über  die  Ent- 
wickelnng  der  menschlichen  Dinge  eine  das  Gemüth  befriedigende  Ansicht  im 
Geiste  der  Humanität  bei  dem  Alter  zu  erzeugen,  für  welches  dieses  Lehrbuch 
bestimmt  ist,  und  nicht  schon  hier  mehr  Zwiespalt  als  Versöhnung  hervorzuru- 
fen. Ist  nun  dieses  Buch  zunächst  auch  für  Mittelschulen  (höhere  Bürgerschulen, 
Pädagogien,  Gymnasien,  Lyceen)  geschrieben,  so  ist  es  doch  auch  für  den  Un- 
terricht in  höheren  Töchterschulen  zu  empfehlen.  Wir  wenigstens  kennen  kein 
Lehrbuch,  welches  zu  diesem  Zwecke  geeigneter  wäre. 

Durch  drei  synchronistische  Tabellen,  welche  beigegeben  sind  nnd  die 
drei  Hauptperioden  (Alterthum,  Mittelalter  und  Neuzeit)  umfassen,  wird  die  Ue- 
bersicht  sehr  erleichtert. 

In  einem  Anhange  S.  140-146  wird  ein  Abriss  der  badischen  Gescbicbto 
gegeben.  Ist  dieser  auch  kurz,  so  ist  er  doch  bei  der  gelungenen,  gedrängten 
Darstellung  eine  sehr  willkommene  Zugabe  und  wird  bei  dem  Unterriebt  dieses 
Theiles  der  Geschichte  gewiss  mit  dem  besten  Erfolge  benutzt  werden. 

In  dieser  neuen  Auflage  ist  Manches  von  dem  Herrn  Verfasser  nachge- 
bessert;, besonders  geschieht  dieses  in  Besiehung  auf  die  Klarheit  nnd 


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Karre  Anzeigen. 


heil  lies  Ausdruckes.  Weiter  sehen  wir  aber  auch  das  als  eine  nennenswertho 
Verbesserung  an,  das*  der  Druck  der  wichtigsten  Jahreszahlen  and  Begebenhei- 
ten hervorgehoben  ist,  wie  denn  überhaupt  die  typographische  Ausstattung  der 
Schrift  nichts  au  wünschen  übrig  lässt. 

II.  Die  synchronistischen  Tabellen  bestehen  in  6  Bogen  in  Folio,  und  kön- 
nen bei  jedem  andern  Lehrbuche  der  Geschichte  benutzt  werden.  Wie  sehr  der 
Unterricht  selbst  durch  solche  Zeitiafeln  gefördert  wird,  ist  allgemein  anerkannt. 
Dieses  ist  aber  besonders  der  Fall,  wenn  nicht  allzuviele  Zahlen  gegeben 
weraen ,  weicne  nur  verwirren  una  euenio  munsam  von  aem  ocnaier  ge- 
lernt, als  sie  schnell  von  ihm  wieder  vergessen  werden.  In  den  vorliegenden 
ist,  nach  unserm  Dafürhalten,  die  rechte  Mitte  getroffen.  Mit  vielem  Takte  und 
grosser  Sicherheit  werden  in  denselben  nur  die  wichtigsten  Zahlen  gegeben.  Sie 
kann  der  Schüler  leicht  dem  Gedächtnis*  einprägen  und  dadurch  eine  über- 
sichtliche Anschauung  der  Geschichte  sich  erwerben. 


Des  Schtc  ab  cn  spiegef  s  Landrechtsbuch,  tum  Gebrauche  bei  akademischen  Vor* 
trägen  mit  einem  Wöilerbuchc  herausgegeben  von  Dr.  Ueinr.  Gott/r.  Genf* 
/er.    Erlangen.  Verlag  v.  Theod.  Bldsing.  1851.  12.  (S.  XXU.  292).  .mi 

Die  vorliegende  kleine  Ausgabe  des  schwäbischen  Landrechts  ist  „aus- 
schliefe!, tum  Gebrauche  bei  akademischen  Vorlesungen  bestimmt14  nnd  ein 
Seitenstück  an  Weiske's  Ausgabe  des  sächsischen  Landrechts;  doch  allerdings  mit 
grösserer  Sorgfalt  für  diesen  Zweck  bearbeitet,  als  Letztere,  die  nichts  weiter 
als  einen  Abdruck  des,  in  der  Gärtner'schen  Ausgabe  schon  langst  abgedruckten 
Leipziger  Codex,  mit  Beifügung  eines  auf  bloso  Uebersetzung  einzelner  Worte 
beschränkten  sehr  kurzem  Glossariums  von  acht  Seiten  im  Ganzen  enthält.  Der 
Verf.  hat  bei  vorliegendem  Buche  in  der  Hauptsache  den  Ambrosischen,  in 
Seuckenberga  Corp.  jur.  I.  sect.  2.  zwar  ebenfalls  bereits  abgedruckten  Codex 
zum  Grunde  gelegt,  der  jedoch  für  den  Schwabenspiegel  ungleich  wichtiger  ist, 
als  jener  Leipziger  für  den  Sachsenspiegel.    Auch  ist  die  Lassbergische  Hand- 
schrift überall  fleissig  verglichen,  und,  wo  es  zur  Herstellung  eines  correcten 
und  möglichst  leicht  verständlichen  Textes  dem  Zwecke  des  Herausgebers  ent- 
sprach ,  sind  wohlausgewählte  Varianten  aus  dem  Wackernagel  sehen  Apparate 
aufgenommen  worden.    Das  beigefügte  Glossarium,  welches  von  S.  1*7—392 
reicht,  gibt  nicht  blos  Wort-,  sondern  auch  die  nöthigsten  Sacherklärungen, 
namemncn  Kurze  unu  meist  tum  Desscren  verstananiss  einzelner  »atze ,  sowie 
zur  Beurtheilung  des  Rechtsbuches  überhaupt  sehr  willkommene  geographische, 
historische  und  antiquarische  Erläuterungen.    Insbesondere  finden  sich  hier, 
bei  den  im  Schwabenspiegel  genanten  Päpsten  und  Kaisern  Leo,  Sylvester,  Za- 
charias, Hadrian  etc.  die  Jahre  der  Regiernng  und  die  Thatsachen  näher  ange- 
geben, mit  Beziehung  auf  welche  sie  in  dem  Rechtsbuche  erwähnt  werden. 
Bei  anderen  zweifelhaften  Personen  finden  sich  Angaben,  wer  wohl  hier  ge- 
meint sei,  mit  Beifügung  der  wichtigsten  Belegstellen,  z.  B.  bei  Gerold  von 
Schwaben  und  Lescandus.    Bei  Bistbümern,  wie  bei  Cammin,  Mainz,  Magde- 
burg, Meisen,  Osnabrück,  Paderborn,  Schwerin  etc.  wird  bemerkt  wann  und 
ton  wem  sie  errichtet  sind  etc.  und  bei  Orten,  deren  Benennung  etwa  zvrei- 


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Koro  Antigen. 


I 


felhaft  sein  könnte,  wie  bei  Altensteten,  Grone,  Walchnsen  etc.,  welche  Orte 
darunter  verstanden  werden  müssen. ,  Auch  andere  Sacberläuterangen ,  z .  B. 
über  die  Ausdrücke  „gebundene  Tage,  Gottesfriede,  Gedinge,  Dreisigste,  Dau- 
melle, Magen,  Hufe,  Morgengabe,  Seet,  Crisiua,  Pfalzgrafen  etc."  verdienen 
bei  der  Kürze,  die  dureh  den  Raum  hier  geboten  war,  volles  Lob,  und  wer- 
den too  Jedem ,  der  mit  dem  Rechtsbuche  sich  bekannt  machen  will,  nicht  ohne 
.Befriedigung  nachgelesen  werden.  Auf  diese  Weise  von  dem  Verfasser,  und 
durch  ein  gefälliges  Aeussere  zugleich  von  dem  Yerleger  sehr  wohl  ausgestaltet, 
lasst  uns  das  Bach  für  den  Zweck,  für  den  es  bestimmt  ist,  nur  einen  Wunsch 
noch  übrig.  Denn  wenn  es  unzweifelhaft  weniger  zum  Gebrauche  bei  exege- 
tischen Vorlesungen,  die  wohl  dem  Schwabenspiegel  nicht  oft  zu  Theü  werden 
dürften,  als  zum  Nachlesen  solcher  Steilen  dienen  soll,  welche  in  Compendien 
und  Vorlesungen  citirt  werden;  so  würde  eine  synoptische  Vergleichung  der 
älteren  und  grösseren  Aasgaben  des  Rechtsbuches  mit  der  vorliegenden  als  ein 
dringendes  Bedürfniss  für  den  Gebrauch  der  Letzteren  erscheinen,  weil  ohne 
diese  solche  Stellen,  die  nach  der  Scnckenberg'schen ,  Lassberg'schen  oder  Wa  - 
ckernagel'schcn  Ausgabe  citirt  worden  sind,  hier  unmöglich  wiedergefunden 
Verden  können.  An  dies  Bedürfniss,  welchem  sehr  leicht  noch  Genüge  gelei- 
stet werden  könnte,  wenn  nach  Seite  XXII  der  Vorrede  etc.  eine  solche  Sy- 
nopsis auf  einem  halben  Bogen  noch  eingeschaltet  würde,  den  Verfasser  und 
■Verleger  aufmerksam  zu  machen,  erlauben  wir  uns  daher,  in  der  Ueberzeogong, 
dass  hierdurch  die  Brauchbarkeit  dieser  Ausgabe  für  Studirende  am  nicht  we- 
nig vergrössert  werdeo  würde.  Suclmse. 


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Handbuch  der  rationellen  und  technischen  Mechanik  ton  Q.  Dccher,  Professor 
der  Mechanik  an  der  polytechnischen  Schule  in  Augsburg.  Ersten  Bandes 
erste  Hälfte:  Einleitung  und  Mechanik  des  materiellen  Punktes.  Mit  vier 
Sleindruckiafeln.  Augsburg.  Verlag  der  Matth.  Rieger'schm  Buchhand- 
lung. 185f. 

Der  Zweck  des  Verf.  bei  der  Bearbeitung  des  vorliegenden  Werkes  ist : 
„Denjenigen,  welche  sich  mit  den  Lehren  der  rationellen  nod  technischen  Me- 
chanik mehr  als  nur  oberflächlich  bekannt  machen  wollen  und  sich  schon  einige 
Kenntnisse  in  der  höhern  Analysis  erworben  haben,  ein  Buch  in  die  Hand  zu 
geben,  in  welchem  sie  jene  Lebren  niebt  nur  klar  und  anschaulich  und  der  Na- 
tur der  Verbältnisse  entsprechend  dargestellt  und  streng  geordnet,  sondern  nach 
ju  einer  bisher  ganz  entbehrten  strengen  Weise  begründet  finden,  and  wodurch 
sie  namentlich  befähigt  werden  sollen,  jene  Lebren  auf  Aufgaben  der  Technik 
«icher  anzuwenden !" 

In  diesen  letzten  Beziehungen  hat  es  dem  Verf.  vor  Allem  nothwendig  ge- 
schienen:  die  höhereAnalysis  selbst  auf  eine  klare  uod  streng  wissenschaft- 
liche Giundlage  zu  stellen  und  ihren  Grundformen  eine  Bedeutung  unterzulegen, 
welche  einfach  aus  der  Natur  der  Sache  h  ervorgeht  und  demnach  auch  für  die 
Anwendung  in  jedem  Falle  einen  anschaulichen  Begriff  gebe.  —  Den  bisher  selbst 
in  der  reinen  Analysis  grösstcnthcils,  in  der  angewandten  Mathematik  aber  aus- 
schliesslich festgehaltenen  Begriff  und  die  Methode  des  Une  ndlichk leinen 


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bat  der  Verf.  ganz  beseitigen  müssen,  weit  sie  einer  strengen  Anforderung  nie 
genügen  können  (?!  — ).  Denn  einmal  könne  eine  Grösse,  welche  absolut  ge*5 
nommen,  kleiner  sein  soll,  als  jede  gegebene  Grösse,  nur  Noll  sein  (?!)  und 
nicht  in  verschiedenen  Abstufungen'  als  Unendlichkleines  der  ersten,  zweiten, 
dritten, ....  Ordnung  gedacht  werden  (?) ,  wenn  man  nicht  mit  Begriffen  spie- 
len, und  diese  so  dehnbar  machen  wolle,  wie  es  jetzt  manche  Rechtsbegriffe- 
sind!  —  Verstehe  man  aber  unter  dem  sogenannten  Unendlichkleinen  ein 
ehrliches  Sehrkleines,  in  welchem  Falle  solche  Abstufungen  allerdings  denk* 
bar  seien,  so  erscheinen  alle  Lehrsätze  der  Geometrie  und  Mechanik  nur  als  an- 
genähert richtig  und  seien  auf  eine  Menge  falscher  Voraussetzungen  gegrün- 
det (allerdings!  — ).   Ein  Vieleck  von  unendlich  vielen  Seiten  sei  ein  Unding 

—  eine  Tangente  habe  nicht  zwei,  der  Krümmungskreis  nicht  drei  Punkte  mit 
einer  Curvo  gemein,  sondern  nur  einen  u.  s.  w.ü?  — 

Aber  auch  die  Begriffe  der  sogenannten  Grenzmethode  müssen  nach 
der  Meinung  des  Verf.  durch  andere  ersetzt  werden,  welche  in  dem  Zweck  der 
höhern  Aoalysis  selbst  begründet  und  mit  einer  slrengmatbematischen  (?)  Vor- 
stellung vereinbar  seien!  —  Der  Verf.  gesteht  selbst:  dass  ein  Verhältniss  zweier 
Grössen,  welche  absolut  Null  sind,  nicht  denkbar  sei.  —  Man  scheue  sich 
dessbalb  auch,  die  Incremente  geradezu  gleich  Null  zunehmen,  und  nähere  sich 
diesem  Werthe  nur  ganz  sachte,  hüte  sich  ja,  denselben  wirklich  zu  erreichen. 

—  Man  bleibe  also  im  Grunde  doch  auch  bei  dem  Unendlichkleinen  stehen, 
und  dabei  bringe  dieses  fortwährende  noli  me  längere  jener  Grenzen  eine  Aengst- 
jichkeit  und  eine  sophistische  Spitzfindigkeit  in  die  höhere  Analysis,  welche  je- 
den einfachen  Sinn  davoo  zurückschrecken  müsse,  und  welche  selbst  einen  Mei- 
ster der  Analysis,  wie  Cauchy,  sowie  seine  Schüler  zu  Trugschlüssen  verleitet 
habe  (! 

Der  Verf.  hat  desshalb,  wie  er  ausdrücklich  bemerkt,  in  seinem  Werke 
eine  neue  (?!)  der  Natur  der  Sache  entnommene,  und  wie  er  glaubt,  in  jeder 
Beziehung  klare  und  strengmalhematische  Anschauungsweise  für  die  Differential- 
und  Integralrechnung ,  sowohl  was  die  Ableitung  und  Bedeutung  des  Differen- 
tialquotienten, als  die  der  Integrale  betrifft,  zu  Grunde  gelegt,  und  glaubt  dabei 
gezeigt  zu  haben:  wie  einfach  und  natürlich  die  Beziehung  ist,  worin  die  In- 
tegrale ihrer  wahren  Bedeutung  nach  zu  den  Differentialquotienten  stehen,  wie 
einseitig  und  irrig  die  bisher  den  Integralen  untergelegten  Begriffe  gewesen  sind 
(?!),  u.  s.  w.  Auch  schmeichelt  sich  der  Yerf.  mit  der  Hoffnung:  durch  diese 
neue  (?)  Grundlage  der  höhern  Analysis  den  nebeligen  (?)  Pfad  zu  der- 
selben erhellet,  sowie  Überhaupt  die  Bahn  für  eine  strenge  Anwendung  der 
höhern  Mathematik  auf  Mechanik  und  Physik  gebrochen  zu  haben!? 

Wir  sind  sehr  begierig  zu  erfahren,  worin  wohl  die  so  gepriesene  neue 
Begründungsweise  der  höhern  Analysis  bestehen  mag,  und  gehen  desshalb  so- 
fort zur  nähern  Exposition  des  Verf.  über.  Es  sei  (indem  wir  der  Kürze  we- 
gen blos  eine  ebene  Corvo  betrachten)  y  =  F(x)  die  Gleichung  einer  Curve  in 
Bezug  auf  ein  rechtwinkliges  Coordinatensystem.  Geht  man  von  einem  Punkte 
ch  oder  (x,  y)  derselben  zu  einem  folgenden  PunkteM'  oder  (x  Ax ,  y  -f-  Ay) 
über,  so  hat  man:] 

y  +  Ay  =  F(x  +  Ax), 
oder:  Ay=F(x-f Ax)  —  F(x),  (1) 


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Lasse  man  nun  Ax  immer  kleiner  and  zuletzt  =  0  werden,  wodurch  man 
offenbar  in  den  Punkt  M  zurückkomme,  so  werde  auch  Ay  immer  kleiner  und 

folettt  =  0;  dabei  soll  aber  ^  inmiei  beatimmte  Wert  he  behalten,  und  selbst 

dann  noch,  wenn  Ax  =  o  und  Ay  =  o  geworden  ist!  —  Man  müsse  sich  Ax, 
Ay  also  als  veränderliche  Grösse  denken,  die  im  Punkte  M  durch  den 
Werth  Null  gehen,  nm,  wenn  man  wolle,  auch  negative  Werthe  anzuneh- 
men (?),  wie  man  sich  bei  «lieh  Funktionen  unter  dem  Werthe  Null  der  Ver- 
änderlichen nur  einen  Durchgangs-  oder  Entstehungswerth,  aber  nicht 
ein  absolutes  Nichtvorhandensein  vorstelle,  da  es  sonst  gar  keinen  Sinn  habe, 
von  dem  Werthe  einer  solchen  Funktion  zu  reden,  wenn  die  Veränderliche  =  o 
ist  (?  — ).  Man  müsse  sich  daher  Ax,  Ay  als  Grössen  vorstellen,  welche  im 
Punkte  M  im  Entstehen  oder  im  Durchgange  durch  den  Werth  Null  be- 
griffen sind,  um  nach  und  nach  in  stetiger  Aenderung  beliebige  (?)  Werthe 
anzunehmen!  —  Man  sehe  leicht  ein,  dass  das  obige  Verfahren  darauf  hinaus- 
laufe: die  Coordinateoaxen  parallel  zu  ihren  früheren  Richtungen  durch  den 
Punkt  M  oder  (x ,  y)  zu  legen  und  die  Gestalt  und|  Lage  der  Curve  in  Bezug 
auf  dieses  neue  Axensystem  durch  die  Veränderlichen  Ax,  Ay  mittels  der  Glei- 
chung (1),  worin  x,  y  bestimmte  Werthe  haben,  auszudrücken.  Das  Verbält- 

ntss  Tg  der  neuen  Coordinaten  Ax,  Ay,  werde  also  im  Allgemeinen  wieder  eine 

neue  Veränderliche  sein,  welche  sich  ebenfalls  stetig  ändere  (?)  und  daher 
auch  wie  in  jedem  andern  Punkte  M'  der  Curve,  so  auch  im  Anfangspunkte 
M,  oder  wie  für  jeden  andern  Werth  der  Veränderlichen  Ax,  so  auch  für  den 
Werth  Ax  =  o  einen  beatimmte n  Werth  haben  (?).  Denn  da  F  (x-f  Ax)  - 
F  (x)  immer  mit  Ax  zugleich  verschwinden  rauss,  so  könne  man  diese  Function 
stets  anf  die  Form: 

dxF'(x+aAx3, 

wo  et  irgend  eine  Verhältnisszahl  bedeute,  gebracht  denken,  welches  auch  die 
bekannten  oder  unbekannten  (?)  Transformationen  sein  mögen,  wodurch  man 
jene  Funktion  auf  diese  Form  bringen  könne!?  --  Das  Verhällniss  (2)  komme 
demnach  auf  die  einfachere  Form: 

F'O+aAx) 

wirück,  und  nehme  für  Ax=o  den  bestimmten  Werth  F'(x)  an!?  - 

Nach  dieser  durchaus  klaren,  bestimmten  and  strengmathema- 
tischen Vorstellungsweise  (?!)  meint  der  Verfasser,  werde  es  nun  einleuchten, 
dass  ee  durchaus  unnöthig  und  aeibst  unrichtig  sei,  die  Aenderungen  Ax,  Ay 
im  Punkte  M  als  unendlich  kleine  Grössen  zu  denken  (!?).  Auch  werde 
man  die  obige  Vorstellung  von  den  Aenderungen  Ax,  Ay  und  ihrem  Verhältnis 
leicht  auf  andere  analytische  Funklienen  übertragen,  denen  keine  besondere  (geo- 
metrische) Bedeutung  zukommt,  und  so  den  unbestimmten  (?)  Begriff  des 
Unendlichkleinen,  welches  im  Grunde  nur  ein  debnbarea  Null(?)eei, 
und  nicht  nur  der  strengen  mathematischen  Form  Eintrag  thue  (!?),  indem  da- 
durch aile  Gesetze  der  höbern  Mathematik  als  b!os  näherungs  weise  rieh- 


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tig  erscheinen  (!?),  sondern  auch  vielfach  falsche  Vorstellungen  nnd  Schlosse 
veranlasse,  aus  der  Mathematik  ginzlich  verbannen!!  —  Auch  die  Grenz mc- 
thode  soll  auf  einer  unklaren,  wo  nicht  unrichtigen  Ansicht  beruhen.  — 
Die  dem  Anfangspunkte  M  entsprechenden  Werthe  der  Veränderlichen  Ax,  Ay 
nennt  der  Verf.  Entstehungs-  oder  Anfangawerthe,  and  ihr  Verhältnis* 
bezeichnet  er  durch: 

Ax  Ax  ■ 

so  lange  dasselbe  noch  als  unentwickelt  gedacht  wird,  nnd  den  nach  den 
Regeln  der  Differentialrechnung  daraus  abgeleiteten  Werth,  welcher  im  Allge- 

dy 

meinen  eine  Funktion  von  x  ist,  mit  — .. 

dx 

Ans  dem  Milgetheilten  sieht  man,  das  die  neue  Begründungsweise  der 
hohem  Analysis  durch  den  Verfasser  weiter  nichts  ist,  als  die  alte  En ler 'sehe 
Nullentheorie,  also  eine  blosse  sinn-  und  begrifflose Erschleichnng, 
welche  allerdings  das  richtige  Resultat  gibt,  weil  sich  unendlich  kleine  Grössen 
gegen  endliche  hinsichtlich  der  Vermehrung  oder  Verminderung  ebenso  verbal* 
ten,  wie  absolute  Nullen,  welche  aber  nun  und  nimmermehr  eine  begriff- 
liche Einsicht  in  das  Wesen  und  Objekt  der  höhern  Analysis  gewähren 
kann,  weil  stetige  Grössen,  mit  deren  Veränderungsgesetzen  sich  die 
höhere  Analysis  beschäftigt,  sich  nicht  nach  Kuli incrementen ,  sondern  nach 
unendlich  kleinen  Incrementen  ändern. —  Die  Integralrechnung,  als  Sum- 
metionametkode  (wie  sie  auch  der  Verf.  betrachtet),  bat  in  dieser  Nullen- 
iheorie  vollends  gar  kernen  Sinn.  —  Die  Einwürfe,  welche  der  Verf.  gegen  det 
Begriff  und  die  Methode  des   Unendlichkleinen  macht,  sowie  das  obige 

dy 

Raisonnement,  wodurch  er  die  Existenz  von  -1  nachweisen  will,  sind  offen- 

dx  » 

bar  grund-  und  bodenlos.  -  Ich  brauche  jedoch  hier  nicht  weiter  auf  Er- 
örterungen über  das  Wesen  und  die  verschiedenen  Begründungsmetho- 
den der  höhern  Analysis  einzugehen,  sondern  kann  in  dieser  Beziehung  auf  das, 
was  ich  bei  Gelegenheit  der  Benrtheilung  der  Werke  von  Kavier,  Dirksen, 
Snell  u.  s.  w.  in  den  göt tingeschen  Gclehrtenanzeigen  (Jahrg.  1848-1849), 
nnd  im  6.  Kap.  meiner  „Grundlehren  der  höhern  Analysis  (Braun- 
schweig, 184»)  gesagt  habe,  füglich  verweisen. 

Auch  für  die  Integralrechnung  will  der  Verf.  eine  einfacher« 
nnd  natürlichere  Ansicht  ala  die  gewöhnliehe  zu  Grande  legen,  und  über  einige 
zweifelhafte  Fälle  bei  der  Anwendung,  worüber  die  meisten  Lehrbücher  der 
Integralrechnung  hinweggehen,  oder  unklare  nnd  unrichtige  Lehren  geben  (?!)) 
aufklären ! 

Die  erste  und  nächste  Aufgabe  der  Integralrechnung  soll  nicht,  wie  man 
gewöhnlich  sage,  darin  bestehen:  ven  der  (gegebenen)  abgeleiteten  Funk- 
tion anf  die  (unbekannte)  ursprüngliche  %  arückzuschliessen  — 
sondern  darin:  aus  dem  allgemeinen  A  e  nd  e  r  u  ng  s  geselz  e  einer 
Funktion  ihre  wirkliche  (endliche)  Aenderung  für  einen  gegebe- 
nen Aenderungs  werth  der  unabhängigen  Veränderlichen  he nu- 

leiten.  Das  Zeichen  I  soll  das  Zeichen:  Anf.  (gleichbedeutend  mit  dem  ge- 


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•  t 


wohnlichen  lim.)  aufheben,  und  so  wie  aus  x»  =  a  folge  x  =  y<»a,  so  soll  aus 
den  Gleichungen : 

Ax       dx  Ax  v 

t  das  (endliche)  Aenderungverbfiltniss: 

in  der  Aenderangiwetth  oder  da«  Integral  (?!): 
Ay  =  AxJ'-g-,  F(x+Ax)  -  F(x)  =  A  F(x)  =  Aijf"  CO 
folgen!  — 

Dies  ist  doch  offenbarer  Unsinn!   Denn  wäre  x.  B.  y  =  F(x)=x»,  ao  ist: 

Ay        (X+AX>  -  X»    ^  ff  ^ 

Ax  Ax  dx  ' 

nach  der  Integralrechnung  des  Verf.: 


J 


Ay  =  Ax 

Die  endliche  Differeni  Ay  =  AF(x)  einer  unbekannten  Funktion 
F(x)  kann  doch  offenbar  nicht  anders  erhalten  werden  ana  dem  gege- 


benen Differenxialquotientcn  jL  =  F'(x)  oder  Differenxiale  dy  =  F'(x)dx,  als 

dass  man  unmittelbar  oder  mittelbar  einen  Rückschluss  macht,  oder  die  un- 
abhängige Veränderliche  x  in  dy  =  F'(x)dx  sich  zwischen  den  betrachteten  Gren- 
zen stetig  ändern  Ifisst,  und  dio  so  erhaltene  Reihe  summirtf 

Nach  der  Theorie  des  Verf.  soll  gar  kein  Grund  vorbanden  sein,  an  der 
Richtigkeit  eines  Integrals  xu  zweifeln,  wenn  das  Differenzial  oder  die  ursprüng- 
liche Funktion  innerhalb  der  Integrationsgrensen  unendlich  oder  imaginir 
Wird!?  - 

Da  die  Torliegende  erste  Hälfte  des  ersten  Bandes  von  der  Mechanik 
nur  einige  Abschnitte  erst  enthält,  so  verspare  ich  die  spezielle  Benrtbeilong 
derselben  bis  zum  Erscheinen  der  folgenden  Theile  über  Mechanik  auf,  und  füge 
jetzt  blos  die  allgemeine  Bemerkung  hinzu:  dass  die  Bearbeitung  der  Me- 
chanik, ao  viel  sich  nach  dem  jetzt  schon  Vorliegenden  beortheilen  lässt,  eine 
ebenso  gründliche  als  klare  und  methodische  werden  wird. 

Das  ganze  in  Rede  stehende  Werk  soll  in  drei  Abtheilungen  erscheinen, 
wovon  die  erste  die  theoretische  oder  rationelle  Mechanik,  die 
zweite  die  bau  wissenschaftliche  Mechanik,  und  die  dritte  die  ci- 
le  Maschinenlehre  enthalten  soll. 
Die  Ausstattung  des  Werkes  ist  sehr  gut  und  correct. 


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Inhalt 

der 

Heidelberger  Jahrbücher  der  Literatur.*) 


Vierundvierzigster  Jahrgang,  i85i. 


Abhandlungen,  naturwissenschaftliche,  herausgegeb.  von  Haidinger.  310 


AI  brecht,  K.  v.  Weinsberg's  Einnahmen-  etc.  Register   832 

St.  Aldhelmi  Opera  ed.  Giles   450 

Andree,  America  in  geschichtl.  und  geograph.  Umrissen  I.     ....  787 

Archiv  für  Altere  Geschichtskunde,  herausg.  von  Perti.  X.  Bd.     .   .  322 

Arriani  ezpeditio  Cyri,  ed.  Geier   331 

Aeschyli  tragoediae,  ed.  Dindorf.   293 

Bauerkeller  s  Handatlas  der  Erdkunde  von  Ewald   152 

Beck,  Leitfaden  der  Geschichte   951 

„      synchronist.  Tabellen  der  Geschichte   952 

Beiträge  zur  vaterländischen  Geschichte.  IV.  (Basel.)   21 

Bericht  über  die  Kriegsoperationen  der  russischen  Truppen  gegen  Ungarn,  LL51 

Berichte,  naturwissenschaftliche,  herausgegeben  von  Haidinger.  .    .  307 

Bibliotheca  scriptt.  Graecc.  et  Komm.  Teubneriana                       291.  931 

Biedermann,  Junghegcl'sche  Weltanschauung   4ül 

St.  Bonifacii  Opera  ed  Giles   450 

Bowyer,  Commentaries  on  the  modern  civil  law   5$ 

Brackenhoeft,  Grundlagen  des  gemeinen  deutschen  Rechts   417 

Briefe,  antiquarische,  von  Böckh,  herausgegeben  von  Raumer.    .   .  440 

Broch,  Lehrbuch  der  Mechanik,  1   753 

Bruck  mann,  der  artesische  Brunnen   312 

Bocolici  Graeci  ed.  Ahrens   293 

Caesar »•  eommentarii  ed.  Oebler   301 

Catherwood  Views  of  aoeient  montiments  in  Centraiamerika.  .    .    8L  161 

Caussin  de  Perceval,  Essai  sur  l'histoire  des  Arabes.  Tom.  II.  et  III.  572 

M.  Chevalier,  Studien  über  die  nordamerikanische  Verfassung  von  Engel.  151 

Cicero nis  opera  ed.  Klotz  301.  931 

Colquhoun,  Summary  of  the  Roman  civil  law   5i> 

Cornelius  Nepos  ed.  Oietsch,   300 

Coteiba's  Handbuch  der  Geschichte,  von  Wüste nfeld.   133 

Curtius  Rufus  ed.  Foss                                                 ....  301 

Dandolo,  I  Volontär!  ed  i  bersaglieri  Lombardi   1 

Decher,  Handbuch  der  Mechanik,  1   951 

Deimling,  der  philosophische  Unterriehl  auf  der  Mittelschule.     .    .    .  918 

Delesse,  caracteres  de  l'Arcose  dans  les  Vosges                              .  923 


*)  In  Nro.  38.  und  3JL  sind  durch  ein  Versehen  des  Setzers  die  Pagina 
von  p.  5ü3 — 621.  falsch  angegeben,  wesshalb  man  diese  vor  dem  Gebrauche 
des  Inhalts  in  indem  bittet  

61 

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960  Inhalt  4 

Demosthenis  orntiones,  ed.  G.  Dindorf  295.  931 

Drob  jach,  Grundlinien  der  Psychologie   80t> 

Droysen,  Leben  des  Grafen  York,  L  Bd   481 

Düntier,  Gölhe's  Faust   579 

Eckstein,  Beiträge  zur  Geschichte  der  Hall.  Schulen   7*3 

Erinnerungen  aus  Paris   4Ij 

Eutropius,  ed.  Dietscb   30 1 

Ezquerra  del  Bnyo,  Elementos  de  Laboreo  de  Minus   729 

Feldbausch,  zur  Erklärung  des  Hornz.  1   932 

Der  Feldzug  des  Corps  des  Generals  v.  Wallmoden -Gimborn    ...  49. 

Der  Feldzug  in  Ungarn  und  Siebenbürgen   651 

Flegler,  Geschichte  des  Alterthums  36 

„         das  Königreich  der  Longobarden  in  Italien   504 

Francoeur,  Lehrkurs  der  reinen  Mathematik,  von  Ph.  Fischer.  L  Bd.  .  789 

Frühe,  die  politische  Ansicht  des  Livius   946 

Gedanken,  des  Königs,  und  ein  Stück  Geschichte   hft) 

Gerlach  und  Bachofen,  Geschichte  der  Römer,  LI  32 

Gen  gier,  des  Schwabenspiegels  Landrechtsbnch   953 

Girtanner,  die  Bürgschaft  nach  gemeinem  Civil  recht.  1   418 

i»  b         n  a         n  9   

Gramraatici  de  generr.  nomm.  opusculum  ed.  Otto   459 

Grewingk,  die  Nordwestküste  America's   230 

Gr 08 8,  Erinnerungen  aus  den  Kriegsjahren  51 

Graber,  Bechen  unter  rieht  in  der  Volks-  und  höhern  Bürgerschule.  .    .  305 

„       Anleitung  zum  Gebrauch  des  Rechenunterrichts  etc   305 

G runer t,  Beiträge  zur  meteorol.  Optik  (die  Lichterscheinungen).     .    .  731 

Haidinger,  Miti  hei  hingen  von  Freunden  der  Naturwissenschaften  in  Wien.  307 

„  naturwissenschaftliche  Abhandlungen   310 

Hansen,  Auflösung  eines  Systems  linearer  Grössen   636 

Heilquellen,  die  nassauischen,  durch  einen  Verein  von  Aerzten.    .    .  532 

Heis,  Sammlung  von  Beispielen  aus  der  Arithmetik  und  Algebra.     .    .  621 

Hol  big,  Grundriss  der  Geschichte  der  poetischen  Literatur  d.  Deutschen.  159 

„      Wallenstein  und  Arnim   159 

Herbst,  die  Burg  flachberg   £23 

„       Taschenbuch  der  Entwickelungsmomente   927 

Herodoti  historiarum  libri,  ed.  Dietsch   294 

Höchster,  Lehrbuch  des  französischen  Strafprozesses   1£Q 

Homeri  Carolina,  ed.  G.  Dindorf.   292 

Höpfoer,  der  Krieg  von  1806  und  1807   216 

Horatii  opera,  ed.  Jahn   29Ü 

Horrmnnn,  Geschichte  der  römischen  Literatur   Mi 

Jager,  die  Gymnastik  der  Hellenen   619 

Jahn,  Verfahren,  Wurzeln  zu  berechnen   861 

Jahrbuch  der  k.  k.  Reichsansialt.   .....  315 

Jahrbücher  des  Vereins  von  Alterthumsfreunden  im  Rheinland.  XV.    .  732 

Joannis  Sarisberiensis  Opera  ed.  Giles   456 

Journal  of  the  American  oriental  society   239 

b        n    r>        n  n  ii     ^   ^fifi 

Juvenalis  opera,  ed.  Haeckermann   931 

v.  Kaltenborn,  Geschichte  des  Natur-  und  Völkerrechts.  L     ...  702 

Karsten,  Verzeichnis  der  im  Rostocker  Museum  befind!.  Versteinerungen.  922 

Kellfer,  Semestrium  ad  M.  T.  Ciceronem  libri   616 

Br.  Kerl,  Leitfaden  beim  Löthrohrprobir  -  Unterrichte   772 

Kiehl_j  Spcc.  de  Proiuetbeo  Aeschyleo   775 

M.  Koch,  Beitrüge  zur  Geschichte  Tirols   319 

Köchly,  Emendatt.  Apollo nianae   778 

r       Tryphiodori  de  Hü  excidio  Carmen  '  TIS 

„       De  lliadis  II.  Disput  » ...  778 

„       Conjeclann,  Epicc.  fascic.  I.  •••••••  IIS 


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Inhalt. 


961 


Kraasa,  das  Thierreich  in  Bildern.  I  •   '   •  ^1 

Lebensabrisa  von  J.  C.  Orel  Ii  • 

G.  Leonhard,  die  Quarzführenden  Porphyre   JjJ 

„  Grundzöge  der  Mineralogie,  nach  Ansted.  L  Bd.  .    .    .  22a 

Lexicon  geographicum  Arabic.  ed.  Juynboll  et  Ganl   44H 

Livii  opera,  ed.  Weissenborn  30L  SM 

Lyons,  Ciiltur  der  Orchideen,  von  Courlin  i«    •    •  • 

Mehring,  Zukunft  der  peinlichen  Rechtspflege  

Menzel,  Historische  Lesestücke.  .    444 

Mir?. n  a  Kazem-Beg,  Derbend - Nameh  

M  o  iic,  Zeitschrift  Tür  Geschichte  des  Oberrheins   «gl 

„      Quellensammlung  der  badischen  Landesgeschichte   SM 

Mooser,  die  Pönitentiaranstalt  St.  Jakob  bei  St.  Gallen   252 

v.  Müffling,  Aas  meinem  Leben  •   •   •   •  ■  641 

Müller,  Histoire  de  la  Suisse,  trad.  p.  Monnard  et  Vulliemin.  .    .  Bi5 

Mure,  Histoire  of  the  Ianguage  and  literaturc  of  Greece   221) 

Naumann,  Fortschritte  der  Geognosie   jgjj 

Naumann.,  über  die  Strafrechtstheorie  

Na  vier,  Lehrbuch  der  Differential-  und  Integralrechnung   4M 

Oersted,  die  Naturwissenschaft  and  die  Geistesbildung.     .....  135 

0 ettinger,  die  Vorstellungen  der  Griechen  und  Römer  über  die  Erde..  312 

Ovidius,  ed.  Merkel   2M 

Perrey,  rremblements  de  terre   ^28 

Pfeiffer,  habsburg- Asterreich.  Urbarboch   £32 

Pfriem  er,  Aufgaben  zu  Schulz  v.  Strassnitzky,  Geometrie   421* 

Phaedri  fabulae,  ed.  Dressler  

Pin  dar  i  Canum,  cd.  S  c  h  n  e  i  d  e  w  i  n   2^3 

Plato  ed.  C.  Hermann   295,  931 

Plauti  comoediae  ed.  Flcckcison.     .    .    .   29&  934 

Plinii  Secundi  hist.  naturalis  excerpta,  ed.  Elster   £43 

Politik,  unsere   ßfil 

Probst,  zur  Wiedergeburt  der  Strafrechtspflege   £05 

Propertii  elegiac,  ed.  Keil   298 

Publications  de  la  socidte  pour  les  Monuments  de  Laxembourg.  .  .  840 
Quellen  und  Forschungen  zur  vaterländischen  Geschichte  etc.     .    .  . 

Quellensammlung  d.  bad. Landesgeschichte,  hersg.  v.  Mone.  (Wien.)  II.  L  612 

Quetelet,  sar  la  statistique  morale   5£1 

Rapp,  Historisches  Register  zu  Cäsar  II   £51 

K.  v.  Raum  er,  Erinnerungen  aus  1813  und  1814   38 

„  Palästina.  3,  Aufl   IM 

Rdne  de  Bouilld,  Histoire  des  ducs  de  Guise.    .    .    .    244 

M.  de  Ring,  Histoire  des  Germains   320 

v.  Röder,  Kriegs-  und  Staatsschriften  des  Markgrafen  Ludwig.    ■    •    •  369 

Rogner,  Sammlung  von  Aufgaben  aus  der  Arithmetik  und  Algebra.     .  426 

Rolle,  Uebersicht  urweltlicher  Organismen   314 

Rosmann  und  Ens,  Geschichte  von  Breisach   692 

RQtimeyer,  über  das  schweizerische  Nummulitcn  -  Terrain   313 

Sallustii  Catilina  et  Jugurtha,  cd.  Dictzsch  •    .    •  300 

Schäfer,  Geschichtstabellen.  3,  Aufl   2*6 

Schaffner,  Geschichte  der  Rechtsverfassung  Frankreichs   2ül 

Sc  heerer,  Löthrohrbuch   773 

Scheffler,  der  Situationskalkul   H64 

Scheidler,  Propädeutik  der  praktischen  Philosophie   391 

Scher m,  über  Sophocles  Antigone   Ü43 

Schiller,  krit.  und.  exeg.  Bemerkungen  zu  den  Persern  des  Acschylus.  112 

Schlagint  weit,  Untersuchungen  über  die  physik.  Geographie  der  Alpen.  139 

Schlö milch,  die  allgemeine  Umkehrung  gegebener  Funktionen.  .    .    .  625 

„  Mathematische  Abhandinngen   630 

Schlosser,  die  beiden  in  Baden  (von  Krieg  von  Hochfeldcn).   .  721 


*62  Inhalt. 

Schlosser,  die  Kirche  in  ihren  Liedern.  L                                    .  831 

Sehne  idawind,  der  Feldsag  des  Herzogs  von  Braunschweig.   ...  44 

Schneider,  Prolegomena  in  Callimachi  Aiuuiv  fragmenla   940 

Sc  buch,  de  poßsis  Latinae  rhythmis   951 

Schulz  v.  Strassnitzky,  Handbuch  der  Geometrie   475 

v.  Sinner,  Bibliographie  der  Srhweizcrgeschichtc   901 

Smith,  Schiffbau  der  Griechen;  von  Thierseh   829 

Sophoclis  tragoediae,  ed.  Dilldorf   293 

Spitzer,  Aufsuchung  der  reellen  und  imaginären  Wurzeln   791 

Stengel,  Briefen  die  Hebräer   304 

Stephens,  Travels  in  Ccntralamcrika  81.  161 

„         Travels  in  Yucatan  81.  161 

Stiefel,  Universalgeschichte.  I.  Thl   503 

Stizenberger,  Uebersicht  der  Versteinerungen  in  Baden   617 

Stobaei  Eclogg.  physs.  et  ethicc.  ed.  Gaisford   147 

Streu  her,  Basier  Taschenbuch  auf  1850   29 

„              „           n           »  1851   500 

Studer,  Geologie  der  Schweiz   850 

Taciti  opera,  cd.  Halm  301.  934 

Tebeldi,  das  Eigenthum   257 

Hu  haut,  über  Beinheit  der  Tonkunst.  3.  Aull   618 

Tböl,  Einleitung  in  das  deutsche  Privatrecht   741 

Thucydidis  bellum  Peloponnesiacum ,  ed.  Boehme                     294.  931 

Tiarks,  die  Universität  Cambridge  (Colleges)   321 

„        „         „             „        Vorwort  von  Uli  mann   321 

Tischendorf,  Synopsis  Evangclica   921 

Torte I in i,  Sopra  le  superficie  parallele  etc   795 

„          Applicationi  dei  Trascendenti  ellittici  etc   795 

„          Sulla  Riduzionc  di  alcuni  Integrali  etc   795 

•    „          Sopra  alcune  superficie  curve  etc                                    .  795 

Transactions  of  the  royal  society  of  Literature.  II.  Series   551 

Tzschirner,  Graeca  nomm.  in  u>  exeuntia   780 

Vallaurii  historia  critica  litt,  latiuarum   72 

Velleji  Paterculi  bistoria  Romana,  ed.  Haas e   934 

Verhaghe,  Leuchten  des  Meeres   929 

Vieroi  dt,  de  junet.  inanuura  in  precando  origine   944 

Virgil ii  opera,  ed.  Jahn   296 

J.  Voigt,  Geschichte  des  Tugendbundes.   226 

Volkmann,  Elemente  der  Psychologie   806 

Vulliemin,  Chillon   885 

v  Wächter,  Handbuch  des  in  Würtemberg  geltenden  Privatrechts.  .   .  476 

Weil,  Geschichte  der  Chalifen.  Bd.  III   393 

Weissenborn,  Ninive  und  sein  Gebiet   782 

Weissgerber,  Curae  Thcocritcae   949 

Westermann,  Commentatt.  criticc.  P.  II   664 

„            Untersuchungen  über  d.  Urkunden  in  d.  Attischen  Rednern.  66 1 

Wilhelmi,  Geschichte  der  Benedictincrabtci  Sunnesbcim   601 

Willi,  Principles  of  circumstantiul  evidence   192 

Wurstemberger,  B.  E.  von  Rodt.   890 

Wüste  mann,  Schulzii  laudatio   640 

Xenophontis  opera,  ed.  L.  Dindorf.    .    .    .    .    295 

Zeitschrift  f.  d.  Geschichte  d.  Oberrheins,  hersg.  von  M o n e.  I.  2—4.  Hft  42 1 

„  ■  »  n  »  »  »        n         »       U.  1.  Hft.    .  609 

Zell,  Handbuch  der  römischen  Epigraphik  129 

Zippe,  Anleitung  zur  Gestein-  und  Bodenkunde  927 


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